»Entschuldige mich«, sagte sie dann und legte die Stickerei hin.

Sie ging hinaus in den Vorraum und dann die Treppe hinauf. Ich versuchte nicht über das nachzudenken, was sich dort abspielte, aber als ich den Aufschlag von Abbys Körper auf dem Fußboden hörte, konnte ich das Zusammenzucken nicht unterdrücken.

Sekunden später wiederholte sich die Szene an der verriegelten Haustür.

Lizzie und Andrew kamen in den Salon. Andrew legte sich aufs Sofa und schloss die Augen. Lizzie ging ins Nebenzimmer und klappte ihr Bügelbrett auseinander. Bridget kam dazu und begann die Fenster zu putzen.

Ich trat neben das Bügelbrett; Kristof blieb am anderen Ende des Raums, ohne sich einzumischen. Lizzie musste wissen, dass er da war, aber sie beachtete ihn nicht.

Ich fragte sie nach der Nixe, erkundigte mich, ob sie ihre Gegenwart nach wie vor spürte oder sie sah.

»Ich sehe sie . . . was sie getan hat. Manchmal hört es eine Weile auf, aber wenn es wieder anfängt . . . « Ihre Hände zitterten. »Wenn es wieder anfängt, sind es immer noch mehr «

Mehr Tote. Die Visionen brachen ab, solange die Nixe in der Welt der Lebenden unterwegs war, dann kam sie zurück und brachte ihren toten Partnerinnen neue Bilder mit.

Ich fragte Lizzie, was sie in letzter Zeit gesehen hatte, ob sie eine Vorstellung davon hatte, wo die Nixe war oder wohin sie wollte.

»Sie sucht nach einem Lehrer«, sagte Lizzie. »Einem Mann namens Luther Ross.«

Mein Kopf fuhr hoch. »Luther Ross?«

»Kennst du ihn?«, flüsterte Kris.

Ich warf einen Blick zu ihm hinüber. »Ich hab von ihm gehört.

Ein Poltergeistlehrer.«

Kris schnaubte. »Noch so ein Scharlatan.«

»Nein, Ross ist . . . « Ich teilte ihm mit einer Handbewegung mit, dass ich es ihm später erklären würde, und wandte mich wieder an Lizzie. »Was will sie von diesem Lehrer?«

»Ich weiß es nicht. Ich weiß es nie. Ich sehe es nur.«

Lizzie sah zu Bridget hinüber, die gerade mit dem Fensterputzen fertig war.

»Heute veranstaltet Sargent einen Sonderverkauf«, sagte sie.

»Kleiderstoff für acht Cent das Yard.«

»Oh«, sagte Bridget lächelnd. »Dann werde ich wohl hingehen. Ich bin hier fertig. Darf ich gehen?«

»Natürlich.«

Als Bridget gegangen war, warf Lizzie einen Blick ins Wohnzimmer, wo ihr Vater inzwischen eingeschlafen war.

»Entschuldige mich«, murmelte sie.

Während sie das Beil holen ging, kamen Kristof und ich zu dem Schluss, dass wir von Lizzie Borden alles erfahren hatten, was es zu erfahren gab, und verschwanden, bevor es wieder blutig wurde.

20

Luther Ross lebte auf der Insel Roatan nördlich von Honduras. Selbst in der Geisterwelt könnte man das als ziemlich abgelegen beschreiben, was wohl auch der Grund dafür war, dass jemand wie Luther Ross sich die Insel als Wohnsitz ausgesucht hatte. Wie jede andere Welt hat auch die unsere ihre Gesetze. Und Poltergeistaktivität bedeutet, die meisten davon zu brechen.

Ein Poltergeist dringt in die Welt der Lebenden ein und manipuliert Gegenstände. Zum Glück für die Parzen ist dies kein größeres Problem, weil die wenigsten Geister dazu in der Lage sind. Die meisten sogenannten Poltergeistphänomene haben nichts mit Geistern zu tun, sondern mit Erdstößen, Konstruktionsfehlern, schlampig gelegten Leitungen oder gelangweilten Teenagern.

Die wenigen echten Poltergeister, die es gibt, stellen unweigerlich fest, dass sie als Lehrer sehr gefragt sind. Wenn eine Eigenschaft sehr selten ist, verleiht es ein gewisses Maß an Status, zu den wenigen zu gehören, die sie besitzen. Es gibt dabei nur ein Problem. Die meisten Poltergeister haben ihre Fähigkeiten nicht erlernt, sondern wurden mit ihnen geboren.

Fast alle Poltergeister sind in Wirklichkeit telekinetisch begabte Halbdämonen. Irgendetwas an der Telekinese gestattet ihr, über die Dimensionen hinweg zu wirken, und manche Halbdämonen stellen nach ihrem Tod fest, dass sie nach wie vor in der Lage sind, Gegenstände mit Willenskraft zu bewegen sowohl in der Welt der Geister als auch in der der Lebenden. Aber sie können diese Fähigkeit ebenso wenig an jemanden weitergeben, der nicht telekinetisch begabt ist, wie ich einen NichtFormelwirker einen Bindezauber lehren kann.

Das hält die telekinetischen Halbdämonen nicht davon ab, ihre »Dienste« auf dem Schwarzmarkt anzubieten. Um die wirkliche Quelle ihrer Kräfte zu verbergen, geben sie sich als Druiden oder Vodounpriester oder andere Paranormale mit eher geringen und leicht vorzutäuschenden Kräften aus. Dann

»unterrichten« sie ihre Schüler, während sie die Gegenstände in Wirklichkeit selbst manipulieren.

Mit Luther Ross war es anders. Als ich ein Jahr zuvor zum ersten Mal von ihm gehört hatte, erzählte man mir, er sei ein Halbdämon, und zunächst dachte ich, er sei zu dumm, um auch nur seine Kraftquelle geheim zu halten. Doch dann fand ich heraus, dass er ein Gelo war, also ein Eisdämon und kein Kinetiker. Nun ist es so gut wie unmöglich, die Fähigkeiten eines Gelo vorzutäuschen, und so sah es ganz danach aus, als wäre Luther Ross tatsächlich das Wahre jemand, der wirklich gelernt hatte, Gegenstände in der Welt der Lebenden zu bewegen.

In Ross’ Kurse zu kommen, war nicht einfach. Um den Parzen und ihren Suchern aus dem Weg zu gehen, hielt er sich an abgelegenen Orten wie Roatan auf und gab die Transportcodes nur an Schüler weiter, die er persönlich aussuchte. Mindestens ein Dutzend von meinen Kontaktpersonen hatte bereits versucht, Zugang zu bekommen, und war abgewiesen worden, und so hatte ich beschlossen, den Bewerbungsprozess ganz zu überspringen, sollte ich jemals Zeit für einen seiner Kurse finden. Ich hatte stattdessen jemanden aufgetrieben, der seinen aktuellen Aufenthaltsort kannte, und einen stattlichen Preis an Formeln und Transportcodes bezahlt, um ihn ebenfalls zu erfahren.

Ich kannte nur einen einzigen Reisecode für Honduras, was bedeutete, dass wir in einem Sumpfgebiet ankamen und den Rest der Strecke zu Fuß bewältigen mussten. Wir arbeiteten uns durch den Matsch und wechselten uns bei der Aufgabe ab, die Lianen mit Energiestößen aus dem Weg zu jagen. Unterwegs erzählte ich Kristof das Nötige, wobei ich das mit dem Tauschgeschäft unterschlug und es aussehen ließ, als wäre Ross’

Aufenthaltsort kein Geheimnis. Kris glaubte es keine Sekunde lang. Er kannte mich und wusste, dass ich Ross als potenziellen Lehrer recherchiert haben musste, weil ich hoffte, er könnte mir helfen, mit Savannah Kontakt aufzunehmen. Aber er sagte nichts dazu mein »SavannahProjekt« war ein Thema, bei dem unweigerlich die Fetzen flogen, und das wollte keiner von uns. Heute nicht.

Wir gingen nach Norden, wo wir irgendwann auf die Karibik stoßen würden, und kamen in der Nähe von Puerto Cortez heraus das jedenfalls sagte uns ein junger Mann mit dem sonnengebleichten Haar und der tiefen Bräune eines Menschen, der sein Leben am Meer verbracht hatte und nicht vorhatte, es nach seinem Tod zu verlassen.

»Surft es sich hier gut?«, fragte ich mit einem Blick auf sein Brett.

»Von wegen. Prima zum Tauchen, aber keine einzige Welle, außer man macht sie sich selbst.« Ein rasches Aufblitzen weißer Zähne. »Nur gut, dass ich das kann.«

»Tempestras«, sagte ich.

»Wow, du bist gut.«

»Aspicio«, fügte ich hinzu und streckte die Hand aus.

Er schüttelte sie. »Cool. Ihr seid die Typen mit dem Röntgenblick, stimmt’s?«

»So in etwa.« Ich musterte sein Brett. »Und die Wellen machst du dir wo?«

»Bei Tela drüben, in der Nähe vom Nationalpark.«

»Ist das auch in der Nähe von Roatan? Dort wollen wir hin.«

»Roatan?« Sein Blick glitt über Kristof und mich, dann zuckte er die Achseln. »Jedem das Seine. Haltet euch an die Küstenstraße, dann kommt ihr irgendwann nach La Ceiba, und von dort geht es nach Roatan. Ist noch ganz schön weit, aber eine schöne Route.«

»Prima. Danke.«

»Keine Ursache. Viel Spaß dort.« Er wollte sich schon abwenden, aber dann sagte er noch: »Ihr solltet euch besser umziehen, bevor ihr nach La Ceiba kommt. Die haben es dort gern, na ja, stilrein.«

Als er verschwunden war, wandte ich mich an Kristof.

»Stilrein?«

Er zuckte die Achseln. »Wir werden es rausfinden.«

Die Route war vermutlich wirklich schön, nur hatten wir seit mindestens zehn Meilen nichts mehr von ihr gesehen wir marschierten mit Hilfe meiner Leuchtkugelformel durch die Dunkelheit. Endlich tauchte vor uns ein weiteres Licht auf, das den Nachthimmel erleuchtete.

»Das muss jetzt La Ceiba sein, aber ich glaube, so spät kriegen wir kein Boot mehr nach Roatan.«

»Auf legale Weise vielleicht nicht, aber es werden ja wohl welche herumliegen.«

»Gute Idee.« Ich schnupperte. »Riechst du das?«

»Brennendes Holz. Ein Lagerfeuer wahrscheinlich.«

»Eine Pfadfindersiedlung?«

»Könnte glatt sein. Es ist alles möglich. Sag mir deinen Fetisch «

Ich boxte ihn in den Arm. »Es heißt alternativer jenseitiger Lebensstil, weißt du noch? Oder hast du in dem Teil von deinem Orientierungskurs geschlafen?«

Kris schnaubte. »Wenn du dich dafür entscheidest, dein Jenseits in einer Südstaatenvilla zu verbringen, dann ist das ein Lebensstil. Wenn du es damit verbringst, einen konföderierten Soldaten oder Billy the Kid zu spielen, dann ist das ein Fetisch.«

»Hm. Ich glaube mich zu erinnern, dass da jemand vor sechzehn Jahren Billy the Kid gespielt hat «

»Ich war Pat Garrett. Und eine Nacht ist kein Lebensstil.«

»Nein, das ist ein Fetisch.«

Er gab mir einen Klaps auf den Hintern und knurrte: »Pass auf, was du sagst.«

»Hey, ich habe gesagt, dass es ein Fetisch ist.« Ich grinste ihn an. »Ich habe nicht gesagt, dass ich irgendwas dagegen hätte.«

Wir erreichten den Kamm eines Hügels, und vor uns lag im Mondlicht das Städtchen La Ceiba, eine Ansammlung von Häusern, die kaum mehr waren als Holzhütten verfallende Holzhütten. Von den Straßen drangen lautes Lachen, Pfiffe und der Lärm von Männern herauf, die ihr Bestes taten, sich zu amüsieren, und zu diesem Zweck große Mengen Alkohol einsetzten. Kerzenlicht schien durch die Fenster der wenigen größeren Häuser; der Rauch der Holzfeuer hing als blaugrauer Nebel über dem Ort.

»Männerausflug ins neunzehnte Jahrhundert?«

Kris schüttelte den Kopf und zeigte zur Küste. Mindestens ein Dutzend Boote drängte sich in dem winzigen Hafen; sie lagen dicht beisammen und waren sogar in zweiter und dritter Reihe geparkt. Und es waren nicht einfach irgendwelche Boote, sondern spektakuläre hölzerne Galeonen, jede mit einem Dutzend oder mehr Segeln und Decks, die aussahen wie ein einziger Dschungel aus Tauwerk. Hoch oben an den Masten flatterten Fahnen in der Brise. Zunächst sahen sie nur aus wie bunte Tuchfetzen. Aber als ich auf mein schärferes Sehvermögen umschaltete, erkannte ich die Motive ein Arm, der eine Säbelscheide hielt, ein Skelett mit erhobenem Glas, mehrere Landesflaggen und an mehr als der Hälfte der Schiffe der gute alte Schädel mit den gekreuzten Knochen. Piraten.

21

Das erklärte wohl, warum Luther Ross sich Roatan als Wohnsitz ausgesucht hatte der einzige Zugang zu der Insel wurde von einem Piratennest bewacht. Und jetzt wussten wir auch, warum der halbdämonische Surfer uns geraten hatte, uns umzuziehen. Die Geisterwelt steht allen Geistern offen, aber dass es nicht verboten ist, an einen bestimmten Ort zu gehen, bedeutet noch lange nicht, dass man dort zum Bleiben aufgefordert wird. Wenn man in Zivilkleidung eine Themenstadt betritt, ist man dort etwa so willkommen wie ein Mormone auf einer Halloweenparty.

Im Schatten einer verlassenen Hütte am Stadtrand zogen wir uns um. Kristof tat sein Bestes, um zu erreichen, dass ich mich von ihm anziehen ließ, aber ich zwang ihn, hinter einer Ecke zu warten, während ich meine Aufmachung selbst gestaltete.

»Immer noch nicht fertig?«, rief Kris nach ein paar Minuten.

»Wenn du Hilfe brauchst «

Ich bog um die Ecke, und ein Grinsen breitete sich langsam über Kris’ Gesicht aus. Ich hatte mir enge Lederhosen, kniehohe Stiefel und ein geschnürtes weißes Mieder mit einer schwarzen Schärpe um die Taille ausgesucht, dazu riesige goldene Ohrringe und ein rotes Tuch um den Kopf, unter dem mir das Haar über den Rücken fiel. Ich ähnelte der wirklichen Anne Bonney in dieser Aufmachung wahrscheinlich etwa so sehr, wie Elizabeth Taylor damals nach Kleopatra ausgesehen hatte, aber an einem Ort wie diesem kam es nicht auf historische Originaltreue an.

Ich musterte Kris’ Garderobe weißes Leinenhemd, schwarze Hosen, die er in die schwarzen Stiefel gesteckt hatte, und eine schwarze Seemannsjacke mit Messingknöpfen.

»Sieht gut aus«, sagte ich. »Und jetzt Moment. Da fehlt noch was.«

Ich schloss die Augen und beschwor zwei Entermesser.

»Die Hardware«, sagte ich, während ich eins an Kris weitergab. »Meinst du, wir kriegen eine Gelegenheit, sie einzusetzen?«

»Nur mit sehr viel Glück. Aber zur Sicherheit wechsle ich lieber . . . « Er schloss die Augen und machte aus dem Entermesser einen Degen, den er in der Hand wog und einmal kreisen ließ, dann lächelte er und machte einen Ausfall. »En garde.«

»Äh, Kris Piraten, nicht die drei Musketiere.«

»Ist doch egal.« Er hieb nach einem imaginären Gegner. »Ich habe meinem Vater immer gesagt, irgendwann zahlen sich die Fechtstunden aus.«

»Du kannst mit diesem Ding also wirklich umgehen?«

Er grinste. »Willst du’s ausprobieren?«

Er ließ die Spitze des Degens an meiner Kehle hinuntergleiten bis zum Ausschnitt, hakte sie unter den Rand meines Mieders und hob es an. In dem Augenblick, in dem er hinreichend abgelenkt war, warf ich mich nach hinten und hob das Entermesser. Kris stürzte vor, den Degen erhoben, ich täuschte, wirbelte hinter ihn und legte ihm die Klinge in den Nacken. Er duckte sich und warf sich zur Seite; ein paar Sekunden lang fochten wir, dann erwischte er die Unterseite meines Entermessers und schleuderte es mir aus der Hand. Ich tat einen schnellen Schritt rückwärts und prallte gegen einen Baum.

Kristof hob die Degenspitze wieder an meine Kehle.

»Bittest du um Gnade?«

»Niemals.«

Er lachte und ließ die Klinge nach unten gleiten. Dieses Mal schob er sie unter die Schnüre meines Mieder und schnitt die oberste davon auf.

»Kris «

Er hakte die Klinge unter die nächste Schnur.

»Kris «

»Oh, du weißt genau, ich werde nichts tun«, sagte er. »Ich werde es nicht mal probieren. Nicht, bevor ich nicht weiß, dass du so weit bist. Ich möchte dich bloß . . . « Ein kleines Lächeln, als er sich gegen mich drückte. »Erinnern. Für den Fall, dass du vergessen hast, wie es war.«

Diese Gedächtnisauffrischung brauchte ich nicht. Ich hatte vor und nach Kris Liebhaber gehabt nie viele, ich war immer zu wählerisch gewesen, um meinen Körper mit jedem Beliebigen zu teilen , aber Kris war der einzige Mann, bei dem ich jemals die Kontrolle verloren hatte, der einzige, von dem ich niemals genug bekommen hatte. Und jetzt, als ich ihn hart an mich gedrückt fühlte

Ach, zum Teufel damit.

Ich wölbte die Hüften nach vorn. Kris kam noch näher, so dass ich die Beine um ihn legen konnte. Ich drehte die Finger in sein Haar und küsste ihn. Kris stöhnte und schob die Hände in meine Hose, um mein Hinterteil zu packen und mich noch dichter an sich zu ziehen.

Dann erstarrte er und hielt inne. Und nach einem Moment des Zögerns zog er meine Arme nach unten und trat zurück.

»Du bist nicht so weit«, murmelte er.

»Nein?«

Ich griff nach seiner Hand. Er ließ es zu, dass ich seine Finger zu meinem Hosenbund zog, dann riss er die Hand fort und trat noch einen Schritt zurück.

»Ich meine damit nicht, ob du zu schnellem FünfMinutenSex an einem Baum bereit bist, Eve. Das ist nicht gut genug. Ich will dich zurückhaben. Für jetzt und alle Ewigkeit. Ich meine es ernst.«

»Kris, ich habe dir schon gesagt «

»Die Sorte Beziehung willst du nicht. Ja, das hast du gesagt.

Immer wieder. Wir haben es beim ersten Mal nicht hingekriegt, also sollten wir es nicht noch mal probieren. Eine schöne, wohlfeile Entschuldigung «

»Es ist keine «

»Seit wann gibst du auf, weil etwas beim ersten Mal nicht geklappt hat? Es ist eine Entschuldigung, Eve eine simple Entschuldigung dafür, das sehr komplexe Problem zu vermeiden, das wir beide darstellen und alles, das wir damals getan und nicht getan haben. Du bist noch nicht so weit. Das weiß ich.

Und ich warte, bis du es bist.« Ein kleines Lächeln. »Es ist ja nicht so, als ob mir die Zeit knapp würde.«

»Ich «

»Und apropos Zeit, du hast hier etwas zu erledigen, also hören wir besser auf, Spielchen zu spielen oder drüber zu reden, warum wir keine spielen , und machen uns wieder an die Arbeit.«

Unsere Absicht war natürlich, eine Überfahrt nach Roatan zu buchen, möglichst noch in dieser Nacht. Also machten wir uns auf den Weg zum Kai. Die ersten drei Piraten, denen wir begegneten, fuhren herum beim Anblick meines Outfits, aber sie murmelten nur eine Begrüßung und gingen weiter. Als wir bis auf zwanzig Schritte an die Hafenmauer herangekommen waren, mussten wir an einem ergrauten alten Seebären mit Augenklappe vorbei.

Er wuchtete sich auf die Beine und versperrte uns den Weg, die Hand am Säbel. Im Gegensatz zu den anderen, denen wir schon begegnet waren und die alle ausgesehen hatten, als hätten sie eine Piratenflagge nie außerhalb eines Kinos gesehen, hätte dieser hier wirklich ein authentisches Original sein können.

Schwarze Zähne, Schlachtennarben und eine sehr entspannte Einstellung zu Hygienefragen . . . was möglicherweise auch der Grund dafür war, dass man ihm die Hafenaufsicht übertragen hatte.

»Stehen bleiben da!«, knurrte er mit einem fast unverständlichen Akzent. »Wer seid ihr und wohin des Weges?«

»Besucher«, sagte ich. »Wir sind eben erst angekommen und wollten die Schiffe sehen «

»Nicht in der Aufmachung, Missy.«

»Unsere Kostümierung mag etwas anachronistisch sein«, sagte Kristof. »Aber nicht anachronistischer als die von anderen, die wir schon gesehen haben.« Sein Blick glitt über die schmutzige, zerlumpte Kluft des Piraten. »Von deiner eigenen Sorgfalt im Hinblick auf die epochentypischen Details natürlich abgesehen.«

Der Pirat verzog die Lippen. »Von deinen Hosen rede ich nicht, Junge. Das Problem sind ihre. Weibliche Piraten haben wir hier nicht. Nur Bräute.«

»Bräute?«, fragte ich.

»Das mag hier wohl die übliche Vorgehensweise sein«, sagte Kristof. »Es könnte auch den sehr auffälligen Mangel an weiblicher Gesellschaft in dieser schönen Stadt erklären. Vielleicht würdet ihr ja in Betracht ziehen, gewisse Änderungen «

»Ich ziehe überhaupt nichts in Betracht, Junge. Entweder sie zieht sich an wie eine richtige Piratenbraut, oder ihr zieht in Betracht, anderswo hinzugehen.«

Kristof öffnete den Mund, aber ich brachte ihn mit einem Blick zum Schweigen. Flexibilität ist der Schlüssel zum Erfolg.

Also verschwand ich hinter der nächsten Hütte und nahm einige kleinere Änderungen an meinem Kostüm vor. Das Mieder, die Stiefel und die Ohrringe blieben. Die Hosen tauschte ich gegen einen weiten Rock aus. Ich fügte noch ein paar Halsketten dazu und sah so piratenbrautmäßig aus, wie ich es zuwege brachte. Das Entermesser ich gab es wirklich nicht gern auf, aber ich rief mir ins Gedächtnis, dass ich es beschwören konnte, wann immer ich es brauchte.

Ich kam wieder hinter der Hütte hervor.

Der alte Pirat musterte mich mit einem zahnlückigen Grinsen. »Na, das ist doch schon viel besser, meine Schöne.« Er stieß Kristof in die Rippen. »Du hast da eine verdammt ansehnliche Braut, Junge.«

»Äh, danke.«

»Also dann, Sir«, sagte ich. »Wenn du einen Moment Zeit hast, könntest du uns freundlicherweise sagen, wie wir nach Roatan kommen?«

»Roatan?« Er verzog das Gesicht. »Wieso wollt ihr nach Roatan? Hier ist doch viel mehr los, auf dieser Seite der Bucht.«

»Vielleicht«, sagte Kris. »Aber wir müssen wirklich nach Roatan. Gibt es ein Schiff, das wir chartern können?«

»Das ist kein Yachtklub hier, Junge. Ein Piratenschiff chartert man nicht. Wenn man eine Passage will, dann verdient man sie sich, indem man anheuert.«

»Anheuert?«

Der alte Pirat schlug Kris auf den Rücken. »Sich einer Mannschaft anschließt, Junge.«

»Ich . . . verstehe. Vielen Dank für die Auskünfte. Können wir einen Spaziergang am Kai entlang machen?«

»Macht den nur. Und wenn du dich einer Mannschaft anschließen willst, sag mir Bescheid, ich finde was für dich.« Er warf ein Grinsen in meine Richtung. »Und während du auf See bist, passe ich auch auf deine Braut auf.«

Wir bedankten uns bei dem alten Piraten und gingen zum Kai hinunter. Wenn wir kein Schiff chartern konnten, würden wir wohl eins stehlen müssen. Aber unglückseligerweise wurde uns sehr schnell klar, dass alle Schiffe bewacht waren und außerdem so dicht beisammen lagen, dass die Wachen einander augenblicklich zu Hilfe kommen konnten.

Ich wandte mich an Kristof. »Offiziell kann man vielleicht keins mieten, aber ich wette, wir finden jemanden, der mit sich reden lässt.«

»In die Kneipen also?«

Ich nickte.

Wir entschieden uns für die größte unter den drei Spelunken an der Hauptstraße. Ein Schild an der Tür verbot den Einsatz von Waffen, Magie und paranormalen Kräften jeder Art. Kristof ließ seinen Degen diffundieren, öffnete die Tür und führte mich hinein.

22

Im Inneren kämpfte das Scheppern der Metallbecher gegen das Stimmengewirr an. Zigarrenqualm und Holzrauch hingen dick in der Luft. Als wir in den Schankraum traten, brach jede Unterhaltung in Türnähe ab. Das Schweigen rollte quer durch den Raum, bis jeder Mund sich geschlossen hatte und alle Augen die Neuankömmlinge musterten.

Wenn in einem Laden wie diesem ein Neuer zur Tür hereinkommt, fragt sich im ersten Moment niemand, wie gut er Konversation macht, ob er sich beim Poker übers Ohr hauen lässt oder auch nur, ob man ihm ein paar Runden aus den Rippen leiern kann. Der Gedanke, der jedem Mann durchs Hirn geht, ist die Frage, ob er dem Neuankömmling in einem Kampf gewachsen wäre. Und die vorherrschende Antwort unter den Anwesenden lautete »Ja«. Kris war keine Konkurrenz groß genug, gut gebaut, aber zu alt, zu weich, und seht euch bloß die Hände an Herrgott, sind die manikürt?

Als Nächstes wandte sich die allgemeine Aufmerksamkeit dem Stück lebendiger, potenzieller Piratenbeute zu. Ein paar sahen gleich wieder weg vielleicht mochten sie ihre Frauen kleiner, runder, blonder. Die meisten taten es nicht, und ein paar rutschten von ihren Hockern.

»Das deine?«, bellte ein großer Mann, während ihm der Rum in den dicken schwarzen Bart lief.

»Hm, also « Kristof warf einen Blick zu mir herüber, um abzuschätzen, wie viel Ärger die Antwort ihm später einbringen würde, dann antwortete er mit einem barschen »Aye« und manövrierte mich zum dunkleren Ende der Bar hinüber.

»Bisschen groß geraten, was?«, rief der Mann hinter uns her.

»Nicht für mich.«

Ein großer dünner Blonder mit rotem Kopftuch stand von seinem Hocker auf und stellte sich uns in den Weg. »Für mich auch nicht.«

Kris führte mich um ihn herum. Als wir an ihm vorbeikamen, packte der Mann mich am Hintern. Nicht, dass er mich gekniffen und sich dann verdrückt hätte er packte einfach mit beiden Händen zu und hielt mich fest. Ich drehte den Kopf langsam über die Schulter zu ihm hin, bis ich ihm ins grinsende Gesicht stierte.

»Uhoh«, murmelte Kris mir ins Ohr. »Nicht aus der Rolle fallen. Lass mich das machen. Bitte.«

Er wandte sich mit seinem schönsten Stieren an den Idioten.

»Nimm bitte die Hände weg.«

Der Typ antwortete nur mit einem noch breiteren Grinsen.

»Und entschuldige dich«, sagte Kris.

Ein kollektives Lachen kam aus dem Publikum.

»Hey, Pierre«, rief ein pockennarbiger Mann. »Bibberst du schon vor Angst? Ich tu’s.«

Wieder eine Runde Gelächter und Pfiffe. Kris wartete gelassen, bis der Lärm sich gelegt hatte.

»Zum letzten Mal«, sagte er dann. »Bitte nimm die Hände weg und entschuldige dich bei der Dame.«

»Ooh«, rief jemand. »Solltest du wirklich machen, Pierre.

Der könnte «

Kristof packte Pierre am Kragen und schleuderte ihn die Bar entlang; die Rumflaschen flogen wie Kegel. Etwa fünf Sekunden lang herrschte absolutes Schweigen, während die anwesenden Männer ihre heruntergeklappten Kinnladen unter Kontrolle brachten. Der pockennarbige Pirat erholte sich als Erster, packte den nächsten Hocker und stürmte los. Kristof fing den Hocker ab und schwang ihn hoch. Der Mann am anderen Ende reagierte eine Spur zu langsam und versäumte es, den Hocker rechtzeitig loszulassen, als seine Füße sich vom Boden hoben. Für einen so großen Mann segelte er mit bemerkenswerter Eleganz über die Bar, obwohl die Landung sich missglückt anhörte.

Mittlerweile war Pierre von der Bar gerollt und stürmte auf Kris los. Kris schlug mit dem Hocker zu. Der pockennarbige Pirat stolperte hinter der Bar hervor und stürzte sich ebenfalls auf ihn, aber ein drahtiger alter Mann packte ihn von hinten, offenbar in der Meinung, dass sich die Situation für eine private Abrechnung anbot.

Bevor man das Wort »Kneipenschlägerei« hätte aussprechen können, war der Laden explodiert. Ich sprang auf die Bar, weil dort die Aussicht besser war, und verwendete Rückstoßformeln, wenn ein Körper in meine Richtung flog. Sosehr ich die aktive Teilnahme meist dem passiven Zusehen vorziehe, es hat seinen Reiz, sich einfach zurückzulehnen und eine ordentliche Prügelei zu verfolgen. Vor allem weil Kris mittendrin war. Er pflügte durch den Raum wirbelnde Fäuste, splitternde Flaschen, brechendes Holz und grinste dabei wie ein Junge bei seiner ersten Schulhofmöbelei.

Und zwar bei jedem Hieb, ob er ihn nun austeilte oder einsteckte.

Der Kampf ging auf die Art zu Ende, wie solche Kämpfe es meistens tun die Verursacher verdrückten sich oder wurden von ihren Freunden davongezerrt, alle anderen mussten sich noch von dem Adrenalinstoß erholen und konnten sich nicht mehr erinnern, warum sie sich überhaupt beteiligt hatten. Kris tauchte aus dem Klüngel auf und kam auf mich zu, das Haar zerrauft, das Hemd zerrissen und ein breites »Mann, das hat Spaß gemacht«Grinsen im Gesicht. Er hob mich schwungvoll von der Bar und auf einen Hocker, zog einen weiteren Hocker aus einem Trümmerhaufen, und im selben Moment knallte ein Humpen auf die Bar, so dass wir beide zusammenfuhren.

Hinter der Bar stand eine üppige dunkelhaarige Frau, ein paar Jahre älter als ich; sie trug ein Schankmaidkostüm, das ihr ein paar Größen zu klein war, so dass ihre Brüste beinahe das Mieder sprengten. Sie lächelte und streckte uns einen zweiten Becher und eine staubige Rumflasche hin.

»Tradition des Hauses«, sagte sie. »Der Sieger kriegt die letzte intakte Flasche.«

Kris murmelte etwas Passendes, als sie sie öffnete.

»Gar nicht schlecht gekämpft«, sagte sie. »Für einen Magier.«

Kris hatte keine einzige Formel verwendet, und so gab es nur eine einzige Erklärung dafür, dass sie ihn erkannt hatte.

»Sei gesegnet, Schwester«, sagte ich.

Ihr Grinsen wurde noch breiter und ließ einen fehlenden Eckzahn sehen. »Den Gruß hab ich schon seit einer ganzen Weile nicht mehr gehört. Verwenden sie den da oben immer noch?«

Ich schüttelte den Kopf. »Nur die Menschen.«

»Also dann, sei gesegnet, Schwester.« Sie tätschelte mir die Hand. »Ist auch eine Weile her, seit ich eine Hexe gesehen habe.«

Sie sah zu Kristof hin. »Sie ist also beigelegt? Die Fehde, meine ich?«

»Zwischen Hexen und Magiern? Von wegen. Die sind so arrogant und unangenehm wie eh und je.« Ich lächelte Kristof zu. »Aber manchmal kann man ja eine Ausnahme machen.«

Sie goss ein, und ich sah mich in der Taverne um. »Bist du . . .schon länger hier?«

Sie lachte laut auf. »Du meinst damit, was mache ich in diesem Drecksloch?«

»So wollte ich es nicht ausdrücken.«

Sie beugte sich vor und senkte die Stimme. »Du willst wissen, warum ich hier bin? Sieh dich mal um. Sieh dir das MännerFrauenVerhältnis an. Das hier ist Alaska ohne den Schnee.«

Sie korkte die Flasche zu. »Und ihr, macht ihr Urlaub? Oder seid ihr auf der Durchreise?«

»Durchreise. Wir wollten jemanden drüben auf Roatan besuchen, aber . . . « Ich sah mich um. Die meisten Gäste waren entweder gegangen oder suchten nach einem intakten, splitterfreien Sitzplatz. »Es scheint da ein Problem mit dem Transport zu geben. Ich nehme nicht an, dass du von einem Boot weißt, das wir mieten oder . . . borgen könnten?«

»Beim Borgen stehen die Chancen am besten.« Sie senkte die Stimme und begann die Theke abzuwischen. »Nicht einfach, aber eine Möglichkeit gibt es. Die Trinity Bull. Gehört Pierre, dem Halbdämon mit den flinken Fingern. Er hat sie in einer Bucht westlich von hier liegen. Ziemlich abgeschieden und normalerweise nur ein Wachmann. Er ist neu.«

Wir bedankten uns und hingen noch eine Weile an der Bar herum, um nicht aufzufallen; dann schlüpften wir hinaus und machten uns auf die Suche nach dem Boot.

∗ ∗ ∗

Die Bucht war ein hübscher Ort zum Ankern, wenn man willens war, das Sicherheitsrisiko einzugehen. Das Boot war kaum größer als Kristofs Hausboot, und als ich es musterte, musste ich mir ein Lachen verkneifen. Es sah nicht gerade wie eine Galeone aus, eher wie eine Yacht . . . mit einer Totenkopfflagge am Mast. Es war tatsächlich nur ein Wachmann zu sehen, ein dünner, rothaariger Mann, der auf einem Stuhl an Deck saß, die Füße gegen die Reling gestemmt und eine Flasche neben sich.

»Leichte Beute«, murmelte ich Kristof zu.

Aber als wir nahe genug herangekommen waren, hielten wir beide inne. Der Mann redete. Ich konnte niemanden außer ihn selbst sehen. Kristof winkte mir, ich sollte zuhören.

». . . Wochen in dieser Scheißstadt, und ich bewache immer noch das Scheißschiff«, sagte der Mann gerade. »›Tut uns leid, Dannyboy, aber das sind nun mal die Regeln.‹ Dannyboy.« Er grunzte wütend. »Der nächste Wichser, der mich so nennt «

Die Tirade sank zu einem Murmeln ab. Es war niemand sonst auf dem Schiff nur ein einziger, sehr gelangweilter, sehr ärgerlicher und etwas betrunkener Wachmann. Womit sich unsere Hoffnungen auf ein Entermesserduell wohl endgültig in Luft auflösten.

Dannyboy hatte sich inzwischen auf seinem Stuhl zurückgelehnt und die Augen geschlossen. Während wir uns näher heranschlichen, erwog ich, ihn zeitweise mit Blindheit zu schlagen aber wenn er dann die Augen öffnete und nichts sah, würde er in Panik geraten.

Wir erreichten die Anlegestelle. Das Klatschen der Wellen gegen den Bootsrumpf übertönte unsere Schritte. Wir hatten die Gangplanke hinter uns gebracht, ohne dass der Wachmann auch nur zuckte.

»Eingeschlafen?«, formte ich mit den Lippen.

Kristof deutete mit der Hand eine HalbehalbeWahrscheinlichkeit an und teilte mir dann mit einer Geste mit, ich solle einen Kreis schlagen und mich dem Wachmann von hinten nähern. Ich hatte gerade den ersten Schritt getan, als der Mann einen Seufzer ausstieß.

»Seid ihr Typen jetzt bald an Deck?«, fragte er, ohne die Augen zu öffnen. »Wenn ihr noch lange braucht, schlafe ich wirklich ein.«

Kristof griff an, den Degen erhoben. Der Wachmann sprang auf und wich aus. Ich verschwand hinter dem Kabinenaufbau.

Als Kristof herumfuhr, riss der Wachmann sein Entermesser aus dem Gürtel. Kris’ ersten Stoß parierte er, den zweiten verfehlte er, aber es gelang ihm eben noch rechtzeitig, auszuweichen.

Der bessere Fechter war unverkennbar Kris, aber der kleinere Mann war von einer mühelosen Gewandtheit und hielt sich immer gerade außer Reichweite. Irgendwann stand er mit dem Rücken zu mir, ich kam aus der Deckung und drückte ihm die Spitze meines Entermessers zwischen die Schulterblätter.

»Noch einen Schritt, und ich spieße dich auf«, sagte ich.

»Weh tun wird es nicht, aber es könnte unangenehm sein.«

Er warf einen Blick über die Schulter, musterte mich und begann zu lächeln.

»Hab schon immer eine Schwäche für Frauen gehabt, die auf sich selbst aufpassen können. Lasst mich raten, ihr beide wollt dieses Boot.«

»Ja«, sagte Kristof. »Und entweder rückst du es raus, oder «

»Nehmt es.«

Als Kris zögerte, zuckte der Mann die Achseln.

»Was zum Teufel geht es mich an? Es gehört mir nicht. Wenn ihr das Boot nehmt, kann ich aus diesem Loch weg, und glaubt mir, ich habe nichts dagegen, wenn ihr mir die Entschuldigung liefert. Und wenn Pierre und seine Typen das Boot verlieren, stört mich das auch nicht. Geschieht ihnen ganz recht. Blöde Piratenspielerei, nicht annähernd so unterhaltsam, wie man meinen sollte.«

»Du würdest also einfach verschwinden ?«, fragte ich.

»Klar. Bloß um einen Gefallen würde ich euch bitten. Gebt mir zwanzig Minuten, bevor ihr ablegt. Wenn ihr die Segel setzt, sieht man euch in der Stadt, und ich hätte gern einen Vorsprung, bevor Pierre und seine Freibeuter hinter mir her sind.«

Kris sah mich an. Ich zuckte die Achseln. Wir ließen den Wachmann gehen. Wie angekündigt trabte er am Ufer entlang und verschwand dann zwischen ein paar Bäumen. Während Kris sich das Boot ansah, stand ich Wache, um sicherzugehen, dass Dannyboy nicht wieder auftauchte und in Richtung Stadt rannte, um die Piraten zu warnen.

»Alles in Ordnung?«, fragte ich, als Kris wieder an Deck erschien.

»Bestens. Es ist ein umgebautes Freizeitboot. Ohne Motor natürlich, aber unter Wind und Formeln wird es laufen. Dad hat mir was ganz Ähnliches gekauft, als ich damals nach Harvard gegangen bin.«

»Du hast eine Yacht mit ans College genommen? Die meisten Studenten kriegen ein Auto geschenkt, Kris.«

»Oh, ein Auto hatte ich auch. Genaugenommen sogar zwei.

Der Lotus war für den Winter da oben einfach nicht geeignet.«

Ich schüttelte den Kopf. »Können wir ablegen?«

Ein scharfer Windstoß jagte aus Süden heran, und es war kein natürlicher Wind. Die Segel blähten sich, und das Boot löste sich mit einem Ruck von der Kaimauer. Ich lehnte mich an die Reling.

»Und musst du navigieren oder was?«

»Ich habe einen Kurs nach Roatan eingelegt. Sehr lang wird die Windformel nicht vorhalten, aber sie wird uns hinbringen.«

»Eilt ja nicht. Wir können sowieso erst am Morgen bei Luther Ross auftauchen. Aber wahrscheinlich sollten wir noch eine Weile Ausschau halten, nur für den Fall, dass wir verfolgt werden.«

»Das erledige ich. Und wenn es dir nichts ausmacht, könntest du inzwischen für etwas Deckung sorgen.«

Ich sprach die entsprechende Magierformel. Nebel wallte rings um das Boot auf, und wir segelten aufs Meer hinaus.

Edinburgh 1962

Die Nixe saß auf einem Barhocker und starrte eine Flasche Scotch an. Sie war zum Greifen zum Trinken nahe.

Früher hätte sie derlei nicht einmal erwogen. Aber jetzt war es so weit gekommen, dass sie eine Flasche Alkohol anstarrte und sich vorstellte, wie die Flüssigkeit in der Kehle brannte

und wie ihr eine angenehme Betäubung folgen würde.

Sie hatte in vielen Partnerinnen gesteckt, die gewisse Erinnerungen vergessen wollten, und die meisten hatten Alkohol verwendet, um es zu tun. Sie hatte sie für diese Schwäche immer verachtet. Sie hatte die Auswirkungen mit zusammengebissenen Zähnen durchgestanden und jeden Augenblick gehasst, in dem ihre Sinne und Gedanken unklar waren. Und jetzt konnte sie sich nichts Besseres vorstellen, als sich das gleiche vorübergehende Vergessen selbst zuzuführen.

Sie konzentrierte sich und griff nach der Flasche. Ihre Finger glitten durch das Glas, durch die bernsteinfarbene Flüssigkeit, und nicht einmal ein Tropfen blieb an ihnen haften. Früher einmal hätte sie gebrüllt vor Frustration und jeden Dämon, den sie nennen konnte, dafür verflucht, dass er sie nicht aus diesem Gefängnis herausholte. Jetzt stöhnte sie nur und sank auf ihrem Hocker zusammen.

Sie hatte keine ordentliche Nahrung gefunden, seit Dachev sie verlassen hatte. Oh, sie hatte sich Partnerinnen gesucht und ihren Anteil an dem Chaos genommen, aber es war einfach nicht dasselbe gewesen. Sie war auf der Suche nach etwas Besserem um die halbe Welt gereist, aber gefunden hatte sie es nicht.

Jede neue Partnerin war nichts als ein armseliger Ersatz.

Es würde niemals wieder jemanden wie Andrei Dachev geben. Einen wahren Seelenverwandten. Zwar war er nichts weiter als ein paranormaler Schatten und außerdem ein Angehöriger einer der geringeren Spezies gewesen, aber er hatte die Macht von Tod und Chaos verstanden, wie es normalerweise nur ein Dämon konnte. Mehr noch, er hatte die Kunst, das Chaos zu schaffen, höher zu schätzen gewusst als die meisten Dämonen, und er hatte ihren Horizont erweitert, ihr Möglichkeiten eröffnet, die sie nie zuvor gekannt hatte, sie die wahre Schönheit körperlichen und geistigen Leidens gelehrt.

Er war damit zufrieden gewesen, ihr zuzusehen, aber sie hatten immer davon gesprochen, Mittel und Wege zu finden

auch ihn in ihre Partnerinnen zu holen, den Partnerinnen ihren Willen aufzuzwingen, sie dazu zu bringen, seine visionären Ideen in die Tat umzusetzen. Wäre es ihnen gelungen, dann, das wusste die Nixe, hätte sie eine Emotion kennengelernt, die sie nie zuvor erfahren hatte: die Glückseligkeit vollkommener Befriedigung.

Wenn sie ihn nur nicht verraten hätte.

Sie verriet alle ihre Partner irgendwann, um der letzten Genugtuung willen, sie fallen zu sehen. Sie hatte sich gesagt, das sei der Grund gewesen, weshalb sie sich gegen Dachev gewandt hatte, sie sei so daran gewöhnt gewesen, dass sie gehandelt hatte, ohne nachzudenken. Die Wahrheit war jedoch noch weniger verzeihlich. Sie hatte Dachev verraten, weil sie eine weitere Emotion verspürt hatte, die sie noch nicht kannte: Furcht.

Als sie gerade in einer Partnerin steckte, war ein Engel gekommen und hatte Dachev gesucht derselbe, der ihre Seele aus dem Körper der Marquise gezogen und in die Hölle gebracht hatte. Sie hatte ihn erkannt, aber als Dachev den Engel sah wie ein Mensch gekleidet, wie ein Mensch im Verhalten , hatte er ihn für ein körperliches Wesen gehalten. Sie hätte ihn warnen können. Sie hätte nichts weiter zu tun brauchen, als aus ihrer Partnerin zu fahren. Aber dabei hätte sie sich selbst dem Engel zu erkennen gegeben. Die Furcht hatte sie gelähmt, und sie hatte Dachev seinem Schicksal überlassen.

Seither hatte sie Zeit gehabt, ihre Feigheit zu bereuen. Fünfzehn Jahre, in denen sie Partnerinnen gefunden hatte, die zwar zweckdienlich waren, aber weiter nichts, niemanden, der Agnes oder Jolynn oder Lizzie gleichkam, ganz sicher niemanden wie Andrei Dachev.

Die Tür des Pubs öffnete sich, und ein Junge kam herein. Als er zu einem Tisch hinüberlief, um seinem Vater etwas auszurichten, schoss sein Blick durch den Raum, um jedes Detail dieses verbotenen Ortes in sich aufzunehmen. Eine junge blonde Frau an der gegenüberliegenden Wand beobachtete ihn dabei.

Nicht weiter ungewöhnlich alle Welt hatte den Kopf gedreht, um das Kind anzusehen, es war die ganz gewöhnliche Neugier der Gelangweilten. Doch die Art, wie diese Frau den Jungen ansah, erregte die Aufmerksamkeit der Nixe. Das Funkeln in ihren Augen, nicht einfach der Hunger eines perversen Menschen, der nach Kindern giert, sondern das echte Vergnügen des Beutegreifers.

Die Frau sagte etwas zu dem Mann an ihrem Tisch, einem jungen Mann mit schlaff herabhängendem Haar. Sein Blick glitt zu dem Jungen hin, und er lächelte, während ein trüberer Funke auch in seinen Augen aufleuchtete. Noch ein Beutegreifer, aber zugleich ein Gefolgsmann, ein williger Schüler. Die Frau war die Anführerin. Wie interessant.

Die Nixe glitt von ihrem Stuhl und ging näher an die beiden heran. Sie zögerte; ihr graute vor der Welle der Enttäuschung, die ihr bevorstand, wenn sie sich geirrt hatte. Endlich fing sie den Blick der jungen Frau auf. Und nach einem einzigen kurzen Blick in ihren Geist wusste die Nixe, dass das Blatt sich gewendet hatte.

23

Unter Deck angekommen, taten wir das, was wir im vergangenen Jahr fast jeden Abend getan hatten wir saßen zusammen und redeten. Man sollte meinen, uns wären schon vor Monaten die Themen ausgegangen, aber es schien immer wieder etwas Neues zu besprechen zu geben ein Thema, eine Ansicht, irgendeine Wendung, der wir noch nicht nachgegangen waren.

An diesem Abend erzählte Kristof eine lange Geschichte über ein Werwolfsrudel, mit dem er in Russland zu tun gehabt hatte, und ich hörte zu, die Beine hochgezogen und den Kopf auf den Armen, während das sanfte Schaukeln des Bootes mich in den Schlaf zu wiegen versuchte. Aber ich widerstand. Natürlich war ich müde, und ich hätte Kris bitten können, mir die Geschichte bei einer anderen Gelegenheit zu erzählen. Aber ich wollte einfach nur dasitzen und ihm zuhören, die Bewegungen seiner Hände und Augen verfolgen und das Ansteigen und Abfallen seiner Stimme.

Es gab eine Zeit, in der hätte ich alles gegeben, um einer von Kristofs Geschichten zuhören zu können. Wie viele Nächte hatte ich wach gelegen und daran gedacht, wie gut es wäre, seine Stimme zu hören? Wie oft hatte ich erwogen, zum Telefon zu greifen und ihm von Savannah zu erzählen? Am Morgen war ich regelmäßig entsetzt gewesen, entsetzt darüber, dass ich beinahe meine Tochter als Entschuldigung verwendet hätte, um mir etwas zu verschaffen, das ich selbst mir wünschte. Jetzt konnte ich es genießen, ohne Scham und Schuldgefühle. Also blieb ich wach, bis die Geschichte zu Ende war, und ließ mich erst dann langsam in den Schlaf hinübertreiben.

Als ich kurz nach der Morgendämmerung aufwachte, war Kris bereits an Deck und navigierte das Boot ans Ufer. Wir warfen in einer kleinen Bucht den Anker aus und gingen an Land. Wahrscheinlich würden wir das Boot nicht wieder brauchen, weil unsere Transportcodes uns von der Insel fortbringen würden, aber es konnte ja nicht schaden, für alle Fälle einen Nottransport zu haben.

Wir fanden einen überwucherten Pfad, der in den Dschungel hineinführte und auf die Beschreibung passte, die ich erhalten hatte. Nachdem wir uns etwa eine Meile weit bergauf und bergab durch den Dschungel gekämpft hatten, wurde das Gelände offener, und schließlich kam ein schlichtes weißes Holzhaus in Sicht. Kris blieb zurück; ich ging weiter und setzte eine Kombination aus Verschwimm und Tarnformeln ein, um auf die rundumlaufende Veranda zu gelangen und rasch in die Fenster hineinzusehen. Erst beim letzten davon fand ich Luther Ross.

Niemand hatte mir beschrieben, wie er aussah, aber das wäre auch nicht nötig gewesen. In dem Wohnzimmer hielten sich fünf Personen auf. Vier davon waren Anfang zwanzig, weiblichen Geschlechts und blond. Die fünfte war ein großer dunkelhaariger Mann Anfang vierzig mit einem Spitzbart, spöttischen grauen Augen und einer Hand auf dem Hintern einer der Blondinen er beugte sich über ihre Schulter und zeigte auf eine Vase. Das Gesicht des Mädchens legte sich vor Konzentration in Falten, während sie die Vase zu verschieben versuchte. Als das Ding sich keinen Millimeter bewegte, tätschelte er ihr das Hinterteil und winkte sie zu einem Stuhl.

Unglaublich. Da besaß ein Typ die Fähigkeit, Gegenstände über die kosmischen Barrieren hinwegzubewegen, und wozu nutzte er sie? Dazu, niedliche Schülerinnen ins Bett zu kriegen.

Kein Wunder, dass Ross sich auf Roatan versteckt hatte es ging nicht so sehr darum, den Suchern aus dem Weg zu gehen, als vielmehr darum, seine Klassen auf Teilnehmerinnen eines bestimmten Typs zu beschränken, die er persönlich auswählen und mit einem Transportcode ausstatten konnte. Wahrscheinlich nahm er gelegentlich auch wirkliche Schüler auf, um seinen Ruf aufrechtzuerhalten, aber wenn seine durchschnittliche Klasse so aussah, dann brauchte ich mich nicht darüber zu wundern, dass er bei der Weitergabe seiner Fähigkeiten nicht erfolgreicher war. So, wie diese Mädchen auf mich wirkten, hatten sie vermutlich Schwierigkeiten, das Wort Telekinese richtig auszusprechen. Nymphen wahrscheinlich. Schon zu Lebzeiten hatte ich mich gefragt, welche Fähigkeiten Nymphen eigentlich besaßen. Und jetzt, nachdem ich hier im Jenseits ein paar davon kennengelernt hatte, wusste ich es immer noch nicht.

In jedem Fall waren den Nymphen diese Fähigkeiten wie auch immer sie ausgesehen haben mochten schon vor vielen Generationen abhandengekommen. Sie waren vollkommen in der menschlichen Spezies aufgegangen. Die paranormalen Dimensionen der Geisterwelt sind voll von ausgestorbenen Spezies wie Elfen und Dryaden Wesenheiten, die ihre Kräfte längst verloren haben und oft selbst nichts von ihrer Identität wissen, die nach ihrem Tod aber zu uns kommen. Wahrscheinlich ist es nicht einfach, sich plötzlich von Leuten umgeben zu sehen, die Formeln wirken, sich in Wölfe verwandeln oder die Elemente manipulieren. Nicht weiter überraschend also, dass Angehörige dieser Spezies den Schwarzmarkt am Leben halten mit ihrem Bemühen, eine Fähigkeit, irgendeine Fähigkeit zu linden, die sie ihr Eigen nennen können.

Ich kehrte zu Kristof zurück und erzählte ihm, was ich gesehen hatte.

»Scheint eher ein Job für dich zu sein«, sagte er. »Ich warte hier draußen.«

Ich zog mich um und wählte dabei das kurze schwarze Kleid, das ich bei den Heimsuchern getragen hatte. Vielleicht nicht ganz Ross’ Stil, aber immerhin würde er mich nicht mit einer seiner Nymphen verwechseln. Dann ging ich zur Haustür, öffnete sie und trat ein.

Als ich ins Wohnzimmer kam, fuhren die Nymphen zusammen. Ross sah zu mir herüber und starrte mich an.

»Da sieh mal einer an«, sagte er. »Eine neue Schülerin, nehme ich an?«

Ich sah jede einzelne Nymphe an und zog dann zu Ross hin eine Augenbraue hoch.

»Du kannst hier nicht einfach reinkommen «, begann das Mädchen auf dem Stuhl.

Ross hob einen Finger, und sie brach mitten im Quiekser ab.

»Dies ist ein geschäftlicher Besuch«, sagte ich. »Ich hätte ja angerufen, aber «

Er lächelte. »Gar nicht so einfach in dieser Welt, was? Du willst also Unterricht? Vielleicht sogar . . . Privatunterricht?«

Ich lächelte in seine Richtung und zuckte die Achseln. Als ich näher kam, weiteten ich seine Augen der überraschte Blick der meisten Männer, wenn sie feststellen, wie groß ich bin.

Als er mir ins Gesicht sah, schoben seine Lippen sich vor.

»Wir kennen uns, oder?«

»Glaubst du, du hättest mich vergessen, wenn es so wäre?«

Er lachte leise und streckte die Hand aus, um mein Haar zu berühren. Ich schwang es außer Reichweite. Sein Lächeln wurde nur noch breiter. Die Nymphen ringsum knurrten geradezu.

»Darf ich mich setzen?«, fragte ich.

»Bitte«, sagte er.

Ich ging zu der Nymphe auf dem Stuhl hinüber und winkte ihr mit den Fingern, sie sollte aufstehen. Sie starrte mich wütend an.

»Annette . . . «, sagte Ross.

»Sie soll sich selbst einen Stuhl suchen.« Annette sah sich im Zimmer um, in dem es keine leeren Stühle mehr gab, und lächelte mich an. »Oops, wahrscheinlich wirst du einfach nach Hause gehen müssen.«

Ich murmelte eine Formel. Als ich die Finger krümmte, riss die Bewegung Annette vom Stuhl und ließ sie auf den Boden stürzen.

Vom Sofa her kam ein Chor von Keuchern und Gekicher.

Ich setzte mich und sah auf. Ross grinste.

»Eve Levine, nehme ich an?«, sagte er.

Ich zog die Brauen hoch.

»Dein Ruf eilt dir voraus«, sagte er. »Ich habe bloß einen Moment gebraucht, um die Indizien zusammenzusetzen. Mädels, das ist Eve Levine. AspicioHalbdämonin und Formelwirkerin.

Geht ihr so lange nach oben, Ms. Levine und ich haben etwas zu besprechen.«

Es dauerte eine Weile, aber schließlich hatte sich der Raum geleert. Dann setzte sich Ross mir gegenüber.

»Unterricht also . . . « Sein Blick glitt an meinen nackten Beinen hinauf. »Ich nehme an, wir könnten die Zeit dafür finden.«

»Es gibt noch eine andere Frage, die ich zuerst ansprechen muss.«

»Ah.« Ein kurzer Augenblick der Enttäuschung, als er sich im Stuhl zurücklehnte.

»Hast du jemals von einer Nixe gehört?«

Er zögerte; seine Augäpfel rollten aufwärts, als spähe er in seine privaten Datenbanken. »QuasiDämon, richtig?« Wieder eine Pause; dann schüttelte er den Kopf. »Sonst fällt mir dazu nichts ein.«

Ich lieferte ihm eine kurze Zusammenfassung. Er hörte ohne eine Regung zu, die Augen auf meine gerichtet, ohne mich zu unterbrechen, ohne auch nur zu zwinkern. Als ich fertig war, strich er sich über den Bart.

»Und weißt du, warum sie nach mir sucht?«

»Keine Ahnung. Treibst du noch irgendwas anderes außer Poltergeistlektionen?«

Er schüttelte den Kopf. »Mein einziger Anspruch auf Ruhm und Ehre, fürchte ich.«

Wir redeten noch eine Weile, aber ich fand keinen anderen Grund, warum die Nixe Luther Ross suchen sollte. Und warum würde sie überhaupt einen Poltergeistlehrer besuchen wollen, wenn sie den Geist eines lebenden Menschen bewohnen konnte?

Als wir fertig waren, dankte Ross mir für die Warnung. »Du rechnest also damit, dass sie hier auftaucht?«

»Sie war auf dem Weg hierher.«

»In diesem Fall solltest du es vielleicht gar nicht so eilig haben, hier wegzukommen. Warum bleibst du nicht eine Weile?

Du könntest dich als meine neue Schülerin ausgeben . . . wenn du das mit den Lektionen überhaupt ernst gemeint hast.«

»Das habe ich. Und vielleicht ist das gar keine schlechte Idee. Was würdest du im Austausch für den Unterricht haben wollen? Transportcodes, Kontakte «

»Ich hatte eigentlich an etwas« seine Zähne blitzten hell gegen den dunklen Bart »Persönlicheres gedacht.«

»Oh, ich bin sicher, davon bekommst du schon genug von deinem Nymphenharem. Ich würde mich wundern, wenn auf der Matratze noch Platz wäre.«

Sein Lächeln wurde zu einem Grinsen. »In manchen Nächten kann es ein bisschen eng werden. Aber für dich würde ich Platz schaffen. Und das Bett frisch beziehen.« Er fing meinen Blick auf und seufzte. »Andererseits, wahrscheinlich könnte ich mich auch mit ein paar wirklich guten Transportcodes zufriedengeben.«

24

P sst!«, zischte jemand, als ich auf die vordere Veranda hinaus trat.

Ich drehte mich um und sah ein Mädchen mit einem herzförmigen Gesicht, langem blondem Haar und braunen Rehaugen.

Typisch Nymphe. Sie sah aus, als hätte sie eigentlich durch einen Wald laufen sollen, bekleidet mit nichts anderem als ein paar strategisch plazierten Blättern.

»Ja?«, fragte ich.

Sie winkte mir, ihr zu folgen, und lief dann los in Richtung Wald, so lautlos und leichtfüßig wie ein Reh. Ich sah mich um.

Kris hob in meine Richtung die Hand. Ich zeigte auf die Nymphe, und er nickte, woraufhin ich ihr folgte.

Das Mädchen wartete unter einem Baum. Als ich sie einholte, sah sie sich nervös um.

»Er lügt«, flüsterte sie. Als ich die Stirn runzelte, sprach sie überstürzt weiter. »Mr. Ross. Er sagt nicht die Wahrheit über die Nixe. Sie war hier. Ich hab sie reden hören. Ist sie wirklich «

Sie schauderte. »Ist sie wirklich so übel, wie du gesagt hast? Sie bringt Leute um?«

»Ich fürchte ja. Ist sie im Moment gerade hier?«

»Sie ist letzte Nacht gegangen. Ich glaub’s einfach nicht, dass wir im selben Zimmer waren wie sie. Ich habe mit ihr geredet!

Meinst du meinst du, sie hat irgendwas mit mir angestellt?

Mich angesteckt oder so? Mich auch zu einer Mörderin gemacht?«

»Sie kann niemanden zu einer Mörderin machen.«

Die Nymphe sah mit ihren großen Augen zu mir auf. »Bist du sicher?«

»Es gibt in der Geisterwelt nur Tote. Man kann sie nicht mehr umbringen.«

»Oh. Stimmt ja.«

»Genau. Du hast also Ross und die Nixe miteinander reden hören «

Sie nickte. »Sie haben über einen Plan geredet. Mr. Ross hat gesagt « Sie fuhr zusammen, als etwas im Unterholz knackte.

»Oh, ich sollte das nicht tun. Wenn Mr. Ross das herausfindet . . .

er kann Sachen, die machen einem wirklich Angst «

»Ich auch. Was wolltest du sagen?«

Ihre Finger legten sich um meinen Unterarm und zogen mich tiefer ins Gestrüpp. Sie sah aus, als würde sie vor schierer Angst gleich anfangen zu weinen. Nach ein paar Schritten murmelte sie etwas.

»Bitte?«, sagte ich.

Sie murmelte weiter, während sie mich mit sich zog. Ich fing ein paar lateinische Worte auf und wusste plötzlich, dass sie nicht mit mir redete. Sie wirkte eine Formel.

Ich versuchte den Arm wegzureißen. Ihr Griff wurde fester.

»Hey!«, sagte ich.

Sie sah über die Schulter zu mir zurück, und jede Spur von mädchenhafter Unschuld war aus ihrem Gesicht verschwunden. Ihre Lippen bewegten sich immer noch. Ich versuchte sie wieder abzuschütteln, aber die plötzliche Kraft in ihrem Griff war unglaublich. Sie zerrte mich zurück, und ich wäre fast gefallen.

Während ich das Gleichgewicht zurückgewann, fauchte ich meinerseits eine Formel. Einen Bindezauber. Ich vollendete ihn . . . und sie lächelte und sprach weiter. Ich begann mit einer Rückstoßformel, aber die ersten Worte waren kaum gesprochen, als die Luft ringsum zu schimmern begann die unverkennbaren Anzeichen eines sich öffnenden Portals. Scheiße! Und ich konnte mich nicht losreißen. Dämonische Kraft. Die einzigen Wesen mit dämonischer Kraft waren Dämonen. Oder QuasiDämonen.

In Gedanken brüllte ich nach Trsiel. Ich hätte die Nixe nur zu gern selbst zu einem Bündel verschnürt und den Parzen präsentiert, aber ich wusste es besser. Ein QuasiDämon war zu stark für mich und immun gegen Formeln; dies war eine Aufgabe für einen Engel.

Das Portal riss ein schwarzes Loch ins Nichts.

Ich warf mich in die andere Richtung, aber die Nixe zerrte mich zurück, und ich verlor den Boden unter den Füßen. Ich sah das Portal vor mir gähnen und wusste, dass ich hineinstürzen würde . . . und es gab nichts auf der Welt, was ich dagegen hätte tun können.

Da prallte etwas von hinten gegen die Nixe, und ihr Griff lockerte sich. Ich segelte über die Waldlichtung hinweg, rollte ab und sprang auf. Die Nixe hatte sich auf Kristof gestürzt, der eben noch rechtzeitig auswich. Sie fauchte ihn an und sprang.

Er wich erneut aus. Ich schleuderte einen Energiestrahl, und er ging geradewegs durch sie hindurch. Beim nächsten Versuch erwischte sie Kristofs Arm und riss ihn von den Beinen, auf das Portal zu.

Mir wurde eiskalt. Ich warf mich nach vorn und rammte Kristofs Flanke, als seine Füße eben das Portal erreicht hatten.

Die Nixe verlor den Halt, und Kris und ich stürzten. Als ich aufkam, fiel mir eine Formel ein, die vielleicht funktionieren würde, eine Formel mit dem Zweck, Unvorsichtige zu schützen, wenn sie versehentlich etwas heraufbeschworen hatten, das eine Nummer zu groß für sie war.

Als ich die Formel herunterratterte, versuchte ich mich zu wappnen. In dem Augenblick, in dem mir die letzten Worte von den Lippen flogen, floss die Energie wie ein TausendWattStromstoß durch mich hindurch, und ich brach zuckend zusammen. Hätte die Nixe in diesem Augenblick angegriffen, ich wäre vollkommen hilflos gewesen. Aber während mein Körper zitterte und zuckte, konnte ich einen Blick auf sie werfen, und was sie durchschüttelte, war doppelt so stark wie das, was ich gerade durchmachte. Dann legten sich Kristofs Arme um mich und zogen mich hoch. Sein Gesicht war aschgrau.

»Schon okay«, murmelte ich. »AntiDämonenFormel.

Scheußliche Nebenwirkungen. Zum Teufel mit meinem Dämonenblut.«

Als er mir auf die Füße half, hatte sich auch die Nixe mühsam auf die Beine gekämpft.

»Halbdämonische Hexe?« Sie spuckte die Worte förmlich aus, machte aber keinen Versuch, näher zu kommen. »Haben die Parzen es satt, Engel an mich zu verschwenden? Verschwinde, Hexe. Das ist kein Spiel für dich.«

»Nein? Aber ich habe dich schneller gefunden als jeder von diesen Engeln, stimmt’s?«

Sie lachte. »Mich gefunden? Ich habe dich gefunden. Und hätte dich fast ins große Nirgendwo geschleudert.«

»Ja, fast. Zu schade, dass das schiefgegangen ist. An einer halbdämonischen Hexe gescheitert das muss weh tun.« Komm schon, Trsiel! Wo steckst du?

Das Gesicht der Nixe verfinsterte sich, und ich bereitete meinen nächsten Dämonenabwehrzauber vor und hoffte inständig, dass ich noch die Kraft hatte, ihn zu wirken.

»Glaubst du, dieses Portal ist das Beste, was ich zu bieten habe? Du bist wirklich dumm, Hexe. Und die einzige Möglichkeit, den Dummen etwas beizubringen, ist mit Hilfe eines Beispiels.«

Sie hob beide Hände . . . und verschwand.

»Verflucht!« Ich stürzte vorwärts.

»Du hast mich gerufen?«, fragte eine melodische Stimme hinter mir.

Ich fuhr herum und sah Trsiel da stehen, so gelassen, als hätte ich ihn zum Tee gebeten.

»Du!«, rief ich. »Wo zum Teufel hast du gesteckt? Sie war hier die Nixe ich hab nach dir gebrüllt!«

Seine Lippen formten ein lautloses Wort, von dem ich mir sicher war, dass es ein sehr unengelhafter Fluch gewesen war.

Ich erklärte, was passiert war.

»Und jetzt steckt sie also im Körper dieser Nymphe «

»Das ist keine Nymphe. Das ist die Nixe. Es ist ihre Gestalt in dieser Dimension.«

»Was? Du hast gewusst, wie sie aussieht? Und wann zum Teufel hattest du vor, es mir zu sagen?«

»Du hast die Bücher gesehen, oder nicht? Die Illustrationen?

Es war keine von ihr selbst dabei, aber sie sehen alle gleich aus.«

»Ich habe Darstellungen mythologischer Nixen gesehen. Und ja, sie sehen alle wie Nymphen aus, aber das waren Zeichnungen von Menschen gemachte Zeichnungen! Welcher Idiot wäre je davon ausgegangen, dass die wirklich so aussehen?«

»Das . . . ja, das ergibt eine Art von Sinn, nehme ich an.«

»Nimmst du an?« Kristof ging mit langen Schritten auf Trsiel zu. »Was spielt ihr Typen eigentlich für ein Spiel? Eve wäre beinahe in ein Höllenportal geraten, weil niemand ihr gesagt hat, wie man dieser Nixe das Handwerk legt. Oder hätte sie das auch in einem Buch lesen können?«

Trsiel sah zu mir herüber. »Wer ist das?«

»Kristof Nast. Kris, darf ich dir Trsiel vorstellen.«

Trsiels Gesichtsausdruck nach wusste er, wer Kris war oder vielleicht wusste er auch einfach, wer die Nasts waren. Jedenfalls war er nicht beeindruckt. Er musterte Kris eine Weile, wandte sich dann ab und ging ein Stück zur Seite.

»Das ist dein Schutzengel?«, fragte Kris, während er mit dem Daumen hinter ihm herzeigte.

Ich nickte.

»Na, bisher hat der ja tolle Arbeit abgeliefert. Du solltest um einen Ersatzmann bitten, wenn du mich fragst.«

»Nein«, sagte Trsiel, »ich glaube nicht, dass sie das getan hat.

Eve?« Er winkte mich zu sich herüber.

Ich schüttelte den Kopf. »Wenn du mir etwas sagen willst, kannst du es auch in Kris’ Gegenwart sagen.«

»Ich würde es vorziehen, das nicht zu tun.«

»Eve?«, sagte Kris.

Auch er winkte mich jetzt außer Hörweite. Als ich zu ihm hinüberging, sah ich, wie Trsiels Mund schmal wurde.

»Ich überlasse das besser dir«, murmelte Kris. »Sonst gerate ich nämlich noch in Versuchung, dem Trottel ein paar Zähne auszuschlagen, und ich glaube nicht, dass das bei den Parzen gut ankäme. Soll ich inzwischen mal mit unserem PoltergeistFreund reden?«

Ich nickte. »Bitte. Wenn er mich wirklich angelogen hat «

»Ich bezweifle es. Der ist wahrscheinlich genau so überrascht wie wir, dass er die Nixe in seinem Haus hatte.«

Bevor er gehen konnte, griff ich nach seinem Arm. »Kris?«

»Hm?«

»Danke für vorhin. Mit der Nixe.«

Er lächelte. »Jederzeit.«

Als Kristof in Richtung Haus verschwand, kam mir plötzlich ein alarmierender Gedanke. Würde Ross die Poltergeistlektionen erwähnen, die wir verabredet hatten? Mist. Hoffentlich nicht. Kris hatte es sich am Tag zuvor verkniffen, mich zu fragen, warum ich schon so viel über Ross wusste. Er brauchte seine Vermutungen nicht noch bestätigt zu bekommen und wir brauchten keinen neuen Anlass, uns wegen Savannah zu streiten.

»Wohin geht er?«, fragte Trsiel.

»Mit Luther Ross reden. Rausfinden, ob der weiß, dass er eine Nixe unterrichtet hat.«

Trsiel schüttelte den Kopf; der ärgerliche Ausdruck verflog.

»Das ist keine gute Idee, Eve. Ich weiß, dass er der Vater deiner Tochter ist, und es ist unverkennbar, dass ihr euch immer noch nahesteht, aber dies ist deine Queste. Er kann dir nicht helfen.

Die Parzen hätten es dir erklären sollen.«

»Die Parzen haben Kris mit mir zu Lizzie Bordens Haus geschickt. Sie halten es wohl für wichtiger, dass ich diese Nixe fange, ganz gleich mit wessen Hilfe ich das mache, als dass ich die Schuld wirklich allein begleiche.«

»Darum geht es nicht, Eve. Es ist du kannst nicht wenn du aufsteigst « Er brach ab. »Ich rede mit ihnen. Für den Augenblick hat Kristof recht. Du musst wissen, wie du diese Nixe festhalten kannst, bis ich sie einfange. Soviel ich weiß, ist dies die einzige Möglichkeit, sie wirklich zu binden.« Er hob die rechte Hand, sprach ein paar Worte, und ein schimmerndes Schwert erschien in seiner Hand. Er senkte es und streckte es mir hin. Ich beugte mich vor. Ich hatte Janahs Schwert gesehen, der Anblick hätte also so faszinierend nicht sein sollen, aber ich konnte den Blick nicht abwenden. Meine Finger krümmten sich, als legten sie sich um das Heft. Ich erinnerte mich an das Gefühl, von diesem Schwert berührt zu werden, und ein Schauer jagte durch mich hindurch.

»Das würde sie also aufhalten«, sagte ich. »Aber ich kriege keins, oder?«

»Nicht, bevor du kein Engel bist. Aber vielleicht . . . « Er sah mich an. »Vielleicht könntest du meins verwenden.«

»Sicher ich meine, wenn du es nicht brauchst.«

»Nicht mehr.« Seine Augen verdüsterten sich. »Jedenfalls in letzter Zeit nicht.«

Er streckte es mir hin. Ich hatte vor, es ihm in aller Gelassenheit abzunehmen, aber stattdessen riss ich es ihm fast aus den Händen. Er lachte leise. Ich keuchte, als die weißglühende Hitze an meinen Armen hinaufrann.

Er griff nach dem Schwert. »Es tut mir leid. Hier, ich «

»Nein.« Ich trat zurück. »Tut höllisch weh, aber ich komme schon klar.« Ich brachte ein schiefes Lächeln zustande. »In dieser Welt kriege ich nicht mehr viel Schmerz zu spüren. Fühlt sich wirklich merkwürdig an. Passiert das immer, wenn ein NichtEngel es berührt? Oder ist es das Dämonenblut?«

»Da bin ich mir nicht sicher. Ich habe es noch nie jemand anderem gegeben.«

Ich hob das Schwert und erwartete, sein Gewicht in den Handgelenken zu spüren, aber es flog nach oben, als sei es aus Aluminium.

»Wow.«

Trsiel lachte wieder. »Es gefällt dir, stimmt’s?« Er trat zurück und musterte mich; seine Lippen verzogen sich zu einem amüsierten Lächeln. »Es steht dir.«

Ich packte das Heft fester. Was ich in den Händen hielt, konnte durchaus die Lösung meines SavannahProblems sein. Wenn Trsiel recht hatte und ich gerade für die Engelrolle geprüft wurde . . .

Ich starrte wie hypnotisiert auf das Licht hinunter, das zwischen meinen Fingern hervorsickerte. Es würden Bedingungen an diese wundervolle Waffe geknüpft sein. Verantwortung zum Beispiel. Sehr viel Verantwortung. Wenn ich diese Nixe ablieferte und die Parzen beschlossen, mich dafür mit dem Engeltum zu belohnen, dann konnte ich mich nicht einfach für die kosmische Beförderung bedanken und gehen. Um diese Kräfte zu bekommen, würde ich versprechen müssen, sie zu dem Zweck einzusetzen, für den sie bestimmt waren. Ein hoher Preis . . .

für eine große Belohnung.

Ich riss den Blick von dem Schwert los. Wenn Trsiel recht hatte, würde ich als Erstes diese verdammte Nixe erwischen müssen.

»Wenn es zu sehr weh tut «, begann Trsiel, als mein Griff sich lockerte.

»Tut es nicht. Aber funktioniert es bei mir?«

»Finden wir es heraus. Schlag nach mir.«

»Nach dir?«

»Du wirst keinen Schaden anrichten, aber ich werde dir sagen können, ob es funktioniert.«

Ich trat zurück, musterte Trsiel und holte aus der Hieb wäre eines Samurai würdig gewesen. Die Klinge jagte durch seinen Oberkörper und kam blutlos auf der anderen Seite wieder heraus.

»Du bist immer noch eine Spur wütend auf mich, wie ich sehe«, bemerkte er.

»Hat das weh getan?«

»Bist du sehr enttäuscht, wenn ich jetzt nein sage? Ich habe es gespürt, aber nein, ich glaube nicht, dass es weh getan hat.«

»Du glaubst nicht ?«

»Ich war nie ein Mensch, insofern würde ich Schmerzen wahrscheinlich nicht einmal erkennen, wenn ich sie spürte.

Aber ich kann dir sagen, dass es nicht funktioniert. In deinen Händen wird das Schwert die Nixe nicht ausschalten. Nicht, bevor du nicht «

»Ein Engel bist. Was ich erst werde, wenn ich diese Sache hier erledige. Ich mag diese Art von Logik wirklich.« Ich warf einen Blick zu ihm hin. »Glaubst du, das ist wirklich das, was sie vorhaben? Mich für die Engelrolle prüfen?«

»Ah, nachdem sie also das richtig große Schwert in den Händen gehabt hat, beginnt sie die Möglichkeit zu erwägen, dass der Aufstieg vielleicht gar nicht so übel ist.« Er lächelte.

»Ja, ich bin mir zu neunundneunzig Prozent sicher, dass es das ist, was sie vorhaben, und das eine Prozent behalte ich mir nur deshalb vor, um in dem unvorstellbaren Fall, dass ich mich irre, einen Rest Würde bewahren zu können.« Er streckte die Hand aus und berührte das Schwert. Es löste sich in Luft auf. »Die beste Methode, es herauszufinden? Vollende die Queste. Als Erstes müssen wir in dieses Gefängnis zurück. Wenn die Nixe vorhat, dir etwas zu zeigen, wird es in der Welt der Lebenden geschehen.«

»Einen Toten«, sagte ich. »Oder mehrere. Los, gehen wir.

Wir müssen «

Trsiel legte mir die Hand auf die Schulter. Die Berührung war fast so heiß wie das Schwert. »Langsam. Das ist es, was sie will dass du einfach losrennst, hinter ihr her.«

Ich zögerte. Mein Bauchgefühl sagte mir, ich sollte ihn ignorieren, schneller sein, ihr zuvorkommen. Wieder so ein klassischer EveLevineDenkfehler.

»Sie kann Erfolg damit haben«, sagte Trsiel. »Wahrscheinlich wird sie Erfolg haben. Darauf musst du vorbereitet sein.«

»Sie wird jemanden umbringen, meinst du. Sich eine Partnerin suchen, bevor ich etwas tun kann.« Ich nickte. »Ich weiß.

Ich sollte mich vergewissern, dass die Parzen wirklich keine Ratschläge für mich haben, wie ich sie erwischen kann. Könntest du allein zu Amanda Sullivan gehen?«

»Du willst, dass wir uns wieder trennen«, sagte er seufzend.

»Es ist der rationellste Einsatz unserer Ressourcen. Gib mir eine Stunde das heißt, könnt ihr Typen Zeit messen?«

»Wir können.« Er zögerte und nickte dann. »Ich gebe dir einen Code. Für einen sicheren Ort, an dem du warten kannst.«

Ich wartete, bis er verschwunden war, und ging dann zum Haus zurück, um nach Kristof zu suchen.

25

R oss hatte nichts von der Nixe gewusst und schüttelte sich gerade zu, als er erfuhr, dass er sie mehrere Tage lang in seinem Haus und seinem Bett gehabt hatte. Die Vorstellung reichte aus, um einem Mann die Nymphen zu verleiden . . .

jedenfalls für ein paar Wochen. Die LutherRossPoltergeistschule für Nymphen machte Betriebsferien, bis die Nixe eingefangen war, und der Schulleiter packte bis auf weiteres die Koffer. Die mit mir verabredeten Lektionen hatte er in Kristofs Gegenwart nicht erwähnt . . . worüber ich sehr froh war.

»Trsiel war hier«, sagte die mittlere Parze, sobald wir auftauchten. »Er hat seine Bedenken, was Kristofs Hilfe angeht.«

»Und hat sie natürlich auch sofort geäußert«, murmelte Kristof.

»Wir sind der Ansicht, dass er damit nicht unrecht hat.« Sie hob die Hand, bevor Kris protestieren konnte. »Lasst mich ausreden. Die Nixe kennt Eve jetzt und betrachtet dies unverkennbar als eine persönliche Angelegenheit. Wir fürchten, dass sie versuchen wird, Eve zu treffen, indem sie sich jemanden vornimmt, der Eve nahesteht «

Plötzlich war mir kalt. »Savannah, Oh mein Gott «

Kristof hob ruckartig den Kopf; seine Augen weiteten sich.

Dieses Mal hob die Parze beide Hände.

»Um sich Savannah vorzunehmen, müsste die Nixe wissen, wer du bist und was dir wichtig ist. Die Mühe, es herauszufinden, wird sie sich kaum machen nicht, wenn sie jetzt schon eine Möglichkeit kennt, dich zu verletzen.«

Ich sah wieder vor mir, wie die Nixe Kristof auf das offene Portal zugeschleudert hatte. Ein einziger Blick in meine Richtung, und sie musste genau gewusst haben, wo mein wunder Punkt lag.

»Ich weiß eure Sorge um meine Sicherheit zu schätzen, meine Damen«, murmelte Kristof, »aber ich glaube, es liegt letzten Endes an mir, das Risiko einzugehen oder nicht.«

Die älteste Parze schnappte: »Tut es das?«

Kris warf einen Blick zu mir hin. »Natürlich kann Eve ihre Meinung sagen, aber wenn ich das Gefühl habe, ihr helfen zu können, werde ich es tun.«

»Wenn diese Nixe also wieder ein Portal öffnet und versucht, dich hineinzuwerfen, wird Eve sagen: ›Es war seine Entscheidung‹ und dich ignorieren, um ihre Aufgabe zu erfüllen.«

Wieder ein Blick zu mir hin. »Gut. Ich werde mich heraushalten. Aber wenn du mich brauchst, Eve «

Er war noch nicht fertig, als die Sucher ihn verschwinden ließen.

Es stellte sich heraus, dass die Parzen tatsächlich keine Methode kannten, mit der ich die Nixe dingfest machen konnte, und so verwendete ich Trsiels Code und fand mich in einem Raum wieder, der den Eindruck machte, aus Perlmutt geschnitten zu sein. Schimmernde Wände, ein Fußboden, der sich anfühlte wie ein dicker Teppich, aber aussah, als sei er aus dem gleichen Material wie die Wände. Von irgendwoher drang leise Musik zu mir herüber, kaum mehr als ein Luftzug.

Typische Engelwohnräume? Nicht gerade der Stil, den ich mir für mein Jenseits ausgesucht hätte. Aber dies hier war wohl für einen Reinblüter wie Trsiel bestimmt. Ich fragte mich, wo die Aufgestiegenen lebten. In der Geisterwelt? Hielten sie ihre Engelidentität geheim? Noch eine von den Millionen Fragen, die ich würde stellen müssen . . . wenn Trsiel recht hatte und die Parzen wirklich erwogen, mir die Engelrolle anzubieten.

»Wo hast du mich eigentlich hingeschickt?«, murmelte ich.

»Himmlischer Wartesaal? Verdammte Engel «

Jemand räusperte sich. Ich drehte mich um und entdeckte einen Mann und eine Frau, die halb zu mir gewandt standen, als hätte ich ihr Gespräch unterbrochen.

Er war groß und dunkelhäutig, sie war ebenfalls groß und rotblond. Keiner von ihnen wäre auf dem Umschlag eines Modemagazins unangenehm aufgefallen . . . wenn sie etwas modischer gekleidet gewesen wären. Aber beide trugen Gewänder in dem schimmernden Perlweiß, das auch die Wände bedeckte.

Die Frau steckte in einer Art Toga, die eine Schulter frei ließ, der Mann in einem weiten Hemd und lockeren Hosen. Ich hatte von Leuten gehört, die vor Gesundheit strahlten, aber diese beiden leuchteten wirklich; ihre Haut strahlte einen unirdischen Schimmer aus.

»Eve«, sagte die Frau; ihre wundervolle Stimme ließ keinen Zweifel daran, dass sie ein reinblütiger Engel war.

»Äh, ja«, sagte ich, plötzlich etwas aus der Fassung gebracht.

»Ich suche «

»Trsiel«, sagte der Mann. »Hat er dir den Code für diesen Ort gegeben?«

Ich nickte, und die beiden wechselten einen Blick, der ganz offensichtlich mehr bedeutete als gewöhnlichen Augenkontakt.

War Telepathie die natürliche Sprache der Reinblütigen? Bei Trsiel hatte ich mir diese Frage nie gestellt, aber andererseits

von den Stimmen und der makellosen Schönheit abgesehen kamen mir Trsiel und diese beiden vor wie Angehörige unterschiedlicher Spezies.

»Ist Trsiel . . . in der Nähe?«, fragte ich. »Wir wollten uns hier treffen, aber er «

»Ist noch nicht da.«

Die Frau schüttelte fast unmerklich den Kopf, als sei das nicht weiter überraschend. Sie sah den Mann an. Sie verständigten sich mit Blicken. Der Mann sah zu mir herüber.

»Ich finde ihn«, sagte er.

»Wen?« Trsiel fegte zur Tür herein; er trug noch die Arbeitshosen und das Polohemd, die er zuvor angehabt hatte.

»Wir müssen dir eine Uhr besorgen«, sagte ich.

Er grinste; seine Augen funkelten. »Aber wenigstens steckst du dieses Mal nicht mitten in einem Zweikampf.« Er sah die beiden anderen. Sekundenlang wirkte er geradezu entsetzt; dann zwang er sich zu einem Lächeln. »Seid ihr zwei schon vorgestellt worden?«

»Nein, wir zwei nicht«, antwortete die Frau.

»Eve, dies ist Shekinah.« Er nickte zu dem Mann hinüber.

»Und das ist Balthial. Eve ist «

»Wir sind uns alle vollkommen im Klaren darüber, wer Eve ist und was sie tut«, sagte Shekinah; ihre Stimme klang gereizt.

»Ebenso wie darüber, dass du gewisse . . . Schwierigkeiten hattest, ihr bei ihrer Aufgabe zu helfen.«

»Schwierigkeiten?« In Trsiels Kiefer zuckte ein Muskel. »Ich habe keinerlei «

»Eve hat die Nixe gefunden, und du hast sie nicht einfangen können. Du bist zu spät gekommen, und «

»Er ist nicht zu spät gekommen«, unterbrach ich. »Sie ist verschwunden, als ich ihn gerufen habe.«

Ich wünschte mir augenblicklich, ich hätte den Mund gehalten. Shekinah schüttelte den Kopf, als wollte sie sagen:

»Das Universum kommt wirklich herunter eine Hexe, die einen Engel verteidigt?« Und als ihr Blick auf Trsiels traf, war ich mir ziemlich sicher, dass sie ihm genau das auch mitteilte.

»Wir sollten gehen«, sagte ich. »Wir haben eine Menge «

»Selbstverständlich habt ihr das«, sagte Balthial. »Es war mir ein Vergnügen, dich kennenzulernen, Eve, und ich freue mich darauf, die Bekanntschaft zu erneuern, wenn du aufsteigst.«

»Ja«, sagte Shekinah. »Es war in der Tat ein Vergnügen. Und solltest du bei dieser Queste Unterstützung brauchen, die du im Augenblick nicht erhältst, kannst du Balthial oder mich über die Parzen erreichen.«

Trsiel biss die Zähne zusammen, bis ich zu fürchten begann, er würde sich ein paar davon ausbrechen. Die beiden anderen Engel nickten mir zum Abschied zu, gelassen und gefasst wie eh und je, und verblassten.

»Was zum Teufel hat die eigentlich für ein Problem?«, murmelte ich, als sie verschwunden waren.

Trsiels Gesicht entspannte sich zu einem schiefen Lächeln.

»Shekinah und ich haben ein paar . . . Meinungsverschiedenheiten philosophischer Art. Balthial und ich auch, aber er ist besser darin, es zu verbergen.«

»Das scheinen mir aber nicht nur Meinungsverschiedenheiten philosophischer Art zu sein zwischen dir und denen.«

Trsiel verspannte sich. Sein Blick forschte in meinem, als versuchte er zu ermitteln, was genau ich gemeint hatte. Dann griff er nach meiner Hand.

»Gehen wir zu Amanda Sullivan«, sagte er. »Ich erkläre es unterwegs.«

»Die Nixe ist also in der Welt der Lebenden wieder aufgetaucht?«

Er nickte. Ich legte meine Hand in seine, und er brachte uns an unser Ziel.

26

W ir landeten in einem dunklen, feuchten Raum, der nach irgendwas unbeschreiblich Fürchterlichem stank.

»Guano«, sagte Trsiel als Antwort auf mein Würgen. Und als ich ihn verständnislos ansah, übersetzte er: »Fledermausdreck.«

»Dafür gibt es ein eigenes Wort? Ich weiß wirklich nicht, warum das noch nie Eingang in mein Vokabular gefunden hat.

Und was macht Fledermausdreck in «

Ich brach ab, als mein Hirn klickend die logische Schlussfolgerung zog. Ich sah auf weit auf und entdeckte Reihen kleiner Körper, die von der Decke hingen. Ich schauderte.

Trsiel lächelte. »Du reißt einem Engel das Schwert aus den Händen und fürchtest dich vor Fledermäusen?«

»Ich fürchte mich nicht vor ihnen. Ich mag sie bloß nicht.

Sie sind . . . pelzig. Fliegende Tiere sollten nicht pelzig sein. Es ist einfach nicht richtig. Und wenn ich jemals den Schöpfer treffe, werde ich es zur Sprache bringen.«

Trsiel lachte auf. »Das möchte ich sehen. Deine eine, möglicherweise einzige Chance, die Antwort auf jede Frage des Universums zu bekommen, und du würdest fragen: ›Warum sind Fledermäuse pelzig?‹«

»Das mache ich. Wart’s ab.«

Als er mich vorwärtsschob, bemühte ich mich, nicht nach oben zu sehen. Der feuchten Kälte und den Flugtieren nach zu urteilen, waren wir entweder in einer Höhle oder in einem wirklich miesen Keller. Die Stapel verrotteter Kisten legten die zweite Möglichkeit nahe.

»Ich dachte, wir wollten zurück zu dem Gefängnis«, sagte ich.

»Da gehen wir auch hin.«

Ich musterte den Raum. »Ich glaube, deine Teleportationskünste könnten eine Feinabstimmung brauchen, Trsiel.«

»Das entspricht in etwa den Tatsachen.«

Er führte mich durch eine Tür in einen saubereren Kellerraum, und unterwegs erklärte er mir, was es mit Shekinah und Balthial auf sich hatte.

Trsiel hatte schon zuvor einmal erwähnt, dass es eine Umorganisation unter den Engeln gegeben hatte, nach der nur noch die aufgestiegenen Engel zu Missionen in die Welt der Lebenden aufbrachen. Die Reinblütigen hatten jetzt andere Aufgaben.

Die meisten von ihnen waren höchst zufrieden gewesen, die Schinderei als Instrumente der Gerechtigkeit den Aufgestiegenen zu überlassen. Einige von ihnen aber, und Trsiel war einer davon, litten unter dem neuen Arrangement wie altgediente Polizeibeamte im Außendienst, denen man einen Schreibtischjob übertragen hatte. Ich konnte es ihm nicht verdenken. Ich hätte selbst jederzeit den Job des Kriegers genommen, wenn die Alternative ein Bürojob war.

Das, erklärte Trsiel, war ein Teil seiner »philosophischen Meinungsverschiedenheiten« mit Shekinah und Balthial. Sie waren froh, die Schützengräben hinter sich gelassen zu haben und mit ihnen den Makel des Menschlichen, während Trsiel diesen »Makel« und alles, das mit ihm zusammenhing, schätzte und begrüßte.

»Es ist nicht so, dass ich ein Mensch sein wollte«, erklärte er, während wir durch den Keller gingen. »Es ist nur so, dass ich nicht weiß, was falsch daran sein sollte, ein Mensch zu sein.

Es läuft auf eine einzige Frage hinaus wem dienen die Engel?

Dem Schöpfer, den Parzen, den anderen höheren Mächten.

Das steht außer Frage. Aber dienen wir auch den Menschen?

Ich glaube ja.«

»Und sie sind anderer Meinung?«

»Nachdrücklich.« Er blieb am Fuß einer halbverrotteten Holztreppe stehen und griff nach meinem Ellenbogen, um mir hinaufzuhelfen. »Das ist ein Teil des Problems. Der andere, der durchaus mit dem Ersten zusammenhängt, ist, dass ich jünger bin als sie.«

»Ihr seid also nicht alle zusammen geschaffen worden?«

»Bei den Reinblütigen gab es drei Generationen. Als die menschliche Rasse sich ausbreitete, sah der Schöpfer, dass mehr Engel gebraucht wurden. Ich gehöre zur dritten und letzten Generation. Seither wurden wir durch Geister verstärkt. Die aufgestiegenen Engel.«

»Wie alt bist du also?«

»Etwa tausend Jahre.«

Ich prustete. »Geradezu ein Kleinkind!«

Er lächelte kurz in meine Richtung. »Den Älteren zufolge bin ich genau das. Ein Kind ein eigenwilliges, ungeschliffenes, unerfahrenes Kind, dem diese Aufgabe ganz entschieden nicht hätte übertragen werden sollen.«

»Ich habe den Eindruck, du bist ihr vollkommen gewachsen.«

Wieder ein Lächeln, breiter diesmal.

»Danke.«

∗ ∗ ∗

Wir trafen Amanda Sullivan in ihrer Zelle in einem unruhigen Schlaf an, sie zuckte und stöhnte im Traum . . . oder vielleicht in den Visionen der Nixe. Ich hoffte sehr, dass es Alpträume waren, fürchterliche Alpträume von der Sorte, die einem noch Monate lang nachgeht und das ganze Leben lang in Erinnerung bleibt.

Trsiel war erst vor ein paar Minuten hier gewesen und wusste somit genau, wo er nach den Visionen zu suchen hatte; er klinkte mich in den entsprechenden Teil ihres schlafenden Geistes ein, ohne auch nur einen Blick auf die verrottete Einöde andernorts werfen zu müssen.

Aber was ich fand, waren abgerissene, zusammenhanglose Bilder, die mir nichts mitteilten, und nach etwa zehn Minuten holte Trsiel mich wieder heraus.

»Das war’s dann wohl«, sagte ich. »Sie ist fort.«

»Es sieht so aus. Ihre ehemaligen Partnerinnen sind nicht ständig mit ihr verbunden.«

»Aber wir können doch nicht einfach hier rumsitzen, periodisch ihre Gedanken lesen und drauf warten, dass diese Frau uns eine Verbindung mit der neuesten Partnerin liefert!«

»Hab Geduld. Irgendwann wird etwas kommen.«

Wir verbrachten den Rest der Nacht in Sullivans Zelle, und Trsiel warf etwa alle fünf Minuten einen Blick in ihre Gedanken in der Hoffnung, etwas Brauchbares zu finden. Gegen vier Uhr schlug er mir vor, ich sollte doch versuchen, den kleinen Jungen, George, zu finden, nachsehen, was er so trieb. Wirklich rücksichtsvoll von ihm . . . wobei mir der Verdacht kam, dass er es einfach satt hatte, mir beim AufundabRennen zuzusehen.

Der Morgen brach an, und die anderen Frauen wurden zum Frühstück geweckt. Sullivan blieb im Bett. Die Gefängnisinsassinnen verließen ihre Zellen, aber an Sullivans Tür blieb niemand auch nur stehen.

Nachdem die anderen Frauen verschwunden waren, stand Sullivan verschlafen und schlechtgelaunt auf und zog sich an.

Ein paar Minuten später erschien eine Wärterin mit einem Frühstückstablett.

»Es ist kalt«, wimmerte Sullivan, bevor sie das Essen auch nur probiert hatte. »Es ist immer kalt.«

»Ach, tatsächlich?«, antwortete die Wärterin, die Hände in die breiten Hüften gestemmt. »Wir können dich natürlich auch runtergehen und wieder mit den anderen essen lassen. Wäre dir das lieber?«

Als Sullivan sich abwandte, fiel ihr Haar zur Seite und gab einen tiefen Kratzer am Hals frei, der noch nicht vollständig verschorft war.

»Dachte ich mir«, sagte die Wärterin. »Also sei lieber dankbar für den Zimmerservice.«

Sie ging.

»Fette Kuh«, murmelte Sullivan.

Sie grub den Löffel in die Hafergrütze und hielt dann plötzlich inne, den Löffel in der Luft. Sie ließ ihn langsam wieder sinken; ihr Kopf drehte sich von einer Seite zur anderen mit der Wachsamkeit eines Menschen, der gelernt hat, vorsichtig zu sein.

»Wer ist da?«, flüsterte sie.

Als niemand antwortete, stand sie auf, stellte das Tablett geräuschlos ab und glitt zur Zellentür. Ein langer Blick in beide Richtungen. Der Block war leer.

»Ich höre dich«, sagte sie. »Ich höre dich singen. Wer ist da?«

Ich sah Trsiel an. Wenn Sullivan in einem leeren Zellenblock Stimmen hörte, konnten sie nur von einem einzigen Ort kommen. Trsiel griff nach meiner Hand und beförderte mich wieder in ihre Gedanken.

Ich landete in einem Abgrund von Schwärze, und einen Augenblick später hörte auch ich das Flüstern einer Stimme.

Jemand summte tonlos vor sich hin. Dann Worte. Normalerweise bin ich sehr gut darin, Stücke zu erkennen, aber hier brauchte ich einen Moment, wahrscheinlich, weil die Sängerin den Text so verstümmelte.

»Invisible« von . . . wem auch immer. Es kam auch nicht drauf an. Die Stimme sang nur ein paar Zeilen des Refrains und fing dann wieder von vorn an. Irgendwas davon, dass man behandelt wurde, als sei man unsichtbar.

Ich kannte das Stück, wahrscheinlich, weil es mich immer an eine Kindheitserfahrung mit dem Lebensmittelladen in unserer Nachbarschaft erinnerte. Ich hatte schon als Kind alle meine Freundinnen überragt, aber der Mann hinter der Theke bediente die anderen immer vor mir und dann jeden anderen Menschen im Laden; mein Geld nahm er nur, wenn ich es ihm auf den Ladentisch warf und mit meinem Schokoriegel davonging. Heute nehme ich an, es war Antisemitismus East Falls war die Sorte von Kaff, wo man selbst die Katholiken mit Misstrauen betrachtete. Meine Mutter redete nie mit mir über diese Dinge, sie zog es vor, so zu tun, als existierten sie nicht. Wenn ich ihr von dem Mann in dem Laden erzählte, sagte sie, ich bildete mir da etwas ein. Ich wusste, dass es keine Einbildung war, konnte aber keine Erklärung für seine Abneigung finden, und so ging ich davon aus, dass es meine Schuld war. Wie meine Lehrerin Mrs. Appleton sah er offenbar etwas Schlechtes in mir, etwas, das anderen Leuten nicht auffiel.

»Invisible«, sang die Frau. »Oh, yeah, ich bin unsichtbar.« Ein plötzliches gellendes Auflachen, bei dem ich zusammenfuhr.

»Klingt nach mir«, gackerte die Frau; ihre Stimme war schrill vor hektischer Heiterkeit. »Miss Invisible. Die behandeln mich, als wäre ich nicht mal da. Dahdahdahdah. Miss Invisible.«

Eine zweite Stimme die leise, einschmeichelnde Stimme der Nixe. »Und was willst du dagegen tun?«

»Dafür sorgen, dass sie mich sehen, natürlich. Und aufstehen und grüßen. Gegrüßet seist du, Miss Invisible.« Das Lachen der Frau kreischte wie Nägel auf einer Schiefertafel, alkoholisierte Bitterkeit mit einer Spur Wahnsinn. »Ich muss denen wohl zeigen, dass ich jemand bin. Jemand, vor dem sie Respekt haben sollten.«

Die Dunkelheit verzog sich, und ich fand mich in den Erinnerungen der jungen Frau wieder, in ihrem Körper, hinter ihren Augen, wie bei Sullivan und dem Gefangenen in der Todeszelle.

Ich stand in einem langen Gang und wischte mit einem breiten Schrubber den Boden auf. Zwei gutgekleidete Frauen gingen schwatzend und lachend an mir vorbei. Eine war dabei, einen Streifen Kaugummi auszuwickeln, und ließ das Papier auf den Boden fallen. Ließ es genau dort fallen, wo ich gerade gewischt hatte. Die Frau lachte.

Über mich, über die dumme, hässliche Putze. Warum erst nach einem Papierkorb suchen? Lily ist ja da. Ist schließlich ihr Job. Soll sie etwas tun für ihr Geld.

Wenn die Nixe diese Erinnerung für Lily wieder hervorzerrte, musste sie wichtig sein. Ich mühte mich ab, um mich von Lilys Gedanken zu lösen und mich umzusehen. Langer Gang.

Gutgekleidete Frauen. Ein Bürogebäude? Sieh hin, Eve. Sieh genauer hin. Du wirst dieses Gebäude finden müssen. Weiter hinten klebten Zettel an der Wand. Irgendwelche Ankündigungen.

Eselsohrig und auf farbigem Papier. Nicht sehr professionell.

»Hey!«, schrie eine junge, männliche Stimme. »Hey, das gehört mir!«

Drei gackernde Mädchen stürmten vorbei und hätten mich

die Putzfrau Lily fast umgerannt. Sie machten sich nicht einmal die Mühe, sich zu entschuldigen was nicht weiter überraschend war, denn sie waren etwa dreizehn und wurden von einem Jungen im gleichen Alter verfolgt.

Miststücke. Eingebildete kleine Zicken, genau wie ihre Moms.

Sind sich zu gut dafür, »Entschuldigung« zu sagen. Warum sollten sie auch? Es ist ja bloß die Angestellte. Die Putzfrau.

Ich wand mich aus Lilys Gedanken heraus. Die drei Mädchen waren auch an den beiden Frauen ohne ein Wort vorbeigerannt, aber das hatte Lily nicht bemerkt. Sie rissen eine Tür auf und stürzten hindurch. Ein schwacher Chlorgeruch drang heraus.

Während der Junge ihnen folgte, glitt mein Blick wieder zu den Zetteln an der Wand hinüber. Ich versuchte mich auf sie zu konzentrieren, aber in dem fremden Körper waren meine Kräfte schwächer als sonst, und ich erkannte nur ein paar Überschriften.

FRÜHJAHRSBALL. GESUCHT: BETREUER. FRÜHJAHRSFERIEN: MÄRZSPEKTAKEL.

Zwei Männer erschienen in meinem Blickfeld und kamen auf mich zu. Beide Anfang zwanzig, beide in verschwitzten Shorts und Tanktops, beide verdammt attraktiv. Mein Puls wurde schneller; das Herz jagte, ein langsam brennendes Gefühl der Sehnsucht ging durch mich hindurch was einigermaßen unheimlich war angesichts der Tatsache, dass diese Jungen etwa halb so alt waren wie ich. Glücklicherweise hatte ich weder einen Puls noch einen Herzschlag und wusste somit, dass dieser Anfall von Verlangen nicht zu mir gehörte.

Brett. Der Name flatterte durch Lilys Gedanken. Ihr Blick blieb an dem Kleineren der beiden hängen und folgte ihm den Gang entlang.

»Nächste Woche bin ich dann dran«, sagte Brett zu seinem Gefährten. »Wart’s ab. Ich schlage dich so gründlich, dass du «

»Vor Verblüffung stirbst?«

Brett boxte den anderen Mann in den Arm, und sie rempelten und balgten sich den Gang entlang wie junge Hunde.

Sieh mich an, Brett. Ich bin hier.

Die beiden gingen an Lily vorbei, ohne einen Blick in ihre Richtung zu werfen.

Ich sorge dafür, dass du hersiehst, Brett. Ich sorge dafür, dass du mich siehst. Wart’s ab

Ein Wecker schrillte. Lily fuhr hoch; ihr Herz hämmerte.

Der Wecker schrillte weiter. Sie schaltete ihn aus und starrte zu den verschwommenen roten Zahlen hinüber. Halb acht.

»Na los, an die Arbeit«, murmelte sie.

»Oh, aber heute wird alles anders«, flüsterte die Nixe.

Lily lachte und griff nach ihrer Brille. »Oh, yeah, heute wird alles ganz anders.«

Als sie die Brille aufsetzte, wurde das Zimmer klarer. Sie streckte den Arm aus und öffnete die Nachttischschublade.

Darin lagen ein paar eselsohrige Zeitschriften. Sie schob die Hand darunter, und ihre Finger schlossen sich um Metall. Sie zog das Ding heraus. Eine halbautomatische Waffe.

Der Raum wurde schwarz.

Trsiel holte mich heraus.

»Ist das alles?«, fragte ich. »Ich brauche mehr. Hast du diese Zettel an der Wand gesehen?«

»Ich habe Papiere gesehen, aber ich konnte nicht lesen, was drauf stand. Ich sehe nur, was sie sieht.«

Ich begann auf und ab zu gehen. »Ich auch, aber ich konnte ein bisschen näher ranzoomen. Es war so was wie ein Bürgerzentrum. Hallenbad, Sporthallen, Ankündigungen für eine Tanzveranstaltung und das Angebot für die Märzferien . . . Sie arbeitet in einem Bürgerzentrum. Und da geht sie jetzt gerade hin. Mit einer Schusswaffe.«

Als ich an Trsiel vorbeikam, packte er mich an der Schulter und zwang mich, mit dem Gerenne aufzuhören.

»Eve, wir müssen «

»Nachdenken. Ich weiß. Aber ich denke am besten im Gehen.«

Er ließ mich los. »Was haben wir also? Sie heißt Lily, und sie gehört zur Reinigungskolonne eines Bürgerzentrums.«

»Genau.« Ich rieb mir mit beiden Händen übers Gesicht.

»Sie ist gerade erst aufgestanden, sie wird also noch eine Weile brauchen, bis sie dort ist. Es war halb Moment. Wie spät ist es gerade?«

Trsiel ging durch die Gittertür und sah sich um. »Kurz nach halb zehn auf dieser Uhr dort.«

»Zwei Stunden Zeitabstand. Das heißt, sie ist irgendwo westlich von Colorado.«

»Dem Akzent dieser Leute nach an der Upper West Coast«, sagte Trsiel. »Nördlich von Kalifornien.«

»Okay. Danke. Ich rede mit Jaime. Wir suchen im Internet nach Bürgerzentren an der Upper West Coast, die einen Frühjahrsball und ein ›MärzSpektakel‹ veranstalten. Wenn wir davon eine Liste erstellt haben, können wir uns erkundigen, wo es außerdem eine Putzfrau namens Lily gibt.« Ich hörte auf zu rennen. »Gut. Aber wir werden eine Weile brauchen. Mit etwas Glück wird der Junge, auf den sie es abgesehen hat, nicht gleich heute Vormittag wieder in das Zentrum kommen.«

Ich unterbrach mich und sah Trsiel an. »Sie will also diesen Typ umbringen, weil er sie nie beachtet. Aber von der komplett verkorksten Logik mal abgesehen, eins daran verstehe ich nicht.

Was bedeutet der mir?«

Trsiel runzelte verständnislos die Stirn.

»Die Nixe tut das meinetwegen, stimmt’s? Es ist eine Machtdemonstration. Eine Lektion für mich. Also « Ich unterbrach mich und erwiderte seinen Blick. »Sieh mal, wenn sie diesen Jungen erschießt, dann würde ich das furchtbar finden. Jeder täte das, stimmt’s? Aber es wird mir nicht na ja, ich kenne ihn nicht mal. Glaubt sie, sie kriegt mich dran, indem sie einen Fremden umbringt?«

»Sie weiß, dass du eine Aufgabe hast, die in der Regel den Engeln vorbehalten ist «

»Also geht sie davon aus, ich wäre typisches Engelmaterial?

Und würde die Unschuldigen schützen, wer sie auch sind? Okay, das macht Sinn.« Ich sah zu Sullivan hinüber. »Sollen wir noch mal einen Blick in ihren Schädel werfen? Wenn ich die Zettel in diesem Gang genauer sehen könnte «

Die Worte gefroren mir in der Kehle. Der rosa Zettel. BETREUER GESUCHT.

Ich hatte ihn schon einmal gesehen. Vor Monaten. Mein Gedächtnis präsentierte mir ein Bild eine hübsche weiche Hand, die einen der Abschnitte am unteren Rand des Zettels abriss. Silberne Ringe blitzten. Von links kam ein tiefer Seufzer.

»Für eine Alphabetisierungsgruppe? Oh bitte. Als ob du nicht schon genug solchen Mist machen würdest.«

»Es ist kein Mist. Und es ist doch bloß eine Stunde im Monat.«

»Als ob du eine Stunde übrig hättest! Himmeldonnerwetter, Paige «

Ich fuhr zu Trsiel herum. »Portland. Dieses Bürgerzentrum ist in Portland. Meine Tochter oh Gott, Savannah geht dorthin.«

27

I ch sprach eine Reiseformel. Im letzten Moment merkte Trsiel, was ich tat, und griff nach meinem Arm, um mitzukommen. Wir landeten ein paar Blocks von Paiges und Lucas’ Haus entfernt. Das Zentrum lag ein paar Meilen in der entgegengesetzten Richtung.

»Kriegst du uns näher ran?«, fragte ich.

»Dazu müsste ich wissen, wohin genau wir gehen. Ein Stadtplan, eine Straße «

»Keine Zeit.«

Ich begann zu rennen. Trsiel holte mich augenblicklich ein.

»Sie hat es nicht auf deine Tochter abgesehen, Eve«, sagte er.

»Das kann sie gar nicht.«

»Wieso nicht?«, fragte ich, ohne anzuhalten. »Inwiefern kann sie nicht?«

»Sie kann die Opfer ihrer Partnerin nicht auswählen. Die Frauen treffen diese Entscheidung selbst. Sie sind es, die auf den Abzug drücken. Die Nixe kann ihnen die nötige Entschlossenheit dafür geben, aber zielen kann sie nicht für sie.«

Ich bog um eine Ecke, ohne auch nur langsamer zu werden.

»Diese Lily ist besessen von diesem jungen Mann«, sagte Trsiel.

»Wahrscheinlich steht er in irgendeiner Verbindung zu deiner Tochter. Das ist es, was sie vorhat dich zu treffen, indem sie Savannah Kummer zufügt.«

Ich wurde etwas langsamer, um meinem Hirn Gelegenheit zu geben, dies zu verarbeiten. Konnte dieser Brett etwas mit meiner Tochter zu tun haben? Selbstverständlich konnte er. Er spielte Basketball. Savannah ebenfalls. Hatte er sie trainiert?

Vielleicht ein paar Übungsstunden mit ihr allein oder ihr und ihren Freundinnen absolviert? Oder hatte sie ihn einfach in den Sporträumen gesehen, festgestellt, dass er attraktiv war, und eine Schwäche für ihn entwickelt?

Bestimmt gab es eine Verbindung, aber es hatte keinen Zweck, herumzustehen und die Möglichkeiten zu erwägen.

Wir hatten immer noch zwei Meilen Weg vor uns und keine Ahnung, wann Lilys Arbeitstag begann.

Wir erreichten das Zentrum kurz nach neun. Ein steter Strom von Autos fuhr die Auffahrt hinauf und setzte Kinder mit Rucksäcken und Sporttaschen vor dem Eingang ab. Auf der Vortreppe trafen sie auf die Erwachsenen, die vom Parkplatz herüberkamen, um zum Training, in einen Kurs oder in ihren Club zu gehen. Ein typischer Großstadtsamstag eben es herrschte doppelt so viel Betrieb wie an einem Wochentag.

Wir rannten die Treppe hinauf in ein helles Foyer. Ich sah mich um.

Vier Gänge und eine Doppeltreppe mündeten hier; kleine Ströme von Menschen strebten in alle Richtungen.

»Wir sollten im Putzraum anfangen«, schrie ich Trsiel zu, um den allgemeinen Lärm zu übertönen.

»Gute Idee. Wo ist der?«

»Keine Ahnung. Ich war nur einmal hier, und da auch bloß in der Basketballhalle. Vielleicht sehen wir lieber dort nach.

Brett ist von dort gekommen.«

»Was nicht heißt, dass er heute auch dort ist. Suchen wir lieber nach Lily. Dann kommt es nicht mehr drauf an, wo ihr Opfer ist.«

»Okay. Also, wo «

»Augenblick.«

Trsiel verschwand.

»Hey! Was «

Er war zurück, bevor ich ausreden konnte. »Es gibt einen Keller.«