»Gut, fangen wir dort an.«

Wir fanden eine ganze Reihe von Räumen im Keller, von Abstellkammern über ein Hausmeisterbüro bis zu einem Frühstückszimmer für die Angestellten. In dem Büro hingen zwei Jacken, eine gehörte einem Mann, die andere einer Frau.

Wir verbrachten die nächsten zwei Stunden damit, das Gebäude abzusuchen.

Das Problem dabei war, dass sich an einem Ort wie diesem niemand lange an einem bestimmten Fleck aufhielt. Kinder rannten vom Schwimmunterricht zur Cafeteria und von dort in den Modellbaukurs. Erwachsene waren von den Trainingsräumen zum Hockeyspiel ihrer Kinder und danach ins Stehcafé unterwegs. Wohin man auch ging, wenn man eine Stunde spä

ter wiederkam, waren neunzig Prozent der Gesichter neu.

Irgendwann hatten wir den Hausmeister gefunden einen älteren Mann. Von seiner Mitarbeiterin keine Spur.

Nach der vierten Runde durch das Gebäude hielten wir in der Kindertagesstätte im ersten Stock kurz inne. Durch das große Fenster konnten wir sehen, dass der Betrieb vor dem Gebäude schwächer geworden war es war jetzt fast Mittag.

Eine kurze Pause, und es würde von vorn losgehen.

»Lily ist also gar nicht da?«, fragte ich Trsiel. »Oder rennen wir einfach dauernd an ihr vorbei?«

»Wir haben überhaupt noch keine Putzfrau gesehen. Und das war ganz entschieden eine Frauenjacke da unten.«

»Aber hängt die erst seit heute da? Es ist Frühling. Man kann mit einer dicken Jacke zur Arbeit kommen, und bis zum Abend ist es so warm, dass man sie einfach hängen lässt. Mist! Was, wenn «

Aus den Augenwinkeln bemerkte ich ein Motorrad, das gerade die Auffahrt hinunterfuhr. Ein weiterer, schärferer Blick mit meiner AspicioFähigkeit, und ich jagte zur Tür.

»Was ist los?« Trsiel war bereits hinter mir.

»Dieses Motorrad. Das gehört Lucas. Lucas Cortez. Savannahs Vormund. Sie ist hier. Savannah ist hier.«

»Keine Panik, Eve«, sagte Trsiel hinter mir. »Vielleicht ist es ein ähnliches Motorrad «

»Es ist seins. Eine richtige Antiquität. Sehr selten. Er restauriert die Dinger selbst.«

»Vielleicht hat er auch seine Frau abgesetzt. Paige. Hast du nicht gesagt, sie kommt hierher «

»Hinten auf dem Motorrad war kein Helm.«

»Bitte?«

»Paige hätte den Helm zurückgelassen. Savannah ist fünfzehn. Sie nimmt ihn mit rein.«

An Trsiels Schweigen erkannte ich, dass er die Erklärung nicht verstanden hatte, aber ich würde ihm nicht gerade jetzt den Coolnessfaktor eines herumgeschleppten Motorradhelms erläutern.

Ich rannte durch eine geschlossene Mauer von Teenagern hindurch, die auf dem Weg in die Cafeteria waren, und stürmte die Treppe hinunter. Leute kamen mir entgegen und verstellten mir die Sicht. Ich kletterte aufs Treppengeländer, um besser zu sehen.

»Eve«, sagte Trsiel, während er die Hand gegen mein Bein legte, um mich abzustützen, »wenn wir als Erstes Lily finden, wird sie niemandem mehr schaden können, auch Savannah nicht.«

»Dann such du nach Lily. Ich finde «

»Ich brauche deine Augen, Eve.«

Eine Gestalt schimmerte weiter unten und wurde deutlicher.

Kristof sah zu mir auf.

»Oh, Gott sei Dank«, flüsterte ich. »Kristof, es ist Sav. . . «

»Ich weiß«, sagte er und streckte die Arme aus, um mir herunterzuhelfen. »Ich finde sie. Findet ihr die Nixe.«

Ich drückte ihm die Hand. »Danke.«

Trsiel packte mich am Ellenbogen und zog mich mit sich.

»Basketballhalle«, schrie ich zu Kristof zurück und gestikulierte zur Nordseite des Gebäudes hin. »Da entlang!«

Kris nickte und trabte davon.

Wir begannen mit der erneuten Suche dort, wo wir auch zuvor schon angefangen hatten in den Kellerräumen. Als wir den Gang entlangrannten, hörte ich irgendwo ein Telefon klingeln.

Trsiel bog zur Seite ab, und ich stürzte noch vor ihm durch die Tür des Hausmeisterbüros. Am anderen Ende des Raums stand eine dünne Gestalt, das Telefon in der Hand. Der alte Hausmeister. Ich wollte mich schon abwenden und wieder gehen, als ich ein paar Worte auffing.

». . . sollte nicht abgeschlossen sein. Ich habe heute Morgen überall aufgeschlossen.« Pause. »Welcher Raum ist es denn?«

Pause. Ein Seufzer. »Ich schicke Lily rauf.« Er legte auf und murmelte. »Wenn ich sie finden kann.«

Er hob ein Funkgerät zum Mund. Trsiel und ich blieben stehen in der Hoffnung, eine Zimmernummer zu hören zu bekommen und Lily dort abpassen zu können. Aber der Hausmeister drückte viermal hintereinander auf die Taste und bekam nichts als ein Störgeräusch.

»Zu faul«, murmelte er und ging zur Tür. Er zog an der Klinke, aber sie öffnete sich nicht. Ein kräftigerer Ruck. Die Tür blieb zu.

Ich ging hindurch, in den Gang hinaus. Jemand hatte einen Besenstiel durch die Klinke geschoben. Trsiel und ich sahen uns an und stürzten zur Treppe.

Im Erdgeschoss knallten Türen, und Kinder stürmten von einem Kurs zum anderen. Wir gingen in Richtung Trainingsräume. Als wir um die Ecke bogen, durchschnitt ein schriller Schrei das allgemeine Stimmengewirr. Ich machte einen Satz durch die Wand und fand mich in einem Umkleideraum wieder, in dem zwei etwa zehnjährige Jungen einander mit nassen Handtüchern jagten und dabei vor Lachen schrien.

»In einem Bogen zurück zum Foyer«, sagte Trsiel. »Und halt die Augen offen nach diesem jungen Mann Brett.«

Als wir den Umkleideraum der Männer betraten, hörten wir ein lautes Krachen. Ein Mann, der in seinem Schließfach wühlte, fuhr so heftig zusammen, dass er mit dem Kopf die Metallkante rammte.

»Verdammt!«, rief er. »Spielen die Jungen wieder mit Knallerbsen?«

»Nein, das ist aus den Hörsälen gekommen. Naturwissenschaftsklub oder so«, sagte ein anderer Mann lachend. »Diese Kinder. Weißt du noch, als sie «

Drei weitere Knallgeräusche. Dann ein Schrei. Als Trsiel und ich in Richtung Gang stürzten, schrie einer der Männer auf:

»Da schießt einer! Oh mein Gott Brooke! Brooke!«

Hinter der nächsten Wand lag ein weiterer Umkleideraum.

Frauen schrien die Namen ihrer Kinder, während sie halb angezogen zur Tür stürzten. Jemand hatte das Handy in der Hand und tippte die Notrufnummer. Andere Frauen waren zum Notausgang gerannt, nur um festzustellen, dass er verschlossen war.

Der Gang draußen war bereits verstopft mit Leuten, die den Haupteingang zu erreichen versuchten. Ich hatte Trsiel schon aus den Augen verloren, als ich spürte, wie seine Hand meine packte.

»Dort entlang«, sagte er. »Die ersten Schüsse sind von dort gekommen.«

Die Schreie klangen jetzt schriller, erfüllt von mehr als nur Panik. Jemand schrie vor Schmerzen.

Wir platzten in einen Raum voller Trainingsräder hinein.

Eine Frau lag zusammengekrümmt in einer Ecke und schrie, während eine zweite, ältere Frau ihren Oberschenkel abband, um die Blutung zu stillen. Fröhliche Musik drang aus den Lautsprechern; dann meldete sich eine gutgelaunte Männerstimme vom Band zu Wort und ermahnte die Anwesenden, schneller zu treten »aber nicht zu schnell spart eure Kräfte für den steilen Hang am Ende«.

Am anderen Ende des Raums saß eine Frau in meinem Alter auf ihrem Rad und trat hektisch in die Pedale, hielt inne, begann wieder, die Augen im Schock weit aufgerissen. Blut tröpfelte aus einer Streifwunde unter ihrem Arm. Auch ihr Gesicht war blutbespritzt, aber es war nicht ihr eigenes Blut.

Vor ihr war ein Mann auf seinem Rad nach hinten gekippt, die Füße noch in den Steigbügeln, ein Einschussloch im Auge. Und eine junge Frau wand sich auf dem Boden, während ein Mann im Trainingsanzug sich über sie beugte und auf sie einredete, ihr versicherte, es sei schon Hilfe unterwegs.

Als ich mich in dem Raum umsah, wurde mir klar, was Lily wirklich gesagt hatte. Sie wollte beachtet werden. Sie wollte, dass man sich an sie erinnerte. Es ging nicht darum, den einen Mann umzubringen, der sie ignorierte. Es ging darum, jeden umzubringen, der sie ignorierte, und das bedeutete jeden, der ihr begegnete, jeden, den sie töten konnte.

»Savannah!«

Trsiel packte mich am Arm. Ich versuchte mich loszureißen, aber sein Griff war so fest und unnachgiebig wie der der Nixe.

»Geh und vergewissere dich, dass Savannah in Sicherheit ist.

Aber dann mach dich auf die Suche. Wenn du Lily siehst

sie auch nur zu sehen glaubst , ruf mich. Versuch sie nicht aufzuhalten. Du kannst es nicht.«

»Ich weiß.«

Er ließ mich los, und ich jagte davon.

28

D ie Gänge hatten sich geleert ,alles drängte sich im vordersten Teil des Foyers bei den zu schmalen Eingangstüren.

Ich hatte die Basketballhalle fast erreicht, als ich jemanden meinen Namen rufen hörte.

»Eve!«

Ich sah mich um und entdeckte Kris’ blonden Kopf.

»Savannah«, sagte ich, während ich auf ihn zulief. »Wo ist sie?«

»Ich hab sie nicht gefunden.«

»Komm mit, sie «

Er packte meinen Arm, als ich wieder losrennen wollte.

»Dort ist sie nicht, Eve. Die Hallen sperren über Mittag zu.

Sie muss in der Cafeteria sein. Wo ist die?«

»Nein, Lucas hat sie gerade erst hergefahren. Wenn ihr Kurs am Nachmittag wäre, hätte sie vorher zu Hause zu Mittag gegessen. Sie . . . Zeichnen! Das ist es. Samstags hat sie Zeichnen.

Letztes Jahr war das irgendwo in der Stadt, aber sie müssen es hierher verlegt haben. Die Kunsträume sind da hinten.«

Ich drehte mich um und rannte zurück, an dem Gedränge bei den Türen vorbei und zu den Ateliers hinüber. In der Ferne heulten Sirenen. Dann ein Schuss. Noch einer. Schreie hinter uns.

Die Tür des ersten Ateliers war geschlossen, der Raum dahinter dunkel und leer. Im nächsten Raum fanden wir einige Teilnehmer eines Kurses ein halbes Dutzend Erwachsene, die hinter ihren Tischen kauerten, einige Leute, die die versperrte Tür aufzustemmen versuchten. Skizzen waren über den Fußboden verstreut. Ein Mann in mittleren Jahren hob eine umgefallene Staffelei auf und schleuderte sie gegen eins der Fenster, aber sie prallte vom Glas ab.

Mein Blick glitt rasch über die Gesichter, aber Savannah war nicht dabei niemand hier war auch nur in ihrem Alter. Als ich mich abwandte, sah ich in einer Ecke etwas schimmern

wie ein Portal, nur viel schwächer; es war so matt, dass nur ein geübtes Auge es überhaupt hätte sehen können.

»Da!«, sagte ich und zeigte hinüber. »Sie hat einen Tarnzauber gesprochen.«

Ich rannte quer durchs Zimmer und ging neben dem leeren Fleck dort auf die Knie.

»Gutes Mädchen«, flüsterte ich. »Kluges Kind. Bleib, wo du bist.«

Aus dem Gang hörten wir einen Schuss. Eine junge Frau links von mir schrie auf. Eine Gestalt kam zur Tür herein. Noch eine junge Frau skelettartig mager mit strähnigem braunem Haar und einem von Akne gezeichneten Gesicht.

Sie hob eine Schusswaffe.

Ich begann nach Trsiel zu rufen. Die Frau neben mir warf sich auf den Boden, fiel durch mich hindurch und rammte Savannah. Der Tarnzauber brach, und Trsiels Name erstarb mir auf den Lippen.

Savannah hob den Kopf. Sie sah Lily. Sah die Waffe.

»Formel, Baby«, sagte ich. »Sprich sie noch mal. Versteck dich!«

Ihre Lippen begannen sich zu bewegen ein Bindezauber.

»Nein! Versteck dich! Versteck dich einfach!«

Lily sah zu Savannah hin. Etwas flackerte in ihren Augen, etwas, das ich vom Vortag her erkannte. Die Nixe.

Lily schwenkte die Waffe in Savannahs Richtung.

»Trsiel!«, schrie ich.

Der Schuss krachte. Kristof warf sich in die Schusslinie, und die Kugel jagte durch ihn hindurch. Savannah hatte keine Zeit, sich zu ducken, keine Zeit, die Formel zu Ende zu bringen. Ich warf mich über sie in dem Wissen, dass es nichts nützen würde, dass mein Versuch so vergeblich war wie Kristofs.

Jemand hinter mir keuchte. Ich drehte den Kopf und sah die junge Frau, die neben uns auf dem Boden gelandet war.

Jetzt lag sie auf der Seite, das Gesicht verzerrt vor Schreck und Schmerz, die Hände auf dem Bauch; Blut rann ihr durch die Finger.

Ich warf einen Blick auf Lily. Sie stand da, ein winziges Lä

cheln im Gesicht, die Augen und die Waffe auf ihr Ziel gerichtet die sterbende Frau, nicht Savannah. Die Rage der Nixe blitzte noch in ihren Augen. Rings um sie herum begann die Luft zu schimmern, als ein gestaltloser Nebel aus ihrem Körper aufstieg.

Trsiel segelte durch die Tür, das Schwert in den Händen. Er holte aus und schlug zu, ein vollkommener Bogen, und das Schwert jagte durch Lily hindurch. Die Klinge blieb blutlos, aber Lily hatte sie gespürt. Ihre Augen wurden riesig, ihre Hände ließen die Waffe fallen und krallten sich in ihre Brust.

»Trsiel!«, schrie ich und zeigte an Lily vorbei.

Er sah den Nebel, der jetzt die schwachen Umrisse einer Frau angenommen hatte. Er hob das Schwert, aber sie war verschwunden, bevor die Klinge sie erreicht hatte.

Lily sackte auf dem Boden zusammen, leblos, tot.

»Theresa? Theresa!«

Savannah kauerte über der jungen Frau auf dem Boden.

Während sie eine Heilformel sprach, hantierten ihre Hände an der Bluse der Frau herum, rissen sie auf und legten den Bauch frei. Die Augen der Frau starrten blicklos zur Decke. Savannah legte die Hände an ihren Hals und versuchte einen Puls zu finden.

»Sie ist tot, Baby«, sagte ich.

Ich griff nach Savannah. Meine Hände glitten durch sie hindurch, als sie sich hinunterbeugte und mit einer HerzLungenBelebung begann. Ich versuchte es wieder, versuchte es aus allen Kräften sie zu berühren, in den Arm zu nehmen, aber meine Finger gingen durch sie hindurch, und meine Worte stürzten ungehört aus mir hervor.

Ich schrie auf vor Rage und Frustration. Kristofs Arme legten sich um mich, und er hielt mich fest an sich gedrückt, während wir zusehen mussten, wie unsere Tochter eine tote Frau wiederzubeleben versuchte.

»Sie sind unterwegs«, sagte Kris, als er ins Atelier zurückkam.

»Lucas hat Paige an der Tür abgesetzt. Er parkt gerade das Auto, und sie kommt rein.« Er ging neben Savannah auf die Knie.

»Komm, geh ans Fenster, Liebes. Du kannst Paige sehen. Sie kommt dich holen.«

Savannah wiegte sich vor und zurück, die blutigen Hände um die Knie gelegt, den Blick starr geradeaus gerichtet.

Zwei Sanitäter waren eingetroffen und kümmerten sich um Lily und die andere Frau, aber keiner von ihnen hatte Zeit für Savannah.

Die übrigen Teilnehmer des Kurses waren geflüchtet, als Lily die Waffe fallen ließ, und hatten sie mit den beiden Leichen alleingelassen.

»War nicht schnell genug«, murmelte Savannah, die Lippen an den Knien. »Hätte eine andere Formel nehmen sollen. Eine Schnellere.«

»Du hast alles richtig gemacht, Liebes«, sagte Kris. Er griff nach ihrer Hand; seine Lippen zuckten, als er nur leere Luft fasste. Dann warf er einen wütenden Blick über die Schulter.

»Wo ist Paige?«

Ich ging zum Fenster. Von dort aus sah ich die Auffahrt, die jetzt hastig mit Absperrband versperrt worden war, und Paige, die auf der falschen Seite feststeckte und mit einem jungen Polizisten diskutierte. Ihr Gesicht war angespannt, ihre Augen brannten, und ich wusste, sie hätte nichts lieber getan, als den Polizisten mit einer Formel rückwärts über sein Band segeln zu lassen und in das Gebäude zu rennen. Aber ich wusste ebenso gut, dass sie es nicht tun würde nicht, bevor sie nicht alle ungefährlichen Möglichkeiten erschöpft hatte.

Ein junger Mann erschien mit langen Schritten hinter Paige.

Groß, dünn, lateinamerikanischer Abstammung, mit Drahtbrille und einer zerschrammten Lederjacke.

»Lucas«, murmelte ich. »Gott sei Dank. Stoß denen Bescheid.«

»Wird er«, sagte Kris vom anderen Ende des Raums her. Sogar von hier oben aus konnte ich verfolgen, wie Lucas’ ruhiges Gebaren plötzlich verschwand, als er sich aufrichtete und mit der Autorität, wie sie nur der Sohn einer Kabale zustande brachte, Anweisungen zu bellen begann. Während er sprach, schob er sich allmählich zur Seite und nahm die Aufmerksamkeit des Beamten mit, und Paige drückte sich in die andere Richtung, duckte sich unter dem Band hindurch und rannte die Auffahrt hinauf.

»Sie kommt rauf«, sagte ich, und wenige Augenblicke später schoss Paige zur Tür herein, lief quer durch den Raum und glitt neben Savannah auf den Boden, um sie in den Arm zu nehmen.

Savannah ließ sich gegen sie fallen und begann an ihrer Schulter zu schluchzen. Lucas kam eine Minute später hereingefegt.

Er griff nach Savannahs Hand. Mit der anderen Hand begann er in Paiges Handtasche zu wühlen, holte ein Taschentuch heraus und tupfte vorsichtig das Blut von Savannahs Fingern. Das Herz tat mir weh, als ich sie beobachtete. Ein Teil von mir war glücklich in dem Wissen, dass meine Tochter die besten Stiefeltern hatte, die ich mir wünschen konnte. Aber einen anderen Teil von mir schmerzte es entsetzlich, sie dort zu sehen in einer Familie, zu der ich nicht gehörte und nie gehören würde.

»Ich konnte ihr nicht helfen«, flüsterte ich. »Ich konnte nichts tun. Ich hab’s versucht ich habe alles versucht. Ich dachte, vielleicht . . . aber nein. Ich kann nichts tun.«

Kristofs Arme legten sich um mich, und ich ließ mich gegen ihn fallen.

Ein paar Minuten später nahmen Paige und Lucas Savannah mit nach Hause. Kristof führte mich hinunter zum Hinterausgang des Gebäudes, und wir gingen eine Stunde lang den Leichtathletikplatz ab, ohne zu reden. Ich konnte nicht aufhö

ren, an den Moment zu denken, als Lily die Waffe gehoben hatte ihn wieder und wieder ablaufen zu lassen und nach einer Lösung zu suchen, nach irgendetwas, das ich hätte tun können. Und es gab eine Antwort. Eine einzige Antwort. Ich musste ein Engel werden.

Als ich mich zu Kristof umdrehte, lagen mir die Worte auf den Lippen. Ich könnte sie schützen, Kris. Wenn ich ein Engel würde, könnte ich sie schützen. Ich hätte Lily und die Nixe aufhalten können. Aber seine Antwort kannte ich bereits. Er würde es nicht als die Lösung betrachten, sondern als einen weiteren Schritt in die falsche Richtung mein Jenseits aufzugeben, um unsere Tochter zu schützen.

Also sagte ich stattdessen: »Vielleicht kann ich Savannah nicht helfen, aber ich kann der Nixe zeigen, dass sie mit ihrer kleinen Demonstration nichts weiter erreicht hat, als mich zu ärgern.«

Ein winziges Lächeln. »Was man besser nicht tun sollte.«

»Das wird sie auch bald rausfinden.« Ich sah zu dem Gebäude zurück. »Ich gehe besser und suche Trsiel.« Ich wandte mich zu Kristof: »Ich nehme an, das ist jetzt wieder ein bis bald.«

»Ich bin nie weit weg«, sagte er. »Wenn du mich brauchst, bin ich da. Das weißt du.«

Ich drückte ihm die Hand. »Ich weiß.«

Nun sind tief empfundene Racheschwüre schnell abgelegt, aber kaum jemals leicht auszuführen. Ich stürmte wieder in den Ring, bereit, das Miststück zu jagen und in die finsterste Hölle zu schicken, die ich finden konnte, und stattdessen sah ich mich in Lizzie Bordens Wohnzimmer stationiert, während Trsiel Amanda Sullivan Gesellschaft leistete.

Er hatte sein Bestes getan, um mich zu beruhigen. Solange Amanda nichts sah, hielt sich die Nixe nicht in der Welt der Lebenden auf. Sehr beruhigend als Sullivan das letzte Mal etwas gesehen hatte, hatte es danach keine sechs Stunden gedauert, bevor die Nixe zuschlug. Keine sechs Stunden, bevor drei Menschen tot waren.

Ich hatte keine Ahnung, wie sie das gemacht hatte so schnell eine Partnerin zu finden. Trsiels Theorie war, dass sie nicht annähernd so überrascht gewesen war, mich zu sehen, wie ich geglaubt hatte. Dass sie über mich Bescheid gewusst und sich schon zuvor nach möglichen Partnerinnen in Savannahs Umkreis umgesehen hatte.

Wie dem auch sei, ich hatte es sehr bald satt, bei Lizzie Borden herumzuhängen, solange es noch andere Möglichkeiten gab. Wir hatten Luther Ross befragt, aber ich hatte das Gefühl, dass es dort noch etwas zu erfahren geben könnte. Bevor wir gegangen waren, hatten wir Luther den Code für einen Ort gegeben, an dem er in Sicherheit war und wo wir ihn auftreiben konnten, wenn wir ihn brauchten. Nachdem Trsiel mich also in Lizzies Haus abgesetzt hatte, dauerte es nicht allzu lang, bevor ich mich auf die Suche nach Kristof machte.

29

I ch fand ihn in seinem Amtszimmer im Gericht, im Gespräch mit einem Mandanten, der eine Toga trug. Er beendete den Termin, als er mich zur Tür hereinspähen sah.

»Ich muss einen gewissen Nymphomanen finden«, sagte ich, während ich mich auf die Schreibtischkante setzte.

»Nymph. . . « Kris lachte. »Ah, ich verstehe. Du redest von Mr. Ross?«

»Wohin hast du ihn also verfrachtet?«

Seine Finger schlossen sich um meine. »Komm mit, ich zeig’s dir.«

Wir landeten auf einer weißen Fläche. Einen Moment lang glaubte ich, die Parzen hätten uns in einen Vorraum ihres Thronsaals geholt. Dann bemerkte ich eine Baumreihe in der Ferne und dahinter eine Bergkette. Als ich mich nach Kristof umsah, knirschte der Boden unter meinen Laufschuhen wie zerbrochenes Glas. Ich ging auf die Knie und griff nach unten, und meine Finger sanken in etwas Weiches und Kaltes.

Eine weiße Kugel traf mich an der Schulter und zerbarst. Ich sah mich um und bemerkte Kristof, der gerade das nächste Geschoss formte.

»Schmeiß das bitte nur, wenn du glaubst, dass du das Echo verträgst.«

Der Schneeball streifte meinen Scheitel und überschüttete mich mit Schnee. Ich drehte mich um, stürzte mich auf Kris und schleuderte ihn mit dem Gesicht voran zu Boden. Er prustete, zappelte und schüttelte mich schließlich ab, und ein paar Minuten lang waren wir damit beschäftigt, einander mit Armen voll Schnee zu bekämpfen und erfolglos zu versuchen, dem anderen das Gesicht damit einzuseifen. Irgendwann endete es damit, dass wir beide lachend auf dem Rücken lagen.

Über uns sah ich einen schwachen, grünlichen Bogen im Himmel stehen. Während ich ihn anstarrte, erschienen weitere Fäden von farbigem Licht, blau und rot und gelb, die vor dem schwarzen Himmel tanzten und waberten.

»Machst du das?«, fragte ich.

»Ich wünschte, ich könnte es. Das sind Nordlichter.«

»Wow.«

Ein paar Minuten lang beobachteten wir einfach nur die tanzenden Lichter.

Die Nacht war so still, dass ich das ferne Knacken von brechendem Eis und gelegentlich den Schrei einer Eule hören konnte. Die Luft war angenehm kühl wie an einem frischen Herbsttag.

»Wo sind wir also?«, murmelte ich irgendwann.

»Weißt du noch, diese Hexenschankmaid in La Ceiba? Sie hat gesagt, dieses Piratenkaff wäre wie «

»Alaska ohne den Schnee.« Ich verschluckte ein Auflachen.

»Du hast Luther Ross nach Alaska geschickt?«

Kristof drehte den Kopf zu mir. »Du meinst, es gefällt ihm hier nicht?«

»Wir werden Glück haben, wenn er jetzt überhaupt noch mit uns redet!« Ich sah wieder zum Himmel hinauf. »Warum hast du mir das hier noch nie gezeigt?«

»Ich hab’s mir aufgespart. Für einen besonderen Anlass.«

Wieder ein Blick zu mir herüber. »Gefällt es dir?«

Ich schloss die Augen. Ich konnte die Nordlichter immer noch tanzen sehen. »Mhmm. Du wirst mich noch mal hierher bringen müssen.«

Seine Finger fanden meine und umschlossen sie mit plötzlicher Wärme. »Mache ich.«

Wir hörten einen Ruf und schossen beide hoch. Ich konzentrierte mich, und die Dunkelheit lichtete sich so weit, dass ich zwei orangefarbene Jacken gegen eine Baumgruppe ausmachen konnte.

»Hier wird nie geschossen«, sagte ein Mann; die Stimme klang laut in der Stille. »Da drüben ist die Stelle, wo die Leute ankommen. Ein schönes Willkommen wäre das, gleich als Erstes angeschossen zu werden.«

»Aber ich habe da drüben was gesehen«, sagte eine jüngere Stimme. »Nicht da draußen, sondern zwischen den Bäumen!«

»Egal. Hier wird nicht geschossen.«

Kristof beugte sich vor. »Wird Zeit, diese Leute kennenzulernen. Und herauszufinden, ob dein pädagogisch ambitionierter Nymphomane hier ist.« Er stand auf. »Hallo!«

Die ältere Stimme brüllte zurück, und während ich mich aus dem Schnee aufrappelte, kamen die beiden Männer zu uns herüber. Beide trugen dicke Anoraks, deren Kapuzen dicht um die bärtigen Gesichter gezogen waren, als wäre es wirklich klirrend kalt, und beide hatten Gewehre dabei.

»Selber hallo«, sagte der Mann mit der hallenden, älteren Stimme. »Willkommen in Deerhurst, Alaska. Bevölkerung

ein paar tausend.« Er zwinkerte. »Aber bloß eine Handvoll Menschen dabei.«

»Wunderschön hier«, sagte ich mit einem Blick in die Runde.

Und fügte mit einem Seitenblick auf Kristof hinzu: »Ihr müsst hier jede Menge Besucher haben.«

»Nee«, sagte der Mann. »Der Code ist nicht besonders bekannt, und das ist uns auch ganz recht so. Nur gerade genug Besucher, dass uns nicht langweilig wird.«

»Dann habt ihr schon länger niemanden hier gehabt?«

»Doch, haben wir. Erst heute Morgen ist eine Gruppe gekommen.« Er schlug dem jüngeren Mann auf die Schulter. »Billy hier gehört dazu. So, machen wir, dass wir zurück ins Haus kommen, es wird ganz schön kalt.« Er schauderte dramatisch.

»Zeit für heißen Kakao und Brandy am Kamin. Und verdammt, ich lebe wirklich schon zu lang im Busch, ich vergesse dauernd meine Manieren. Ich bin Charles.«

Wir stellten uns ebenfalls vor; dann folgten wir Charles über die verschneite Wiese.

Für eine Jagdhütte war das, was wir fanden, ziemlich perfekt: ein einstöckiges Blockhaus zwischen schneebedeckten Nadelbäumen. Nach Holz duftender Rauch kräuselte sich träge in den Nachthimmel hinauf. Als Charles die dicke Holztür aufstieß, drangen ein Schwall von Wärme und eine Welle von Gelächter ins Freie hinaus. Drinnen hatte sich ein halbes Dutzend Männer um den riesigen steinernen Kamin versammelt, der die gesamte Nordwand einnahm.

»Hab noch zwei«, rief Charles, als wir die Hütte betraten.

Während wir alle begrüßten, öffnete sich eine große Klapptür in der östlichen Wand, und ein graubrauner Wolf schob sich hindurch.

»Hey, Marcello«, rief Charles. »Jagdglück gehabt?«

Der Wolf antwortete mit einem mürrischen Knurren, drehte sich und präsentierte eine von orangener Farbe noch nasse Flanke.

»Lass mich raten«, sagte Charles, als die Gruppe am Kamin zu gackern begann. »Ein Neuer?«

Ein Mann in mittleren Jahren stand von seinem Stuhl auf.

»Woher hätte ich wissen sollen, dass er ein Werwolf ist? Er sollte ein Halsband tragen oder irgend so was.«

Marcello knurrte, warf einen vernichtenden Blick zu ihm hinüber, ging dann zum Feuer und streckte sich davor aus.

»Marcello zieht die Wolfsgestalt vor«, flüsterte Charles. »Er verwandelt sich kaum jemals zurück. Nicht, dass wir uns beklagen würden. Ich hab zu meiner Zeit Dutzende von Jagdhunden gehabt, aber keinen, der an ihn rangekommen wäre.«

Ich sah mir sein Gewehr an, als er es ablegte. »Ihr jagt also mit Farbkugeln?«

Charles lachte. »Die Parzen lassen uns keine richtigen Kugeln verwenden und töten könnten wir hier ja sowieso nichts. Mir gefällt’s so besser. Sportlicher . . . und das Wild geht einem nie aus.« Er sah zu Marcello hinüber. »Ein Schütteln, und die Farbe wäre weg. Er lässt sie nur dran, um den Neuen zu ärgern.«

»Wie viele Neue habt ihr denn insgesamt?«, fragte Kris.

»Vier. Alle zum ersten Mal hier. Aber alle begeisterte Jäger, und nur darauf kommt es an.«

Das hörte sich nicht nach Luther Ross an. Ich begann zu fürchten, dass er angekommen war, einen Blick in die Runde geworfen und sich augenblicklich wieder davongemacht hatte.

Ein paar Minuten später saß ich auf dem Sofa beim Kamin, die Füße in Kris’ Schoß, und nippte an einer heißen Schokolade mit Marshmallows, während Kris mit den Jägern schwatzte.

Ich überlegte, wie wir weiter vorgehen sollten, war aber noch nicht sehr weit gekommen, als die Tür sich wieder öffnete.

Herein kam Luther Ross, ein gequältes Lächeln im Gesicht.

Ein jüngerer Mann folgte ihm und klopfte ihm im Gehen auf die Schulter.

»Richtiger Jäger, der hier, Jungs«, sagte er. »Ich hab ihn kaum wieder aus dem Wald gekriegt.«

Ross’ Blick flackerte hektisch durch den Raum auf der Suche nach einem Fluchtweg.

»Hey, Luther!«, rief Charles. »Ich hab hier jemanden, den ich dir vorstellen will. Hast du nicht gefragt, ob wir hier jemals eine Dame sehen? Na, du hast Glück. Ist gerade eine gelandet.«

Ross sah fast widerwillig in die Richtung, in die Charles zeigte, als fürchtete er sich vor dem, was er möglicherweise sehen würde. Als er mich entdeckte, zwinkerte er und dann erschien ein Lächeln in seinen Augen.

»Äh, ein Problem gibt es«, sagte Charles, als ringsum alles zu kichern begann. »Ich fürchte, sie ist nicht allein gekommen.«

Ross’ Blick glitt zu Kristof hinüber, und seine Augen wurden schmal.

»Ich glaube, es ist besser, wenn du das hier mir überlässt«, murmelte ich Kristof zu.

Es dauerte eine Weile, aber irgendwann hatte ich es fertiggebracht, mich zu entschuldigen und in den ersten Stock zu verschwinden, wo ich auf den Balkon hinausging. Wenige Augenblicke später gesellte Ross sich zu mir.

Ich hatte mich geirrt, was seine Einstellung zu diesem Ort anging. Er betrachtete sich eher als einen Liebhaber denn als einen Kämpfer, und er hätte sich auch nach Sibirien verfrachten lassen, wenn das bedeutete, dass er vor der Nixe sicher war. Durchaus möglich, dass er im Grunde seines Herzens einfach ein Feigling war, aber das andere Klischee zog er fraglos vor.

Ich versprach, ihm einen Transportcode zu beschaffen, der seinem Geschmack eher entsprach, wenn er mir ein paar Antworten lieferte. Er sagte zu, und dann gesellte sich auch Kristof zu uns.

Ross erklärte, er habe der Nixe keinerlei persönliche Fragen gestellt, nicht einmal die nach ihren Gründen, zu ihm zu kommen. Es gibt einen Luther Ross in jeder Bar der Welt

einen Typ, der willens ist, einem hübschen Mädchen stundenlang gegenüberzusitzen, ihr tief in die Augen zu sehen und sie mit fast ehrlichem Interesse zu ermutigen, ihm alles über sich zu erzählen. Aber hey wenn du lieber gleich ins Bett hüpfen würdest, dann bleibt dein Privatleben Privatsache, Süße.

Also verlegte ich mich auf das, was sie ihn gefragt hatte. Und diese Antwort überraschte mich tatsächlich. Sie hatte Ross absolut nichts gefragt, das nicht mit Telekinese und Poltergeistern zu tun gehabt hätte. Bei den Lektionen war sie interessiert gewesen, hatte sich immer erboten, neue Techniken auszuprobieren, sich nie von einem Fehlschlag entmutigen lassen. Sie war nicht so weit gekommen, tatsächlich etwas durch Telekinese zu bewegen, aber Ross war überzeugt, dass sie eine seiner Erfolgsgeschichten geworden wäre wenn sie länger bei ihm geblieben wäre.

Am Ende der Unterrichtsstunden hatte sie sich zurückgezogen, sich eine ruhige Ecke gesucht und weiter geübt. Ja, sie hatte in der letzten Nacht Ross’ Bett geteilt, aber auch beim postkoitalen Geplauder war es um Fachfragen gegangen. Offenbar hatte sie den Sex vor allem dazu genutzt, noch etwas Privatunterricht zu bekommen.

»Und apropos Privatunterricht«, sagte Ross. »Schick mich an einen brauchbareren Ort vorzugsweise warm, vorzugsweise frauenfreundlich und ganz entschieden sicher, und du kannst es als Honorar für die Poltergeistlektionen verbuchen.«

»Äh, okay.« Ich widerstand der Versuchung, rasch zu Kris hinüberzusehen; wie sein Blick sich in mich hineinbohrte, spürte ich trotzdem. »Vielleicht schicken wir dich dann «

»Ich verstehe bloß nicht so ganz«, fuhr Ross fort, »warum jemand wie du überhaupt Poltergeistlektionen will. Nicht, dass ich mich beklagen wollte.« Ein rasches Grinsen. »Aber du bist doch mächtig genug, um alles zu kriegen, was du willst, auch ohne diese Taschenspielereien.«

»Gegenstände in der Welt der Lebenden zu manipulieren, würde mir bei der Lösung eines bestimmten Problems helfen.«

Er runzelte die Stirn. »Mit der Nixe?«

»Nein«, murmelte Kris. »Mit der Nixe hat das nichts zu tun.«

»Es ist, um meiner« ich sah zu Kris »unserer Tochter zu helfen.«

»Ah«, sagte Ross. »Okay, das leuchtet mir ein. Aber ich bin mir nicht sicher, ob die Poltergeisterei dir da nützen kann. Was du dafür bräuchtest, wäre ein Dämonenamulett.«

»Dämonen. . . ?«

»Es ist eine Legende«, schaltete Kristof sich ein. »Ein Mythos.«

Ich sah zu ihm hinüber. »Du hast davon gehört? Was kann es «

»Es gibt kein Amulett, Eve.«

Sekundenlang stierten wir uns an, dann wurde sein Blick weicher. Sein Gesichtsausdruck bat mich, es einfach gut sein zu lassen.

Ich riss den Blick los und wandte mich an Ross. »Dieses Amulett «

Kristof ging. Ich murmelte eine Entschuldigung und ein Versprechen, zurückzukommen, und rannte hinter ihm her.

Ich fand ihn auf der Wiese vor dem Haus, wo er unter einem Baum stand und zum Himmel hinaufsah. Er musste das Geräusch meiner Schuhe im Schnee gehört haben, aber er rief nicht zu mir herüber, er sah mich nicht einmal an.

»Kris?«

»Glaubst du, du bist die Einzige, die sich wegen ihrer Kinder Sorgen macht?«, fragte er ruhig.

»Nein, natürlich nicht «

»Glaubst du, du bist die Einzige, die Fehler gemacht hat?

Der diese Fehler jetzt leidtun? Die alles tun würde, um die Uhr zurückzudrehen oder in die Welt der Lebenden einzugreifen, um die Dinge in Ordnung zu bringen?«

Ich kam näher und hob die Hand, um sie ihm auf den Arm zu legen, aber er trat außer Reichweite. Sein Blick senkte sich zu meinem.

»Mein jüngerer Sohn ist drauf und dran, sein Leben zu ruinieren und eine Laufbahn einzuschlagen, die er hasst, weil er glaubt, ich hätte es so gewollt, und mein Ältester hat nur die Wahl, entweder sich selbst untreu zu werden oder sich die wenigen Angehörigen zu entfremden, die er noch hat.«

»Dann weißt du also «

»Dass Sean schwul ist? Ich bin sein Vater, Eve. Ich habe es wahrscheinlich gewusst, bevor er es selbst wusste. Ich habe gesehen, wie er sich bemüht hat, seinen Weg zu finden, und ich bin zu dem Schluss gekommen, ich müsste ihn diesen Weg selbst finden lassen. Wenn er so weit wäre, würde ich für ihn da sein. Nur, dass ich’s dann nicht war, stimmt’s? Und jetzt fragt er sich, wie ich drauf reagiert hätte, und ich kann ihm nicht helfen, ich kann ihm den Rücken nicht stärken. Genauso wenig, wie ich Bryce sagen kann, dass ich nie wollte, dass er in meine Fußstapfen tritt. Dieses Leben hat mich unglücklich gemacht, hat mich die Frau gekostet, die ich geliebt habe, und ich habe Gott jeden Tag dafür gedankt, dass Bryce mehr Courage hatte als ich.«

Ich versuchte etwas zu sagen, aber die Stimme erstarb mir in der Kehle.

»Sogar bei Savannah habe ich Fehler gemacht. Ich habe mich so sehr davor gefürchtet, sie zu treffen und dich in ihr zu sehen, ich hatte so viel Angst, sie würde mich hassen, dass ich Gabriel Sandford an meiner Stelle nach Boston geschickt habe. Seine Fehler waren meine Fehler, und alles, was Savannah seinetwegen durchgemacht hat, ist meine Schuld.«

»Ich habe «

»Aber weißt du, was mir nicht leidtut? Dass ich ihr in diesen Keller gefolgt bin. Obwohl ich sie nicht schützen konnte, obwohl sie mich unabsichtlich umgebracht hat, bereue ich nichts daran. Und weißt du, warum? Weil es mich hierher gebracht hat. Zu dir.«

»Kris «

»Gut, vielleicht habe ich im Leben Mist gebaut. Vielleicht kann ich nichts davon wiedergutmachen. Aber hierherzukommen hat mir die Chance gegeben, den größten Fehler von allen wiedergutzumachen. Den, dich gehen zu lassen.«

Ich öffnete den Mund, aber auch diesmal kam nichts heraus.

»Dies ist unsere Gelegenheit, von vorn anzufangen, Eve. Deine und meine. Alles zu vergessen, was wir früher getan haben, und von vorn anzufangen. Nicht einfach miteinander das ist nur ein Aspekt davon. Vielleicht hast du ein neues Leben nicht so sehr gebraucht, wie ich es gebraucht habe, aber jetzt hast du eins, und du kannst nicht mehr zurück, ganz gleich, wie sehr du es versuchst.«

»Du willst, dass ich mich entscheide«, flüsterte ich. »Zwischen Savannah und dir.«

Er fuhr so heftig herum, dass ich erschrak. »Herrgott noch mal, hörst du mir eigentlich zu? Ich sage nicht, dass du Savannah vergessen sollst, und ich sage nicht, dass du dich wieder mit mir zusammentun sollst. Ich sage, fang an, ein Leben zu leben. Irgendeins. Ich habe gedacht « Er schluckte. »Ich habe gedacht, mit dieser Nixengeschichte vielleicht hast du’s jetzt endlich geschafft, hast deinen Platz gefunden, aber dann sehe ich dich da drin stehen und über Savannah und Poltergeistlektionen und dieses Amulett reden, und ich seh dir an, dass du keinen Schritt weiter bist. Wenn du hier fertig bist, wirst du geradewegs dahin zurückgehen, wo du vorher warst, und in deiner privaten Zwischenwelt leben, keine Spur anders als einer von diesen verdammten Erdspukern.« Er unterbrach sich; seine Stimme wurde leiser. »Und ich weiß nicht, wie lang ich es noch aushalte, dir dabei zuzusehen.«

Seine Augen hielten meine fest. Eine Minute lang sahen wir einander einfach nur an. Dann formten seine Lippen ein paar lautlose Worte, und er war verschwunden.

Ich stand da, als wäre ich festgewachsen, und meine Gedanken wirbelten.

Ich weigerte mich zu denken; ich hatte Angst, wenn ich anfing, darüber nachzudenken, würde ich nicht mehr aufhören können.

War ich wirklich kurz davor, ihn zu verlieren? Ich hatte ein eiskaltes Gefühl im Magen bei dem Gedanken.

Ich würde dies in Ordnung bringen. Ich würde es tun . . . sehr bald.

Zunächst aber ging ich wieder ins Haus, um Ross nach dem Amulett zu fragen.

Erst als ich mich wieder zu ihm gesellte und das amüsierte, triumphierende Lächeln sah, wurde mir mein Fehler klar. In einem Moment machte ich mir Sorgen, ich könnte Kristofs Freundschaft verlieren, und im nächsten rannte ich los und machte mit genau dem weiter, womit ich diese Freundschaft unterminierte.

Typisch ich rannte ins Unglück, während ringsum die Warnleuchten angingen.

Aber solange ich dort war, konnte es nicht schaden, mehr über das Amulett herauszufinden.

Wenn Kristof recht hatte und das Ganze ein Mythos war, kam es nicht weiter drauf an. Ich wusste, er hatte nicht in erster Linie etwas dagegen, dass ich mich über das Amulett informierte, sondern gegen die Besessenheit, die es verkörperte.

Aber . . . na ja, das konnte ich mir später immer noch überlegen.

Ich sagte mir, ich würde nur eben lang genug bleiben, um herauszufinden, was das Amulett bewirkte, aber sobald ich gehört hatte, was es bewirkte, musste ich auch alles andere wissen, was Ross darüber zu erzählen hatte. Wenn dieses Amulett existierte, konnte es die Antwort auf meine Versuche sein, Savannah zu helfen und zwar ohne die ganzen Verantwortlichkeiten eines Engels. Ross zufolge würde der Anhänger das Amulett Dantalians nannte er ihn seinem Träger die Fähigkeit geben, von einem lebenden Menschen Besitz zu ergreifen.

Der einzige Haken dabei? Der Träger musste selbst Dämonenblut besitzen. Es war fast zu gut, um wahr zu sein.

Das Problem war, dass Ross nur die Funktion des Amuletts kannte.

Er wusste nicht einmal, dass »Dantalian« der Name eines Dämons war. Ich klärte ihn nicht auf er war selbst Halbdämon und würde ein solches Amulett ebenso verwenden können wie ich, also würde ich ihm bestimmt nicht helfen, es zu finden.

Nicht, dass ich geglaubt hätte, man könnte es finden, aber . . .

na ja, es war etwas Nachdenken wert und vielleicht auch etwas Recherche, wenn ich diese Nixensache erledigt hatte.

Ich war mehr oder weniger fertig damit, Ross zu löchern, als ich im Gang ein Dielenbrett knarren hörte. Ich ging und sah nach, aber es war niemand da. Wenn es Kristof gewesen war, hatte er jetzt wahrscheinlich alles gehört, was es zu hören gab.

Der Gedanke reichte aus, um mich die Unterhaltung mit Ross zu einem raschen Ende bringen zu lassen. Ich gab ihm einen Transportcode für einen Ort, der ihm besser gefallen würde, und war dabei, mich zu verabschieden, als ich das Knarren wieder hörte.

Dieses Mal sprach ich eine Verschwimmformel und rannte hinaus in der Hoffnung, Kris beim Lauschen zu erwischen.

Stattdessen rannte ich genau in Trsiel hinein.

»Äh, hallo«, sagte ich. »Ist ja komisch, dass du auch hier bist.«

Er musterte mich wütend. »So weit von Massachusetts entfernt, stimmt’s, Eve?«

Bevor ich auch nur antworten konnte, hatte er mich am Arm gepackt und uns beide verschwinden lassen.

30

I ch verbrachte die nächsten zehn Stunden im Haus der Bordens, bis mich in der elften ein Engel rettete. Es war zwar wiederum nur Trsiel, aber für mich kam er zu diesem Zeitpunkt als ein wahrer Bote des Himmels. Funkelnde Konversation gehörte nicht zu Lizzie Bordens Stärken.

Offenbar hatte Sullivan eine Vision von der Nixe gehabt. Diese steckte zwar noch in ihrer Geistergestalt, war aber unterwegs, und über Sullivans Träume hatte Trsiel herausgefunden, wo sie in der Zwischenzeit gewesen war. Hier. Wo auch immer »hier«

sein mochte.

Wir stapften über eine dunkle Wiese. Dünner Nebel hing in der Luft; er roch nach Heidekraut und etwas anderem, das nicht annähernd so angenehm war.

Ich rümpfte die Nase. »Nasser Hund?«

Ich hatte noch nicht ausgesprochen, als ein haariger rotbrauner Brocken vor mir auftauchte. Ich stolperte mit einem Fluch nach hinten. Der Brocken drehte sich um und betrachtete mich mit großen törichten Augen. Dann schüttelte er den Kopf. Lange gebogene Hörner blitzten auf.

»Was zum Teufel ist das?«, fragte ich. »Ein Yak?«

»Ein Hochlandrind, glaube ich.«

»Hochland? Sind wir in Schottland?«

»In der Nähe von Dundee.«

»Und die Nixe war hier? Um was zu tun die Rinder zu hüten?«

»Nein, um das da zu besuchen.«

Er zeigte auf den vor uns liegenden Wald. Ich schärfte meinen Blick, und einen Moment später sah ich ein Gebäude, das sich über die Baumwipfel erhob. Turmspitzen umgaben ein mächtiges Dach.

»Sieht aus wie eine Burg«, sagte ich.

»Glamis Castle.«

»Glamis wie in Glamis bist du und Cawdor und sollst werden, was dir verheißen?«

Eine der Kühe muhte anerkennend. Trsiel dagegen zog nur die Augenbrauen hoch.

»Was?«, sagte ich. »Bogart und Bacall erkennst du, aber den großen Shakespeare nicht?«

Ein Achselzucken und ein halbes Lächeln. »Ich war immer eher ein kinoliebender Engel. Shakespeare hat wunderbare Geschichten erzählt, aber ich bin nie über die Jünglinge in Frauenkleidung hinweggekommen, die Julia gespielt haben.

Was das Zitat angeht und in Anbetracht des Schauplatzes

Macbeth, nehme ich an?«

»Bingo. Meine einzige HighschoolBühnenhauptrolle Lady Macbeth. Ich war ein Naturtalent.«

Trsiel begann zu lachen. Ich drehte mich zu ihm um und hob warnend den Finger. »Sag’s nicht.«

Trsiel grinste. »Ich brauche es nicht zu sagen.«

Ich setzte mich wieder in Bewegung, den Blick auf die Turmspitzen gerichtet, die sich schwarz gegen den blaugrauen Nachthimmel abhoben. »Das ist also das Glamis?«

»Das Glamis Castle, über das Shakespeare geschrieben hat, obwohl es nichts mit dem historischen Macbeth zu tun hat.«

Wir gingen durch einen Stacheldrahtzaun hindurch und auf einem Fußweg weiter.

»Was macht die Nixe hier?«

»Ich weiß es nicht. Ich habe die Bilder in Amanda Sullivans Gedanken gesehen und die Burg erkannt, aber ich weiß nur, dass Glamis angeblich von mehr Geistern heimgesucht wird als jedes andere schottische Schloss.«

»Ooh, ein Geisterschloss! Ich wollte schon immer eins besuchen. Wie geht die Geschichte?«

Er lächelte. »Welche?«

»Die beste davon. Die Markerschütterndste.«

»Ich fürchte, bei der besten Geschichte geht es gar nicht um Geister, sondern um ein lebendes Ungeheuer. Was die Geister angeht «

»Nein, erzähl die Geschichte von dem Ungeheuer. Wenn du uns nicht näher ranteleportieren kannst, haben wir noch mindestens eine Meile zu gehen. Unterhalte mich. Bitte.«

Er lächelte. »Gut, aber ich muss dich warnen das Geschichtenerzählen ist keine engeltypische Fertigkeit. Also wie soll ich anfangen? Hm . . . «

»Es war einmal?«

Er warf mir einen vernichtenden Blick zu. »Etwas Besseres als das fällt sogar mir ein. Gut.« Er räusperte sich. »Eine Burg wäre keine Burg, hätte sie nicht die eine oder andere geheime Kammer. Glamis, eine Königin unter den Burgen, hat deren drei. Da wäre die Kammer, in der Earl Beardie die Ewigkeit beim Kartenspiel mit dem Teufel verbringt. Und da wäre die, in der ein Lord Glamis eine Gruppe Ogilvies einmauern ließ. Aber die beste und . . . markerschütterndste Geschichte erzählt man von der Kammer, die das verfluchte Ungeheuer von Glamis beherbergt.«

»Oh, ich liebe Geschichten mit Flüchen.«

»Willst du weitererzählen?«

Ich grinste. »Entschuldigung. Mach doch bitte weiter.«

»Die Legende erzählt, dass auf der Familie Glamis ein Fluch lastet, wie das bei allen guten Familien der Fall ist. Dieser Fluch wurde ganz buchstäblich in Gestalt eines Kindes geboren. Und zwar als ältester Sohn des elften Earl als ein Kind, das so abscheulich missgestaltet war, dass jeder Amme die Milch in der Brust versiegte, wenn sie nur einen Blick in die Wiege warf.«

»Wirklich?«

»Nein, aber die Geschichte ist etwas kurz, und wir haben immer noch ein ganzes Stück zu gehen. Also sei still.«

»Tschuldigung.«

»Das Schlimmste jedoch war, dass die Familie verpflichtet war, sich um das Kind zu kümmern nicht ein Menschenalter lang, sondern bis in alle Ewigkeit, denn es war unsterblich.

Also schloss man den Sohn in einer geheimen Kammer ein, und es wurde jeder neuen Generation auferlegt, sich um ihn zu kümmern und sein Dasein vor allen Außenstehenden geheim zu halten, auch vor denen, die sie liebten. Aber das Band der Ehe lässt keinen Raum für Geheimnisse, und eine unternehmungsfrohe junge Lady Glamis wurde es müde, die Gerüchte zu hören und die Wahrheit hinter ihnen nicht zu kennen. Eines Tages hatte sie zu einem Abendessen geladen, während ihr Ehemann auf Reisen war, und teilte ihren Gästen einen wohldurchdachten Plan mit. Sie sollten Handtücher aus jedem Fenster der Burg hängen. Sie taten es. Danach gingen sie ins Freie und umkreisten die Burg auf der Suche nach dem Fenster ohne ein Handtuch, denn dies würde das Fenster der geheimen Kammer sein. Und sie fanden es, hoch oben im dritten Stock.

Ein winziges Fenster . . . ohne Handtuch. Also stürzte Lady Glamis ins Schloss, die Treppe hinauf, durch die Halle und riss die Tür des Zimmers neben der Geheimkammer auf. Dann klopfte sie die Wand ab und suchte nach der hohl klingenden Stelle, an der die verborgene Tür sein musste. Sie klopfte ein Mal, machte einen Schritt, klopfte ein zweites Mal, machte einen Schritt, klopfte ein drittes Mal . . . und auf der anderen Seite klopfte etwas zurück.«

Trsiel bog auf eine geschwungene Zufahrt ab und ging weiter.

»Und dann?«, fragte ich.

»Das ist alles. Der Geschichte zufolge kam, bevor sie weitere Nachforschungen anstellen konnte, ihr Mann nach Hause. Er sah, was sie getan hatte, und machte ihr die Hölle heiß dafür.

Wenig später hat sie ihn verlassen.«

»Das kann ich ihr nicht verdenken. Aber es ist trotzdem ein lausiges Ende.«

»Du willst ein besseres Ende hören?«

»Bitte.«

Ein tiefer Seufzer. »Was bei diesem Auftrag alles von mir verlangt wird . . . In Ordnung. Als Lady Glamis sich umwandte, sah sie ihren Gatten dort stehen, einen rostigen Schlüssel in der Hand. Bevor sie wusste, wie ihr geschah, hatte er sie gepackt.

Die Geheimtür sprang auf, und Lady Glamis schrie, so laut sie nur konnte aber Lord Garnis stieß sie in die Kammer, schlug die Tür zu und schloss sie mit dem Ungeheuer ein, dem sie nun in alle Ewigkeit dienen musste.«

Ich zog eine Braue hoch. »Dienen inwiefern?«

Er sah mich an und prustete heraus. »Nicht auf diese Art!

Das ist eine jugendfreie Geschichte, Weib, korrumpier sie nicht!«

»Glaub mir, die war schon längst korrumpiert, bevor ich sie auch nur «

Als wir um eine Ecke bogen, sah ich auf und brach ab. Vor und über uns ragte aus einzelnen Nebelbändern Glamis Castle auf.

»Heiliger Bimbam«, flüsterte ich. »Weißt du, wenn man solche Geschichten hört, über geheime Kammern und so, dann glaubt man immer, dass sie selbstverständlich Blödsinn sind.

Wie kann es irgendwo ein ganzes Zimmer geben, von dem keiner weiß? Aber in einem Bau wie dem hier . . . ? Da drin könnte es ein Dutzend von ihnen geben.« Ich sah an der Burg hinauf. »Hier gehen angeblich Geister um? Wundert mich kein bisschen. Zum Teufel, ich hätte selbst nichts dagegen, ein Weilchen hier herumzuhängen. Gibt es ein Verlies?«

»Nein, nur eine Krypta.«

»Die tut’s auch. Aber irgendwie kommt es mir nicht so vor, als ob die Nixe es mit Sehenswürdigkeiten hätte. Sie will hier irgendwas Bestimmtes, aber hier ist in diesem Fall ziemlich viel Bausubstanz. Hat Sullivans Vision dir irgendwas Konkretes gezeigt?«

»Nur kurze Bilder von verschiedenen Räumen des Schlosses.«

»Als suchte sie nach etwas?«

Er nickte. »Und ich nehme an, sie ist inzwischen schon wieder weg.«

»Das heißt, wir suchen wahrscheinlich nicht nach der Nixe, sondern nach dem, was sie hierher geführt hat. Aber wenn in der Burg Gespenster umgehen, hat es wahrscheinlich etwas damit zu «

»Das ist ja gerade das Problem. Hier geht nichts um.«

»Was?«

»Hundertprozentig gespensterfrei.«

Ich runzelte die Stirn. »In so alten Gebäuden geht doch immer irgendwas um. Vielleicht nicht die Sorte, die stöhnt und mit Ketten rasselt, aber richtige Geister. Die, die zwischen den Dimensionen feststecken, und die, die einfach die Atmosphäre mögen.«

»In der Regel ist das der Fall. Aber hier nicht.«

»Warum nicht?«

Trsiel schüttelte den Kopf. »Ich habe keine Ahnung. Im letzten Jahrhundert wurde einer der Aufgestiegenen beauftragt, der Sache nachzugehen, aber irgendetwas Wichtigeres ist dazwischengekommen, und er wurde nie zurückgeschickt. Hier passiert nie etwas Übles. Keine ungeklärten Morde, keine dä

monischen Aktivitäten. Kein guter Grund, weiterzuforschen.

Wenn die Heimsucher den Ort aus irgendeinem Grund meiden, hat niemand etwas dagegen. Wir haben schon genug Ärger mit ihnen.«

»Aber irgendwas macht diesen Bau bei Geistern unpopulär.

Und vielleicht hat das etwas damit zu tun, dass die Nixe hier war.«

Wir betraten die Burg durch eine Seitenwand und kamen in ein riesiges Speisezimmer. Ein Tisch mit zwölf Gedecken stand in der Mitte, und Porträts schmückten die getäfelten Wände.

In dem Augenblick, in dem ich den Raum betrat, spürte ich ein Prickeln an meinem Rückgrat entlanglaufen ein Gefühl, als hätte irgendetwas in mir gerade aufgemerkt.

»Spürst du das?«, flüsterte Trsiel.

Er stand mit dem Rücken zu mir, die Haltung angespannt, und musterte den Raum. Als ich neben ihn trat, fuhr er fort:

»Ich habe Katsuo dem Engel, der sich hier auch umgesehen hat gesagt, ich könnte hier etwas fühlen, aber er hat geschworen, er spürte nichts.«

Ich starrte Trsiel an nicht so sehr wegen dem, was er gesagt hatte, als wegen der Art, wie er es gesagt hatte. Ich verstand ihn mühelos, aber seine Lippen bewegten sich nicht.

»Entschuldigung«, sagte er, immer noch telepathisch, als er meinen Blick bemerkte. »Ich hätte dich warnen sollen. Ist dies in Ordnung?«

Ich nickte.

»Macht weniger Lärm. Wenn du mit mir reden willst, denk die Worte.«

»So wie jetzt?«

Er nickte. »Und mach dir keine Sorgen, ich kann deine Gedanken nicht lesen. Es muss ein spezifischer, an mich gerichteter Gedanke sein.«

»Wie ein Kommunikationszauber.«

»Genau.« Er sah sich um und schien sich wieder zu verspannen. »Ich verstehe nicht, wieso Katsuo das nicht gespürt hat.«

»Du bist also schon mal hier gewesen?«

Ein Achselzucken. »Ein, zweimal. Als Tourist.«

Das bezweifelte ich.

Als wir tiefer in das Schloss vordrangen, verstärkte sich meine Unruhe, ein Gefühl zwischen Unbehagen und etwas, das fast Erwartung war. Es war nicht eigentlich negativ . . . ganz sicher nicht negativ genug, um einen Geist mit einem Rest von Rückgrat zu verscheuchen. Aber es machte mich nervös.

Während wir uns nach allem umsahen, das die Nixe möglicherweise hierher hätte ziehen können, tat Trsiel sein Bestes, um meine Nerven mit laufenden telepathischen Kommentaren zu beruhigen halb Schlossführung, halb historische Geistertour.

Von dem Speisezimmer gingen wir in die Große Halle, einen langen Raum mit gewölbter Stuckdecke und weiteren Familienporträts an den Wänden. Dann weiter in die Kapelle . . . mit noch mehr Gemälden von toten Leuten. Interessanter fand ich persönlich die Deckenbilder. Fünfzehn insgesamt, lauter religiöse Szenen und mindestens ein geflügelter Cherub.

»Sieht dir absolut nicht ähnlich.«

Trsiel lächelte. »Ah, aber du hast ja auch meine Kinderfotos nicht gesehen. Dies ist, wie du dir vermutlich schon gedacht hast, die Kapelle. Wenn du aufmerksam lauschst, hörst du vielleicht das Kratzen des Vampirs, der auf ewig hinter dieser Mauer gefangen ist.«

»Hier scheint ja alles Mögliche hinter den Mauern gefangen zu sein.«

»Es ist ein beliebtes Versteck«, stimmte er zu. »Als Nächstes kommt der Billardsaal.«

Wir gingen durch eine Tür in den nächsten Riesenraum.

Weitere Bilder. Gläserne Bücherschränke nahmen eine Wand ein.

»Sieht mehr nach einer Bibliothek aus«, bemerkte ich.

Trsiel zeigte auf einen Tisch in der Mitte des Raums.

»Billard und ein brauchbarer Übergang zu meiner nächsten Geschichte. Der zweite Earl of Glamis, bekannt als Earl Beardie, war ein leidenschaftlicher Kartenspieler. Eines Samstagabends spielte er so lang mit seinem Freund, dem Earl of Crawford, dass ein Diener hereinkam, um ihnen mitzuteilen, dass es fast Mitternacht war, und sie zu bitten, mit dem Spiel aufzuhören, denn es war Gotteslästerung, am Sonntag Karten zu spielen. Beardie schickte ihn hinaus mit den Worten:

›Ich spiele auch mit dem Teufel selbst, wenn mir danach ist.‹

Ein paar Minuten später klopfte es am Tor. Draußen stand ein ganz in Schwarz gekleideter Mann und verlangte, an dem Spiel teilnehmen zu dürfen. Die beiden Earls stimmten zu und verspielten noch in derselben Nacht ihre Seelen. Als Beardie fünf Jahre später starb, begann die Familie Flüche und das Geräusch rappelnder Würfel aus dem Zimmer zu hören, in dem Beardie gespielt hatte. Sie mauerten es zu, aber die Geräusche blieben.«

»Die Leute hier müssen wirklich rund um die Uhr eine Maurerkolonne beschäftigt haben.«

»Hier«, sagte Trsiel, als wir ein paar Minuten später einen Salon betraten, »ist ein Schauplatz einer Geschichte, die eher in deine Zeit gehört. Dies ist das Wohnzimmer der Königinmutter. Glamis war der Wohnsitz ihrer Familie. Sie ist hier aufgewachsen, und Prinzessin Margaret wurde hier geboren

nicht in diesem Raum, aber hier im Schloss.«

»Die Queen Mum ist in einem Schloss aufgewachsen, in dem es Geister, Vampire, Besuche des Teufels, mörderische Aufstände, Hinrichtungen und Folter gegeben hat? Und hat hier eine Tochter geboren? Weißt du, das könnte das eine oder andere an der britischen Königsfamilie erklären.«

Wir stiegen eine breite geschwungene Steintreppe hinauf, von der Trsiel sagte, dass sie zum Uhrturm führte, und mein Blick fiel auf eine junge Frau in einem langen, weißen Gewand, die auf dem Treppenabsatz am Fenster stand. Mein erster Gedanke war nicht etwa: »Hey, ein Geist!«, sondern die Überlegung, dass man in Schottland einen ziemlich aufwendigen Geschmack bei der Nachtwäsche hatte Trsiel hatte mir erzählt, dass das Schloss immer noch Wohnsitz des derzeitigen Lord Glamis und seiner Familie war. Sie und ihre Angestellten lebten in einem Flügel, der für die Öffentlichkeit nicht zugänglich war. Aber dann drehte die junge Frau sich um, und ich sah, dass sie kein Nachthemd, sondern ein langes weißes Kleid trug.

Sie wandte sich vom Fenster ab, die Augen weit vor Entsetzen.

»Sie kommen!«

Dann raffte sie den Rock und stürzte zur Treppe; sie lief geradewegs durch eine Vase hindurch.

Ich sah zu Trsiel hin. »Hast du nicht gesagt, es gibt keine Geister hier?«

»Das ist ein Nachbild.«

»Ein was?«

»Ein Nachbild eines längst vergangenen Ereignisses. Manche Vorfälle sind traumatisch genug, um sich einem Ort auf Dauer einzubrennen. Geister und Nekromanten und hinreichend empfängliche Menschen können das Nachbild auslösen.« Er unterbrach sich. »Du hast so was doch sicher schon gesehen, oder?«

Ich dachte an die weinende Frau in Paiges und Lucas’ Haus.

»Äh, ja. Ich hab . . . ich wusste nicht, dass das so heißt.«

Trsiel grinste. »Du hast sie für Geister gehalten?«

»Natürlich nicht. Ich «

Jetzt warf er den Kopf zurück und lachte. »Was hast du gemacht? Mit ihnen geredet? Sie ermutigt, ins Licht zu gehen?«

Ich stierte ihn wütend an und stelzte an ihm vorbei die Treppe hinauf.

Nachdem ich ihn zwei Zimmer lang ignoriert hatte, bot Trsiel mir einen Olivenzweig zur Versöhnung an in Gestalt einer weiteren Geschichte über die Frau, die ich gerade gesehen hatte.

Die Weiße Dame. Geisterjäger sind eine höchst einfallsreiche Spezies, wenn es darum geht, grauenvolle Geschichten zu erfinden, aber bittet man sie, einen Namen für die weiß gekleidete Erscheinung einer Frau zu finden, kommen sie einem mit der Weißen Dame.

Sie war Janet Douglas, die Witwe des sechsten Lord Glamis, und sie war wegen Hexerei auf dem Scheiterhaufen verbrannt worden, nachdem man sie beschuldigt hatte, die Absicht zu hegen, König James V. zu vergiften. In Wirklichkeit hatte ihr einziges Verbrechen darin bestanden, die Schwester von Archibald Douglas zu sein, der Jahre zuvor die Mutter des jungen Königs aus Schottland vertrieben hatte. Eine politische Rache, bei der eine hübsche und beliebte junge Witwe als Bauernopfer gedient hatte.

Letzter Halt: die Krypta.

Ich hatte damit gerechnet, in einen feuchten, dunklen Keller hinunterzusteigen. Stattdessen führte Trsiel mich zurück in den Uhrturm und von dort aus eine schmale Treppe aufwärts.

Wir gelangten in einen langen, schmalen Raum mit gewölbter Decke.

»Okay«, sagte ich, »wo sind die Toten? Hoffentlich nicht in diesen Rüstungen «

Ich brach ab. Wäre ich eine Katze gewesen, mein Pelz hätte sich gesträubt. Ich sah mich um, entdeckte aber nichts als antike Möbel und zwei kleine Fenster am anderen Ende des Raums.

»Es ist sehr stark hier drin, nicht wahr?«, sagte Trsiel. »Am stärksten ist es dort.« Er zeigte auf die Mauer. »Auf der anderen Seite ist ein Raum. Die Legende erzählt, dass Lord Glamis eine Gruppe schottischer Clansmänner dort einmauerte und verhungern ließ.«

»Ist das wahr?«

Er nickte. »Ich fürchte, dies ist tatsächlich nicht nur eine Schauergeschichte.«

»Was wir spüren, ist also eine andere Art von Nachbild. Eine negative Energie statt einer sichtbaren Gestalt.«

»So etwas kann vorkommen«, sagte er langsam. »Nur . . . die mit einem Ort verbundene Emotion spüren nur die Lebenden.

Das berühmte kalte Gefühl. Geister spüren sie nicht. Und Engel auch nicht.«

»Wenn die Nixe hier war, dann möchte ich wetten, ihr Besuch hatte etwas mit dem zu tun, was uns hier so nervös macht das, was auf der anderen Seite von dieser Mauer ist.«

»Dort ist nichts. Ich war «

»Nachsehen kostet nichts, oder?«

»Es ist . . . nicht angenehm dort drüben, Eve. Es sind «

»Skelette, oder? Wenn die Leute sterben, bleiben Knochen zurück. Nichts, das ich nicht schon gesehen hätte.«

Er öffnete den Mund, aber bevor er etwas sagen konnte, war ich durch die Mauer getreten.

31

A uf halber Strecke fand ich mich Auge in Auge in höhe mit einem Schädel. Ich fuhr mit einem Fluch herum und entdeckte ein Skelett, das an der Mauer lehnte, das Gesicht zur Wand, die Hände erhoben, dunkelbraune Streifen über jedem Fingerknochen . . . als hätte der Mann versucht, sich mit bloßen Händen den Weg nach draußen zu bahnen.

Ich drehte mich um und sah ein weiteres Skelett. Und noch eins. Ein halbes Dutzend davon saß an die Wand gelehnt. Am Fuß der Mauer lag ein Haufen Knochen. Auf dem Putz waren Spuren von getrocknetem Blut zu sehen.

Eingemauert.

Mein Blick stolperte über die Knochen; sie waren sauber voneinander getrennt und sorgfältig aufgehäuft, und jeder Einzelne davon wies Schabspuren auf. Zahnspuren.

Dann spürte ich eine Bewegung zu meiner Linken es war Trsiel, der die Hand ausstreckte, um mich abzustützen. Ich schüttelte den Kopf und tat einen Schritt in den Raum hinein.

Im gleichen Augenblick war jeder Gedanke an die Knochen verflogen.

Mein Hirn und mein Körper gingen schlagartig in den Hochleistungsmodus; jeder Muskel spannte sich, mein Blick jagte durch den Raum. Hier spürte ich ganz entschieden etwas. Fühlte es eine geradezu spürbare Wärme wie in einer trockenen Sauna.

»Habe ich mich beim ersten Mal nicht klar genug ausgedrückt?«

Die Worte jagten wie auf einem Schwall heißer Luft an mir vorbei. Der Dämonenabwehrzauber lag mir bereits auf den Lippen; ich schluckte ihn wieder hinunter. Dies war nicht die Nixe.

Die Stimme klang männlich, tief und volltönend. Verstörend und betörend wie die eines Engels . . . und doch ganz anders.

»Impertinenter Wicht«, sagte sie. »Hast du gedacht «

Die Stimme brach ab, und ein warmer Luftzug liebkoste mein Gesicht. Ich hielt ihm stand und begann mit der Formel.

Ein leises Lachen glitt an meinem linken Ohr vorbei.

»Das wird dir mehr weh tun als mir. Ich sehe, du bist nicht dieselbe wie die Erste. Zwei Dämonenblüter an einem Tag. Was habe ich getan, um dies zu verdienen?«

»Zwei?« Ich hielt inne. »Jemand war schon früher da, jemand mit Dämonenblut. Eine Nixe.«

Die Stimme trieb davon zum hinteren Ende des Raums, als setzte sich jemand dort auf die Bank.

»Hmm, ein halbdämonischer Geist. Ich kann mich nicht entsinnen, wann zum letzten Mal jemand von deiner Sorte hier vorbeigekommen ist. Wer ist dein Erzeuger?«

»Beantworte meine Fragen, und ich beantworte deine.«

Ein leises Fauchen. »So unverschämt wie die andere. Bringen sie euch dieser Tage eigentlich keinen Respekt mehr bei, Balg?«

»Sag mir, wer es ist, den ich respektieren soll, und ich überlege es mir.«

»Wenn du es nicht schon weißt, werde ich dich bestimmt nicht «

Trsiel, dessen Anwesenheit ich fast vergessen hatte, machte ein Geräusch. Er stand immer noch an der Mauer, und als ich mich umdrehte, rief er mich mit einer Geste zu sich zusammen mit einem telepathischen »Gehen wir«.

Ein scharfes Auflachen kam vom anderen Ende des Raums.

»Ein Dritter?«, sagte die Stimme. »Ich bin wahrlich gesegnet!

Und es ist sogar ein Engel vergebt mir, wenn ich mich nicht auf den Boden werfe.«

Trsiel trat in die Mitte des Raums, das Kinn erhoben. »Nenn deinen Namen, Dämon.«

»Dämon?«, zischte ich. »Hast du nicht gesagt, es gäbe hier keine «

Trsiel hob das Kinn noch höher. »Ich habe gesagt, nenn «

»Oh, ich habe dich durchaus verstanden, und ich lehne ab . . .

Trsiel.«

Trsiels Wangenmuskeln spannten sich.

»In Ordnung, vergiss die Vorstellung«, sagte ich. »Du sagst, es war heute schon mal jemand mit Dämonenblut hier. Was hat sie gewollt?«

Das leise Lachen des Dämons trieb um mich herum. »Du erwartest allen Ernstes, dass ich darauf antworte?«

»Nicht kostenlos, nein.«

»Ah, du willst also um die Antwort feilschen?«

»Nein, Eve«, sagte Trsiel. »Nicht mit ihm. Wir finden eine andere Möglichkeit.«

»Ich kann mich nicht entsinnen, dass sie deine Meinung hören wollte, Halbblut.«

Trsiel erstarrte. Ein langes, heiseres Lachen kreiste um uns.

»Das gefällt dir nicht, stimmt’s?«

»Ich bin ein Reinblütiger«, sagte Trsiel.

»Das hat man dir jedenfalls erzählt, und das möchtest du auch gern glauben, aber du weißt es besser, oder? Du bist mit den Reinblütern nicht näher verwandt als dieser hübsche halbdämonische Balg da mit mir.«

Trsiel drehte sich auf dem Absatz um. »Komm schon, Eve«, sagte er. »Er wird dir nichts als Lügen erzählen.«

»Ich bin es nicht, der dich angelogen hat, Trsiel. Oh, aber dein Schöpfer hat ja nie wirklich gelogen, richtig? Er hat niemals gesagt, dass du ein reinblütiger Engel bist. Er hat sich nur nicht die Mühe gemacht, das Missverständnis auszuräumen. Hat ja auch keinen Zweck, noch mehr Zwietracht in den Reihen zu säen, es gibt schon genug davon «

»Eve«, sagte Trsiel; seine Stimme wurde schärfer.

»Warum fragst du ihn nicht, Trsiel?«, fuhr der Dämon fort.

»Frag ihn, was du bist. Oder zieht der Krieger der Wahrheit die tröstliche Lüge vor?«

Ich wandte mich an Trsiel. »Hör einfach nicht auf ihn. Er will doch nur, dass wir gehen.«

»Oh nein, ich will nicht, dass ihr geht. Nur, dass er geht.

Verschwinde, Bastard, denn deine Gegenwart ist mir ein Ärgernis.«

Trsiel marschierte zurück in die Mitte des Raums.

»Siehst du?«, sagte der Dämon lachend. »Deine Aufsässigkeit verrät dich, Halbblut. Kein wahrer Engel würde so viel Stolz aufbringen.«

Als Trsiel nicht antwortete, trieb ein Strom heißer Luft auf mich zu und wand sich um mich, an den Beinen hinauf und dann um den Oberkörper bis zu meinem Ohr.

»Du willst verhandeln, Balg?«, flüsterte der Dämon.

»Vielleicht«, sagte ich. »Willst denn du verhandeln, Dämon?«

»Deine Nixe hat mich geärgert. Du kommst mir vielleicht nicht respektvoll, aber doch immerhin höflich vor.«

»Oder vielleicht willst du auch nur Unheil stiften«, sagte Trsiel. »Indem du ihr falsche Auskünfte gibst.«

»Und was, mein süßer Bastard, sollte daran amüsant sein?

Es kommt kein Unheil dabei heraus, wenn man zusieht, wie eine halbe Dämonin und ein Bastardengel eine arrogante Nixe jagen. Das Unheil fängt erst an, wenn sie sie erwischen.«

»Du kannst ihm nicht vertrauen, Eve«, sagte Trsiel. »Das weißt du.«

Als ich zögerte, lachte der Dämon leise; der heiße Atem kitzelte mich am Ohr.

»Wenn du so weit bist, dass du verhandeln willst, weißt du ja, wo du mich findest.«

Ein Schwall tropischer Hitze, und er war fort.

Die wichtigste Regel beim Verhandeln lautet, den anderen nie wissen zu lassen, wie sehr man haben will, was er zu bieten hat.

Die Begegnung mit dem Dämon hatte Trsiel unverkennbar mitgenommen. Es war besser, eine Weile zu warten, bis ich wieder auf das Thema zu sprechen kam.

Draußen vor der Burg sagte Trsiel: »Die Parzen erwarten, dass wir Lizzie und Sullivan beaufsichtigen. Wenn du eine bessere Idee hast . . . « Ein zerstreutes Achselzucken. »Die du wahrscheinlich hast . . . nur zu. Ich erledige das Beaufsichtigen.

Wenn du mich brauchst «

Ich grinste. »Werde ich pfeifen.«

Er nickte ohne die Spur eines Lächelns.

Ich sah zu ihm hinüber. »Ich habe keine Ahnung, wovon dieser Dämon geredet hat, aber er hat dich offensichtlich erwischt damit, und wenn du mir davon erzählen willst ich bin ein ganz brauchbarer Zuhörer.«

Als er meinen Blick erwiderte, sah ich eine Traurigkeit und Einsamkeit dort, die durch mich hindurchging wie ein Schlag.

»Danke für das Angebot«, sagte er. »Aber annehmen werde ich es nicht vorläufig.«

Ich hatte tatsächlich einen Plan. Bei dem Gedanken an Lizzie war mir eingefallen, dass ich mit noch einer anderen Partnerin sprechen konnte, einer, der ihre Verbindung mit der Nixe Spaß gemacht hatte. Sie dazu zu bringen, dass sie mit mir redete, würde nicht einfach sein, aber ich hatte eine Idee.

Nach Jaimes Reaktionen auf meine Bitte, Robin MacKenzie zu beschwören, wusste ich, sie würde nicht gerade begeistert sein von der Aussicht, eigens nach Europa zu reisen, um eine weitere Serienmörderin zu befragen. Und sie maulte tatsächlich, aber ich hatte das Gefühl, sie tat es hauptsächlich der Form wegen.

Sie hatte für den Rest der Woche keine Showauftritte, die Kurzreise nach Edinburgh kam ihr also weniger ungelegen als befürchtet. Jaime beschloss eine steuerlich absetzbare Studienreise draus zu machen, rief ihr Reisebüro an und bekam einen LastMinuteFlug von O’Hare aus.

Als wir uns am Friedhofstor trafen, war es fast Mittag.

»Ich nehme nicht an, dass dies bis Mitternacht warten kann?«, fragte sie, als wir uns zwischen mehreren Spaziergängern mit Hunden hindurchschlängelten.

»Hey, du wirst besser.«

»Worin?«

»Darin, zu reden, ohne die Lippen zu bewegen.«

Ein winziges Lächeln. »Ich bin eine Frau mit vielen Talenten.

Ist heute irgendwas Besonderes los, oder ist es hier immer so voll?«

»Ich glaube, der Friedhof hier dient gleichzeitig als öffentlicher Park.« Ich sah mich auf dem baumbestandenen Gelände um; überall waren Leute unterwegs, um die Frühlingssonne zu genießen. »Kannst du es auch am Tag machen? Die Sache duldet keinen Aufschub.«

»Verdammt«, seufzte Jaime.

32

M itten am Tag eine Séance auf einem höchst belebten Friedhof abzuhalten ich bin sicher, das steht ganz oben auf der Liste der Dinge, die man als Nekromant lieber bleibenlässt.

Wir hatten uns darauf geeinigt, dass Jaime so tun würde, als meditiere sie. Dazu konnte sie immerhin in der Nähe von Simmons’ Grab im Schneidersitz auf dem Boden sitzen und die Augen schließen, ohne allzu viel Aufmerksamkeit zu erregen. Trotzdem musste sie ihre Beschwörung auch so mehrmals unterbrechen, weil sie von neugierigen Spaziergängern gefragt wurde, ob sie mit den Toten zu sprechen versuchte. Ich stand währenddessen Schmiere, um ihr Bescheid zu sagen, wenn Simmons auftauchte.

Es dauerte fast zwei Stunden, bis Suzanne Simmons erschien, und sie brauchte mindestens zehn Minuten, um sich vollständig zu materialisieren. Ich erkannte sie sofort. Schließlich hatte ich sie in der Vision gesehen, die die Parzen mir geschickt hatten, und ihr Gesicht hätte ich nie vergessen können. Sie steckte noch in der Krankenhauskleidung des Gefängnisses; die Bienenkorbfrisur war verschwunden, und das blonde Haar hing ihr schlaff und ungewaschen um die Schultern, als hätte sich niemand mit solchen Details beschäftigt, als sie im Sterben lag. Sie war barfuß. Das war das Erste, was sie bemerkte ihre Füße. Sie starrte auf sie hinunter, hob den einen, dann den anderen an und krümmte die Zehen. Dann lächelte sie, hob mit geschlossenen Augen den Kopf und holte tief Atem.

Jaime drehte sich um und wollte etwas sagen, aber ich bedeutete ihr mit einer Geste, noch zu warten.

Simmons öffnete die Augen und sah sich um. Ihr Blick fiel auf ihren Grabstein. Ein Lidschlag. Sie legte den Kopf zur Seite und las die Inschrift. Ein winziges Nicken, als sei die Bestä

tigung, dass sie tot war, weder unerwartet noch sonderlich beunruhigend.

Sie drehte sich um, und ich tat einen Schritt zur Seite, um mich aus ihrem Blickfeld zu halten. Ihr Blick glitt über Jaime und den Friedhof, von Spaziergänger zu Spaziergänger; sie runzelte ganz leicht die Stirn, als sie eine Welt musterte, die ihr vertraut und zugleich fremd war.

Zwei Teenager kamen auf ihren Rollerblades den Pfad entlang geschossen, das Mädchen mit dem Handy am Ohr, der Junge mit halb geschlossenen Augen, vollkommen gebannt von dem Hämmern, das aus seinem Kopfhörer drang. Als sie näher kamen, streckte Simmons die Hand aus. Das Mädchen glitt geradewegs durch ihre Finger hindurch. Simmons nickte, als sei auch dies nicht weiter überraschend.

»Willkommen zurück, Suzanne«, sagte ich.

Sie fuhr herum, die Hände erhoben, als wollte sie einen Schlag abwehren. Ich lehnte mich an einen Grabstein und schob die Hände in die Taschen.

»Bist du ein Geist?«, fragte sie.

Ich griff nach unten und pflückte aus dem Blumenstrauß auf dem Grab eine Blume, die ich zuvor heraufbeschworen hatte.

Ich hob sie hoch.

»Sieht es so aus?«

»Also wie ?«

»Nekromantie«, sagte ich. »Hast du davon gehört?«

Eine Pause; ein langsames Kopfschütteln. »Nein.«

»Nekromanten können Kontakt mit den Toten aufnehmen.«

»Du bist also Nekromantin?«

»Nee.« Ich zeigte auf Jaime. »Sie ist die Nekromantin. Ich bin einfach nur die Auftraggeberin.«

Simmons studierte Jaime und tat dann einen Schritt auf sie zu. Jaime gab sich Mühe, ihren Widerwillen zu verbergen, aber er war dennoch zu erkennen. Simmons legte den Kopf schief und lächelte, ein winziges MonaLisaLächeln.

»Deine Freundin mag mich wohl nicht besonders.«

»Angestellte, nicht Freundin. Wie gesagt, die Auftraggeberin bin ich. Ich habe mich an sie gewandt, um dich freizugeben.«

»Frei . . . ?« Ihr Kopf fuhr hoch.

Ich lächelte. »Das Wort klingt gut, oder?«

Sie kämpfte die Erregung nieder und zuckte die Achseln. »Es klingt sicher nicht . . . unangenehm. Aber ich nehme an, diese großzügige Geste hat ihren Preis.«

»Hat sie auch. Es hätte gar keinen Zweck, das zu bestreiten.

Ich habe dich zurückgeholt, weil ich dich um einen Rat fragen muss. Ich «

Simmons’ Aufmerksamkeit war plötzlich vollkommen von einem kleinen Jungen in Anspruch genommen, der an uns vorbeischlenderte. Ihre Augen glänzten wie die eines Falken, der eine Maus entdeckt hat. Jaimes Lippen verzogen sich. Simmons fuhr zu ihr herum, als sie es merkte, aber Jaime wich nicht zurück. Sie stand mit verschränkten Armen da und stierte zurück.

Simmons wandte sich wieder an mich. »Sag ihr, sie soll verschwinden.«

»Verschwinden wir doch einfach. Machen wir einen Spaziergang.«

Simmons stimmte zu, und wir gingen den Pfad entlang

ich achtete sorgfältig darauf, jeden Körperkontakt mit ihr zu vermeiden und durch nichts hindurchzugehen, das für einen Menschen undurchdringlich gewesen wäre.

»Es geht um die Nixe«, sagte ich.

Wieder ein MonaLisaLächeln. »Ich hatte es mir fast gedacht.«

»Sie hat mir ein Angebot gemacht. Es klingt gut, aber das tun viele Gebrauchtwagenangebote auch, bevor einem klar wird, was für eine Rostlaube man da gekauft hat.«

»Caveat emptor.«

»Genau. Also mache ich besser meine Hausaufgaben. Sie hat mich an dich verwiesen.«

Ihre Mundwinkel zuckten. »Ah, ja. So was macht sie gern.

Sie hat mich bei dieser anderen Frau auch über den grünen Klee gelobt.«

»Cheri MacKenzie.«

Ein kleines Augenverdrehen. »Wie die auch immer hieß. Die Nixe muss da wirklich ein bisschen verzweifelt gewesen sein.

Wie ein Mann, der eine Nutte aufliest, weil sie ihn an seine tote Frau erinnert.«

»Sie hat wirklich ein bisschen ausgesehen wie du.«

»Du hast es auch gemerkt?«

Ich schlug einen Bogen um eine große Eiche und die Leute, die unter ihr ein Picknick machten, und lenkte uns allmählich wieder zu Jaime zurück.

»Ist das ein ›Finger weg‹, was die Referenz angeht?«, fragte ich.

»Absolut nicht. Als Partnerin war die Nixe fantastisch. Ich hätte Eric augenblicklich gegen sie eingetauscht, wenn das möglich gewesen wäre.«

»Sie ist also verlässlich? Ich kann mich darauf verlassen, dass sie mich nicht verrät?«

Simmons lachte ein klingelndes, mädchenhaftes Lachen.

»Oh, natürlich wird sie dich verraten. Oder es jedenfalls versuchen. Sie verrät uns alle.«

Ich sah zu ihr hinüber. »Du scheinst es ihr nicht weiter übelzunehmen.«

»Ich mache ihr keinen Vorwurf draus, dass sie es versucht hat. Ich wusste, dass sie das tun würde. Ich wusste, sobald ich anfange, auf eigenen Füßen zu stehen und die Dinge auf meine Art erledigen zu wollen, würde sie sich gegen mich wenden.

Ich habe es kommen sehen und abgebogen. Nicht, dass es mir irgendwas genützt hätte. Dieser Idiot Eric hat es für uns beide versaut. Die Nixe sie hat geliefert, was sie versprochen hat.

Ich hatte den Nutzen davon . . . « Sie lächelte mich an. »Ich habe ihn immer noch.«

»Die Visionen?«

Ihr Lächeln wurde breiter. »Sie kümmert sich schon um uns.

Kleine Extras, die die Höllenqualen versüßen.«

Etwas zu unserer Linken erregte ihre Aufmerksamkeit. Ich drehte mich um und sah ein Kind, das auf dem Boden kauerte und nach etwas stocherte. Ein kleines Mädchen mit kurzen, wilden roten Locken und blauen Augen, die Jeans und Schuhe verdreckt, wie nur Fünfjährige sie verdrecken können. Sie stocherte wieder, und eine Kröte machte einen Satz vorwärts. Mit einem zahnlückigen Grinsen schob das Mädchen sich in der Hocke voran, die Hand ausgestreckt.

Eine Gestalt trat hinter sie, und als ich aufblickte, sah ich Simmons dort stehen. Sie beugte sich vor und strich dem Kind mit der Hand übers Haar, als wollte sie es glattstreichen. Als sie mich ansah, glitzerte in ihren Augen die gleiche Ekstase, die ich auch in der Vision gesehen hatte, in der sie Eric beim Begraben des Jungen zusah.

»Magst du Kinder?«, fragte sie lächelnd.

Ich schluckte krampfhaft und versuchte zurückzulächeln, aber es kostete mich den letzten Rest schauspielerisches Talent, den ich besaß, sie dem Mädchen übers Haar streichen zu lassen und nichts zu tun.

»Also verrät « Ich holte tief Atem und schluckte die Rage hinunter. »Die Nixe verrät also all ihre Partnerinnen.«

Simmons schenkte dem Mädchen einen letzten, langen Blick und richtete sich dann auf. »Alle. Wie gesagt, es ist nicht persönlich gemeint. Sie redet trotzdem noch in den höchsten Tönen von mir. Sie hat sogar Dachev verraten, und der war ihr Liebling.«

»Der?« Ich runzelte die Stirn. »Sie hat mir erzählt, sie nähme sich nur Frauen als Partnerinnen.«

Ein winziges Lächeln. »Das ist wahr, sie kann nur in Frauen leben. Aber Dachev . . . das war etwas Besonderes. Sie waren ein wirkliches Team. Seelenverwandte sozusagen.«

»Dachev war ein Geist?«

Eine kleine Pause, als sei sie überrascht, dass ich so schnell begriffen hatte. Dann wedelte sie mit den Fingern; ihr Blick glitt über den Friedhof hin. »Frag sie nach ihm. Wenn sie drüber reden will, wird sie es tun.«

Mehr wollte sie dazu nicht sagen, obwohl ich es noch eine Weile versuchte. Beim Weitergehen steuerte ich gemächlich wieder Jaime an und signalisierte ihr dabei, dass es Zeit wurde, Simmons zurückzuschicken.

»Eine Frage noch, bevor ich gehe«, sagte ich.

Sie sah interessiert zu ein paar Kindern an der Schwelle zur Pubertät hinüber. »Hmm?«

»Wenn die Nixe in ihre Hölle zurückkehrt, wirst du keine Visionen mehr sehen, oder?«

Sie sah mich an, ihr Blick wurde nachdenklich. »Nein, wahrscheinlich nicht, aber da gibt es keinen Grund zur Sorge. Sie haben schon drei Leute hinter ihr hergeschickt, und sie ist immer noch frei.«

»Stimmt, aber du weißt ja « Ich grinste sie an und ließ dabei die Zähne sehen. »Irgendwann schicken sie die Richtige.«

Sie starrte mich an. Dann begann sie zu begreifen und stürzte sich auf mich. Ich machte einen Schritt zur Seite und winkte, als sie in ihre Hölle zurückstürzte.

33

I n ihrer Zelle lag Amanda Sullivan auf der Pritsche und las ein Magazin. Sie war allein.

»Trsiel?« Ich beugte mich vor, sah den Gang entlang und rief lauter: »Trsiel?«

Ein kleines Gesicht schob sich aus einer Zelle weiter hinten hervor.

Ich lächelte. »Hey, George. Hast du Trsiel gesehen? Den Mann, mit dem ich letztes Mal da war? Etwa so groß «

George packte meine Hand und zerrte mich aus der Zelle, dann rannte er los. Auch dieses Mal führte er mich die alte Leiter in den Keller hinunter und an den Zellen vorbei, und ich begann zu fürchten, dass wir wieder zu seiner Schatzkammer gingen, als er sich plötzlich seitwärts in eine Art Luftschacht schob. Ich hätte da unmöglich hineingepasst, aber ihm zuliebe tat ich so, statt einfach durch die Wand zu gehen.

Wir kamen in dem Kellerraum heraus, in den Trsiel uns beim letzten Mal fehlteleportiert hatte. Wenn ich den Anblick nicht wiedererkannt hätte der Geruch nach Fledermausdreck war unverkennbar. George tat so, als öffnete er eine Tür in der linken Wand; dann drehte er sich zu mir um und winkte mich mit großer Geste und einem breiten Grinsen in den Raum nebenan. Und dort sah ich, den Rücken zur Tür gewandt, Trsiel.

Bevor ich ihm danken konnte, drückte George sich an mir vorbei und rannte davon zurück zu dem Abenteuer, bei dem ich ihn unterbrochen hatte.

Ich sah zu Trsiel hin. Er ging in dem leeren Raum auf und ab, den Blick gesenkt, die Hände in den Taschen, die Schultern nach vorn gezogen. Als er am anderen Ende umkehrte, sah er mich und blieb abrupt stehen.

»Eve?«

Okay, das Licht hier unten war so gut wie nicht existent, aber er war nur wenige Schritte von mir entfernt.

»Äh, ja«, sagte ich und hob die Hand, um sie vor seinen Augen zu schwenken. »Hab ich mich in den letzten zwölf Stunden so sehr verändert?«

»Hm, nein. Tut mir leid. Ich, äh . . . « Er sah über meine Schulter hinweg.

»Hast du mit jemand anderem gerechnet?«

»Ich, hm « Er zwinkerte, als käme er gerade in die Gegenwart zurück, und packte mich am Ellenbogen. »Du solltest bei Lizzie vorbeischauen.«

»Täuschung ist nicht deine Stärke, oder? Ich gebe dir jetzt einen Tipp. Wenn du jemanden loswerden willst, ist es das Schlimmste, was du tun kannst, es ihn merken zu lassen. Mach es subtiler. Lügen hilft, aber vielleicht hast du da Schwierigkeiten. Können Engel lügen?«

»Eve, wirklich, du solltest «

»Gehen? Von wegen. Wir müssen reden. Als Erstes über die Frage: Wer ist Dachev?«

»Dach. . . « Er runzelte die Stirn, dann wandte er den Blick ab. »Ich kenne Hunderte, wenn nicht Tausende von Leuten, die so heißen. Es ist ein gebräuchlicher Familienname in «

»Du weißt genau, welchen ich meine. Den, der mit der Nixe zu tun hatte. Erzähl mir von ihm oder «

»Trsiel«, sagte eine Stimme von der Tür her.

Ich gebe zu, ich hatte fast erwartet, dass es eine weibliche Stimme sein würde. Wenn ein Typ dermaßen drauf aus ist, einen loszuwerden, ist normalerweise eine Frau im Spiel. Gut, es kann auch ein zweiter Mann sein, aber es läuft auf dasselbe raus. Allerdings, bei Trsiel waren die Aussichten darauf, dass er im Interesse einer romantischen Affäre mit einer Person welchen Geschlechts auch immer eine Mission unterbrechen würde, wahrscheinlich ungefähr gleich null.

Die Stimme war männlich und hatte den Wohlklang der Engelsstimmen. Ich drehte mich um und sah einen Mann meines Alters rotblondes Haar, gutgebaut, in Hosen, einem kurzärmeligen weißen Hemd und einer Krawatte. Trsiels Stilgefühl hatte er offensichtlich nicht, aber seine Kleider waren fraglos weniger irritierend als diese perlmuttfarbenen Gewänder, die die anderen Reinblütigen getragen hatten.

Der Mann kam herein und sah sich um. »Der aufgelassene Keller einer Besserungsanstalt. Lehmboden, Rattendreck und alles andere. Du schaffst es wirklich, dass man sich willkommen fühlt.«

Er brach ab, als sähe er mich erst jetzt. Seine Augen waren von einem klaren Neonblau, noch leuchtender als bei Kristof. Trsiel verspannte sich sichtlich. Bevor er reagieren konnte, stand der Mann unmittelbar vor mir; sein Blick bohrte sich in meinen. Trsiels Augen wurden weit; ich sah ein Aufflackern wirklicher Furcht, und er tat einen Schritt vorwärts, aber der zweite Mann hob eine Hand, um ihn abzuhalten, und trat zurück.

»Eve Levine«, sagte er mit einem eben angedeuteten Kopfneigen. »Es ist mir ein Vergnügen. Dein Vater hält große Stücke auf dich.«

Mein Vater? Bevor ich fragen konnte, hatte der Mann nach meiner Hand gegriffen. Sein Griff war fest . . . und so heiß wie Trsiels Schwert. Noch ein paar Grad heißer als Trsiels Berührung. Und keiner der Engel, denen ich bisher begegnet war, hatte Augen mit diesem vertrauten, inneren Leuchten gehabt.

»Ich bin Aratron«, sagte er. »Da Trsiel seine Manieren vor

übergehend vergessen zu haben scheint.«

Mir wurde klar, mit wem ich redete, und ich zog die Schultern zurück, um mich aufzurichten. Der Dämon in Glamis Castle hatte meinen Respekt vielleicht erwartet, aber dieser hier bekam ihn. Aratron war ein Eudämon ein nichtchaotischer Dämon, und einer von hohem Rang außerdem. Ich neigte zur Begrüßung kurz den Kopf.

Aratron lächelte; dann sah er von Trsiel zu mir. »Und was hat also Balams Tochter mit einem Engel zu schaffen?«

Trsiel zuckte die Achseln, die Hände immer noch in den Taschen. In diesem Augenblick erinnerte er mich an die Kabalensprösslinge, die wegen Schwarzmarktformeln zu mir gekommen waren Teenager bei ihrem ersten Ausflug in die Unterwelt, verstohlen und nervös wie Collegestudenten, die ihren ersten Dealer treffen.

Als Aratron die Augenbrauen hochzog, murmelte Trsiel:

»Arbeit.«

»Du bist also wieder draußen im Feld? Gut. Ich weiß nicht, warum sie dich jemals abgezogen haben. Du warst einer der Besten viel besser als die meisten von diesen Aufgestiegenen.«

Trsiel hob den Blick und forschte in Aratrons Gesicht, als suchte er nach der Beleidigung oder Unterstellung in den Worten, aber Aratrons Augen waren klar, und ich hörte keinen Sarkasmus in seinem Tonfall.

»Es ist . . . vorübergehend«, sagte Trsiel.

Aratron sah wieder zu mir zurück. »Ein reinblütiger Engel, der vorübergehend mit einem paranormalen Geist zusammenarbeitet. Das hört sich verdammt nach Training an.« Er hielt inne; dann warf er den Kopf zurück und lachte. »Ah, diese Parzen sind schon innovativ, was? Das hier ist bisher eine ihrer originellsten Ideen. Und ganz schön heimtückisch, wenn ich das so sagen darf. Wenn man einen guten Kämpfer gegen das Böse haben will, dann muss er wissen, was er da bekämpft. Du wirst einen guten Engel abgeben, Eve . . . obwohl ich mir vorstellen könnte, dass dein Vater nicht so begeistert sein wird.«

»Ich muss dich um etwas bitten«, sagte Trsiel. »Du hast gesagt, du schuldest mir «

»Einen Gefallen. Das stimmt . . . obwohl ich zugebe, dass ich nie erwartet hätte, dass du ihn einfordern würdest. Wie lange ist das jetzt her, dreihundert Jahre?«

»Äh, ja, ich war draußen unterwegs, ich brauchte ihn nicht «

»Du wolltest ihn nicht einfordern. Ich bin ein Dämon. Ein Eudämon vielleicht, aber immer noch ein Dämon, und solche Kontakte selbst professioneller Art sind ausdrücklich verboten.« Er legte den Kopf zur Seite und schob die Lippen vor.

»Gut, vielleicht nicht ausdrücklich, aber implizit mit Sicherheit. Deine neue Partnerin dagegen sieht die Dinge anders

pragmatischer und hat dich überredet, den Gefallen einzufordern.«

Trsiel warf einen Seitenblick in meine Richtung. »Äh, also «

»Genau«, sagte ich. »Es war meine Idee, und wenn es uns um die Ohren fliegt, kriege ich ernsthaften Ärger mit Trsiel, also hoffe ich wirklich, du kannst uns helfen. Was wir brauchen . . . « Ich sah zu Trsiel hinüber; jetzt war er wieder an der Reihe.

»Ist der Name des Dämons in Glamis Castle«, sagte Trsiel.

Ich versuchte, mir die Überraschung nicht anmerken zu lassen.

Offenbar hatte Trsiel also doch nicht einfach herumgesessen und darauf gewartet, dass sich etwas ergab.

»Ah«, sagte Aratron, »das Ungeheuer von Glamis.« Er lächelte. »Ihr habt die Geschichten ja sicher gehört. Das missgestaltete unsterbliche Kind in dem geheimen Zimmer? Der Earl und der Teufel, die bis in alle Ewigkeit Karten spielen? Die Clansmitglieder, die eingemauert wurden, damit sie verhungerten?

Diese Menschen können doch erstaunlich einfallsreich sein, nicht wahr? Was sie nicht verstehen, erklären sie mit Geschichten, gewürzt mit kleinen Stückchen Wahrheit wie Rosinen in einem Kuchen. Das wirkliche Monster von Glamis war, wie ihr herausgefunden habt, nicht dieses arme Kind, sondern ein Dämon. Nicht für alle Ewigkeit gefangen, sondern nur ein paar Jahrhunderte lang eingesperrt, eben lang genug, um ihm eine Lektion zu erteilen. Und was die Frage angeht, wer er ist . . . «

Er sah mich an und lächelte. »Ich bin mir sicher, Eve könnte jetzt mit dem Raten anfangen.«

»Dämonen, die seit ein paar hundert Jahren vom Radar verschwunden sind?«, fragte ich. »Hm. Amduscias, Focalor, Dantalian « Ich brach ab. Plötzlich hatte ich ein kaltes Gefühl im Magen.

Aratron hatte meine Reaktion nicht bemerkt. »Es gibt eine ganze Menge davon, stimmt’s? Es ist eine von Baals Lieblingsstrafen für Vasallen, die seinen Zorn auf sich gezogen haben

etwas, das nicht weiter schwierig zu bewerkstelligen ist, fürchte ich.«

»Es ist Dantalian, oder?«

Er lächelte. »Bravo.«

Ich bemühte mich, die naheliegende Schlussfolgerung nicht zu ziehen, an alles zu denken außer an das, und fragte hastig weiter: »Warum hat Baal ihn eingesperrt? Es hat mit diesem Raum zu tun, oder? Damit, dass dort diese Männer eingemauert wurden?«

Trsiel schnaubte. »Ich bezweifle sehr, dass das sein Verbrechen war.«

Aratron schüttelte den Kopf. »Da kommen deine Vorurteile durch, Trsiel. Ein Kakodämon könnte für etwas Derartiges durchaus zur Verantwortung gezogen werden, wenn auch nicht aus den Gründen, aus denen du die Tat verwerflich finden würdest. Hätte Dantalian diese Männer entgegen den Wünschen seines Herrn eingesperrt, würde er für seine Eigenmächtigkeit bestraft werden. Aber das war tatsächlich nicht der Grund.«

Er sah zu mir hinüber, seine Augen blitzten. »Ich bezweifle, dass es euch weiterhelfen wird, aber wollt ihr die Geschichte hören?«

Ich nickte, mein Hirn war immer noch wie gelähmt.

»Sehr gut. Neugier um ihrer selbst willen ist das Merkmal des wirklich Lernenden.« Er warf Trsiel einen Blick zu, das fröhliche Funkeln immer noch in den Augen. »Du kannst ruhig näher kommen, Trsiel. Ich weiß, dass du es genauso sehr hören willst wie sie.«

Trsiel zuckte die Achseln, aber als Aratron den Blick abwandte, schob er sich neben mich.

»Es ist so, einer der Earls von Glamis war ein Halbdämon, ein Sohn von Baal selbst. Wie Eve schon weiß, pflegen selbst die Dämonenfürsten kaum Kontakt zu ihren Nachkommen.

Das hindert sie nicht daran, sie aus der Ferne zu beobachten, aber es ist sehr selten, dass ein Kakodämon eine Rolle im Leben seines Kindes spielt. Glamis allerdings bemühte sich um diesen Kontakt und lieferte Baal gute Gründe dafür, eine Ausnahme zu machen er brachte ihm Opfer und erwies sich als ein so pflichtbewusster Sohn, wie ihn sich ein Vater nur wünschen kann. Irgendwann wurde Baal aufmerksam, und als Glamis das Interesse seines Vaters geweckt hatte, bat er ihn um einen Gefallen. Er würde ihm ein Dutzend Männer opfern

sie nicht einfach töten, sondern lebendig einmauern. Unter den Todesarten ist das Einzige, was noch schlimmer ist als das Eingemauertwerden, das Eingemauertwerden zusammen mit anderen. Der . . . Überlebensinstinkt kommt irgendwann zum Vorschein und liefert ein wahres Fest an Chaos.« Ich erinnerte mich an die Skelette in dem Raum und die Zahnspuren an den Knochen. Als ich schauderte, studierte Aratron meine Reaktion mit der leidenschaftslosen Neugier eines Wissenschaftlers.

»Der Gefallen«, sagte Trsiel. »Was hat er sich dafür erbeten?«

»Ah. Ja, nun, es hatte etwas mit einer Dame zu tun, wie das so häufig der Fall ist. Einer verheirateten Dame, die sich seinen Bemühungen gegenüber höchst resistent gezeigt hatte. Glamis war ein großer Anhänger der Arthurlegenden und fand in einer davon die Lösung seines Problems.«

»Er wollte die Gestalt ihres Ehemannes annehmen«, sagte ich. »Und da kam Dantalian ins Spiel. Dantalians Spezialität ist Transmigration. Nicht eine andere Gestalt anzunehmen, sondern Besitz von einem anderen Körper zu ergreifen.«

Aratron lächelte. »Genau das war es. Baal ging zu Dantalian und verlangte von ihm, er solle etwas schaffen, das es Glamis ermöglichen würde, den Körper eines anderen Mannes in Besitz zu nehmen. Das ist natürlich eine Gabe, über die jeder Dämon verfügt.« Er zeigte mit einer Handbewegung auf seine eigene Gestalt wahrscheinlich die eines Gefängniswärters. »Aber für einen Halbdämon ist es unmöglich. Baal gab Dantalian den Auftrag, es möglich zu machen. Und Dantalian tat es. Er schuf ein Schmuckstück.«

»Ein Amulett«, flüsterte ich. »Eines, das es jedem Wesen mit Dämonenblut erlauben würde, den Körper eines lebenden Menschen in Besitz zu nehmen.«

»Sehr gut. Du hast also davon gehört?«

Bevor ich antworten konnte, schaltete Trsiel sich ein. »Aber wenn Dantalian das Amulett geschaffen hat warum hat Baal ihn dann eingesperrt?«

»Weil Glamis sein Amulett nie bekommen hat. Was den Grund angeht ich fürchte, das ist eine Frage, die nur Dantalian und Baal beantworten können. Manche Leute sagen, Dantalian habe einen Anhänger unter den Ogilvies gehabt das war der Clan, dessen Mitglieder Glamis einmauerte. Andere sagen, Baal habe ihm einen Anteil an dem Opfer vorenthalten. Was auch immer der Grund war, Dantalian überlegte es sich anders und ließ das Amulett verschwinden, und dafür verurteilte Baal ihn dazu, fünfhundertfünfundfünfzig Jahre in einem Raum mit den Ogilvies eingesperrt zu bleiben.«

»Das ist es, was die Nixe will«, sagte ich zu Trsiel. »Dantalians Amulett.«

Und ich war es gewesen, die ihr davon erzählt hatte.

Nachdem wir uns von Aratron verabschiedet hatten, kehrten wir in Amanda Sullivans Zelle zurück, wo ich Trsiel gegenüber ein Geständnis ablegte.

»Deshalb ist sie nach Glamis gegangen«, sagte ich, als ich fertig war. »Die ganze Zeit habe ich mich gefragt, was sie eigentlich will, und die Antwort war genau vor meiner Nase. Sie will das, was ich will. In der Welt der Lebenden handeln können.

Sie ist es müde, von ihren Partnerinnen abhängig zu sein. Deshalb ist sie auch zu Luther Ross gegangen. Aus dem gleichen Grund, aus dem ich selbst an ihm interessiert war weil er ihr eine Möglichkeit bieten konnte, diese Barriere zu durchbrechen. Aber das ist nichts verglichen mit dem, was sie mit Dantalians Amulett tun könnte. Und ich habe sie geradewegs drauf hingewiesen.«

»Das können wir nicht wissen«, sagte er leise.

Ich widersprach nicht, aber wir wussten beide, dass es kein Zufall war. Ich erinnerte mich daran, wie der junge Jäger in Alaska gesagt hatte, er hätte gesehen, dass sich etwas im Wald in der Nähe unseres Ankunftsortes bewegte; ich erinnerte mich an das Knacken der Dielen im Gang, bevor Trsiel aufgetaucht war. Sie war mir gefolgt, und ich hatte sie mit einer Information belohnt, die ihre wildesten Träume übertroffen haben musste.

Sobald sie von dem Amulett gehört hatte wer es geschaffen hatte und was es bewirkte , war sie geradewegs nach Glamis gegangen, denn sie hatte gewusst, dass Dantalian dorthin verbannt worden war.

»Wenn sie das Amulett findet, wird uns das die Aufgabe erschweren«, sagte Trsiel. »Aber ich bezweifle, dass das passiert.

Dantalian wird ihr kaum erzählen, wo es ist.«

»Nein? Er mag sie vielleicht nicht sonderlich, aber was glaubst du, wie lang es dauert, bis er darauf kommt, dass es viel lohnender ist, es ihr zu sagen und dann zuzusehen, was sie in menschlicher Gestalt alles anrichtet? Wir müssen es vor ihr finden.«

Er nickte. »Aber der Einzige, der weiß, wo es ist «

»Ist auch der Einzige, den wir fragen können.«

»Wir verhandeln nicht mit einem Dämon.« Er sah zu mir herüber. »Und erzähl mir jetzt nicht, dass ich es schon getan habe. Mein Abkommen mit Aratron war einseitig. Ich habe einmal etwas getan, das ihm zugutekam, ohne dass ich das geplant hatte. Er hat mir dafür einen Gefallen versprochen. Es war kein Handel.«

»Wir verhandeln ja auch nicht mit Dantalian.«

»Gut, denn «

»Kristof verhandelt mit ihm. Er hat Erfahrung darin, Deals mit Dämonen abzuschließen.«

Trsiel verdrehte die Augen, als käme das nicht weiter überraschend.

»Es ist vielleicht nicht dein Stil, aber wir nehmen jetzt alles

und jeden , das oder der uns helfen kann.«

»Wenn du es schon einmal getan hast, dann kannst du es wieder tun. Wir brauchen nicht noch jemand anderen hinzuzuziehen.«

»Ich habe gesagt, dass ich mit ihnen zu tun hatte. Ich habe nie mit ihnen verhandelt. Dafür habe ich Profis eingestellt. Wenn man es richtig macht, wird es ein ehrlicher Handel. Wenn man es falsch macht, ist man angeschmiert, weil es auf der ganzen Welt keinen Dämonen gibt, der Dummheit oder Naivität nicht ausnützt. Kris kann es richtig machen.«

Trsiel lehnte sich mit verschränkten Armen an die Wand.

Nach ein paar Minuten schüttelte er den Kopf. »Dann geh und finde ihn.«

34

I ch traf Kristof auch diesmal in seinem Büro an. Seine Begrüßung wurde merklich kühler, als ihm klar wurde, dass es ein geschäftlicher Besuch war.

Natürlich musste ich ihm alles erzählen, und dieses Geständnis fiel mir zehnmal schwerer als zuvor bei Trsiel.

Sosehr es mir weh tat, Kris sagen zu müssen, dass ich nach allem, was er gesagt hatte, geradewegs wieder zu Luther Ross gegangen war und nach dem Amulett gefragt hatte noch mehr schmerzte es, den Ausdruck in seinem Gesicht sehen zu müssen: tiefen Kummer, aber nicht eine Spur von Überraschung.

Als ich fertig war, stand ich einfach nur da, den Mund halb offen, und wollte noch viel mehr sagen, aber die Gedanken ließen sich nicht zu Worten formen. Stattdessen kam heraus:

»Ich habe Mist gebaut, Kris.«

Eine Minute lang sah er mich einfach nur an, forschte in meinem Gesicht. Dann kam ein winziges Nicken.

»Dann werden wir versuchen, es in Ordnung zu bringen«, murmelte er.

Dantalian war etwas verärgert, dass wir einen professionellen Unterhändler engagiert hatten.

»Ihr wollt also wissen, was diese Nixe wollte«, sagte er, sein Tonfall bewegte sich an der Grenze zur Langeweile.

»Das wissen wir«, sagte ich. »Das Amulett, das du für Lord Glamis gemacht hast.«

Eine kurze Pause, bevor er fortfuhr, wobei er sich jetzt eine Spur interessierter anhörte. »Kluger Balg. Ihr habt eure Hausaufgaben gemacht. Dann weißt du auch, wer ich bin?«

»Dantalian, Meister der Transmigration, Herzog Baals.«

Ein warmer Luftzug kreiste um meine Beine, wand sich um meinen Körper, um meinen Hals und glitt davon. Ich wusste trotzdem, dass er noch da war, wahrscheinlich unmittelbar vor mir.

»Sag das noch mal«, murmelte er.

»Dantalian, Meister der Transmigration, Herzog Baals.«

»Hmm, ja, ich nehme an, das ist gut genug. Nicht hinreichend respektvoll, aber nicht respektlos. Es ist jedenfalls besser als Kriecherei. Damit hat sie es versucht, als sie zurückgekommen ist.«

»Die Nixe? Sie ist zurückgekommen?«

»Natürlich ist sie das. Nachdem sie ihren Umgangston korrigiert hatte.«

»Uhoh.«

Er lachte; es war wie ein glühend heißer Luftzug. »Exakt meine Reaktion, Balg. Das Einzige, was noch schlimmer ist als Speichelleckerei, ist geheuchelte Speichelleckerei. Als wäre ich ein eitler Narr von einem Fürsten, der dafür, dass man sein Ego streichelt, alles bewilligt.«

»Du hast sie also wieder weggeschickt? Dann wird sie zurückkommen. Wir müssen nur warten «

»Oh, ich habe sie nicht weggeschickt. Was soll daran unterhaltsam sein? Es wäre doch viel besser, sie auf die Spur zu setzen . . . und dich hinterherzuschicken.«

»Na fabelhaft«, murmelte ich. »Wie groß ist ihr Vorsprung?«

»Ein halber Tag. Was ein Problem für dich darstellen würde . . . wenn ich sie an den richtigen Ort geschickt hätte. Aber das habe ich nicht. Eine kleine Demütigung als Lektion für einen Wicht, der dringend eine braucht.«

»Und wirst du uns jetzt sagen, wo wir sie finden?«

»Sicherlich . . . aber ich glaube, es wurde etwas von einem Handel gesagt?«

»Jetzt nicht mehr«, sagte Trsiel. »Du hast gerade zugegeben, dass du vorhattest, uns auf ihre Spur zu bringen, also werden wir jetzt kaum «

Ich hob eine Hand und sah ihn an. »Ich würde tatsächlich lieber handeln. Sonst schulde ich ihm nämlich einen Gefallen.«

Kristof ging daraufhin die Formalitäten durch, mit denen man die Aufrichtigkeit eines Dämons ermittelte um sicherzustellen, dass Dantalian nicht das Gleiche mit uns machen würde, was er mit der Nixe gemacht hatte. Dantalian ließ es mit der leicht gereizten Geduld eines Menschen über sich ergehen, der wartet, bis die Verkäuferin an der Kasse seines Lebensmittelladens seinen Schein auf Falschgeld überprüft hat.

»Ich will zwei Dinge«, sagte er dann, als Kristof fertig war.

»Erstens werdet ihr dafür sorgen, dass eure Nixe weiß, dass ich sie absichtlich in die falsche Richtung geschickt habe. Wenn sie das nicht weiß, ist die Lektion nicht vollständig.«

»Abgemacht«, sagte ich. »Und der zweite Teil?«

»Hmmm, der zweite Teil . . . Daran arbeite ich noch. Gib mir ein paar Sekunden Zeit.«

Ich seufzte.

»Ungeduldig . . . oder erpicht darauf, wieder auf die Jagd zu gehen?«

Dantalians Stimme schien von allen Seiten zugleich zu kommen. Ich sah mich um und versuchte sie zu verfolgen, aber er lachte nur. Weder Trsiel noch Kristof schienen es zu merken.

»Sie können mich nicht hören«, sagte Dantalian. »Dieser Teil der Verhandlungen findet zwischen dir und mir statt. Ich muss zugeben, eine Halbdämonin zu sehen hat mich an einen Aspekt der Freiheit erinnert, den ich vermisst habe. Es ist über fünfhundert Jahre her, seit ich selbst einen Nachkommen gezeugt habe.«

»Uhoh.« Ich dachte die Worte, wie ich es bei Trsiel getan hatte. »Da kann ich dir nicht helfen. Dieser Schatten ist über die Gebärfähigkeit hinaus.«

»Oh, aber es ist nicht unbedingt die Weitergabe meiner Gene, die ich vermisst habe.«

Hitzefäden schlängelten sich an meinem Arm entlang wie heiße Finger, die mir über die Haut strichen. »Der Prozess, mit dem dies bewerkstelligt wurde, war so unerfreulich auch nicht.

Natürlich müsste ich dazu eine einladendere Gestalt annehmen.

Vielleicht hätte dein Liebhaber nichts dagegen, eine . . . aktivere Rolle bei den Verhandlungen zu übernehmen.«

Mein Kopf fuhr herum.

Kristof sah zu mir herüber, aber er sagte nichts, sondern zog lediglich die Augenbrauen hoch.

Dantalian lachte. »Eure Beziehung ist unverkennbar, wenn man Augen im Kopf hat, und sogar dann, wenn man keine hat.

Wie wäre es damit? Gestatte mir, seinen Körper zu übernehmen und die Vorzüge einer physischen Gestalt zu genießen.«

»Weiter zur zweiten Option.«

»Na ja, eine zweite Option steht gleich neben der ersten. Der Engel. Ich könnte «

»Nein.«

Er lachte leise. »Willst du mich denn nicht mal ausreden lassen? Oder hast du Angst, das Angebot könnte attraktiver ausfallen, als dir lieb ist? Er ist doch faszinierend, nicht wahr?

So alt und dabei in so vielen Dingen noch ein solches Kind . . . «

»Versuchst du mich hier in Versuchung zu führen? Oder mich bloß zu ärgern?«

Kristof sah zu mir herüber. »Ist er schon bei den Sexfragen angekommen, oder arbeitet er noch drauf hin?«

Ich prustete unwillkürlich los.

Trsiel kam näher, seine Augen wurden weit. »Was «

»Dantalian versucht sich an privaten Arrangements mit Eve«, sagte Kristof, während er ein Gähnen verschluckte. »Sehr privaten, nehme ich an.«

»Er will Sex? Wenn ihm nichts Besseres einfällt als das «

»Es gibt etwas Besseres als das?«, fragte Dantalian. »Mein lieber Junge, da kommt deine Unschuld durch. Du wirst ja wohl «

»Ignoriert ihn einfach«, sagte ich. »Es geht nicht um Sex, es geht darum, Chaos zu stiften. Wenn ich ein Mann wäre, würde er mich losschicken, um in seinem Namen ein paar Köpfe abzuhacken. Andere Mittel, gleicher Zweck.«

»Würdest du das denn vorziehen?«, murmelte Dantalian.

»Daran hatte ich gar nicht gedacht, aber jetzt, wo du es erwähnst «

»Keine abgeschlagenen Köpfe. Und keine privaten Dienstleistungen. Ich werde nichts tun, das dir deinen Kick verschafft . . .

welcher Art auch immer.«

Ein Augenblick des Schweigens. »Ja, nun, das schränkt die Möglichkeiten etwas ein, stimmt’s?«

»Eve . . . «, sagte Trsiel.

Als ich zu ihm hinübersah, wies er mit einer ruckartigen Kopfbewegung zur Tür.

Ich warf einen Blick zu Kristof. Er hob verstohlen einen Finger und wies mich an, noch zu warten.

»Das sind aber ihre Bedingungen«, sagte er. »Sie wird nichts tun, das Chaos verursacht. Wenn das nicht akzeptabel ist, dann fürchte ich, die Verhandlungen «

»Sie soll mich besuchen«, sagte Dantalian.

Ich sah stirnrunzelnd in die Richtung, aus der seine Stimme kam.

»Ich habe nur noch wenige Jahre meiner Strafe abzusitzen.

Sie soll mich jeden Monat einen halben Tag lang besuchen, bis sie zu Ende ist.«

»Wenn das jetzt wieder auf die Sexfrage rausläuft «, begann ich.

»Tut es nicht. Ich will einfach nur einen Besuch.«

Trsiel fuhr herum, als Dantalians Stimme direkt an uns vorbeiglitt. »Damit du ihr dann dein Gift ins Ohr träufeln kannst?«

Dantalian lachte. »Wie melodramatisch. Du magst Geschichten, nicht wahr, Trsiel? Der aufrechte Himmelsstreiter und der verruchte Dämon im Kampf um die unschuldige Seele. So unschuldig ist sie nicht. Und so engelhaft bist du nicht. Vielleicht bin ich ja gar nicht so dämonisch. Aber damit wäre die Geschichte wohl ruiniert, nehme ich an.«

»Er wird mich nicht auf die dunkle Seite der Macht ziehen, Trsiel«, sagte ich. »Genauso wenig, wie du mich auf die Seite des Lichts ziehst. Mir gefällt es da, wo ich bin.« Ich sah in Dantalians Richtung. »Einmal pro Jahr.«

»Alle zwei Monate.«

»Dann aber bloß eine Stunde. Eine Stunde alle zwei Monate oder den halben Tag im Halbjahr.«

»Den halben Tag im halben Jahr dann.«

Ich sah zu Kristof hinüber. Er nickte, und ich gab ihm zu verstehen, dass er mit der Zeremonie beginnen sollte, die uns an unsere jeweilige Seite des Handels binden würde.

35

W as wollt ihr als Erstes wissen ?«, fragte Dantalian. »Wo das Amulett ist? Oder wo eure Nixe glaubt, dass es ist?«

»Moment«, sagte Trsiel. »Dieses Amulett wenn sie es doch in die Finger bekommen sollte, wird es bei ihr funktionieren?«

»Natürlich wird es das. Ich habe es geschaffen. Es funktioniert bei jedem, der Dämonenblut besitzt.«

»Und wenn sie es nicht bekommt, gibt es andere Methoden, wie sie ihr Ziel erreichen und menschliche Gestalt annehmen kann? Als sie den Übergang zum ersten Mal geschafft hat, hat sie eine Hexenformel verwendet «

»Die jetzt nicht mehr wirkt, sonst hätte sie es längst wieder getan«, sagte ich. »Wahrscheinlich eine Nebenwirkung davon, dass sie jetzt ein Geist ist.«

»Ja«, sagte Dantalian. »Als Geist hat sie nur noch die Möglichkeiten eines Geistes. Ohne das Amulett könnte sie nur versuchen, eine vollständige spirituelle Inbesitznahme anzuwenden, und dazu bräuchte sie einen Nekromanten.«

Ich nickte. »Und jeder Nekromant, der mächtig genug ist, das zustande zu bringen, ist auch klug genug, es bleibenzulassen.

Also ist sie auf das Amulett angewiesen. Wir sollten demnach das Amulett suchen . . . « Ich zögerte. »Nein, die Nixe ist das wichtigere Ziel. Und wenn wir sie finden, brauchen wir uns um das Amulett keine Gedanken mehr zu machen.« Ich musste mich dazu zwingen, die nächsten Worte auszusprechen. »Trsiel kann es aus dem Verkehr ziehen. Ich wir brauchen es dann nicht mehr.«

Ich spürte Kristofs Blick auf meinem Gesicht. Ich wusste, dass ich, hätte ich ihn erwidert, dort nicht Erleichterung, sondern Skepsis gesehen hätte, einen forschenden Blick, der zu ermitteln versuchte, ob ich die Wahrheit sagte oder nur das, was er hören wollte. Was von beidem zutraf, wusste ich selbst nicht.

»Okay«, sagte ich, wieder zu dem Dämon gewandt oder zumindest in seine Richtung. »Wo ist sie also?«

»Ich habe sie zu einem Gebäude geschickt, das einstmals eine halbe Million Schriftrollen enthielt, die später dazu verwendet wurden, die öffentlichen Bäder zu heizen. Tausend Jahre des Wissens zerstört, um Badewasser warm zu halten. Man fragt sich wirklich «

»Die Bibliothek von Alexandria.«

Sein Lachen dröhnte durch den Raum wie ein Schwall heißer Luft aus einem Hochofen. »Du bist schnell. Da findet ihr eure Nixe. In der Bibliothek von Alexandria im Jenseits, wo sie eine halbe Million Schriftrollen nach meinem Amulett durchsucht.«

»Und das Amulett?«

»Oh, das ist sehr viel näher. Es gibt da einen Tunnel, der Glamis Castle mit Castle Huntly verbindet . . . «

»Wenn er zwei Burgen miteinander verbindet, ist es wahrscheinlich ein eher langer Tunnel«, merkte ich an.

»Fünfzehn Meilen.«

»Oh. Möchtest du es nicht etwas spezifizieren?«

»Eigentlich nicht.«

»Du hast dein Wort gegeben«, sagte Kristof.

Dantalians Seufzer flatterte um uns herum. »Das habe ich, und ich halte es auch. Aber sie hat gefragt, ob ich es spezifizieren möchte . . . «

»Spezifizier’s«, sagte ich. »Bitte.«

»Es ist in einem Raum und dort in einer Schublade. Noch spezifischer kann ich es nicht sagen. Es gibt eine Menge Räume da unten. Als ich es versteckt habe, hatte ich keine Zeit, einen Lageplan zu zeichnen. Sucht danach, und ihr werdet es finden.«

Ein leises Lachen flatterte hinter uns durch den Raum. Ein Frauenlachen.

»Danke, Dantalian«, sagte eine mädchenhaft helle Stimme.

»Das werde ich tun.«

Ich fuhr herum und sah die Nixe oder vielmehr ihr Gesicht, das sie durch die Mauer geschoben hatte, nachdem sie auf der anderen Seite zugehört hatte. Dantalian brüllte. Trsiels Hände flogen nach oben, die Beschwörung lag ihm bereits auf den Lippen. Die Nixe verschwand wieder auf die andere Seite der Mauer. Kristof und ich stürzten in den Gang hinaus, Trsiel auf den Fersen, aber sie war verschwunden.

»Nach unten«, sagte ich. »Zu dem Tunnel. Kris . . . « Unsere Blicke trafen sich.

»Geht«, sagte er. »Und seid vorsichtig.«

»Warte irgendwo, wo es sicher ist.«

»In Ordnung.«

Trsiel und ich rannten die Steinstufen in den Keller hinunter und kamen in . . .

»Eine Cafeteria?!«, sagte ich. »Das sind die Katakomben der Burg?«

»Wäre dir ein Verlies lieber? Vielleicht ein paar an die Wand gekettete Skelette?«

»Na ja, schon was ist eine Burg ohne ein Verlies?«

Wir hatten uns getrennt, während wir noch redeten, und gingen die Seitenwände der Cafeteria ab. Keine Spur von der Nixe.

»Toiletten, Küche, Garderobe«, sagte ich mit einem Blick auf die Schilder an den Türen. »Ich nehme an, ein Hinweisschild

›Hier entlang zum Tunnel‹ wäre zu viel verlangt? In welcher Richtung liegt denn Huntly?«

Trsiel überlegte kurz. »Im Norden.«

»Wenn wir nach dem Tunnel suchen, tut sie es auch. Wenn du nach ihr suchst, suche ich nach ihm.«

»Geh nicht weit weg «

»Ohne dich. Ich weiß. Muss ich auch nicht. Röntgenblick, weißt du noch?«

Ich setzte meine AspicioSehkraft ein die ganze nördliche Seite des Raums und einen kurzen Nebengang entlang. Es dauerte zwanzig Minuten, bis ich etwas fand, aber dann sah ich durch ein Stück Mauerwerk hindurch und entdeckte etwas anderes als soliden Erdboden auf der anderen Seite.

»Ich hab’s!«, rief ich.

Trsiel griff nach meiner Hand. »Gehen wir.«

Wir traten in die Mauer hinein, und Dunkelheit umgab uns. Ich führte uns mit Hilfe meiner Sehfähigkeit durch den Dreck hindurch in den Hohlraum dahinter. Ich erkannte einen Erdtunnel, etwa einen Meter zwanzig breit. Als ich einen Schritt vorwärts machte, stieß ich mir die Stirn an einem Erdbrocken.

»Diese mittelalterlichen Schotten . . . sehr groß waren die nicht, oder?«

»Sieht nicht so aus.« Trsiel trat neben mich und zog den Kopf ein. »Da vorne wird es sogar noch niedriger.«

»Du kannst hier also sehen?«

Er nickte.

»Heißt das, sie kann es auch?«

»Wahrscheinlich. Es ist bei Dämonen das Übliche.«

Ich zögerte. »Und ich nehme an, ihr Gehör funktioniert im Dunkeln auch ganz gut?«

Ein leises Lachen. »Ja, wir stellen besser auf Telepathie um.«

Ich zog den Kopf ein und machte mich auf den Weg. Nach ein paar Schritten streifte ich die Decke und bekam eine Dusche aus Erdklumpen ab.

»Äh, Trsiel?«, fragte ich in Gedanken. »Warum stoßen wir an der Decke an?«

Er sah sich zu mir um; seine Brauen hoben sich. »Weil wir beide groß sind?«

Ich boxte ihn in den Arm, ohne stehen zu bleiben. »Ich mein’s ernst. Warum stoßen wir an der Decke an, statt einfach durch sie durchzugehen?«

»Du hast recht. Das ist merkwürdig.«

»Das war nicht die Antwort, die ich mir erhofft habe.«

»Also, hm . . . « Er sah sich um. »So etwas kommt manchmal vor. Es ist eine interdimensionale Falte im RaumZeitGefüge.«

»Du hast keine Ahnung, stimmt’s?«

»Stimmt, aber es hat wirklich gut geklungen, wenn sie es in Star Trek gesagt haben. Im Ernst, ich habe auch keine Erklärung.

Aber ich weiß, dass so was passiert. Entweder ist dieser Tunnel aus der Welt der Lebenden verschwunden, oder er existiert auch dort noch, aber unter irgendeiner Art von dämonischem Einfluss.«

»Was erklären würde, warum Dantalian, der selbst ein nichtkörperliches Wesen ist, eine Schublade öffnen und sein Amulett hineinlegen konnte.«

»Das nehme ich an.«

»Gut genug für mich. Und apropos Versteck, da wäre der erste Raum.«

Ich beschwor eine Leuchtkugel, sobald wir drinnen waren.

Der Raum war vollgestopft mit Dingen, von denen jemand einmal geglaubt haben musste, sie seien es wert, versteckt zu werden, die inzwischen aber auf jedem Flohmarkt stehengeblieben wären. Schimmelnde Teppiche, verrottete Holzmöbel, fleckige Gemälde und so weiter.

»Was jetzt?«, murmelte ich. »Suchen wir nach der Nixe oder nach dem Amulett?«

»Gehen wir weiter.«

Innerhalb einer knappen Meile stießen wir auf zwei weitere Räume, die mit Gerümpel vollgestellt waren. Und wir hatten noch vierzehn Meilen Tunnel vor uns. Mist. Kein Wunder, dass Dantalian sich nicht erinnern konnte, wo er sein Amulett gelassen hatte.

All diese Räume waren voller Einrichtungsgegenstände. Die Nixe wusste, dass wir hinter ihr her waren; sie musste einfach durch die Zimmer gerannt sein und sich nach einem guten Aufbewahrungsort für ein Amulett umgesehen haben. Aber wenn man ein Schmuckstück verstecken will, ist es besser, es in einem Raum voller anderer Schätze zu lassen? Oder es einfach in eine Schreibtischschublade zu werfen?

Als ich dies Trsiel gegenüber erwähnte, stimmte er zu, dass das Amulett in einem der mit Möbel vollgestellten Räume sein konnte. Wir beschlossen, dass er weiter der Nixe folgen und ich zurückbleiben würde, um das Amulett zu suchen.

Dantalian hatte gesagt, er habe das Amulett in eine Schublade gelegt. Das war immerhin ein Anfang.

So dicht, wie das Zeug beisammenstand, konnten manche Schubladen gar nicht herausgezogen werden, und andere waren von aufgequollenem Holz oder verrosteten Schlössern blockiert. Ich zog an jeder, die ich sah, aber wenn sie sich nicht regte, benutzte ich meine AspicioSehkraft und warf einen Blick ins Innere.

Mit Hilfe meines Röntgenblicks und meiner Lichtkugel hatte ich den ersten Raum in etwa zehn Minuten abgesucht, ohne etwas anderes zu finden als Reste von zerknittertem Papier.

Ich war im vierten Raum, als ich endlich in eine verklemmte Schublade spähte und ein silbernes Glitzern entdeckte. Nicht mehr als das der Winkel war ungünstig, aber es sah aus wie ein Stück Kette. Ich zog am Griff, aber er rührte sich nicht. Ich stemmte beide Füße gegen die Vorderseite der Kommode und zerrte, so kräftig ich konnte . . . und landete auf dem Hintern, den abgerissenen Griff in der Hand.

»Himmeldonnerwetter«, murmelte ich.

Ich sah mich um, kroch über die Teile eines Bettkastens und zog eine metallene Aufhängestange aus einem Wandbehang.

Ich stieß das schmalere Ende der Stange in die Spalte über der Schublade. Es war etwas zu dick, aber mit ein bisschen Anstrengung konnte ich es festkeilen. Dann packte ich die Stange mit beiden Händen dicht an der Kommode und riss sie nach unten. Holz splitterte. Ich stolperte nach vorn, stützte mich eben noch rechtzeitig an der Kommode ab und sah, dass die Schublade selbst noch an Ort und Stelle war aber ihre Vorderseite war herausgebrochen.

»Reicht auch«, murmelte ich.

Ich griff in die Öffnung hinein. Meine Finger schlossen sich um Metall. Ich zog es heraus . . . und hatte eine gewöhnliche, silberne Kette in der Hand.

»Verdammt noch mal!« Ich schleuderte die Kette quer durch den Raum. »Die ganze Mühe . . . «

Ich wollte mich schon auf dem Absatz umdrehen und den Raum verlassen, aber ich hielt noch einmal inne. Langsam.

Vergewissere dich. Ich drehte mich wieder zu der Kommode um, ging in die Hocke und spähte in die Dunkelheit der aufgebrochenen Schublade. Leer. Nein vergewissere dich wirklich.

Ich winkte die Lichtkugel tiefer. Bei der Bewegung blinkte etwas ganz hinten in der Schublade. Ich griff hinein. Meine Finger fanden die Kante einer Scheibe, die sich dort verkeilt hatte. Ich fuhr mit dem Zeigefinger an einem Halbrund aus kühlem Metall entlang. Der Rest steckte in der Spalte zwischen der Rückwand und dem Boden der Schublade.

Ich widerstand der Versuchung, die Schublade einfach in Stücke zu schlagen, und arbeitete das Ding vorsichtig heraus.

Plötzlich löste es sich. Ich schloss die Hand darum, zog daran und hoffte, dass es nicht irgendeine wertlose alte Münze war

sonst würde ich nämlich losschreien, und zwar laut genug, dass sowohl Trsiel als auch die Nixe angerannt kämen.

Ich stand auf und öffnete langsam die Hand. Auf meiner Handfläche lag etwas, das genau wie eine wertlose alte Münze aussah, eine silberne Metallscheibe mit einer Schrift am Rand.

Aber ich brauchte die Schrift nicht einmal zu lesen, um zu wissen, dass es das Amulett war. Ich konnte die Kraft spüren, die an meiner Haut pulsierte.

Die Macht der Transmigration. Die Macht, ein lebendes Wesen zu bewohnen, einen Körper in Besitz zu nehmen und zu kontrollieren, nach eigenem Willen in der Welt der Lebenden zu handeln. Dies war es, wonach ich gesucht hatte. Ich war eine Halbdämonin. Ich konnte dieses Amulett verwenden. Ich konnte meine Tochter sehen, mit ihr zusammen sein, mit ihr reden, sie berühren. Sie beschützen.

Wenn ich dies an dem Tag in dem Bürgerzentrum gehabt hätte, hätte ich sie schützen können, statt gezwungen zu sein, hilflos dabeizustehen.

Und was hättest du dann getan? flüsterte Kristofs Stimme.

Den Körper des nächststehenden Menschen an dich gerissen, dich in die Schusslinie geworfen und diesen Menschen getötet, nur um danach festzustellen, dass Savannah gar nicht in Gefahr war?

Und wie willst du sicherstellen, dass du da bist, wenn so etwas jemals wieder passiert? Hast du vor, ihr bei jedem Schritt zu folgen, jede Stunde jedes Tages, wie ein geisterhafter Wachhund, der ihr unaufhörlich auf den Fersen ist? Ich schauderte. Ich konnte nicht immer da sein. Ich wollte nicht immer da sein.

Ich wollte . . .

Ich drückte das Amulett fest in meiner Hand und schloss die Augen.

Ich wollte ein eigenes Leben. Hier. In dieser Welt.

Ohne die Augen zu öffnen, rief ich in Gedanken nach Trsiel.

Und fast augenblicklich hörte ich leichte Schritte in dem Tunnel.

»Gott sei Dank«, murmelte ich.

Ich lief zur Tür. Ich sah eine verschwommene Gestalt drau

ßen im Gang, eine Gestalt, die viel zu klein und zu blond war, um Trsiel zu sein. Es war die Nixe.

36

I ch fuhr zurück, bevor sie mich gesehen hatte. Ich brüllte ein weiteres Mal in Gedanken nach Trsiel und sah auf das Amulett in meiner Hand hinunter. Wenn die Nixe mich entdeckte, sollte sie lieber nicht auch das Amulett finden. Sie hatte Dantalian sagen hören, dass er es in einer Schublade versteckt hatte, also schob ich die Hand in einen zusammengerollten Teppich und ließ das Amulett hineinfallen. Dann trat ich zwei Schritte zurück und sprach einen Tarnzauber.

Die Schritte kamen näher und hielten vor der Tür des Raums inne.

»Ziemliches Durcheinander da drin«, murmelte sie. Sie kam herein, ging bis in die Mitte des Raums und sah sich um. »Haben sie es gefunden? Ich hoffe nicht . . . «

Sie öffnete die nächstgelegene Schublade und hielt plötzlich inne; ihr Blick blieb an dem herausgebrochenen Brett auf dem Fußboden hängen . . . unmittelbar vor meinen Füßen. Sie tat einen Schritt darauf zu. Mist! Noch zwei Schritte, und sie würde direkt in mich hineinrennen und meinen Tarnzauber brechen.

Ich wartete, bis sie nahe genug herangekommen war, um mich berühren zu können. Dann versetzte ich ihr einen Tritt, der sie am Kinn erwischte und quer durch den Raum segeln ließ. Bevor sie sich davon erholt hatte, legte ich mit einem RoundhouseKick in ihren Bauch nach, und als sie nach vorn kippte, mit einem weiteren Schlag gegen das Kinn, so dass sie den Boden unter den Füßen verlor und rückwärts mit dem Kopf gegen eine Marmorbüste krachte. Als sie sich taumelnd aufrappelte, trat ich hinter sie und beförderte sie mit einem Tritt in den Hintern wieder auf den Boden.

»Steh auf«, sagte ich. »Bitte.«

Sie arbeitete sich auf alle viere hoch, hob den Kopf und stierte mich wütend an.

»Komm schon«, sagte ich. »Ich kann dich nicht treten, solange du am Boden liegst. Das ist nicht fair.«

Als sie sich nicht rührte, wirbelte ich herum und trat sie in den Kiefer, so dass sie auf dem Rücken landete.

»Zum Teufel mit der Fairness«, sagte ich. »Das macht einfach zu viel Spaß.«

Aber so viel Spaß ich auch haben mochte, ich konnte nicht bis in alle Ewigkeit weitermachen. Wo zum Teufel blieb eigentlich Trsiel? Als letzte Möglichkeit schob ich die Finger in den Mund und pfiff, so laut ich konnte. Die Nixe sprang auf die Füße. Ich trat zu. Ihre Hand schoss vor und griff nach meinem Fuß. Ich schaffte es, die Bewegung noch abzufangen, als ihre Finger meinen Knöchel bereits streiften, und aus dem Weg zu springen außer Reichweite ihres stählernen Griffs.

»Du hältst dich für ausgesprochen klug, stimmt’s, Hexe?«, sagte sie. »Aber je härter du zuschlägst, desto härter schlage ich zurück hast du das immer noch nicht begriffen?«

Sie stürzte sich auf mich. Ich trat aus dem Weg, wirbelte herum und zielte mit dem nächsten RoundhouseKick in ihre Kniekehlen. Ich hörte ein Knacken, als mein Fuß auftraf, und sie fiel auf die Knie.

Beim nächsten Tritt duckte sie sich rechtzeitig und packte meinen Fuß; diesmal erwischte sie ihn so weit, dass ich beinahe das Gleichgewicht verloren hätte. Ich wand mich eben noch rechtzeitig frei und trat sie seitwärts gegen die Wand. Erde regnete herab.

»Willst du das Amulett, Hexe?«, fragte sie. »Behalte es. Ich nehme den anderen Weg. Auf lange Sicht weniger befriedigend, aber « Sie lächelte. »Vorübergehend vielleicht sogar sehr befriedigend, wenn man es richtig anstellt. Also, warum versuchst du nicht «

Sie flog auf mich zu in der Hoffnung, mich zu überraschen.

Ich wirbelte aus dem Weg. Schritte kamen im Gang näher.

Trsiel. Endlich.

Die Nixe begann mit einer Beschwörung. Ein Portal, nahm ich an. Aber die Worte klangen vertraut . . . und ich kannte keine Formel, die ein Portal öffnete. Egal. Was sie da auch wirkte, ich würde es sie nicht zu Ende bringen lassen.

Ich fuhr herum und trat zu, aber sie wich dem Tritt aus. Sie hob beide Hände und ließ sie herabflattern. Eine Formel mit Handbewegungen? Musste ein Magierzauber sein. Gerade als ich zum nächsten Tritt ausholte, brach sie sie ab. Ich wappnete mich, aber es geschah nichts.

»Als Formelwirkerin bist du so gut wie als Kämpferin, wie ich sehe«, sagte ich und beförderte sie mit einem weiteren Tritt auf den Boden.

Trsiel kam zur Tür hereingejagt, und weil ich neben der Tür stand, wandte er mir den Rücken zu. Alles, was er im ersten Augenblick sah, war die Nixe auf dem Boden.

Sie hob den Kopf.

»Trsiel!«, sagte sie. »Pass auf! Hinter dir!«

Er fuhr herum, das Schwert erhoben. Dann sah er mich und erstarrte.

»Trsiel!«, schrie sie. »Sie ist es! Sie hat eine Blendwerkformel gesprochen!«

Blendwerk? Oh, Mist das war es also, was sie gewirkt hatte.

Ein Magierzauber, der bewirkte, dass sie aussah wie ich. Der Protest lag mir auf den Lippen, aber Trsiels Schwert jagte bereits auf mich zu, zu schnell, als dass ich etwas hätte sagen . . . oder mich aus dem Weg werfen können.

Im letzten Augenblick trafen sich unsere Blicke, und seine Augen füllten sich mit entsetztem Verstehen. Der Schwung des Schwertes war zu kraftvoll; er konnte nichts mehr tun, als seine Bahn zu ändern und es von meinem Körper fortzulenken. Die Klinge traf mich am Oberschenkel. Ich hörte ein unmenschliches Schreien, dann spürte ich, dass das Geräusch aus meiner eigenen Kehle kam, als der Schmerz der unbeschreibliche Schmerz durch mich hindurchjagte. Ich kippte nach vorn.

Trsiel sprang vor, um mich abzufangen. Das Schwert klirrte auf den Boden.

Als ich fiel, wurde ich ohnmächtig, kam aber sofort wieder zu mir, als die nächste Schmerzwelle durch mich hindurchschoss.

Trsiels Arme stützten mich, als er mich auf den Boden legte.

Sein Mund öffnete sich, aber ich hörte nichts als mein eigenes Schreien. Hinter ihm stürzte die Nixe nicht fort von uns, sondern in unsere Richtung. Gleich darauf begriff ich.

»Trsiel«, keuchte ich, »Schwert. Sie «

Er fuhr hoch, gerade als die Nixe auf das Schwert zusprang.

Es war zu spät, um es zu packen; Trsiel schleuderte es mit dem Fuß zur Seite und warf sich auf die Nixe. Er packte sie an den Schultern, und sie stürzten beide.

Ich bemühte mich darum, sie im Auge zu behalten, aber der Schmerz pulsierte durch mich hindurch, und jeder Stoß brachte einen Sekundenbruchteil der Bewusstlosigkeit mit sich.

Am anderen Ende des Raums wand die Nixe sich aus Trsiels Griff, rollte zur Seite und versuchte an das Schwert zu kommen, aber Trsiel riss sie wieder zu Boden.

Ich zwang meinen Körper, sich zu drehen, und versuchte durch die Blitze von Dunkelheit das Schwert zu erkennen.

Dort bei der Tür.

Ich biss mir auf die Lippe und zog mich hoch auf alle viere, dann kroch ich darauf zu. Ich war noch nicht weit gekommen, als ich spürte, dass meine Glieder zu zittern begannen und nachzugeben drohten. Ich warf mich nach vorn, über das Schwert.

Ich spürte, wie die Hitze sich durch meine Kleidung brannte.

Dann wurde alles dunkel.

Ich wachte in etwas auf, das sich anfühlte wie ein Bett, weich und bequem. Trsiel beugte sich über mich. Ich versuchte mich aufzusetzen, aber weißglühender Schmerz schoss durch mich hindurch und zwang mich stillzuhalten.

»Nixe«, flüsterte ich.

»Sie ist fort. Sie hat sich rausteleportiert, sobald ich sie richtig gepackt hatte.«

»Amulett. Hab’s gefunden «

»Ich habe es hier.«

»Gut. W. . . « Ich keuchte, als die nächste Welle von Schmerz durch mich hindurchging. Trsiels Arme umfassten mich, und ich spürte, wie seine Hände sich an meinen Hals legten. Ich keuchte wieder. Seine Finger waren fast so heiß wie das Schwert.

Aber sobald sie meine Haut berührten, ließ der Schmerz nach.

Er massierte mir den Nacken, und allmählich entspannte ich mich. Ich spürte, wie ich in den Schlaf hinübertrieb, und nahm nur am Rande noch wahr, dass er redete. Ich versuchte zuzuhören, aber ich konnte nur den hypnotischen Klang seiner Stimme ausmachen er sprach in seinem natürlichen Tonfall.

»Besser?«, flüsterte er.

»Mhm. Wird gerade besser.«

Leises Lachen. »Dann mache ich weiter.« Seine Stimme wurde sachlich. »Ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr es «

»Schon okay.«

Ich streckte mich, hob den Kopf und sah mich um. Ich lag auf einem Sofa. Er hatte sich einen Sessel daneben gezogen.

Beides waren wuchtige Stücke, postmodern, viel bequemer, als sie aussahen. Zwei weitere Sessel flankierten einen Kamin, und zwei standen an einem Fenster, das auf eine Stadtlandschaft hinaussah. Die Wände waren mit Museumsplakaten geschmückt.

Die gesamte gegenüberliegende Wand wurde von einem Bü

cherregal eingenommen, das bis an die Grenze des Möglichen vollgestopft war. Die Bücher waren in jede Spalte geschoben, und weitere Bücher stapelten sich auf dem Fußboden davor.

Rechts von mir sah ich einen niedrigen, mit Zeitschriften bedeckten Tisch.

»Dein Zimmer?«, fragte ich.

Er nickte. »Sieht nicht so aus wie die anderen Engelsquartiere, stimmt’s?«

Ich griff nach einer Ausgabe von Entertainment Weekly.

»Nicht ganz.«

Ich sah, dass sein Gesicht heiß wurde.

»Ich ziehe dich auf«, sagte ich. »Dein Quartier finde ich viel angenehmer. Dieses andere? Es war irgendwie gespenstisch.«

Er lachte leise auf. Ich sah mir den Zeitschriftenstoß an.

Manche Magazine kannte ich, Time und National Geographic zum Beispiel. Bei anderen war ich mir nicht einmal sicher, in welcher Sprache sie geschrieben waren.

»Ich nehme an, dies hier beantwortet die Frage«, sagte er mit einer Handbewegung, die den ganzen Raum umfasste. »Obwohl ich sicher bin, du wusstest es schon.«

»Hm?«

»Was Dantalian gemeint hat. Diese . . . Anspielungen. Du hast gesagt, du wüsstest nicht, was er meint, aber ich weiß, dass du es weißt.«

Ich ließ mich auf den Rücken fallen und sah zu ihm hoch.

»Dass du zum Teil Mensch bist. Oder dass er es jedenfalls behauptet.«

»Er hat recht. Was du ebenfalls weißt.« Er hob eine meiner Haarsträhnen vom Polster und ließ sie durch die Finger gleiten bis ans Ende, den Blick darauf gerichtet, während er fortfuhr:

»Ich habe dir erzählt, dass ich zu der letzten Gruppe der Reinblütigen gehöre. Der Schöpfer er hat gesehen, dass es bei den Älteren, den Engeln der ersten und sogar der zweiten Generation, Probleme gab. Sie konnten nicht mithalten. Sie sollten nach Jahrtausenden, in denen sie über Jäger und Sammler gewacht hatten, eine Welt betreuen, die sich mit jedem Lidschlag zu verändern schien. Als wir die letzte Gruppe geschaffen wurden, lehrte man uns, uns mit der Menschenwelt vertraut zu machen. Wir lernten, ihre Traditionen, ihre Sprache, sogar ihre Moden zu verfolgen, damit wir diejenigen, denen wir dienen, besser verstehen können.«

»Dann ist das also die Erklärung? Die Ausbildung, meine ich. Nicht, dass du zum Teil ein Mensch bist.«

Er schüttelte den Kopf. »Das ist die Begründung, nicht der Grund. Wir wissen es alle. Ein paar von den Älteren versuchen, mehr wie wir zu werden, und ein paar von uns Jüngeren versuchen, mehr wie sie zu werden, aber es funktioniert nicht. Die Unterschiede liegen tiefer.«

»Du glaubst also, der Schöpfer hat euch menschliches Blut gegeben? Um euch menschlicher zu machen?«

Trsiel ließ die Haarsträhne aus den Fingern gleiten und nickte. »Und als Dantalian es zur Sprache gebracht hat, habe ich meine eigene Reaktion gesehen und mich dafür gehasst für das, was du gedacht haben musst.«

»Ich habe «

»Was für ein Heuchler, nicht wahr? In einem Moment erzähle ich dir, ich wüsste nicht, was an Menschen falsch sein sollte, und im nächsten werde ich wütend, weil irgendein Dämon mir unterstellt, menschliches Blut zu haben.« Er schüttelte den Kopf; seine Augen flammten. »Was für ein elendes «

Ich stemmte mich hoch. »Ich halte dich nicht für einen Heuchler, Trsiel. Ich habe gesehen, wie diese anderen Engel dich behandeln. Das ist das Problem, stimmt’s? Nicht das menschliche Blut, sondern ihre Reaktionen darauf.«

»Es ist mir wichtig, wozu es mich in ihren Augen macht.

Und ich weiß, es sollte nicht «

Ich fing seinen Blick auf. »Es ist okay, mir brauchst du das nicht zu erklären.« Ich lächelte. »Ich bin eine Hexe, erinnerst du dich? Ich weiß genau, wie es ist, als Bürger zweiter Klasse behandelt zu werden.«

Ich setzte mich auf. »Aber ganz abgesehen von der Frage, ob es jetzt am Blut oder an der Ausbildung oder woran auch immer lag, es hat offensichtlich seinen Zweck erfüllt. Du verstehst die menschliche Welt viel besser als diese anderen Engel, also warum gibt es die Aufgestiegenen?«

»Nicht alle Engel der letzten Gruppe sind wie ich. Die meisten sind es nicht. Sie haben sich . . . angepasst.«

»Dem Druck nachgegeben also. Aber du hast es nicht getan.«

»Sagen wir lieber, ich konnte es nicht. Es liegt nicht in meiner Natur. Und ich bin nicht der Einzige. Es gibt noch andere wie mich.«

»Aber eben nicht genug, um gegen diese neue Regel anzugehen, dass nur noch die Aufgestiegenen ins Feld geschickt werden.«

Ein langsames Nicken; sein Ausdruck wurde verschlossener, aber nicht, bevor ich die Trauer dort gesehen hatte.

»Aber wenn ich aufsteige«, sagte ich. »Wenn ich diese Queste bestehe und sie mir die Engelrolle anbieten, dann werde ich jemanden brauchen, der mir das Nötige beibringt, und dieser Zak. . . Zaf. . . «

»Zadkiel.«

»Ist nicht greifbar, also wirst es wohl du machen müssen.«

Er zögerte, dann nickte er. »Ja, darauf hoffe ich. Was bedeuten würde, dass du nicht die Einzige bist, die bei dieser Aufgabe etwas zu beweisen hat. Unglückseligerweise scheinst du dich bisher besser zu bewähren als ich.«

»Hey, du hast das Amulett, oder etwa nicht?«

»Ich hätte viel lieber die Nixe. Möglichst als Garnierung auf meinem Schwert.«

Ich lachte. »Die kriegen wir auch noch, wart’s nur ab. Und dann finden wir vielleicht auch raus, ob wir uns all diese Gedanken umsonst gemacht haben. Wie ich mich kenne, entscheide ich schließlich doch noch, dass ich ein Engel sein will, und dann stellt sich heraus, dass niemand mir das Angebot gemacht hat und dass sie es auch nicht vorhaben.«

Ein seltsamer Ausdruck glitt über sein Gesicht.

»Du weißt es schon, stimmt’s?«, fragte ich.

Er stand auf, ging quer durchs Zimmer, nahm einen Apfel von einer Platte. »Wir sollten das weitere Vorgehen besprechen.«

»Du solltest dich lieber um deine Ablenkungsmanöver kümmern. Dieses hier war jetzt so offensichtlich wie der Versuch, mich zu Lizzie zu schicken, bevor Aratron aufgetaucht ist.« Ich stand vom Sofa auf. »Du hast mit den Parzen geredet, stimmt’s?

Du hinterhältiger . . . Was hast du denen was haben sie gesagt?«

Er begann den Apfel von einer Hand in die andere zu werfen.

»Es ist nicht an mir, das zu erörtern, Eve.«

Ich schnappte den Apfel aus der Luft. »Na ja, wenn du dir nach wie vor Sorgen machst, ob du ein geeigneter Mentor bist, dann lautet die Antwort offensichtlich Ja. Sie wollen, dass ich ein Engel werde.«

Ich nahm einen Bissen und kaute langsam, während ich die Vorstellung in Gedanken durchging. Wie ein Magnet zog sie mich an und stieß mich gleichzeitig ab, je nachdem, von welcher Seite ich sie betrachtete. Aber wie sehr dies mein Leben auch immer verändern mochte, es würde mein Problem mit Savannah lösen . . .

Ich nahm den nächsten Bissen und ging zurück zu dem Sofa.

»Warum ich?«, fragte ich.

Als Trsiel nicht antwortete, seufzte ich und sah zu ihm hin.

»Okay, rein hypothetisch also wenn die Parzen eine Stelle besetzen wollten, warum sollten sie mich auswählen? Es muss doch Dutzende von Paranormalen geben, die diese Auszeichnung mehr verdienen.«

»Ein Engel zu werden, ist keine Belohnung«, sagte er, während er sich wieder in den Sessel setzte. »Es ist eine Aufgabe, und wie jede Aufgabe erfordert auch diese gewisse Qualifikationen.«

»Zum Beispiel?«

»Jede Dimension hat ihr eigenes Team von Aufgestiegenen, die aus dieser Dimension rekrutiert wurden und sich um Fragen kümmern, die die Geister dieser Dimension betreffen sowie die Lebenden, die irgendwann dort hinkommen werden.

Den Parzen als Wächterinnen über die unteren paranormalen Dimensionen stehen vergleichsweise wenige Aufgestiegene zur Verfügung, und auch die Menge derer, aus denen sie sie rekrutieren können, ist vergleichsweise gering. Also müssen sie sehr sorgfältig aussuchen, und sie haben ein sehr eigenwilliges und kreatives System entwickelt, um ihre Engel zu wählen.«

»Sie sind also einfallsreich, wie Aratron gesagt hat?«

Trsiel nickte. »Jeder von den Aufgestiegenen im Team der Parzen wurde der Fähigkeiten oder Eigenschaften wegen gewählt, die er oder sie mit in dieses Team bringt. Janah war die Erste, und sie war zuvor eine Priesterin, eine sehr gottesfürchtige Frau, die darauf brannte, auf der Seite des Guten zu dienen.

Katsuo der, der Glamis recherchiert hat war ein Samurai und ist damit ein mächtiger Krieger, der gehorcht, ohne Fragen zu stellen. Marius ist ebenfalls ein Krieger, aber von einer anderen Art er war Gladiator und führte eine Rebellion gegen die Römer an. Im Gegensatz zu Katsuo hat Marius noch nie eine Autoritätsperson getroffen, die er nicht angegangen hätte, aber wenn man ihm eine Ungerechtigkeit präsentiert, dann kämpft niemand entschlossener dagegen an als er.«

»Unterschiedliche Stärken. Unterschiedliche Waffen für unterschiedliche Aufgaben.«

»Aber als es um die Nixe ging, wurde den Parzen klar, dass in ihrem Arsenal noch etwas fehlte.«

»Jemand, der ein Wesen wie die Nixe verstehen kann.«

»Ich kann hier nicht für die Parzen sprechen, aber ich nehme an, das ist es, zusammen mit einer Kombination anderer Faktoren, das sie veranlasst veranlassen könnte , dich als gute Kandidatin zu betrachten.« Er warf mir einen verstohlenen Seitenblick zu. »Du willst den Job, richtig? Zuerst war ich mir nicht sicher, aber inzwischen scheinst du dich für die Idee erwärmt zu haben.«

»Hatte ich auch.« Ich drehte den halb gegessenen Apfel in den Händen hin und her. »Aber jetzt . . . ich weiß es nicht genau.

Es gibt da eine Menge zu bedenken.«

Er schwieg einen Moment lang und sah mich dann an. »Es ist Kristof, nicht wahr?«

»Er . . . « Ich lehnte mich zurück gegen die Sofakissen und fixierte das Bücherregal gegenüber. »Vor ein paar Tagen hat er zu mir gesagt, ich bräuchte einen Lebensinhalt, und er hat recht. Diese Jagd diese Queste , sie hat dafür gesorgt, dass ich mich . . . « Ich lächelte schief. »Ich würde jetzt sagen ›lebendig fühle‹, wenn das nicht so albern klingen würde.«

»Es klingt nicht albern.«

»In gewisser Hinsicht trifft ›lebendig‹ es wirklich. Seit ich gestorben bin, bin ich . . . ja, sozusagen tot gewesen. Habe in einer Art Zwischenstadium herumgehangen, bin ständig nur um meine Tochter gekreist, hin und wieder aufgetaucht, um Kristof zu sehen, aber er war der Einzige, der mich da rausholen konnte. Ich brauche mehr als das, und er weiß es. Ich brauche einen Job.« Ich lachte. »Das ist ein starkes Stück, was? Ich habe mein Leben damit verbracht, stolz auf die Tatsache zu sein, dass ich nie eine wirkliche Stelle hatte, nie einen Cent Einkommenssteuer gezahlt habe, und jetzt, nachdem ich tot bin, ist das genau das, was ich will.«

Trsiel lächelte. »Also ich sage es dir wirklich nicht gern, aber Engel zahlen keine Steuern. Allerdings beziehen sie auch kein Gehalt.«

»Du weißt, was ich meine.«

»Du willst eine Aufgabe, und du glaubst, dies könnte sie sein.

Deine Berufung.«

Ich gab ein Würggeräusch von mir.

Er grinste. »In Ordnung, Laufbahn, nicht Berufung. Aber da wäre immer noch das Problem mit Kristof. Er bedeutet dir offensichtlich sehr viel . . . «

»Und wenn ich seine Ratschläge nicht befolge und diesen

›Job‹ annehme, ruiniere ich das mit ihm vielleicht endgültig.

Wenn ich ein Engel werde, wird mein Traum, Savannah zu beschützen, Wirklichkeit. Statt einen neuen Lebensinhalt zu finden, finde ich vielleicht nur eine Möglichkeit, dieser Obsession weiter nachzugehen. Wenn das passiert, bin ich Kris los.

Der Mann ist so hartnäckig wie eine Bulldogge, aber sogar eine Bulldogge hat irgendwann raus, wenn sie an etwas rumzerrt, das nicht abreißen wird.«

Trsiel sagte nichts. Als ich zu ihm hinübersah, stellte ich fest, dass er mich einfach nur anstarrte.

»Du weißt es nicht, oder?«, fragte er leise.

»Was weiß ich nicht?«

»Wenn du aufsteigst . . . Eve, du kannst nicht . . . « Er rieb sich mit der Hand über die Lippen. »Eve, ich dachte, du wüsstest Bescheid.«

»Worüber?«

»Wenn du aufsteigst, musst du alle Verbindungen zur Geisterwelt abbrechen.«

Der Raum schien zu kippen und dunkler zu werden.

»Du meinst, ich könnte nicht mehr dort leben?«, fragte ich langsam. »Ich müsste hierherziehen oder irgendwohin, aber ich könnte die Geisterwelt noch besuchen «

»Ich meine, du müsstest sie verlassen. Für immer.«

Ich weiß nicht, was ich als Nächstes sagte. Ich spürte, dass meine Lippen sich bewegten, hörte, dass etwas wie Worte aus meiner Kehle kamen, sah Trsiel nicken und etwas antworten, und dann merkte ich, dass ich einen Transportcode sprach. Der Raum wurde dunkel und verschwand.

37

I ch stand in der Kabine von Kristofs Hausboot vor dem winzigen Schreibtisch neben seinem Kojenbett. Über dem Schreibtisch war ein Regalbrett voller Fotos angebracht. Gedächtnisbilder nennen wir sie in der Geisterwelt. Wir haben keine Kameras und keinen Zugang zu alten Bildern, aber wir brauchen sie auch nicht. Wenn wir ein Bild aus unserem Gedächtnis hervorzerren, können wir ein Foto daraus machen, so wie ich es mit dem Bild von Amanda Sullivan getan hatte.

Auf Kristofs Regal standen Bilder von allen, die ihm wichtig waren: seinen Eltern, Brüdern, Neffen und natürlich seinen Söhnen. Dazu kamen zwei Bilder von Savannah, eines, wie sie ausgesehen hatte, als er sie kennengelernt hatte, und ein neueres. Und dann gab es die Bilder von uns beiden, von Dingen, die wir zusammen getan hatten fünfzehn Jahre zuvor und später, nach unserem Tod. Und zwei Bilder von mir.

Zwei Tage zuvor hatte ich ihm vorgeworfen, er verlangte eine Entscheidung zwischen Savannah und ihm selbst. Jetzt starrte ich die Bilder an und merkte, dass ich diese Entscheidung beinahe getroffen hätte, wenn auch unfreiwillig. Ich würde jetzt gern sagen, dass ich niemals ein Engel geworden wäre, ohne über alle Aspekte Bescheid zu wissen, aber das wäre, als sagte ich, dass ich Kristof niemals Savannah vorenthalten hätte, ohne zuvor zu fragen, ob es ihn auch nur interessiert hätte.

Oder zu behaupten, ich hätte niemals versucht, aus dieser Anlage zu fliehen, ohne meinen Fluchtplan zuerst auf Schwachstellen abzuklopfen. Erst handeln, hinterher fragen, den Preis dafür in alle Ewigkeit zahlen das war mein Weg durchs Leben gewesen. Hätte Trsiel mir nicht den Preis genannt, den man für die Engelrolle zahlte, ich hätte mich in einem Jenseits wiedergefunden, in dem ich mich für Savannah und gegen Kristof entschieden hatte für die Illusion einer Beziehung zu meiner Tochter und gegen die wirkliche Beziehung mit Kristof.

Ich riss mich von den Fotos los und ging hinaus auf den Steg; meine Gedanken wirbelten mir immer noch durch den Kopf.

Ich sah Kristof den Hang hinunterkommen, den Blick gesenkt und in Gedanken unverkennbar woanders. Dann blickte er auf. Als er mich entdeckte, wurde seine Stirnrunzeln zu einem breiten Lächeln, er ging schneller und rief eine Begrüßung zu mir hin, die das leise Klatschen des Wassers am Bootsrumpf übertönte.

Als ich ihm entgegenging, verblasste das Grinsen. Er sagte nichts, beeilte sich aber noch mehr, zu mir zu kommen. Ich blieb am Anfang des Stegs stehen und wartete, und alles, woran ich in diesem Augenblick denken konnte, war, wie nahe ich daran gewesen war, das Einzige wegzuwerfen, das ich in diesem Jenseits wirklich besaß.

Ich hob die Hand und berührte seine Wange. Warum fühlt sich die Haut hier immer noch warm an, lange nachdem das Blut verschwunden ist, das ihr die Wärme gab? Vielleicht ist es die Erinnerung an Wärme, die wir spüren, oder vielleicht ist es auch etwas, das tiefer geht als die Biologie.

Kristof legte die Hand über meine und drückte sie an seine Wange. Dann zog er meine Hand an den Mund und küsste die Handfläche; die Berührung war so leicht, dass sie einen Schauer durch mich hindurchjagte. Ich sah mich um, aber es war niemand in der Nähe, der uns hätte sehen können. Niemand außer einer gelegentlichen Möwe oder Seeschwalbe über uns.

Ich zog die Hand aus Kristofs Griff und öffnete den obersten Knopf seines Hemdes. Ich schloss die Augen, legte ihm die Hände auf die Brust und zeichnete mit den Fingern das Schlüsselbein nach. Hinzusehen war unnötig; meine Finger kannten den Weg, so wie sie den Weg über jede Stelle seines Körpers kannten, Nervenstränge, die mir ins Hirn gebrannt waren, vor vielen Jahren im Gedächtnis verankert, als hätte ich gewusst, dass ich eines Tages meine Erinnerungen brauchen würde, wenn ich ihn sehen wollte.

»Ich habe immer wieder von dir geträumt«, sagte ich, während ich die übrigen Knöpfe öffnete und die Finger an seiner Brust hinabgleiten ließ. »Lange nachdem ich gegangen war. Bis zum Ende. Zwölf Jahre war ich von dir weg, und ich bin immer noch mitten in der Nacht aufgewacht und habe gedacht, du hättest gerade eben das Zimmer verlassen und ich könnte dich noch riechen. Sogar die Matratze hat sich warm angefühlt.«

Ich öffnete den Reißverschluss und schob seine Hose an seinen Hüften hinunter. »In manchen Nächten war es einfach nur das ich habe geträumt, dass du neben mir liegst und schläfst.

In anderen . . . « Ich schauderte und schob eine Hand in seinen Slip, während ich ihn mit der anderen nach unten zog. »In anderen Nächten bin ich aufgewacht und habe mich nach dir gesehnt, so sehr, dass es weh getan hat verschwitzt, so nass, dass es kaum noch eine Berührung gebraucht hat, und ich bin gekommen. Ich hab mich nie daran erinnert, was ich geträumt hatte, aber ich wusste genau, dass du in meinem Traum vorgekommen warst, auch wenn ich mir selbst eingeredet habe, es wäre anders gewesen.«

Ich ließ die Hände an seinen Hüften hinuntergleiten und strich mit den Fingern an der Innenseite seiner Oberschenkel entlang. »Manchmal habe ich bei dir im Büro angerufen und mir deine Stimme auf dem Anrufbeantworter angehört. Es hat sich nie angehört wie du das wirkliche Du , aber wenn ich mich konzentriert und die Worte ausgeblendet habe, dann habe ich deine Stimme gehört.«

»Ich habe dich gesehen«, sagte er, während er mir das TShirt aus den Jeans zog. »Überall. Auf der Straße, im Büro, zu Hause.

Sogar neben mir im Auto. Aus dem Augenwinkel habe ich etwas gesehen und einen Moment lang vergessen, dass du nicht mehr da warst und ich . . . «

Er zog scharf den Atem ein und vergrub das Gesicht an meiner Schulter. Er küsste mich auf den Hals und begann meine Jeans nach unten zu schieben.

»Manchmal war es ein Geruch«, murmelte er. »Der Geruch von irgendwas, das wir zusammen gegessen hatten. Manchmal war es ein Lachen. Ich hätte schwören können, dass ich dich lachen gehört hatte, und ich konnte dich da auf dem Bett sitzen sehen, wie du mich angrinst, den Kopf zur Seite gedreht, und das Haar fiel dir über die Brust.« Wieder ein scharfer Atemzug; er ließ die Finger an meinem Haar entlanggleiten und kitzelte mich damit an der Brust. »Das war es, was bei mir immer funktioniert hat. Dieses Lachen zu hören. Manchmal im ungünstigsten Moment. Aber manchmal war die Erinnerung einfach nicht genug.«

Ich legte ihm die Arme um den Hals. »Ich will dich zurückhaben, Kris. Jetzt und für immer.«

Er ließ mich auf den Steg hinuntergleiten.

Danach lagen wir ausgestreckt da und genossen die laue Wärme der Sonne und das Klatschen der Wellen. Kristofs Finger glitten an meinem Oberschenkel hinauf und hielten inne. Er runzelte die Stirn und sah auf mein Bein hinunter. Das Stirnrunzeln wurde tiefer. Ich folgte seiner Blickrichtung und sah eine papierdünne Narbe, die um meinen Schenkel lief, da, wo Trsiels Schwert durchgegangen war.

Ich erzählte Kris, was passiert war.

Er schüttelte den Kopf. »Der Mann hat ernsthafte Schwertkontrollprobleme.«

Ich prustete. »So, meinst du?«

»Wenn er es mal rechtzeitig bei der Hand hat, sticht er es irgendwohin, wo es nicht hingehört.« Mein Lachen erstarb. Ich drückte das Gesicht an seine Schulter, und Kris strich mir über den Hinterkopf. »Was ist sonst noch passiert?«

Ich hatte Trsiels Andeutungen, dass meine Suche in Wirklichkeit die Vorstufe zur Engelrolle war, Kristof gegenüber noch nicht erwähnt. Als ich es ihm jetzt erzählte, rechnete ich damit, dass er laut loslachen würde. Wahrscheinlich hätte ich es besser wissen sollen. Er hörte zu und nickte langsam.

»Ja, das ergibt seinen Sinn.«

»So, tut es das?« Ich lächelte. »Ich schwöre, du bist wahrscheinlich der einzige Mensch des Universums, der hört, dass ich eine Kandidatin fürs Engeltum bin, und dazu sagt ›ja, das macht Sinn‹.«

»Aber es stimmt. Du bist vielleicht nicht die offensichtlichste Kandidatin, aber sie haben diese Nixe nach hundert Jahren immer noch nicht erwischt, also scheinen die offensichtlichen Kandidaten sich nicht bewährt zu haben.« Er machte eine nachdenkliche Pause. »Ich weiß schon, dass dies nicht gerade das ist, was du dir für dein Jenseits vorgestellt hattest, aber vielleicht willst du es dir mal überlegen. Du bist . . . na ja, dir geht es im Moment so gut wie lange nicht. Du bist glücklicher, mehr . . .

hier. Aber natürlich müsstest du dich als Erstes mal mit den Parzen unterhalten, rausfinden, was genau da alles dazugehört.«

»Ich das hab ich schon gemacht, Kris.«

Seine Brauen hoben sich.

Ich brachte ein schiefes Lächeln zustande. »Überrascht von meiner Umsicht? Vergiss es. Trsiel hat mir gesagt, was der Haken dabei ist. Gut, dass er das getan hat, weil . . . « Mir wurde die Kehle eng. »Weil ich sehr kurz davor war, einen ganz üblen Fehler zu machen. Ich werde kein Engel, Kris. Der Preis ist zu hoch.«

»Savannah«, murmelte er. »Du könntest sie nicht mehr beobachten.«

»Nein, im Gegenteil. Savannah war die Hauptattraktion bei der ganzen Sache.« Ich hielt seinen Blick fest. »Ein Engel zu werden würde bedeuten, dass ich sie schützen könnte, dass ich Lily hätte aufhalten können, so wie Trsiel es getan hat. Und seit Trsiel mir gesagt hat, dass ich vielleicht als Kandidatin betrachtet werde, habe ich an nichts anderes mehr denken können. Aber nachdem du in Alaska mit mir geredet hast, war ich mir nicht mehr so sicher, ob das wirklich der richtige Weg wäre. Und heute habe ich dann etwas rausgefunden, das die Sache entscheidet. Wenn ich ein Engel werde, schicken die mich ins Engelland. Keine Rückfahrkarte, keine Mitreisenden.«

Seine Stirn legte sich in Falten; dann kam ein überraschter Lidschlag. »Du würdest die Geisterwelt verlassen müssen, meinst du, und dir gefällt es hier «

Ich unterbrach ihn mit einem heftigen Kuss. »Du weißt genau, was ich meine, also stell dich nicht dumm. Die verdammte Geisterwelt ist mir vollkommen egal. Du bist es, den ich nicht verlassen werde.«

Ein langsames Lächeln, dann beugte er sich über mich und erwiderte den Kuss. Ein paar Minuten zu wenige für meinen Geschmack , und er richtete sich wieder auf.

»Also weder Flügel noch Heiligenschein für Eve.« Er grinste.

»Ich gebe zu, das ist eine Aufmachung, die ich mir an dir auch nie vorgestellt habe.«

»Eine von sehr wenigen, nehme ich an.« Ich rückte näher an ihn heran, drückte meinen Bauch an seinen und spürte die nächste Hitzewelle durch mich hindurchgehen. »Ich werde einen Job finden. Das ist mir klargeworden ich brauche etwas zu tun. Vielleicht sollte ich einfach mal unterschiedliche Uniformen anprobieren, rausfinden, ob eine davon dir gefällt . . . «

Er lachte, und seine Hand glitt auf mein Hinterteil. »Die meisten davon werden es wahrscheinlich tun, zumindest ein, zwei Nächte lang. Aber im Moment gibt es vielleicht Wichtigeres als meine Krankenschwesternfantasien.«

Ich lachte ebenfalls und setzte mich auf. »Stimmt, dafür haben wir später noch Zeit. Hilf mir bei der Ideenfindung für die nächsten Schritte. Trsiel ist gar kein übler Partner, aber wenn es ums Planen geht, funktionieren unsere Hirne einfach auf vollkommen unterschiedliche Art.«

»Er will dich niemanden umbringen lassen, ist es das?«

»Zieht es nicht mal in Betracht. Kein Töten, kein Stehlen, kein Lügen. Ich glaube, ich habe ihn ein, zweimal fluchen hören, aber nicht mal da bin ich mir ganz sicher.«

»Außerdem bin ich größer.«

Ich lachte los. »Du bist was?«

»Größer.« Er grinste rasch zu mir herüber. »Er sieht besser aus, ist schlanker, hat noch alle Haare . . . aber ich bin größer.

Um mindestens drei Zentimeter.«

»Du unterstützt mich nicht nur in meiner moralischen Verkommenheit, sondern bist außerdem auch größer? Was kann eine Frau noch mehr verlangen?«

»Das Amulett hat sie also nicht gekriegt«, sagte Kris, nachdem ich ihm von meiner letzten Begegnung mit der Nixe erzählt hatte.

»Nein, aber sie hat gesagt, es gebe eine andere Methode. Eine weniger zufriedenstellende Methode.«

»Spirituelle Inbesitznahme«, sagte er. »Dafür tut es nicht irgendein Nekromant. Was hast du gesagt da in der Burg? Kaum ein Nekro, der mächtig genug ist, das zustande zu bringen «

»Wäre dumm genug, es zu versuchen.«

»Ein mächtiger Nekro . . . dem es zugleich ein bisschen an geistiger Wendigkeit fehlt.« Seine Brauen wanderten nach oben.

»Klingt das nach jemandem, mit dem du in jüngster Zeit zusammengearbeitet hast?«

»Jaime ist nicht dumm. Sie wirkt vielleicht nicht wie eine Leuchte, aber es hat manchmal seine Vorteile, sich dämlicher zu geben, als man ist. Und sie schleppt da außerdem einiges an emotionalem Ballast mit sich rum. Dass sie den hohlköpfigen Showstar gibt, ist wahrscheinlich ihre Methode, damit klarzukommen.«

»Schon, aber wie du selbst sagst sie wirkt nicht wie eine Leuchte. Die Nixe hat irgendwas davon gesagt, dass ihre zweite Möglichkeit ›vorübergehend‹ sehr befriedigend sein würde, womit sie wahrscheinlich gemeint hat, dass sie damit dich treffen kann. Wenn sie weiß, dass du Jaime kennst «

»Mist!« Ich rappelte mich auf. »Ich muss Jaime warnen!«

Kris stand ebenfalls auf, während ich frische Kleidung beschwor. »Ich komme mit. Aber selbst wenn die Nixe vor uns bei Jaime auftaucht Jaime wird ihr ihren Körper ja sicherlich nicht vollständig überlassen.«

Jaime zu finden würde nicht weiter schwierig sein. Wir hatten ein System ausgearbeitet wenn sie nicht da war, würde sie mir eine Nachricht auf ihrem Schreibtisch hinterlassen. Die Nachricht, die wir fanden, teilte uns mit, dass sie eine Show in Sacramento hatte Jaime hatte die Termine sogar in Lokalund in Ortszeit notiert, damit es keine Verwirrung gab.

»Sehr rücksichtsvoll«, sagte Kris.

»Oder sie glaubt, dass ich nicht gerade eine Leuchte bin.«

Er lachte. »Gut möglich, dass es da auf beiden Seiten eine Fehleinschätzung gegeben hat.« Er sah auf das Papier hinunter.

»Die Show war vor einer Stunde zu Ende, und danach steht nichts mehr an, also ist sie entweder noch in dem Theater oder wieder im Hotel.«

»Dessen Namen wir wissen, aber ohne ihre Zimmernummer, die sie wahrscheinlich noch nicht kannte, als sie das hier notiert hat . . . Suchst du im Theater nach ihr, und ich nehme das Hotel?«

Er stimmte zu, und wir machten uns auf den Weg.

38

E in Geist zu sein und um elf Uhr nacht sein Hotel zu durchsuchen, hat einen Nachteil unfreiwilligen Voyeurismus.

Es wäre nicht so übel gewesen, wenn ich dabei wenigstens etwas Neues gelernt hätte, aber selbst die Geschäftsleute mit den teuren Prostituierten taten kaum etwas anderes, als sie auch zu Hause im Ehebett getan hätten. Ich brachte das untere der beiden Suitenstockwerke hinter mich, stieg hinauf in das obere, betrat das erste Zimmer . . . und traf dort die Nixe und Jaime an, die einander gegenüber auf dem Fußboden knieten, ein Arrangement nekromantischer Gerätschaften zwischen sich.

»Hey!«, sagte ich, während ich zu ihnen hinüberging. »Was zum Teufel treibt ihr da?«

Der Blick der Nixe glitt kurz zu mir herüber und dann zurück zu Jaime, die an ihrer Unterlippe kaute und auf den nekromantischen Altar hinuntersah.

»Ich habe kein ich habe bei dem hier wirklich kein gutes Gefühl«, sagte Jaime.

»Ach nee!« Ich pflanzte mich über dem Altar auf. »Wenn es das ist, wonach es aussieht . . . Verdammt noch mal, Jaime, das ist die Nixe! Der QuasiDämon, hinter dem ich her bin!«

Jaime kaute immer noch an der Unterlippe. Ich streckte die Hand aus, um Sie an der Schulter zu schütteln, aber natürlich gingen meine Finger geradewegs durch sie hindurch. Also versuchte ich es mit Konfrontation indem ich vor ihr in die Hocke ging und mein Gesicht bis auf wenige Zentimeter an ihres heranbrachte.

»Hallo! Irgendwer zu Hause?«

Die Nixe lachte.

Jaimes Kopf fuhr hoch. »Was?«

»Du sitzt hier mit einem Killer von einem QuasiDämon rum, das «

»Nichts«, sagte die Nixe. »Ich habe bloß gerade gedacht, ich kann’s dir nicht übelnehmen, dass du mir nicht trauen würdest.

Zum Teufel, ich könnte es niemandem übelnehmen, wenn er mir nicht vertrauen würde.«

»Ach nee«, sagte ich. »Das passiert eben, wenn man ein bösartiges «

»Ich habe im Leben eine Menge fürchterliches Zeug gemacht«, fuhr die Nixe fort. »Aber ein einziges Mal habe ich auch etwas Gutes zustande gebracht «

»Quatsch.«

» und dieses Gute ist das Einzige, woran mir jetzt noch liegt.«

»Savannah«, sagte Jaime mit einem kurzen Seufzer.

Mit einem Mal wurde mir kalt.

»Ich muss sie schützen, Jaime«, sagte die Nixe. »Und ich wünschte, ich könnte das allein tun, aber ich kann’s nicht. Ich habe es probiert. Oh Gott, wie ich es probiert habe.«

Ich starrte die Nixe an, und einen Augenblick lang, als ich die Worte hörte, sah ich mich selbst dort sitzen . . . und das war es, was auch Jaime sah.

Der Blendwerkzauber. Scheiße!

»Trsiel!«, brüllte ich.

Die Nixe verbiss sich ein Lächeln.

Jaime stieß einen tiefen Seufzer aus. »Okay, bringen wir es hinter uns. Aber wenn du mich hintergehst, Eve «

»Das werde ich nicht«, sagte die Nixe. »Gib mir deinen Körper lang genug, um dieses Miststück zu erwischen, und du kriegst ihn zurück mit jedem Heimsucherbann, den du dir wünschen könntest.«

Ich rief in Gedanken noch einmal nach Trsiel und versuchte es dann mit einer verzweifelten Kommunikationsformel an Kris. Es würde nicht funktionieren er hatte dieses Stück hochkarätige Hexenmagie nie gemeistert , aber versuchen musste ich es. Vielleicht schaffte Kris es über die Barriere hinweg, die die Nixe gegen mich errichtet zu haben schien.

Jaime hatte ihre Beschwörung kaum beendet, als Kris im Raum erschien, den Rücken zu mir gewandt, das Gesicht zu Jaime und der Nixe.

»Du hast mich gerufen?«, fragte er und unterbrach sich dann.

»Was zum Teufel «

»Das bin nicht ich!«, rief ich, während ich neben ihn trat.

»Natürlich nicht«, sagte er. »Es ist die Nixe, aber was «

»Sie hat eine Blendwerkformel gesprochen, um auszusehen wie ich, und Jaime überredet, sich von mir ihr übernehmen zu lassen. Ich kann’s nicht verhindern, und Jaime kann mich nicht hören.«

»Jaime«, sagte Kristof scharf, während er sich wieder zu den beiden umdrehte.

Sie reagierte nicht.

Er sah sich zu mir um, öffnete den Mund, als wollte er etwas zu mir sagen, und stürzte sich dann urplötzlich auf die Nixe, um sie unvorbereitet zu erwischen. Er fiel geradewegs durch sie hindurch und landete auf dem Boden.

»Was für eine Formel hat sie «, begann er.

»Nicht sie. Es ist Jaime sie muss eine nekromantische Barriere aufgebaut haben, um andere Geister auszusperren. Wahrscheinlich hat die Nixe dafür gesorgt, dass sie das tut.«

»Was können wir also «

»Tun?«, sagte Jaime, während sie aufstand. »Gar nichts, Hexe.

Du kannst überhaupt nichts tun.«

Ich zwinkerte verblüfft. Die Nixe war verschwunden in Jaime hinein.

»Wo ist sie?«, fragte ich. »Wenn du «

»Oh, mach dir keine Gedanken um die Nekromantin. Um die geht es hier nicht.«

Bevor ich antworten konnte, erschien Trsiel, sah Jaime und runzelte die Stirn. »Was macht sie «

»Ich wollte Eve gerade erzählen, was ich mit diesem Körper vorhabe«, sagte die Nixe. »Natürlich könnte ich auch eine Überraschung draus machen, aber das würde es verderben. Viel besser, wenn sie genau weiß, was ich tun werde . . . und wenn es passiert, weiß sie, dass sie schon wieder versagt hat.«

»Trsiel!«, sagte ich. »Das ist die «

»Nixe«, sagte die Nixe. »Das weiß er, aber tun wird er nichts. Er wird nicht mal eingreifen, wenn ich ihnen die Hände um den Hals lege. Ja, ihnen. Denjenigen, deretwegen du diesen Handel überhaupt abgeschlossen hast. Ironisch, nicht wahr?«

»Paige und Lucas?«, sagte ich. »Wag es nicht «

»Und überleg doch mal was könnte für deine arme Tochter noch schlimmer sein, als ihre Pflegeeltern zu verlieren?

Vielleicht, zu glauben, dass sie selbst ihren Tod verursacht hat.«

Ich war drauf und dran, mich auf sie zu stürzen, aber mir fiel noch rechtzeitig ein, dass es zwecklos war, und so drehte ich mich zu Trsiel um und brüllte seinen Namen. Aber er rührte sich nicht.

Die Nixe lachte auf. Sie hob eine Hand, winkte und ging zur Tür hinaus. Kristof brüllte und stürzte sich auf Trsiel, packte ihn am Hemd und schleuderte ihn auf die Tür zu.

»Geh und mach deinen gottverdammten Job!«, fauchte er.

»Halt sie auf!«

»Das kann ich nicht«, sagte Trsiel leise.

Kristof ging wieder auf ihn los, packte ihn am Hemd und warf ihn rückwärts gegen die Wand; dann rammte er ihm den Unterarm unters Kinn.

»Du hast Eve reingelegt, stimmt’s?«, sagte er. »Sie verraten an diese . . . « Er rang um das richtige Wort. »Wenn du mit dieser Sache hier irgendwas zu tun hattest, können nicht mal die Parzen dich «

Ich legte Kris eine Hand auf die Schulter. Er unterbrach sich, seine Kiefermuskeln arbeiteten, als er zurücktrat.

»Trsiel? Du sagst, du kannst sie nicht zurückhalten«, sagte ich. »Warum?«

»Weil ich Jaime damit umbringen würde.«

»Na und?«, fragte Kristof.

Trsiels Blick wurde hart, als er Kristof ansah. »Jaime Vegas ist vollkommen unschuldig. Ich weiß nicht, wie die Nixe in ihren Körper geraten ist, aber wenn sie keine freiwillige Komplizin ist «

»Ist sie nicht«, sagte ich leise. »Die Nixe hat sie getäuscht.

Jaime glaubt, sie hilft mir, Savannah vor der Nixe zu beschützen. Was bedeutet, dass Trsiel recht hat. Wir können sie nicht umbringen . . . nicht, wenn es eine andere Möglichkeit gibt. Die Nixe kann nicht teleportieren, solange sie in Jaime steckt, also haben wir noch etwas Zeit, bevor sie in Portland ankommt.«

Kris trat zurück und ließ die Schultern kreisen. Ein kurzes Zögern, dann hatte er sich wieder in der Hand. »Dann schlage ich vor, wir versuchen gar nicht erst, das hier selbst zu lösen.

Mal sehen, was die Parzen zu sagen haben.«

»Trsiel hat recht«, sagte die mittlere Parze. »Er kann sie nicht umbringen.«

Wir standen im Thronsaal Kristof und ich. Trsiel wartete draußen, vielleicht in der Ansicht, dass er sich von Kristof eine Weile fernhalten sollte.

»Schön«, sagte ich. »Er kann keine Unschuldigen töten. Wir haben das schon verstanden, und solange es noch andere Möglichkeiten gibt, die Nixe aufzuhalten, bevor sie Paige oder Lucas umbringt, will ich genauso wenig wie ihr, dass Jaime etwas passiert.«

Die Parze schüttelte den Kopf. »Ich glaube, du verstehst nicht, Eve. Trsiel kann sie nicht umbringen. Weder jetzt noch irgendwann sonst nicht einmal als letzten Ausweg.«

»Was?!«

»Moment.« Kristof trat vor. »Wollt ihr uns erzählen, ihr lasst zu, dass die Nixe diese beiden jungen Leute umbringt, und greift nicht ein? Was für eine Gerechtigkeit ist denn das?«

Die älteste Parze nahm den Platz ihrer Schwester ein und richtete ihren scharfen Blick auf Kris. »Ist Jaimes Leben also weniger wert?«

»Ja. Da gibt es doch gar keine Frage, oder? Nichts gegen Jaime Vegas, aber sie ist eine Frau, die sich wie eine Nutte an den Höchstbietenden verkauft, während Lucas und Paige da draußen eure Sache vertreten und auf eurer Seite kämpfen. Ihr könnt sie nicht mit ihnen vergleichen.«

Die mittlere Parze erschien wieder. »Es ist nicht an uns, den Wert menschlicher Leben zu bestimmen, Kristof.«

»An wem ist es dann? Ich würde nämlich gern mit ihm reden.«

»Niemand hat diese Macht . . . oder dieses Recht.«

Kristof schüttelte angewidert den Kopf. »Schön. Vielleicht könnt ihr zwei Leben nicht miteinander vergleichen, aber zählen könnt ihr sicherlich, und zwei Leben plus ein drittes, das dabei zerstört wird, dürften mehr wert sein als ein einziges.«

Die jüngste Parze tauchte auf. »Wir können zählen, Kristof.

Sogar ich. Du bist derjenige, der Nachhilfe braucht, nicht in Mathe, sondern in Englisch. Wir haben nicht gesagt, dass Trsiel die Nixe nicht töten darf, solange sie in Jaimes Körper steckt, oder dass er sie nicht töten wird. Wir haben gesagt, er kann es nicht tun.«

»Ihr meint, es ist unmöglich«, sagte ich. »Weil Jaime unschuldig ist?«

Die Parze nickte. »Das Schwert kann die Seele eines Unschuldigen nicht richten.«

»Aber die Seele ist doch nicht unschuldig«, sagte Kristof.

»Die Nixe «

»Die Seele dieses Körpers gehört immer noch Jaime.«

»Was sollen wir also jetzt tun?«, fragte ich. »Wo stehen wir?«

»Genau da, wo ihr vorher gestanden habt«, sagte das Mädchen. Dann verzogen sich seine Lippen zu einem schiefen Lächeln. »Bloß ohne den Plan B.«

Die Parzen riefen Trsiel herein, um uns zu helfen je mehr Köpfe wir hatten, um uns mit der Sache zu befassen, desto besser. Solange wir in dem Thronsaal blieben und Pläne schmiedeten, galt die Zeitrechnung der Parzen für uns, und in der Welt der Lebenden würden nur Minuten vergehen. Aber sobald wir selbst dorthin zurückkehrten, würde auch für uns die Uhr ticken.

»Wir brauchen also eine Methode, um den Geist der Nixe vom Körper ihrer lebenden Partnerin zu trennen«, sagte ich.

»Und das Schwert eines Engels wird hier nicht funktionieren, also wie zum Teufel «

»Es gibt noch eine andere Methode«, sagte die kleine Parze.

»Nämlich?«

Die junge Parze begann zu schimmern; ihr Körper schien sich zu strecken, als sei sie dabei, sich in eine ihrer Schwestern zu verwandeln aber wie in Zeitlupe, so als würde sie sich gegen die Verwandlung wehren. Ein kurzer Lichtblitz, und das Mädchen war wieder da, das Gesicht zu einer grimmigen Maske kindlicher Entschlossenheit verzerrt.

»Es gibt noch eine Methode«, sagte sie, ihre Worte überstürzten sich und waren kaum zu verstehen. »Wurde schon mal probiert. Der zweite Sucher «

»Nein!«, sagte Trsiel. »Wir haben uns darauf geeinigt «

»Worauf?«, fragte ich. »Willst du mir erzählen, dass du eine andere Methode kennst?«

»Nein.« Er warf der jungen Parze einen finsteren Blick zu.

»Und sie kennt auch keine.«

»Aber der andere tut’s«, sagte sie mit erhobenem Kinn. »Der zweite Sucher.«

»Du meinst den Engel, den ihr beim zweiten Mal geschickt habt?«, begann ich, dann unterbrach ich mich. »Nein es war kein Engel, stimmt’s? Es war ein Geist. Ein Mann namens Dachev. Ihr habt ihn hinter der Nixe hergeschickt, und er hat sie erwischt. Dann hat sie einen Deal vorgeschlagen und ihn überredet, sich ihr anzuschließen, statt sie einzuliefern.«

Die jüngste Parze öffnete den Mund, aber die mittlere Schwester ergriff das Wort, bevor sie etwas sagen konnte. Aber ich brauchte keine Bestätigung. Ein Blick auf Trsiels Gesicht sagte mir, dass ich richtig geraten hatte.

»Und wenn er kein Engel war«, fuhr ich fort, »dann muss es ihm gelungen sein, den Geist der Nixe auch ohne das Schwert von ihrem Körper zu trennen. Wie?«

Die Parze schüttelte den Kopf. »Wir wissen es nicht, Eve. Wir wissen nur, dass er es getan hat . . . und dass es danach sehr viel übler geworden ist.«

»Ein Problem, das manche von uns hatten kommen sehen«, sagte Trsiel.

Die Parze nickte. »Ja, Trsiel. Wir hätten auf diejenigen hören sollen, die von diesen Dingen mehr verstehen. Wir haben einen Fehler gemacht und für ihn bezahlt.«

»Von diesen Dingen«, sagte ich. »Du meinst das Böse. Dieser Dachev die Nixe brauchte ihn nicht in eine Partnerschaft zu locken, stimmt’s? Es war seine Idee.« Ich sah zu ihr hinauf.

»Einen Killer zu schicken, damit er einen Killer findet . . . und ich bin nicht der erste Killer, den ihr geschickt habt.«

39

Offenbar hatten die Parzen nach Janahs Begegnung mitder Nixe beschlossen, dass sie einen Kopfgeldjäger brauchten, der sich besser in seine Beute hineinversetzen konnte. Also hatten sie sich in ihren finstersten Höllendimensionen umgesehen und einen brauchbaren Kandidaten gefunden: einen paranormalen Serienmörder, der Reue für seine Taten gezeigt hatte.

Andrei Dachev.

Sie hatten mit Dachev einen Handel abgeschlossen. Wenn er die Nixe einfing, würde er in eine andere Dimension verlegt werden übler als meine eigene, aber sehr viel besser als die, die er zuvor bewohnt hatte. Wie ich hatte er einen Engel als Verbindungsoffizier zugeteilt bekommen, nicht Trsiel, sondern einen anderen Reinblütigen. Er hatte genau zwei Tage gebraucht, um diesen Aufpasser loszuwerden indem er die Parzen davon überzeugte, dass er besser arbeiten konnte, wenn er allein war.

Sobald er die Unterstützung eines Engels brauchte, würde er Bescheid sagen. Und bis dahin würde er sich täglich melden.

Nach vier Monaten hatte er die Nixe gefunden. Aber Verstärkung hatte er nicht angefordert. Er hatte sie selbst vom Körper ihrer Partnerin getrennt, und danach hatte er sie nicht etwa zu den Parzen zurückgezerrt und seine Belohnung eingefordert, sondern einen neuen Handel abgeschlossen mit der Nixe.

»Okay«, sagte ich, als die mittlere Parze in ihrem Bericht so weit gekommen war. »Dann ist er jetzt also wieder in seiner Serienmörderdimension, ja? Ich meine, er ist nicht geflüchtet oder so?«

»Nein, Eve. So schlecht sind unsere Sicherheitsmaßnahmen nicht. Die Nixe war «

»Ein Sonderfall, ich weiß. Aber wenn der Typ noch da unten ist, worauf warten wir dann? Ich gehe hin und rede mit ihm.«

Trsiel schüttelte den Kopf. »So einfach ist das nicht «

»Yeah, ich weiß, der Typ ist ein Killer und steckt in einer Höllendimension, aber so behütet bin ich ja auch nicht aufgewachsen. Wenn er weiß, wie man die Nixe zu fassen kriegt, hole ich es aus ihm raus. Ich weiß, wie man mit solchen Leuten redet.«

Kris grinste. »Und ich komme mit und helfe . . . bei den Verhandlungen. Wenn es zu Handgreiflichkeiten kommt, gebe ich dann einfach den Zuschauer.«

Die Parze seufzte tief und schüttelte den Kopf.

»Guter Plan«, sagte Trsiel. »Es gibt nur ein Problem dabei.«

»Nämlich?«

»Er lügt.«

»Bitte?«

»Dachev ist nicht vertrauenswürdig. Schockierend, sicher, aber «

»Verschon uns mit dem Sarkasmus, Trsiel«, sagte ich. »Wenn du keine Lösung anzubieten hast, mach dich nicht über meine lustig. Sicher ist der Typ nicht vertrauenswürdig, aber wenn ich ihn hinreichend unter Druck setze «

»Das kannst du nicht«, sagte die Parze. »Es gibt nur eine Möglichkeit, ihn zur Wahrheit zu zwingen. Indem man ihn auf das Schwert eines Engels schwören lässt.«

»Und bevor du jetzt fragst, warum ich das nicht selbst schon getan habe«, sagte Trsiel, »ich kann diesen Ort nicht betreten.

Kein reinblütiger Engel kann eine wirkliche Hölle betreten.

Die Aufgestiegenen können es . . . und Katsuo haben wir schon geschickt; er war der Einzige, der sich dazu bereit erklärt hatte.«

»Die einzige Methode, wie ich ihn zwingen könnte, die Wahrheit zu sagen, wäre also, ein Engel zu werden.« Ich sah von Trsiel zu der Parze hin. »Wie praktisch für euch.«

Kristof fuhr zu Trsiel herum. »Du intriganter Dreckskerl.«

Ich legte ihm die Hand auf den Arm. »Wenn hier jemand intrigiert, dann wahrscheinlich nicht Trsiel. Bisher war er der Einzige, der mir gegenüber aufrichtig war, was diese ganze Engelsache angeht, oder zumindest versucht hat, es zu sein.«

Ich sah die Parze an. »Gibt es da irgendwas, das ihr mir vielleicht erzählen wollt?«

Die Parze nickte. »Ja, Eve, wir haben dich als Kandidatin für den Aufstieg ausgewählt. Trsiel hat uns erzählt, dass du das schon herausgefunden hast . . . « Ein vorwurfsvoller Blick in seine Richtung. »Mit etwas Unterstützung von ihm. Wir wollten nicht, dass du es auf diese Weise erfährst, aber wir werden es nicht bestreiten. Trotzdem wird es immer deine Entscheidung sein. Wir würden dich niemals dazu zwingen.«

»Aber es kommt im Moment ja sowieso nicht drauf an ich kriege dieses Schwert nicht, bevor ich die Queste nicht abgeschlossen habe, und wenn ich sie abgeschlossen habe, brauche ich Dachev nicht mehr.«

»Die Antrittsqueste ist keine Zulassungsprüfung. Sie dient dazu, deinen Trainingsbedarf zu ermitteln. Aber es gibt auch noch eine andere, weniger verlässliche Methode. Wenn du kein Engel werden willst «

»Ich will nicht.«

Sie sah zu Kristof hin und dann wieder zurück zu mir. »Deine . . . Bindung an diese Welt ist also stärker geworden?«

»Ja.«

Sie nickte. »Dann ist diese Methode wohl besser geeignet.

Wie gesagt, es war deine Entscheidung, und wir werden dich in dieser Frage auch nicht unter Druck setzen, obwohl wir möglicherweise von Zeit zu Zeit Aufgaben für dich finden werden.«

»Das ist okay. Danke. Und diese andere Methode?«

»Wie du weißt, gibt es Formeln, mit denen man die Aufrichtigkeit eines Dämons prüfen kann. Es gibt auch Formeln, die das Gleiche bei einem Geist bewirken. Sie erfordern allerdings seine aktive Teilnahme er muss die entsprechenden Worte sagen, und du kannst ihn nicht durch Zwang oder Täuschung dazu bringen, es zu tun.«

»Okay. Ich muss also einen in einer Höllendimension steckenden Psychopathen dazu kriegen, mir freiwillig zu verraten, wie ich seine ehemalige Partnerin erwische «

»Das ist noch nicht alles.«

»Natürlich nicht.«

Kristof trat hinter mich und legte mir die Arme um die Taille.

Ich spürte seine Wärme im Rücken und entspannte mich etwas.

»Er kann dir weh tun, Eve.«

»Wer Dachev? Aber ich bin ein «

»Ein Geist, ja. Aber dort unten . . . dort gehört es dazu. Körperlicher Schmerz ist möglich, und wir können dich nicht davon abschirmen. Natürlich kann er dich nicht umbringen, aber er kann dir Schmerzen zufügen . . . und wir können den Schaden möglicherweise nicht vollständig beheben.«

»Aha. Na ja, ich brauche eigentlich keine zwei Arme.«

Kristof lachte leise an meinem Ohr.

Die Parze runzelte die Stirn. »Ich habe das Gefühl, du nimmst das Ganze nicht ernst, Eve.«

»Seht mal, angesichts dessen, was ihr sonst noch vorgeschlagen habt, nehme ich das Risiko auf mich, okay?«

»Wir nehmen es auf uns«, murmelte Kristof. »Ich komme mit dir.«

»Nein, Kristof«, sagte die Parze.

Er öffnete den Mund, um zu widersprechen, aber sie hob beide Hände und schnitt ihm das Wort ab.

»Wir lassen dich nicht mit Eve gehen. Was den Grund angeht, ich bin mir sicher, du kennst ihn. Vielleicht könntest du ihr helfen, aber du würdest sie auch behindern. Jeder, den wir mitgehen ließen, selbst Katsuo, könnte zu einer gefährlichen Ablenkung werden. An einem solchen Ort muss sie ständig auf ihre eigene Sicherheit bedacht sein.«

»Ich gehe allein«, sagte ich. »Das ist am besten. Eine Frage noch: Wenn der mir weh tun kann, kann ich ihm auch weh tun, oder?«

»Ja, aber . . . « Sie zögerte. »Ich habe gesagt, ich respektiere deine Entscheidung, nicht aufzusteigen, und ich tue nicht gern etwas, das nach Einflussnahme aussieht. Trotzdem . . . « Sie beugte sich vor. »Dies muss ich sagen es wäre unverzeihlich, es zu verschweigen. Wenn du dich in einer Situation finden solltest, in der ein Entkommen unmöglich ist, wäre der Aufstieg nach wie vor möglich. Du brauchst es nur zu wünschen, es wird dir augenblicklich gewährt werden. Dann wärst du unverwundbar und in der Lage, das Schwert einzusetzen. Aber du musst wissen, wenn du aufsteigst, können wir den Vorgang nicht mehr rückgängig machen.«

»Ich verstehe. Und jetzt erzählt mir von diesem Dachev.

Wenn er in euren Dimensionen steckt, muss er ja ein Paranormaler sein.«

»Er ist ein Zauberer.«

Ich ließ den Kopf nach hinten auf Kristofs Schulter fallen.

»Das musste kommen.«

Zauberer sind mit den Magiern verwandt, haben aber noch mehr Grund als ihre Brüder, Hexen zu hassen. Sie sind eine eher unterbegabte Spezies von Formelwirkern, und ich sage das ohne jeden Snobismus. Magier und Hexen können dar

über streiten, welche ihrer Spezies mächtiger ist, aber selbst ein Magier würde widerwillig zugeben, dass eine Hexe einem Zauberer jederzeit überlegen ist.

Jahrhundertelang gab es zwischen den männlichen Formelwirkern keine Unterscheidungen. Sie waren alle Magier und den Hexen unterlegen. Ursprünglich waren ihre Kräfte auf simple Tricks und Illusionen beschränkt, Dinge, wie man sie heutzutage auf Geburtstagsfeiern zu sehen bekommt. Dann kamen die Hexen wie die freigebigen Idioten, die sie so oft sind, auf die Idee, sich mit den Magiern zusammenzuschließen eine Bewegung, die die Gleichheit der Geschlechter anstrebte, tausend Jahre vor der Zeit der Suffragetten.

So brachten die Hexen den Magiern bei, ihre Fähigkeiten mit stärkeren Formeln und Beschwörungen auszubauen, und ein paar hundert Jahre lang lief alles bestens bis die Inquisition zuschlug und die Magier sich gegen die Hexen wandten. Aber all das ist lange her . . . wobei es die beiden Spezies nicht daran hindert, noch fünfhundert Jahre später ihren Groll gegeneinander zu hegen.

Zurück zu den ursprünglichen Unterscheidungen. Es gab Magier, die einfach nicht mithalten konnten. Ihre paranormalen Fähigkeiten reichten nicht aus, um zu lernen, was die Hexen ihnen beizubringen versuchten. Somit taten sie, was jede Gruppierung mit einem Rest von Einfallsreichtum und Stolz tut, wenn sie sich nicht in eine größere Gruppe eingliedern kann.

Diese Magier fanden eine neue Rolle für sich selbst, spalteten sich von ihren Brüdern ab und erklärten sich zu einer eigenen Spezies, den Zauberern. Statt sich ohne Aussicht auf Erfolg an der höheren Magie zu versuchen, konzentrierten sie sich auf ihre eigenen Stärken, die Befähigung zur Illusion und Taschenspielerei, und gaben sich mit ihrer Rolle zufrieden.

Ein nobles Stück Identitätsfindung, aber unglückseligerweise stellten sie bald fest, dass diese Befähigungen zu nicht allzu viel taugten. Es endete damit, dass die Zauberer sich in zwei Fraktionen aufspalteten, die der Zauberkünstler und die der Scharlatane, und diese Gruppen waren nicht immer sauber voneinander zu unterscheiden. Heutzutage fallen fast alle Zauberer, die es noch gibt, in die zweite Kategorie. In einer Welt, die an David Copperfield gewöhnt ist, zahlt niemand mehr Geld dafür, dass ihm irgendein Typ eine Münze hinterm Ohr herauszieht.

Aber in Bulgarien um das Jahr 1926 war das noch anders, und die Parzen erzählten mir, dass sich Andrei Dachev dort seinen Namen gemacht hatte. Er war in einem Land, das sich noch nicht von den Auswirkungen des Balkankonflikts und des Ersten Weltkriegs erholt hatte, von Stadt zu Stadt gezogen und hatte die Leute mit seinen Attraktionen unterhalten.

Dachev war ein sehr geschickter Zauberer, aber die Hauptattraktion seines Wanderzirkus war das Monstrositätenkabinett.

Und damit waren keine Schwert oder Feuerschlucker gemeint.

Dachevs Monstrositäten gehörten zu dem Typ, den Kinder sich als Mutprobe ansahen und von dem sie noch Wochen später Alpträume hatten. Sie waren mit schweren Missbildungen geboren oder hatten fürchterliche Unfälle erlitten, und alle waren junge Frauen, was den verbotenen Reiz des Ganzen erhöhte.

Drei Jahre lang zog Dachev durch Bulgarien und die Nachbarländer, wobei er sich an ländliche Gebiete hielt und die Großstädte mied, in denen seine Exponate vielleicht weniger gut angekommen wären. Und wenn im Lauf dieser Jahre gelegentlich ein Mädchen aus einer der kleinen Städte verschwand, in denen er Station gemacht hatte ja nun, Dachev war attraktiv und charmant und hatte ein Auge für das schöne Geschlecht, und derlei konnte passieren.

Irgendwann aber hatte eins der verschwundenen Mädchen einen Liebhaber, der die Erklärung, sie sei mit dem Zirkus auf und davon gegangen, nicht hinnehmen wollte. Er folgte Dachev, und bald darauf stellte er fest, dass die Zirkusmonstrositäten gar keine Opfer grausamer Mutationen oder verheerender Unfälle gewesen waren. Sie waren »gemacht« worden. Der junge Mann befreite seine Verlobte, bevor Dachev sich an ihr zu schaffen machte. Bei den übrigen Opfern aber verlegten sich die zuständigen Behörden darauf, ihnen ein schnell wirkendes Gift auszuhändigen und sie ihre Entscheidungen selbst treffen zu lassen. Sie entschieden sich ausnahmslos für den Tod, und Dachev wurde als mehrfacher Mörder hingerichtet.

»Und dieses . . . dieses Ding habt ihr also wieder auf die Welt losgelassen?«, fragte ich.

Die älteste Parze erschien, um mir zu antworten, ihr Mund war eine dünne, harte Linie. »Wir haben ihn nicht losgelassen «

»Yeah, er war ein Geist. Machtlos. Aber damit ist er ja klargekommen, nicht wahr? Und was zum Teufel glaubt ihr, was er in all den Jahren getrieben hat? Den Rosenkranz gebetet?

Der hat in seinen großen Zeiten geschwelgt und nur auf die Gelegenheit gewartet «

»Nein, das hat er nicht.«

»Oh, und das wisst ihr so genau, weil «

»Weil er nicht kann.« Sie machte eine Pause, und ihre jüngere Schwester übernahm das Wort. »Andrei Dachev hatte keine Erinnerungen an die Scheußlichkeiten, die er begangen hat, Eve. Das ist ein Teil ihrer Strafe. Wir nehmen ihnen die Erinnerungen an das Leben, das sie vor ihrem Tod geführt haben.

Sie können ihre Verbrechen, ihre Fantasien, sogar ihre Impulse nicht mehr an sich vorbeiziehen lassen. Dann schicken wir sie in eine Dimension, in der sie keine Gelegenheit haben, diese Impulse auszuleben, falls diese wieder auftauchen sollten.«

»Weil sie in einer von Killern bevölkerten Welt sind?«

Sie nickte. »Eine Welt ohne Opfer, sogar ohne diejenigen, die sie als potenzielle Opfer betrachten könnten. Keine weiblichen Killer, keine schwächeren Männer «

»Lauter Beutegreifer, keine Beute. Okay, er erinnert sich also nicht an seine Verbrechen. Aber was ist mit diesen Impulsen, von denen ihr geredet habt? Wenn er zum ersten Mal wieder ein hübsches Mädchen sieht, selbst wenn er sich nicht erinnern kann, jemals zuvor eins gesehen zu haben «

»Manchmal hat der Gedächtnisverlust noch eine zweite Auswirkung. Ihr Gedächtnis zu löschen, kann auch die Quelle dieser Impulse löschen. Wenn ihr Leben durch extreme Umstände geprägt wurde, durch Missbrauch in der Kindheit etwa, dann «

»Wenn sie sich nicht dran erinnern können, werden sie zu einer anderen Person, zu jemandem, der kein Killer ist?«

»Zugegeben, es geschieht sehr selten«, sagte die Parze. »Aber es geschieht. Und wir haben geglaubt, es wäre auch in diesem Fall passiert. Zehn Jahre lang hat Andrei Dachev keinerlei Anzeichen dafür erkennen lassen, dass er die Bedürfnisse empfand, die zu seinen Verbrechen geführt hatten.«

»Er hat den Mustergefangenen gespielt.«

»Gespielt. Ja, vermutlich, obwohl jeder Test den Anschein erweckte, dass er wirklich reformiert war. Vielleicht hat er selbst geglaubt, er wäre es.«