Kelley Armstrong
Nacht der
Geister
Ein magischer Thriller
Aus dem Amerikanischen von
Christine Gaspard
Knaur Taschenbuch Verlag
Die amerikanische Originalausgabe erschien 2005
unter dem Titel »Haunted« bei Orbit Books, London.
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Deutsche Erstausgabe September 2008
Copyright 2005 by KLA Fricke Inc.
Copyright 2008 für die deutschsprachige Ausgabe by Knaur Taschenbuch. Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München.
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf auch teilweise nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
Redaktion: Mareike Fallwickl
Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München Umschlagabbildung: FinePic, München
Satz: Adobe InDesign im Verlag
Druck und Bindung: Nørhaven Paperback A/S
Printed in Denmark
ISBN 9783426500071
Frankreich 1666
Marie Madeline zündete das Feuer unter der Schale an.Ein Luftzug aus dem leeren Kamin blies es aus. Sie verschob den metallenen Schirm vor der Feuerstelle, richtete die Schale aus und versuchte es noch einmal. Als die Flamme Fuß fasste, wirbelte Rauch durch das Zimmer und erfüllte es mit dem beißenden Geruch von verbrannten Haaren und dem süßen Duft von Rosmarin.
»Gib dich zu erkennen, meine Nixe«, sagte sie in deutscher Sprache, und ihre Zunge stolperte über die fremdartig klingenden Worte. Sie sprach den Rest der Beschwörung. Die Luft begann zu flackern.
»Du hast versagt . . . schon wieder«, flüsterte eine Frauenstimme.
MarieMadelines Finger zitterten. Ein paar heiße Aschebröckchen fielen aus der Schale und versengten ihr die Hand.
»Es war nicht meine Schuld. Du gibst mir nicht genug. Dies . . .
es ist nicht einfach. Ich brauche mehr.«
»Mehr?«, zischte die Stimme, die in ihrem Kopf zu kreisen schien. »Das ist nicht eine deiner Mixturen, Hexe. Du kannst nicht einfach weitertrinken, bis du genug hast. Was ich dir gebe, ist die Kraft des Willens, die dir vollkommen fehlt. Ob du sie auch einsetzt das ist deine eigene Entscheidung.«
»Aber ich will sie doch einsetzen. Gaudin muss gerächt werden, und ich muss meine Freiheit erhalten.«
Die Stimme der Nixe erklang an ihrem Ohr; die Worte trieben heran wie auf einem Strom heißer Luft. »Du bist eine Närrin, Marquise. Ein kleiner, wimmernder Wurm von einer Frau, der zufällig die Formel gefunden hat, um mich zu beschwören, und mich dann getäuscht und meine Zeit verschwendet hat.
Du willst gar nicht wirklich Entschlossenheit. Du möchtest losgesprochen werden. Du willst, dass ich für dich handle und dich von der Verantwortung und der Schuld des Vatermords befreie.«
»Nein. Ich würde dich niemals bitten«
»Ich werde es tun.«
Marie Madeline wurde still. »Du wirst . . . es tun?«
»Du bist nicht die Einzige, die sich an vergessenen Zaubereien versucht, Hexe. Ich kenne eine Formel, die ich schon immer verwenden wollte und bei der ich nur auf das richtige Gefäß gewartet habe auf ein würdiges Gefäß. Mit dieser Formel gibst du mir die Möglichkeit, deinen Körper in Besitz zu nehmen und die Tat zu begehen. Danach kannst du meinen Lohn empfangen und bei deinem Liebhaber den Anspruch erheben, sie selbst begangen zu haben.«
»Wie lautet die Formel? Sag sie mir jetzt gleich. Bitte! Gaudin wird ungeduldig.«
Das leise Lachen der Nixe waberte durch die Luft. »Und ich ebenfalls. Hör mir gut zu, Marquise, und wir werden dies vor Tagesanbruch vollendet haben.«
Die Nixe öffnete langsam die Augen. Sie lag auf dem Fußboden. Kerzen brannten ringsum; ihr Licht war so grell, dass sie blinzeln musste. Der Rauch stieg ihr in die Nase. Sie hustete unwillkürlich und fuhr zusammen die Erfahrung hatte sie überrascht. Sie hob die Hände. Menschliche Hände, weich und juwelengeschmückt. Die Hände der Marquise. Sie bog die Finger und ballte sie dann zur Faust. Die langen Nägel gruben sich in ihre Handfläche, und sie keuchte. Dies also war Schmerz. Wie . . . faszinierend. Sie grub die Nägel tiefer, ließ den Schmerz an ihren Armen hinauflaufen. Blut tropfte auf ihr Kleid. Sie berührte es, hob einen Finger an die Nase, atmete den Geruch ein, streckte dann die Zunge hervor und kostete es.
Die Nixe kam mühsam auf die Beine, taumelte und gewann das Gleichgewicht zurück. Sie hatte schon früher Menschengestalt angenommen, aber niemals so wie jetzt sie hatte noch nie ein lebendes Wesen bewohnt. Es war sehr anders. Mühsam . . .
und zugleich interessant. Sie hob den Kopf und sog die Luft ein. Die Dämmerung stand bevor. Es war Zeit, an die Arbeit zu gehen.
Sie trug die Suppe hinauf zum Vater der Marquise und genoss die Hitze, die durch die Schale drang und ihre Finger wärmte.
Es war so kalt hier; die Steinmauern ließen an jeder Ecke die Zugluft durch. Sie hatte die Bediensteten angewiesen, das Feuer zu schüren, aber diese murmelten nur etwas unbestimmt Gehorsames und verschwanden dann, ohne etwas zu tun. Es war eine Unverschämtheit. Wenn sie der Herr im Haus wäre . . .
aber dies war ja nur eine vorübergehende Inbesitznahme, mit der sie die Formel testete.
Als sie das Zimmer betrat, blickte sie zu dem alten Mann hinüber, der mit dem Rücken zu ihr im Sessel saß. Dann sah sie hinunter auf die Schale mit vergifteter Suppe in ihren Händen.
Dieses Mal war es wichtig, dass die Dosis richtig bemessen war.
Marie Madeline hatte das Gift zuvor an ihrer Zofe Françoise ausprobiert, aber das Mädchen war nicht gestorben, und so hatte MarieMadelines Liebhaber Gaudin SainteCroix die Dosis erhöht. Aber statt sie an einem neuen Versuchsobjekt zu testen, hatten die beiden entschieden, dass die Giftmenge jetzt ausreichen müsste.
Faule, unvollkommene Menschen und ihre faulen, unvollkommenen Halbheiten. Wie die Diener, die keine Lust hatten, die Schlossmauern zu verlassen und draußen Feuerholz zu hacken. Was sie ihnen für Lehren erteilen könnte. Vielleicht würde sie es ja tun. Als sie das Zimmer durchquerte, den Blick auf die Suppenschale gerichtet, wurde ihr mit einem kleinen Stich der Überraschung klar, dass der nächste Schritt ihre Entscheidung war. Sie konnte das Gift MarieMadelines Vater geben oder es stattdessen den faulen Dienern vorsetzen, die ihre Befehle ignoriert hatten. Zur Abwechslung einmal war sie es, die handelte; sie war nicht mehr bloß Zuschauerin.
Drei Jahrhunderte lang hatte sie dabeisitzen und hoffen müssen, dass die Menschen die Entschlossenheit nutzen würden, die sie ihnen schenkte. Kummer und Leid und Chaos waren ihr Lohn. Und wenn die Menschen versagten, blieb sie hungrig
hilflos wie ein Straßenbalg, der um eine Brotrinde bettelte. Bälger, das war auch der Name, den die Menschen den Kindern der Nixen gegeben hatten Wechselbälger. Als wüssten sie von der Macht, die sie über die QuasiDämonen hatten, und lachten über sie. Doch jetzt war sie hier, und in den Händen hielt sie die Macht, den Tod zu bringen, wo und bei wem sie es für richtig hielt. Sie lächelte. Vielleicht würde sie etwas länger bleiben, als MarieMadeline geplant hatte.
Als er ihre Schritte hörte, drehte MarieMadelines Vater sich um. »Du hättest das nicht selbst bringen müssen.« Sie knickste.
»Es ist die Pflicht und das Vorrecht einer Tochter, ihrem Vater zu dienen.« Er strahlte. »Und es ist die Freude eines Vaters, eine so pflichtgetreue Tochter zu haben. Jetzt siehst du, dass ich recht hatte bei Gaudin SainteCroix. Du gehörst zu deinem Gatten und deinem Vater.«
Sie neigte den Kopf. »Es war nichts als eine vorübergehende Vernarrtheit, die mich umso mehr beschämt, als sie Schande über meine Familie gebracht hat.«
»Wir wollen nicht mehr davon sprechen«, sagte er, während er ihr den Arm tätschelte. »Lass uns diesen Feiertag gemeinsam genießen.«
»Aber zuerst sollten Sie Ihre Suppe essen, Vater. Bevor sie kalt wird.«
Im Verlauf der nächsten vier Tage starb Aubrey einen langsamen und qualvollen Tod. Die Nixe blieb an seiner Seite und tat nach besten Kräften alles für ihn, was sie konnte. Sie wusste, dass ihn das nicht retten würde, aber es gab ihr eine Entschuldigung, zu bleiben und sein Leiden in sich aufzunehmen. Endlich lag er in ihren Armen, eine Haaresbreite vom Tod entfernt, und dankte ihr mit seinen letzten Worten für alles, was sie für ihn getan hatte. »Es war mir eine Freude«, sagte sie und lächelte, als sie ihm die Augen schloss.
Es dauerte sechs Jahre, bis die Nixe MarieMadelines überdrüssig geworden war und die Möglichkeiten erschöpft hatte, die das alberne kleine Leben ihr bot. Es wurde Zeit, sich etwas Neues zu suchen, neue Aussichten zu eröffnen . . . aber nicht, bevor sie nicht den letzten Rest von Amüsement aus diesem Leben gewrungen hatte. Zunächst tötete sie SainteCroix. Es war nicht persönlich gemeint. Er war ein guter Liebhaber und nützlicher Partner gewesen, aber sie brauchte ihn nicht mehr, außer zu dem Zweck, ihn seine Rolle im letzten Akt des Schauspiels spielen zu lassen. Er starb in seinem Laboratorium, wo er offenbar einem seiner eigenen Experimente zum Opfer gefallen war seine gläserne Maske musste im falschen Augenblick verrutscht sein. Nachdem sie der Polizei einen anonymen Hinweis auf SainteCroix’ Tod hatte zukommen lassen, rannte sie in aller Eile zu den Behörden und verlangte die Rückgabe eines Kastens aus dem versiegelten Laboratorium. Der Kasten gehörte ihr und sollte ihr verschlossen übergeben werden. Selbstverständlich war damit garantiert, dass die Polizei ihn öffnete. Im Inneren fand man den Schuldschein, den sie SainteCroix für das Gift gegeben hatte, mit dem der Marquis ermordet worden war, und dazu SainteCroix’ Vermächtnis an sie eine Auswahl von Giften, wie die französischen Behörden sie noch nie gesehen hatten. Die Marquise floh aus Paris und suchte Zuflucht in einem Kloster. Der Prozess begann, und MarieMadeline, die nicht erschienen war, um sich zu verteidigen, wurde zum Tode verurteilt. Und so nahmen die Dinge ihren Lauf.
Die Nixe kehrte nach Paris zurück in dem Wissen, dass MarieMadeline bald verhaftet werden würde. Sie nahm ein ruhiges Zimmer in einem Wirtshaus, legte sich aufs Bett, schloss die Augen und sprach eine Formel, um die Inbesitznahme von MarieMadelines Körper zu beenden. Nach ein paar Minuten öffnete sie die Augen und hob eine Hand. Immer noch menschlich.
Sie knurrte etwas, schloss die Augen wieder und sprach die Formel erneut. Nichts geschah. Sie fauchte, sammelte ihre Geistgestalt wie in einer Kugel und schleuderte sich aufwärts, während sie die Worte von neuem sprach; ihre Stimme wurde lauter und füllte sich mit Rage, als ihre Seele an die menschliche Gestalt gekettet blieb. Zwei Stunden lang warf sie sich gegen die Wände aus Fleisch, die ihr menschliches Gefängnis bildeten.
Dann begann sie zu schreien.
Nicolette spähte über die Menschenmenge hinweg, die sich in dem Hof versammelt hatte, und betete darum, niemanden zu sehen, den sie kannte. Wenn ihre Mutter herausfand, dass sie hier war . . . sie schauderte und meinte bereits die scharfe Zunge ihrer Mutter zu hören. Der Tod ist kein Schauspiel, würde sie sagen. Nicolette müsste das besser wissen als irgendjemand sonst. Aber sie war nicht hier, weil sie sehen wollte, wie die Marquise de Brinvilliers starb . . . nicht wirklich. Es war das Schauspiel rings um das Schauspiel selbst, das sie anzog, die Gelegenheit, Teil von etwas zu sein, über das man in Paris noch jahrelang sprechen würde.
Ein junger Mann schob sich durch die Menge und versuchte Pamphlete zu verkaufen, in denen die Folterung der Marquise beschrieben wurde. Als er Nicolette entdeckte, grinste er, und sein Blick glitt über ihren Körper.
»Eine Broschüre, meine Dame«, sagte er, während er ihr eines der Hefte hinhielt. »Eine kleine Aufmerksamkeit von mir.«
Nicolette warf einen Blick auf das Papier. Die Vorderseite war mit der rohen Zeichnung einer nackten Frau geschmückt; ihr Körper wölbte sich wie unter einem Liebhaber, die Glieder waren auf einem Tisch festgebunden, ein Trichter ragte ihr aus dem Mund, und ihr Gesicht war verzerrt vor Qual. Nicolette erschauerte und wandte den Blick ab. Eine alte Frau zu ihrer Linken begann zu gackern. Der Pamphletverkäufer drängte sich näher an Nicolette heran und öffnete den Mund, aber ein dazukommender Mann schnitt ihm das Wort ab und schickte ihn mit ein paar kurzen Bemerkungen fort. »Sie sollten nicht hier sein, meine Dame«, grollte er ihr ins Ohr, als der Verkäufer verschwunden war. »Das hier ist nicht der richtige Ort für Sie.«
Nein, der richtige Ort für sie war oben auf den Balkonen, wo sie einen freien Blick hatte und sich mit Kuchen und Wein stärken konnte. Nicolette hatte versucht, sich zu verkleiden, um auszusehen wie die einfachen Leute, aber sie merkten es immer.
Sie wollte sich gerade einen anderen Platz suchen, als die Gefängnistore sich öffneten. Eine Gruppe von Menschen erschien.
In ihrer Mitte befand sich eine winzige Frau, nicht größer als eineinhalb Meter, deren schmutziges Gesicht noch Anzeichen der Schönheit erkennen ließ, die sie einmal besessen haben musste. Sie war barfuß und trug ein einfaches Hemd. Sie stolperte vorwärts, behindert und gehalten von den Stricken, mit denen sie gefesselt war, einen um die Handgelenke, einen um die Taille und einen um den Hals.
Als ein Büttel die Marquise mit einem Ruck nach hinten zog, hob sich ihr Kopf, und zum ersten Mal erblickte sie die Menschenmenge. Ihre Lippen kräuselten sich, und ihr Gesicht verzog sich zu einer so entsetzlichen Grimasse, dass die alte Frau neben Nicolette zurückwich und nach ihrem Rosenkranz griff. Als die Marquise die Zähne bleckte, schienen ihre Gesichtszüge seltsam zu verschwimmen, als versuchte ihr Geist, sich freizukämpfen. Nicolette hatte schon mehrmals Geister gesehen. Sie besaß diese Fähigkeit, seit sie ein Kind gewesen war so wie auch ihre Mutter und ihr Großonkel. Aber jetzt, als der Geist der Marquise sich zeigte, wich jeder Mensch ringsum mit einem kollektiven Keuchen zurück. Nicolette warf einen verstohlenen Blick in die Runde. Die anderen hatten es also auch gesehen? Der Büttel stieß die Marquise auf einen Karren.
Für diese Reise wartete keine vergoldete, von Pferden gezogene Karosse. Ihr Fahrzeug war ein schmutziger Karren, kaum groß genug, um sie aufzunehmen; verdrecktes Stroh bedeckte den Boden. Die Marquise musste darauf kauern wie ein Tier, und sie fauchte und fluchte noch, als das Fahrzeug den Hof verließ.
Rings um Nicolette begann die Menge sich in Richtung NotreDame in Bewegung zu setzen. Sie zögerte; sie war sich sicher, dass sie den letzten Abschnitt dieser Reise der Marquise nicht sehen wollte. Aber die Meute schob sie mit sich, und nach ein paar schwachen Versuchen, sich zur Wehr zu setzen, gab sie auf.
Das Schafott war vor der Kathedrale errichtet worden.
Nicolette sah zu, wie die Marquise die Stufen hinaufgezerrt und in die Knie gezwungen wurde und man ihr das lange Haar abschnitt.
Nicolette hatte eine bessere Sicht auf das Geschehen, als ihr lieb war, aber die Menschenmenge hinter ihr war so dicht, dass sie nicht flüchten konnte. Als sie versuchte, ihre Aufmerksamkeit vom Schafott abzuwenden, trat ein Mann aus der Menge hervor. Ein Ausländer mit olivfarbener Haut und dunklem, welligem Haar. Das allein hätte ausgereicht, um ihre Aufmerksamkeit zu erregen; was ihren Blick aber festhielt, war seine Schönheit. Nicolette mochte von sich selbst glauben, dass sie über derlei Dinge erhaben war, aber jetzt ertappte sie sich dabei, dass sie den Mann anstarrte wie ein Mädchen aus der Klosterschule. Er sah aus wie ein Soldat nicht aufgrund seiner Kleidung, die vollkommen unauffällig war, sondern wegen seiner Haltung. Ein Mann, der Aufmerksamkeit erregte . . . aber niemand sah in seine Richtung. Für Nicolette konnte das nur eins bedeuten. Er war ein Geist. Der Geist stieg die Stufen zum Schafott hinauf. Oben angekommen, blieb er stehen und nahm Haltung an, während der Henkersknecht noch immer das Haar der Marquise abhackte. Ganz offensichtlich wollte der Geist einen Platz in der ersten Reihe. War er eines von den Opfern der Marquise gewesen? Endlich, als der Henker seine Axt vom Boden hob, streckte der Geist die Hände aus, die Handflächen nach oben gedreht. Es war eine seltsame Gebärde als wollte er sich überzeugen, ob es regnete. Seine Lippen bewegten sich.
Etwas schimmerte in seinen Händen und nahm dann Gestalt an. Ein Schwert. Ein riesiges, glänzendes Schwert. Als seine Hand hinunter bis zum Heft glitt, wurde Nicolette klar, was er war, und sie fiel auf die Knie und bekreuzigte sich. Trotz der dichten Menge hatte der Engel die Bewegung bemerkt, und seine Augen fingen ihren Blick auf. In dieser Sekunde jagte ihr jede Verfehlung durch den Kopf, die sie jemals begangen hatte, und ihr wurde kalt in der Gewissheit, dass sie gerichtet . . . und in der Waage für zu leicht befunden wurde. Die Lippen des Engels verzogen sich zu der Andeutung eines Lächelns, und er neigte kurz den Kopf, beiläufig wie ein Nachbar bei einer zufälligen Begegnung. Dann kehrte sein Blick zu der Marquise zurück, und sein Ausdruck wurde hart. Die Axt des Henkers sauste herab. Ein Seufzer stieg von der Menschenmenge auf, als der Kopf der Marquise auf der Plattform aufschlug. Aber Nicolette sah ihn nicht fallen. Stattdessen starrte sie wie gebannt auf den gelben Nebel, der vom Körper der Marquise aufstieg. Der Nebel wirbelte, wurde dichter und begann die Gestalt einer jungen Frau anzunehmen. Der Engel hob sein Schwert, und seine Stimme stieg auf, so klar und melodisch wie die Glocken von NotreDame: »MarieMadeline d’Aubrey de Brinvilliers, für deine Verbrechen bist du gerichtet worden.« Als er das riesige Schwert hob, warf der Geist, der aus dem Körper der Marquise hervorströmte, den Kopf zurück und lachte.
»Ich bin nicht die Marquise, du Narr«, fauchte er.
Die Stirn des Engels legte sich in Falten; sein verwirrter Blick war so menschlich wie das Nicken, das er zuvor Nicolette geschenkt hatte. Das Schwert war bereits in Bewegung, auf den Geist zu.
Die Lippen des Geistes verzogen sich. »Du hast keine Befugnisse über « Als das Schwert ihn erreichte, stieß der Geist einen Schrei aus, bei dem Nicolette sich zusammenkrümmte, die Hände über den Ohren. Überall um sie herum stießen und drängten die Leute, um einen Blick auf die Leiche der Marquise werfen zu können, bevor man sie fortschaffte; keiner von ihnen hörte die Schreie. Nicolette hob den Kopf. Dort auf der Plattform stand der Engel, den Geist auf der Schwertklinge aufgespießt. Das Ding krümmte sich und schrie und fluchte, aber der Engel lächelte nur.
Dann waren sie verschwunden.
1
Komm schon«,flüsterte Savannah,währendsiedenjungen Mann an der Hand weiterzog. Sie kletterte über den hölzernen Zaun, der zum Garten eines schmalen einstöckigen Hauses führte.
»Vorsicht, die Rosen«, sagte sie, bevor seine Füße mitten in dem Beet landen konnten. »Wir müssen diesen Weg nehmen, sonst fängt der alte Typ nebenan wieder an zu meckern, weil ich Freunde da habe, wenn sonst keiner zu Hause ist.«
»Yeah«, sagte der Junge. »Meine Leute machen deswegen auch dauernd Theater.«
»Oh, Paige und Lucas stört’s nicht, solang ich hinterher aufräume und keine Monsterpartys schmeiße. Na ja, vielleicht würde es sie stören, wenn sie wüssten, dass ich einen Typ einlade.
Aber wenn dieser alte Kerl sieht, dass ich jemanden mitbringe?
Dann fängt er an, den Leuten zu erzählen, dass Paige und Lucas sich nicht richtig um mich kümmern, lauter solchen Mist. Den würde ich am liebsten « Sie verschluckte den Rest des Satzes und zuckte die Achseln. »Ihm ordentlich die Meinung sagen oder so.«
Ich war keine sechs Schritte hinter ihnen, aber sie drehten sich nicht um, warfen nicht einmal einen Blick über die Schulter. Manchmal geht mir das wirklich auf die Nerven. Ja, sicher, alle Teenager ignorieren ihre Mütter. Und ja, natürlich hatte Savannah eine gute Entschuldigung, weil ich nämlich seit drei Jahren tot war. Trotzdem, man sollte doch meinen, wir hätten eine stärkere Bindung dass sie mich auf irgendeine Weise hören würde, und wenn es nur als eine Stimme im Kopf wäre, die ihr zuflüsterte: »Hör nicht auf dieses Mädchen«
oder: »Der Junge ist die Mühe nicht wert«. Doch das passierte nie.
Im Leben war ich eine der mächtigsten Frauen der paranormalen Welt gewesen, eine AspicioHalbdämonin und eine Hexenmeisterin der Schwarzen Künste. Jetzt war ich ein drittklassiger Geist, der nicht mal Kontakt zu seiner eigenen Tochter aufnehmen konnte. Mein Jenseits war wirklich das Letzte.
Savannah führte den Jungen durch den Schuppen, wo sie ihn von Lucas’ neuestem MotorradRestaurationsprojekt fortzerren musste, ins Haus. Die Hintertür schlug sie mir vor der Nase zu. Ich ging durch sie hindurch.
Sie zogen die Schuhe aus und liefen die Stufen zur Küche hinauf. Savannah marschierte geradewegs zum Kühlschrank und holte Zutaten für Sandwiches heraus. Ich ging an ihnen vorbei ins Wohnzimmer und richtete mich an meinem Lieblingsplatz ein, in einem buttergelben Ledersessel.
Es war die richtige Entscheidung gewesen, Savannah zu Paige zu schicken. Es war durchaus möglich, dass es die intelligenteste Entscheidung gewesen war, die ich je getroffen hatte.
Natürlich, wenn ich wirklich intelligent gewesen wäre, dann hätte Savannah gar nicht erst jemanden gebraucht, der sie aufnahm. Ich hätte es nicht so mörderisch eilig gehabt, aus dieser Anlage zu entkommen, hätte es nicht fertiggebracht, mich dabei umbringen zu lassen, hätte mein kleines Mädchen nicht in Gefahr gebracht . . . Ja, ich hatte Mist gebaut, aber ich würde das jetzt wiedergutmachen. Ich hatte versprochen, über meine Tochter zu wachen, und ich würde es tun . . . sobald ich heraushatte, wie das ging.
Savannah und ihr Freund nahmen ihre Sandwiches mit ins Esszimmer. Ich beugte mich vor und warf einen Blick um die Ecke, nur einen ganz kurzen Blick für den Fall . . . Für welchen Fall, Eve? Für den Fall, dass ihr eine Essigzwiebel im Hals stecken blieb? Ich brachte die allzu vertraute Stimme in meinem Inneren zum Schweigen und wollte mich gerade in meinem Sessel zurücklehnen, als ich noch eine dritte Person im Esszimmer bemerkte. Auf einem ans vordere Fenster gezogenen Stuhl saß eine grauhaarige Frau, den Kopf gesenkt; ihre Schultern zitterten unter lautlosen Schluchzern.
Savannah ging an der Frau vorbei und setzte sich auf einen Stuhl auf der anderen Seite des Tischs. »Hast du gehört, dass Ms. Lenke vielleicht nicht mal rechtzeitig für die städtischen Meisterschaftsspiele zurück sein kann? Sollte sie aber. Callahan kann doch einen Deadball nicht von einem Freeball unterscheiden.« Der Junge schnaubte. »Würde mich wundern, wenn der Idiot einen Basketball von einem Fußball unterscheiden könnte.
Bei dem Training letzte Woche . . . «
Ich hörte weg und konzentrierte mich stattdessen auf die Frau. Als ich näher trat, konnte ich ihr ersticktes Schluchzen hören. Ich seufzte und lehnte mich an den Rahmen der Esszimmertür.
»Sieh mal«, sagte ich. »Was immer dir auch zugestoßen ist, ich bin sicher, dass es übel war, aber du musst drüber wegkommen. Geh ins Licht oder schlag dreimal die Fersen zusammen oder was auch immer. Tritt endlich über, Geist.«
Die Frau sah nicht einmal auf. Das Einzige, was noch schlimmer ist als ein sturer Geist, ist ein unhöflicher Geist. Ich hatte die alte Frau hier schon mindestens ein Dutzend Mal gesehen, seit die jungen Leute eingezogen waren, und sie hatte nicht ein einziges Mal auch nur erkennen lassen, dass sie meine Anwesenheit bemerkte. Niemals gesprochen. Niemals diesen Stuhl verlassen. Niemals aufgehört zu weinen. Und ich bildete mir ein, ich hätte ein lausiges Jenseits.
Ich ließ meine Stimme sanfter klingen. »Du musst dich endlich lösen. Du verschwendest deine Zeit « Sie verblasste und war verschwunden. Also wirklich, Leute gibt’s.
»Wo ist diese neue Anlage, die du da hast?«, fragte der Junge, den Mund voller Mehrkornbrot.
»In meinem Zimmer.« Savannah zögerte. »Willst du raufkommen und sie ansehen?«
Der Junge sprang so schnell auf, dass sein Stuhl nach hinten kippte. Savannah lachte und half ihm, ihn wieder hinzustellen.
Dann griff sie nach seiner Hand und führte ihn zur Treppe.
Ich blieb unten. Eine Minute später ließ Musik das Haus erzittern. Nichts, was ich gekannt hätte. Drei Jahre tot, und in punkto Jugendkultur war ich jetzt schon von vorgestern. Nein, Moment. Ich erkannte das Stück. »(Don’t Fear) The Reaper« . . .
aber die Technoversion. Wer zum Teufel war das? Nicht Blue Oyster Cult, so viel war sicher. Was für ein Müll ? Oh Gott, ich wurde gerade zu meiner Mutter. Mein ganzes Leben lang hatte ich das vermieden, und jetzt
Ein Mann kam durch die Wand. Eine Handbreit größer als ich. Ein Jahrzehnt älter. Breite Schultern. Die Taille dicker als früher, das blonde Haar dünner. Umwerfende, leuchtend blaue Augen, deren Blick meinem zur Treppe hin folgte.
»Und wobei braucht unsere Tochter jetzt wieder verzweifelt deine Hilfe?«, fragte er.
Kristof Nasts Beitrag zu »unserer Tochter« war rein biologischer Natur gewesen er war erst wenige Tage vor dem Ende seines eigenen Lebens in ihrem aufgetaucht. Meine Entscheidung, nicht seine. Nachdem ich schwanger geworden war, verschwand ich. Es hatte dreizehn Jahre und einen tödlichen Schlag auf den Schädel gebraucht, aber er hatte mich schließlich doch noch aufgetrieben.
Er legte den Kopf schief, horchte auf die Musik und verzog das Gesicht. »Na ja, wenigstens ist sie aus der BoygroupPhase raus. Und es könnte schlimmer sein. Bryce hatte es mit Heavy Metal, dann Rap, dann HipHop, und bei jeder Phase hätte ich geschworen, die nächste könnte zumindest nicht mehr schlimmer sein, aber er hat jedes Mal was gefunden « Kristof unterbrach sich und wedelte mit der Hand vor meinen Augen herum.
»Komm schon, Eve«, sagte er. »Savannahs Geschmack mag etwas zweifelhaft sein, aber sie braucht keine musikalische Überwachung.«
»Psst. Hörst du irgendwas?«
Er hob die Augenbrauen. »Außer einer schlecht gestimmten Bassgitarre und einem Gesang, den ich auch einem kastrierten Straßenkater zutrauen würde?«
»Sie hat einen Jungen da oben.«
Ein weiteres Stirnrunzeln, nachdrücklicher diesmal.
»Was für eine Sorte Junge?«
»Mensch.«
»Ich meine, welche ›Sorte‹ Junge. Das ist doch nicht derselbe, der « Er schloss mit einem hörbaren Zähneklicken den Mund.
Dann ging er zu der Stimme über, die ich so gut kannte, der Stimme, die ich in Gedanken hörte, wenn Kris selbst nicht da war. »Okay. Savannah hat also einen Jungen in ihrem Zimmer.
Sie ist fünfzehn. Wir wissen beide, dass sie nicht da oben sind, um für eine Klassenarbeit zu lernen. Was genau sie treiben
ist das wirklich eine Frage, die uns etwas angeht?«
»Ich mache mir keine Sorgen wegen Sex, Kris. Sie ist ein intelligentes Mädchen. Wenn sie so weit ist und ich glaube nicht, dass sie es ist , wird sie Vorsorge treffen. Aber was, wenn er so weit ist? Ich kenne den Typ kaum. Er könnte «
»Sie zu irgendwas zwingen, das sie nicht will?« Sein Lachen donnerte durch den Vorraum. »Wann hat dich das letzte Mal jemand gezwungen, etwas zu tun, das du nicht tun wolltest? Sie ist deine Tochter, Eve. Der erste Typ, der die Finger irgendwo hinlegt, wo sie sie nicht haben will, kann sich glücklich schätzen, wenn er sie nicht verliert.«
»Ich weiß, aber «
»Was, wenn sie die Musik da oben doch noch leiser drehen?
Willst du wirklich hören, was dann vorgeht?«
»Natürlich nicht. Deswegen bleibe ich ja hier unten. Ich möchte nur sicherstellen «
»Du kannst überhaupt nichts sicherstellen. Du bist tot. Der Junge könnte sie mit einer Schusswaffe bedrohen, und es gäbe nichts auf der Welt, das du dagegen tun könntest.«
»Ich arbeite dran!«
Er seufzte. »Du arbeitest jetzt seit drei Jahren dran. Und du bist genauso weit wie am Anfang.« Er zögerte und sprach dann entschlossen weiter. »Du solltest ein bisschen Abstand gewinnen. Mach mal Urlaub.«
»Um was zu tun?«
»Na ja, komisch, dass du das fragst. Das ist es nämlich, wor
über ich mit dir reden wollte. Ich habe zufällig gerade einen Zeitjob, den ich dir anbieten könnte. Voller Abenteuer, Geheimnis, vielleicht sogar eine Spur Gefahr . . . «
»Nur eine Spur?«
Er grinste. »Kommt drauf an, wie du die Sache angehst.«
Ich zögerte und sah die Treppe hinauf. »Wir reden nachher drüber.«
Kristof warf die Hände hoch und verschwand durch die Wand. Ich ließ mich auf die unterste Stufe plumpsen. Zwischen Savannah und mir bestand eine ganz besondere Verbindung, die er unmöglich verstehen konnte . . . und jetzt wünschte ich bloß, das wäre auch noch wahr. Kris hatte seine beiden Söhne allein aufgezogen, nachdem seine Frau ihn verlassen hatte, als der jüngere noch Windeln trug. Als wir uns erst kurz kannten, bekam ich mit, wie seine Sekretärin Kris benachrichtigte, dass Sean bei einem Baseballspiel einen Schlag auf den Kopf bekommen hatte. Obwohl die Verletzung seines Sohnes kaum mehr als eine Beule war, sagte Kris ein wichtiges Geschäftsessen ab und nahm das nächste Flugzeug nach Hause. Und das war der Moment, in dem meine Meinung von ihm mit dem langsamen Aufstieg begann, dessen Ergebnis dann letzten Endes Savannah gewesen war.
An diesem Punkt allerdings war es zu Ende gegangen. Als mir aufging, dass ich eine schwarze Hexe war, die gerade den Bastard eines Kabalenerben austrug, war ich nicht dumm genug, um zu warten, was seine Familie dazu zu sagen hatte. Und was die Frage anging, was Kristof selbst davon gehalten hatte, dass ich verschwand und seine Tochter mitnahm . . . na ja, ich hatte zwölf Jahre mit dem Versuch verbracht, nicht dar
über nachzudenken. Ich hatte gewusst, dass ich einen Fehler gemacht hatte, einen Fehler in einer Größenordnung, die nur noch von meiner letzten Fehlentscheidung in Winsloes Anlage übertroffen wurde.
Aber zwölf Jahre lang hatte ich immerhin in meinem schlechten Gewissen schwelgen und mir selbst erzählen können, dass es Kristof vollkommen gleichgültig gewesen wäre, ob ich Savannah mitnahm oder nicht. Bockmist natürlich. Aber dass er nicht da gewesen war, um zu widersprechen, hatte es mir einfacher gemacht . . . bis zu dem Zeitpunkt ein halbes Jahr nach meinem Tod, als ich gesehen hatte, wie er um das Sorgerecht für sie kämpfte und bei dem Versuch starb, sie zu schützen.
Oben war die Musik zu Ende. Savannah legte eine andere CD
ein . . . oder wechselte die MP3s . . . oder was es heutzutage eben war. Das nächste Stück begann, etwas Langsameres, das leise genug war, dass ich Gekicher und Gemurmel hören konnte.
Zum Teufel, Kris hatte recht. Meiner Tochter ins Einkaufszentrum zu folgen war eins. Zuzuhören, wenn sie mit einem Jungen herumknutschte, war falsch. Und daneben. Aber jetzt steckte ich hier fest. Wenn Kristof herausfand, dass ich gleich nach ihm ebenfalls gegangen war, würde er wissen, dass ich seine Argumentation eingesehen hatte, und ich war einfach nicht bereit, das zuzugeben. Vielleicht
Ein kurzer Fluch kam aus dem Wohnzimmer. Ich tat einen vorsichtigen Schritt auf die Ecke zu. Im Leben wäre ich sofort hingegangen, eine Formel in der Hinterhand. Aber hier? Na ja, hier lagen die Dinge etwas anders.
Kristof trat hinter dem Sofa hervor und zupfte etwas, das aussah wie Spinnweben, von seinem zerknitterten Hemd. Am Hinterkopf stand sein Haar senkrecht nach oben, als hätte jemand mit einer elektrisch aufgeladenen Hand hindurchgestrichen.
Seine Krawatte war zerfetzt. Er schüttelte sich kurz und heftig wie ein nasser Hund. Danach war sein Äußeres wieder makellos . . . bis auf die Krawatte, die zwischen den Hemdknöpfen steckte. Ich zog sie heraus und strich sie glatt.
»Lass mich raten«, sagte ich. »Falsche Ausfahrt . . . wieder mal?«
Er zuckte ratlos die Achseln. »Du weißt ja, wie ich bei Formeln bin.«
»Uhoh.«
Ich sah zurück zur Treppe. Von oben kam ein Seufzer.
Ich wandte mich wieder an Kris. »Mitfahrgelegenheit?«
»Bitte.«
2
Fortbewegung ist meine Spezialität im Jenseits meine Aufgabe, Savannah zu helfen, hat es mit sich gebracht, dass ich eine Menge Zeit mit dem Aufspüren von Quellen verbracht habe. In anderen Bereichen der Geisteraktivität bin ich nicht ganz so gut, wobei ich nicht glaube, dass die Parzen mich wirklich dreimal in diesen verdammten Einführungskurs hätten schicken müssen.
Mein Jenseits ist eine Version der Erde mit ein paar merkwürdigen Unterdimensionen, denen wir nach Kräften aus dem Weg zu gehen versuchen. Jeder seiner Bewohner ist ein Paranormaler, obwohl nicht alle Paranormalen hier sind. Als ich starb, war mein erster Gedanke nach dem Aufwachen: »Prima, jetzt kriege ich endlich raus, was als Nächstes kommt.« Na ja, strenggenommen war das mein zweiter Gedanke, nach dem:
»Hmm, ich hätte ja gedacht, es würde heißer sein.« Ja, ich war der Flammenhölle entgangen, die mir meine Mutter und viele andere immer vorausgesagt hatten, aber beim Sterben hatte ich nicht herausgefunden, was als Nächstes kam nur, was für mich als Nächstes kam. Gab es anderswo ewige Glut und Höllenfeuer? Gab es Heiligenscheine und himmlisches Harfenspiel? Ich habe keine Ahnung. Ich weiß nur, dass der Ort, an dem ich bin, besser ist als das, was ich mir erwartet hatte, deshalb werde ich mich kaum beschweren.
Ich setzte Kristof vor den Stufen des Gerichts ab. Ja, es gibt Gerichtsgebäude hier. Die Parzen kümmern sich um die bedeutenderen Disziplinarfragen, aber Streitigkeiten unter den Geistern lassen sie uns selbst beilegen. Daher das Gericht, an dem Kristof arbeitete. Nicht, dass er im wirklichen Leben jemals Jura betrieben hätte. Er hatte in der Firma seines Vaters gearbeitet. Aber jetzt spielte er den Anwalt im Jenseits. Sogar er selbst gab zu, dass dies nicht seine erste Wahl gewesen war, als er sich eine neue Laufbahn suchen musste, aber solange sie keine Jenseitsversion der National Hockey League gründeten, würde er wohl dabei bleiben müssen.
Und da wir gerade von Jobs sprachen . . . Kristof hatte recht.
Ich brauchte wirklich ein bisschen Abwechslung. Ich hatte das seit einer ganzen Weile gewusst, konnte es mir aber nicht eingestehen. Ich wusste, Kris’ Zeitjob würde nicht die Sorte von Tätigkeit sein, die bei den Parzen gut ankam, aber das war eher Anreiz als Hindernis.
Der Gedanke war mir kaum gekommen, als ein bläulicher Nebel aufstieg und mir um die Beine zu wirbeln begann. »Hey, ich hab doch bloß «
Der Nebel saugte mich in den Boden hinunter.
Die Sucher lieferten mich im Thronsaal der Parzen ab, einer riesigen, weißen Marmorhöhle mit beweglichen Mosaiken an den Wänden. Die Parzen sind die Hüterinnen der paranormalen Ebenen der Geisterwelt, und sie lassen uns eigentlich nur dann kommen, wenn wir Mist gebaut haben. Als der Fußboden sich also zu drehen begann, wappnete ich mich. Als das mit dem Drehen nicht schnell genug ging, bewegte ich den Kopf, um den Parzen selbst gegenüberzutreten. Auf einer Estrade war ein hübsches Mädchen gerade dabei, Wolle auf ein Spinnrad zu stecken. Sie sah aus, als wäre sie nicht älter als fünf oder sechs, und sie hatte leuchtend violette Augen, die zu ihrem Kleid passten.
»Okay«, sagte ich. »Was hab ich also angestellt?«
Das Mädchen lächelte. »Sollte das nicht eher heißen ›Was habe ich diesmal angestellt?‹«
Ich seufzte, und keinen Lidschlag später hatte sich das Mädchen in eine ältere Version seiner selbst verwandelt, eine Frau mittleren Alters mit langem, ergrauendem dunklem Haar und hellbrauner Haut, die erste Fältchen erkennen ließ.
»Wir haben ein Problem, Eve.«
»Seht mal, ich habe versprochen, ich würde die Codes nicht zum exzessiven unautorisierten Reisen verwenden. Ich habe nie gesagt «
»Es geht hier nicht ums unautorisierte Reisen.«
Ich dachte einen Moment nach. »Dass ich Adena Milan besucht habe, um Formeln auszutauschen? Hey, das war wirklich ein Irrtum. Keiner hatte mir erzählt, dass sie auf der Schwarzen Liste steht.«
Die erwachsene Parze schüttelte den Kopf. »Ich gebe zu, es könnte ganz unterhaltsam sein, dich die gesamte Liste deiner Regelverletzungen herunterbeten zu lassen, aber ich fürchte, dafür haben wir nicht die nötige Zeit. Vor achtzehn Monaten haben wir einen Handel abgeschlossen. Wenn wir Paige und Lucas in die Welt der Lebenden zurückkehren ließen, würdest du uns einen Gefallen schulden.«
»Oh . . . das.«
Verdammt. Da die Angelegenheit nicht mehr zur Sprache gekommen war, hatte ich gehofft, sie hätten sie vergessen. Als ob das jemals passieren würde. Die Parzen erinnern sich daran, was Noah am Morgen der Sintflut zum Frühstück gegessen hat.
Meine erste Eingebung war, mich irgendwie herauszuwinden. Zum Teufel, was konnte schon passieren?
Na ja, für den Anfang könnten sie dann ihre Seite der Abmachung ebenfalls aufkündigen und Paige und Lucas in die Geisterwelt zurückholen. Also in diesem Fall kam Herauswinden wohl nicht in Frage. Außerdem, ich hatte mich wirklich nach Abwechslung gesehnt. Was dieses ganze Zusammentreffen von Umständen etwas verdächtig erscheinen ließ.
»Hat Kristof euch darauf angesetzt? Mir was zu tun zu verschaffen?«
Die Parze verwandelte sich in die älteste Schwester, eine bucklige Alte, deren runzliges Gesicht einen Ausdruck permanenter Missbilligung trug.
»Kristof Nast setzt uns auf gar nichts an.«
»Ich habe damit nicht sagen wollen «
»Und wir kämen nicht im Traum darauf, seiner Sorte Gefallen zu tun. Wir dachten, sein Anwaltsjob würde ihm genug Beschäftigung geben.« Sie schnaubte. »Was er ja auch tut. Und Gelegenheit, Schwierigkeiten zu machen.«
»Wenn ihr diese AgitoGeschichte meint, das war nicht Kris’
Schuld. Der Kläger hat angefangen zu lügen, Kris musste irgendwas unternehmen. Es war nicht wirklich Beeinflussung von Zeugen «
»Sondern einfach nur ein Mittel zum Zweck«, sagte sie, während sie mich mit ihrem üblichen Stirnrunzeln anstierte. »So denkt ihr beide nämlich. Es kommt nicht drauf an, wie ihr euer Ziel erreicht, solange ihr es erreicht.«
Die mittlere Schwester erschien.
»Eine interessante Einstellung. Keine, die wir teilen könnten, aber in einigen Fällen . . . nützlich. Die Aufgabe, für die wir dich brauchen, könnte einige deiner einzigartigen Gaben erfordern.«
Meine Aufmerksamkeit war geweckt.
»Wir haben einen Geist, der aus den unteren Sphären entkommen ist. Du sollst ihn uns zurückholen.«
Die unteren Sphären, das sind die Bereiche für die Geister, denen man nicht gestatten kann, mit dem Rest von uns zu verkehren die wirklich üblen Verbrecher. Hm, ja, interessant.
»Wer ist «
»Als Erstes wirst du etwas recherchieren müssen.« Die Parze in mittleren Jahren griff in die leere Luft und holte einen Stoß Papiere hervor. »Dies ist eine Liste von Büchern «
»Büchern? Seht mal, ich bin mir sicher, ihr wollt, dass ich diese Sache möglichst schnell erledige, warum verzichten wir nicht auf diesen Aspekt? Ich bin wirklich eher die Frau fürs Praktische.«
Das Mädchen war wieder aufgetaucht, ein etwas hinterhältiges Grinsen im Gesicht. »Oh? Ja dann, in diesem Fall erledigen wir es doch auf die praktische Art.«
Sie schwenkte die Hand, und eine Lichtkugel schoss hervor und blendete mich.
»Was zum «, begann ich.
»Psst.«
Das Licht zerfiel in einen Funkenschauer. Ich zwinkerte, dann sah ich nur noch Dunkelheit. Eine Stimme mahnte mich zur Ruhe, es klang wie ein langgezogenes, monotones Atemgeräusch; einen Augenblick später wurde mir bewusst, dass es gar keine Stimme war, sondern der Luftzug, der an meinen Ohren vorbeizischte.
Ich kniff die Augen zusammen, schüttelte den Kopf und versuchte auf Nachtsicht umzuschalten. Wie all meine optischen Fähigkeiten habe ich auch die Nachtsicht in Sonderanfertigung, ein Erbe des Dämonenfürsten Balam, Meister des Gesichtssinns, der mein Vater ist.
Ein scharfer Windzug peitschte durch meine Kleidung. Etwas kitzelte mich an den Fingern. Ich packte zu, und als ich zog, riss der dünne Faden ab. Ich hob ihn an die Nase. Gras.
Vor meinen Augen begann es klarer zu werden. Das Erste, was ich sah, waren Wellen das rhythmische Ansteigen und Abfallen von Wellen, die aufs Ufer zurollten. Aber ich roch kein Wasser und spürte keinen Wasserstaub in der Luft.
Stattdessen war der Wind trocken und roch nach . . . Gras. Ich zwinkerte und sah Wellen aus Gras; sie stiegen und fielen auf dem hügeligen Gelände, wiegten sich im Wind. Ein Ozean aus Gras.
Früher einmal hätte mich das überrascht, aber nach drei Jahren des Reisens in der Geisterwelt habe ich ein paar ziemlich merkwürdige Landschaften gesehen. In den unbewohnten Gegenden sind Ebenen üblich, riesige leere Landstriche aus Fels oder Sand oder Gras. Ich bin sogar einmal auf eine Ebene aus Lava gestoßen. Nicht angenehm . . . schon gar nicht, nachdem ich festgestellt hatte, dass sie nicht so unbewohnt war, wie sie zunächst wirkte. Bei diesem Gedanken spähte ich nach unten in das hohe Gras. Es sah nicht so aus, als wäre irgendwas dort unten, aber sicher konnte man sich da nie sein.
Ich sah auf. Himmel. Ein Nachthimmel, bewölkt.
»Okay«, rief ich den Parzen zu. »Ihr könnt mir das Nachsitzen ersparen, ich mache meine Hausaufgaben.«
Ein hohes Lachen antwortete mir. Ich bin mir sicher, dass die kindliche Parze den Streich zum Kichern gefunden hätte, aber die Stimme klang zu alt für sie, und keine ihrer Schwestern war der kichernde Typ.
Als ich sonst keine Antwort bekam, ging ich dem Lachen nach. Wenn es in dieser Einöde der Geisterwelt noch jemanden gab, dann war es vermutlich niemand, dem ich unbedingt begegnen wollte, aber ein bisschen Gefahr würde wenigstens Abwechslung in die Sache bringen.
Der Wind begann zu heulen, als er stärker wurde, und schnitt durch meine dünne Bluse. Ich erwog, mir eine Jacke herbeizuwünschen, ließ es dann aber bleiben. In der Geisterwelt kann man Wochen, Monate, sogar Jahre verbringen, ohne jemals Temperaturen zu verspüren, die über angenehm warm oder angenehm kühl hinausgehen. Hin und wieder war etwas Unbehagen gar nicht so übel. Ich stieg hinunter in eine tiefe Mulde, die mich vor dem Wind schützte, und rieb mir die Ohren. Als sie aufzutauen begannen, wurde mein Gehör besser. Nicht, dass es viel zu hören gegeben hätte nur das Pfeifen des Windes über mir. Nein, Moment, da war noch etwas anderes. Ich legte den Kopf schief, um zu lauschen. Ein Aufschlag, dann ein rutschendes Geräusch. Stille. Bums, wusch. Stille.
Ich bereitete eine Energiestoßformel vor.
Das dumpfe Geräusch konnte von langsamen Schritten stammen. Aber das Rutschgeräusch? Darüber wollte ich lieber nicht nachdenken.
Mit dem nächsten Aufschlag hörte ich ein Kreischen wie von Nägeln auf einer Schreibtafel. Ein gemurmelter Fluch. Ein kurzer Wortwechsel, eine männliche Stimme, eine weibliche.
Ein Grunzen. Ein Plumps. Dann ging es wieder los. Bums, wusch. Bums, wusch.
Ich sprach eine Verschwimmformel wenn sie in dieser Dimension funktionierte, würde sie meine Gestalt weit genug verschwimmen lassen, dass ich mich an allem vorbeischleichen konnte, was nicht gerade nach mir Ausschau hielt. Ich stieg zum Rand der Mulde hinauf. Keine sechs Meter entfernt stand eine junge Frau mit einer Taschenlampe in der Hand. Ich machte ein paar hastige Schritte den Hang hinunter und schärfte meinen Gesichtssinn.
Ich spähte über die Kuppe. Die Frau leuchtete mit der Taschenlampe, während ein Mann ein Loch grub. Daher kam das Geräusch der Aufschlag, mit dem sich die Schaufel eingrub, das Herunterrutschen der Erde, wenn er sie zur Seite warf.
Sie waren beide Mitte zwanzig. Der Mann war klein und dünn und hatte eine Mähne von fettigem Haar. Die Frau war blond und trug das Haar zu einer grauenhaften, längst aus der Mode gekommenen Frisur aufgetürmt. Ihre Kleidung war ebenso altmodisch Minirock, hohe Stiefel und ein leichter, dreiviertellanger Mantel. Überraschend war das nicht.
In der Geisterwelt gewöhnt man sich daran, eine Modenschau aus der Vergangenheit zu sehen. Viele Geister bleiben bei dem Stil, der ihnen im Leben gefallen hat. Na ja, es sei denn, zu diesem Stil gehören Korsetts und ähnliche Folterinstrumente.
Hier hatten wir also zwei Geister aus den Sechzigern . . . oder den Siebzigern. Das war die Zeit gewesen, in der ich aufgewachsen war, und die beiden Jahrzehnte verschwammen für mich zu einer formlosen Masse von Miniröcken, gebatikten TShirts, GogoStiefeln und Discomusik.
»Tief genug?«, fragte der Mann und rieb die Hände gegeneinander. »Scheißkalt heute Abend hier draußen.« Die Frau beugte sich vor und spähte in das Loch, dann nickte sie. Sie legte die Taschenlampe auf den Boden, und beide verschwanden in der Dunkelheit. Als sie zurückkamen, trugen sie ein langes, eingewickeltes Bündel.
»Es ist nicht lang genug«, sagte die Frau. »Er ist größer, als ich gedacht habe.«
Der Mann hob seinen Spaten auf und begann wieder zu graben. Die Frau legte die Arme um den Körper und schauderte, während sie zusah. Angesichts der Kälte und der Arbeit, die sie da gerade verrichteten, war das Schaudern nur einleuchtend.
Aber ihr Gesichtsausdruck war es nicht, die glänzenden Augen, die hervorschnellende Zunge.
»Es war gut«, sagte sie. »Besser dieses Mal. Beim nächsten Mal sollten wir nicht so lang warten.«
»Wir müssen vorsichtig sein«, sagte der Mann, ohne aufzublicken.
»Warum? Niemand erwischt uns. Wir sind unbesiegbar.
Das . . . « Sie schauderte wieder und zeigte zu dem Körper hinüber.
»Das macht uns unbesiegbar. Es macht uns zu etwas anderem.«
Der Mann sah mit einem kleinen Lächeln zu ihr auf. Er nickte, dann griff er nach dem eingewickelten Körper. Als er ihn näher zog, riss der Wind die Verpackung auf. Die toten Augen eines Jungen starrten in den Nachthimmel.
Die Szene löste sich in Dunkelheit auf.
∗ ∗ ∗
Ich habe schon Leichen gesehen. Ich habe selbst manchen in die Geisterwelt geschickt. Wenn man sich mit den dunklen Mächten anlegt, sollte einem klar sein, dass das Ergebnis ein frühes Grab sein kann. Aber mit einem frühen Grab meine ich, dass man sterben kann, bevor man alt und grau ist. Der Mord an jemandem, der zu jung ist, um sich zu verteidigen, ist der einzige Akt, der immer und unter allen Umständen unverzeihlich bleibt.
Diese Frau war also der mordende Geist, von dem die Parzen wollten, dass ich ihn fand? Sie konnten es als erledigt betrachten. Der einzige Lohn, den ich dafür wollte, war, anwesend sein zu dürfen, wenn sie sie in ihre Höllendimension zurückstießen.
Die Dunkelheit lichtete sich, und ich blickte auf, in der Erwartung, den Thronsaal zu sehen. Stattdessen stand ich vor einem frostbeschlagenen Fenster. Ich berührte die Scheibe mit den Fingern. Kalt und glitschig, aber meine Finger hinterließen keine Spur auf dem Glas. Als ich an einer klaren Ecke hindurchspähte, sah ich Sonnenlicht durch fallenden Schnee hindurch.
Ein seltsamer Anblick, als sähe man Sonnenstrahlen durch den Regen.
Das Lachen einer Frau ließ mich zusammenfahren, und in Gedanken war ich sofort wieder in der Grassteppe und dem Gekicher, das ich dort zum ersten Mal gehört hatte.
»Halt, warte!«, sagte die Frau. »Das ist der beste Teil. Mach das langsamer.«
Ich wandte mich vom Fenster ab. Am anderen Ende des Zimmers hatte sich ein junges Paar auf dem Sofa zusammengerollt und sah fern. Der Mann hatte eine Fernbedienung in der Hand, mit der er auf den Videorecorder zielte.
Hatte es in den Sechzigern schon Videorecorder gegeben?
Nein, Moment mal. Es war ein anderer Mann. Also war ich auch woanders. Oder doch nicht?
Mein Blick blieb an der jungen Frau hängen. Eine Blondine Anfang zwanzig, rundes Gesicht, halbwegs hübsch. Dieselbe Frau. Oder? Die Frisur war immer noch überkandidelt, aber auf eine Art, an die ich mich von der Highschool her erinnerte. Und der Rock war immer noch kurz, aber es war ein modernerer Minirock. Ich versuchte ihr Gesicht genauer zu erkennen, aber sie sah zum Fernseher hin und wandte mir ein Viertelprofil zu.
»Okay, jetzt kommt’s.«
Die Frau beugte sich vor. Ihre Augen leuchteten. Wieder ein Ruck des Wiedererkennens, als ich den hingerissenen Ausdruck bemerkte, den ich auch an der Frau neben dem frischen Grab gesehen hatte.
»Komm schon, dreh das lauter«, sagte sie, während sie den Mann in den Arm boxte.
Er lachte und schaltete die Lautstärke höher. Von dort, wo ich stand, konnte ich den Bildschirm nicht sehen, aber ich hörte den Ton. Die Stimmen klangen verzerrt.
Heimvideoqualität.
Ich sprach die Verschwimmformel und schlich über den Teppich, bis ich einen Blick auf den Bildschirm werfen konnte. Eine hellgrüne Bluse war im Weg. Jemand, der mit dem Rücken zur Kamera stand. Typisch. Die Bluse ging aus dem Weg. Nacktes Fleisch ein nacktes Frauenbein. Oh ja. Ein sehr typisches Heimvideo sogar, die Sorte, für die Videokameras gemacht wurden. Das brauchte ich nicht zu sehen.
Ich wollte mich gerade abwenden, als die Kamera nach hinten fuhr und ich das ganze Bild sehen konnte. Ein Mädchen, nicht älter als Savannah, nackt und an ein Bett gefesselt. Blutbeflecktes Bettzeug.
»Jetzt kommt’s.« Die Stimme der Frau kletterte um ein paar Töne nach oben, und sie begann die Schluchzer des Mädchens nachzuahmen. »Ich will zu meiner Mommy!«
Mit einem Aufheulen stürzte ich mich auf die Frau auf dem Sofa. Meine Hände zuckten auf ihre Kehle zu, die Nägel voran.
Ich stürzte geradewegs durch sie hindurch und rollte in die Dunkelheit hinaus.
3
Ich landete auf dem Marmorboden des Thronsaals.Es tat nicht weh. Ich wünschte, es täte weh. Ich ließ sogar die Faust auf den Boden krachen in der Hoffnung, der Schmerz würde durch mich hindurchfahren und die Rage aus meinem Hirn jagen, aber meine Hand prallte ab, als hätte ich auf ein Kissen eingeschlagen. Ich rappelte mich auf. Die mittlere Parze stand da und sah mir zu.
»Schickt mich zurück«, sagte ich.
»Eve, du «
»Schickt mich sofort zurück! Ihr könnt mir das nicht zeigen und mich dann da rausholen, bevor ich irgendwas dagegen tun kann.«
»Du kannst nichts dagegen tun«, sagte sie leise. »Es ist vorbei.
Schon lang vorbei. Was du gesehen hast, war eine Erinnerung.«
Ich rieb mir übers Gesicht. Eine Erinnerung. Ein Blick in die Vergangenheit. Ich starrte zu der weißen Wand hinüber, bis meine Gedanken wieder klar waren. Ich hatte keine Ahnung, wer diese Leute gewesen waren. Offensichtlich Serienmörder, wahrscheinlich bekannt dafür, aber ich hatte mich nie sehr für Verbrechen interessiert. In meiner Welt waren die Killer, deretwegen ich mir Sorgen machen musste, diejenigen, deren Namen in meinem kleinen schwarzen Buch standen nicht diejenigen, die in den Spätnachrichten auftauchten.
Als ich aufsah, stand die alte Parze am Spinnrad, und ich wappnete mich in der Erwartung, sie würde eine Antwort auf ihre Bitte verlangen. Aber sie sah mich nicht einmal an. Sie schnitt einfach nur den Garnfaden ab, den die mittlere Parze für sie ausgemessen hatte, und gab ihn an einen geisterhaften Assistenten weiter. Dann übernahm die kindliche Parze die Aufgabe, das Spinnrad zu bestücken. Sie hob den Blick zu mir und sah rasch wieder nach unten.
Welcher Zusammenhang bestand zwischen den beiden Mordserien? Waren es überhaupt zwei Mordserien? Es handelte sich ja schließlich nur um einen Geist, der aus den unteren Sphären entkommen war. Aber die zwei Frauen hatten sich ähnlich gesehen, und beide brachten Teenager um, also mussten sie wohl dieselbe Person sein. Für einen Menschen wäre derlei unmöglich gewesen, aber Paranormale sind anderen Möglichkeiten gegenüber aufgeschlossener.
Ich wusste, ich sollte mir eine Theorie überlegen und sie den Parzen präsentieren, um sie mit meiner erstaunlichen Fähigkeit zur logischen Argumentation zu beeindrucken. Ich wusste das . . . und ich platzte mit dem ersten Gedanken heraus, der mir ins Hirn kam.
»Vampir«, sagte ich.
Die jüngste Parze spähte um das Spinnrad herum, das Gesicht zu einem Ausdruck verzogen, den jede Mutter sofort als
»Hä?« erkannt hätte.
»Zwei Mordserien, beide begangen von derselben Frau, die dazwischen nicht gealtert ist von Miniröcken und Riesenhaar zu, na ja, Miniröcken und Riesenhaar. Ähnliche Modestile, aber ganz entschieden fünfundzwanzig, dreißig Jahre dazwischen, und sie hat keine einzige Falte gekriegt. Sie muss ein Vampir sein. Die meisten Vamps bleiben bei der Tötungsrate, die sie brauchen, aber es gibt immer welche, die Geschmack an der Sache finden, und «
Die Alte übernahm. »Sie ist kein Vampir, Eve. Wir haben unsere Methoden, mit Vampirgeistern fertig zu werden was du wüsstest, wenn du auch nur das geringste Interesse an der Welt um dich herum hättest. Versuch’s noch mal.«
Die hellen Augen der alten Parze spießten mich auf wie einen Schmetterling auf einer Filzmatte. In meiner Schulzeit hatte ich sehr wenig Achtung vor meinen Lehrern und vor Erwachsenen generell gehabt. Nur einer einzigen Lehrerin war es jemals gelungen, mich in Verlegenheit zu bringen. Sechste Klasse. Mrs.
Appleton, der Typ sauertöpfische alte Frau, deren Blick allein das Selbstwertgefühl zum Bröckeln bringt, der immer aussieht, als erwarte sie sehr wenig von einem und würde nie enttäuscht.
Die alte Parze beherrschte diesen Ausdruck bis zur Perfektion.
»Äh, also, ich . . . « Ich stellte mich gerade hin. »Okay, also, ich weiß nicht viel übers Zeitreisen . . . « ich fing ihren Blick auf ». . . aber ich weiß, das ist es nicht, was hier los ist. Also dürfte die Erklärung . . . «
Ich studierte ihren Gesichtsausdruck. Keinerlei Hinweise.
Einfach weiterreden also.
». . . Reinkarnation sein«, sagte ich.
Die Alte verwandelte sich in die jüngere Frau. »Was weißt du über Reinkarnation, Eve?«
Ein blitzschneller Wechsel, und die alte Frau meldete sich wieder zu Wort. »Nicht annähernd genug, wenn man bedenkt, dass sie seit drei Jahren hier ist.« Sie fixierte mich mit einem Auge, das andere zugekniffen. »Na? Lass mal hören. Alles, was du über Reinkarnation weißt. Dürfte ganze fünf bis zehn Sekunden dauern.«
»Ich weiß, dass es möglich ist«, sagte ich, »selten, aber möglich.«
»Drei Sekunden? Hab dich schon wieder überschätzt.«
Die mittlere Parze erschien. »Ja, es ist selten, Eve. Sehr selten. Es ist nur unter ganz bestimmten Umständen gestattet, wenn ein Geist bestimmte Kriterien erfüllt, aufgrund derer der Schöpfer entscheidet, dass die Seele im Leben eine zweite Chance bekommen soll.«
Die alte Parze schaltete sich wieder ein. »Und Kinder zu ermorden, gehört nicht dazu.«
Wieder schob die mittlere Parze ihre Schwester zur Seite.
»Das, von dem wir wollen, dass du es findest, ist eine Nixe.
Weißt du, was Nixen sind?«
Ich rechnete damit, dass die alte Hexe zurückkommen und erneut sticheln würde, aber diesmal ließ sie es bleiben.
»QuasiDämonen«, sagte ich langsam, als der zuständige Kasten in meiner Erinnerung knarrend aufging. »In der deutschen Volksmythologie ist eine Nixe eine boshafte Versucherin.
Eine Art Kreuzung aus Sirene, Kobold und Mae West.«
»Das ist die mythologische Version«, sagte sie. »Und in Wirklichkeit?«
»Ich da bin ich mir nicht sicher. Ich bin nie einer begegnet und kenne auch keinen, der eine kennt.« Ich dachte nach und schüttelte dann den Kopf. »Ich erinnere mich nicht, je etwas über die wirkliche Version gelesen zu haben.«
»Wahrscheinlich, weil es ein wirklich sehr obskures Gebiet ist. Wie du gesagt hast in der Folklore gelten sie als boshafte Geisterwesen, Wassergeister im Grunde . . . «
Sie lieferte mir einen kurzen Abriss der Nixenmythologie.
Manche Menschen glauben, Nixen wären Sirenen, die Menschen in ein nasses Grab locken. Mit anderen Worten, eine Entschuldigung für Idioten, die ins tiefe Wasser springen und dann feststellen, dass sie nicht schwimmen können. In der Mythologie gibt es sowohl weibliche als auch männliche Nixenwesen
Nixen und Nöcke , aber die Weiblichen sind erfolgreicher bei der Suche nach Opfern wahrscheinlich, weil es eher die Typen sind, die am Flussufer stehen und brüllen: »Hey, seht euch diesen Hechtsprung an!«
In Wirklichkeit besteht keine natürliche Verbindung zwischen Nixen und Wasser. Aber als die frühen Volkskundler hörten, dass Nixen Versucherinnen sind, schlossen sie daraus vermutlich, dass sie eine Untergruppe der Sirenen sein mussten. Außerdem sind Nixen in Wirklichkeit immer weiblich . . .
oder jedenfalls ist das die Form, in der sie sich manifestieren, so wie sich echte Dämonen als Männer manifestieren.
Wahrscheinlich ist das eher eine ästhetische Entscheidung als ein wirklicher Geschlechtsunterschied. Und schließlich sind Nixen strenggenommen keine Versucherinnen. Stattdessen werden sie von denjenigen aufgesucht, die bereits in Versuchung sind durch Reichtum, Macht oder Sex und ihren Weg dorthin abkürzen wollen. Was eine Nixe ihnen gibt, ist die Entschlossenheit, die sie brauchen, um eine Tat durchzuführen, zu der ihnen selbst der Mut fehlt, in der Regel einen Mord.
»Okay«, sagte ich, als die Parze fertig war. »Nixen helfen den Leuten beim Töten, und die Szenen, die ihr mir gezeigt habt, waren offensichtlich Morde, aber wo ist der Zusammenhang?
Diese Frauen waren Menschen. Wie sollen sie eine Nixe heraufbeschworen haben? Und selbst wenn sie es geschafft haben, ihr werdet mich ja wohl kaum auf die Jagd nach einer Nixe schicken. Sie sind QuasiDämonen, keine Geister, sie gehören also nicht mal in eine von euren Höllen.«
Die jüngste Parze schaltete sich ein. »Mach dir keine Sorgen.
Wir haben nicht erwartet, dass du den Zusammenhang sehen würdest. Es ist alles sehr merkwürdig.« Sie lehnte sich an dem Spinnrad vorbei zu mir hin, ihre Augen glitzerten. »Weißt du, was da passiert ist, war nämlich «
Ihre mittlere Schwester sprach weiter. »Diese Nixe ist jedoch anders als ihre Geschwister. Im siebzehnten Jahrhundert hat sie einen Handel mit einer Hexe abgeschlossen, die ihrem Vater den Tod gewünscht hat.«
»Und ihr den Mut gegeben, den sie brauchte, um ihn zu ermorden?«
»Das wäre die übliche Vorgehensweise gewesen. Aber in diesem Fall hat es nicht funktioniert. Die Macht einer Nixe hat eine entscheidende Beschränkung sie kann einen Menschen nicht dazu bringen, zu töten. Der Wille und die Absicht müssen da sein. Ein bewusster Wille, eine bewusste Absicht.
Diese Hexe war im Zwiespalt, was ihren Wunsch anging. Aber Nixen brauchen und lieben das Chaos, und sie mögen es nicht, wenn man sie ruft und ihnen diese Belohnung dann vorenthält, also hat die Nixe einen Vorschlag gemacht. Sie hat der Hexe verraten, wie sie an eine Formel kommen konnte, die es der Nixe erlauben würde, den Körper der Hexe zeitweise in Besitz zu nehmen und die Tat selbst zu begehen. Die Hexe hat sich darauf eingelassen, und die Nixe . . . «
Die kindliche Parze unterbrach ihre mittlere Schwester; sie sprudelte geradezu über mit der Begeisterung eines Kindes, das den Rest der Geschichte ganz einfach selbst erzählen muss.
». . . hat sie daraufhin also in Besitz genommen und den Vater der Frau umgebracht. Und dann hätte sie den Körper zurückgeben sollen. Bloß hat sie’s nicht getan. Sie hat ihn dazu genutzt, allen möglichen Ärger zu machen.«
Die mittlere Schwester schaltete sich wieder ein. »Und viele Menschen sind umgekommen . . . darunter schließlich auch die Nixe selbst. Sie war in einem körperlichen Wesen gefangen und ist den Tod eines körperlichen Wesens gestorben. Weil sie die Gestalt einer Hexe hatte, ist sie hierhergekommen, in die Sphäre der Paranormalen. Wir haben nicht die Voraussetzungen, um mit QuasiDämonen umzugehen, aber es ist uns gelungen, sie in einer Höllendimension einzusperren. Für eine Weile jedenfalls.«
»Und sie ist entkommen.«
»Und das ist ein ernsthaftes Problem, weil diese Nixe eben nicht als Geisterwesen durch die Menschenwelt gleitet. Nachdem sie einmal einen menschlichen Körper bewohnt hat, kann sie es jetzt nach Belieben tun.«
»Das ist also der Zusammenhang. Es war gar nicht dieselbe Frau. Es war dieselbe Nixe in verschiedenen Frauen. Sie übernimmt die Kontrolle «
»Nicht ganz. Sie ist ein toter Geist, sie kann die Kontrolle über einen lebenden Körper nicht mehr vollständig übernehmen. Stattdessen muss sie ihn teilen und der Besitzerin die Entschlossenheit geben, ihre Wünsche auszuführen.«
»Dann kriecht sie also nicht in unschuldige Frauen und verwandelt sie in gemeingefährliche Killerinnen. Sind die Wirte immer Frauen?«
Die Parze nickte. »Nachdem sie sich beim ersten Mal einen weiblichen Wirt ausgesucht hat, ist sie jetzt daran gebunden.«
Ich zögerte. »Da ihr so viel darüber wisst, wie sie vorgeht, vermute ich mal, dass sie schon eine ganze Weile unterwegs ist.«
»Etwas über hundert Jahre.«
»Uhoh. Und ich nehme an, das bedeutet, dass ich nicht die Erste bin, die ihr hinter ihr herschickt.«
»Es hat drei andere gegeben, die vor dir gegangen sind. Wir haben drei verschiedene Vorgehensweisen gewählt, mit unterschiedlichem Erfolg, aber alle drei haben . . . ein schlechtes Ende genommen.«
»Was hat sie mit ihnen gemacht?«
Die kindliche Parze erschien, sie lachte. »Ihre erste Frage, und es ist gleich die, auf die keiner von den anderen auch nur gekommen ist. Wenn wir erwähnt haben, dass andere Versuche erfolglos waren, haben sie nur gefragt, wie die Nixe entkommen konnte. Das war es, von dem sie glaubten, dass sie es tun würde
ihnen entwischen und abhauen. Aber du weißt es besser.«
»Gesunder Menschenverstand, sonst nichts. Die beste Methode, das Gejagtwerden zu beenden, ist, die Person auszuschalten, die einen jagt. Aber das ist in diesem Fall ein Problem, stimmt’s? Einen Geist kann man nicht töten. Man kann ihm nicht mal körperliche Schmerzen zufügen. Also wie zum Teufel hält man ihn davon ab, einen zu verfolgen?«
Die mittlere Parze erschien wieder. »Es gibt Schlimmeres als körperliche Schmerzen.«
»Nicht, wenn man es richtig anstellt.«
Die Älteste tauchte auf, das finstere Stieren bereits eingeschaltet. »Du hast immer eine Antwort, stimmt’s?«
»Nein, ich habe nur darauf hingewiesen «
»Du willst wissen, was sie mit einer deiner Vorgängerinnen gemacht hat, Eve? Lass es mich dir zeigen.«
4
Der Wandschmuck des Thronsaals verschwand.Selbstder Fußboden löste sich in nichts auf, und ich wartete darauf, in irgendeine Höllendimension zu stürzen. Stattdessen stellte ich fest, dass ich nackt in grauem Nichts trieb.
Trieb ich wirklich? Unter meinen nackten Füßen erstreckte sich eine graue Fläche, glatt wie Glas, die mit dem grauen Himmel verschmolz. Ich konnte meine Füße auf dem Boden stehen sehen, aber unter ihnen spürte ich nichts. Ich schloss die Augen und senkte die Hand. Sie stockte auf Bodenniveau.
Ich beugte mich vor, konnte aber immer noch keinen Druck an der Handfläche spüren.
Okay, das war unheimlich. Aber trotzdem gab es tausend üblere Orte, an die die Nixe ihren letzten Verfolger hätte schicken können, und wenn diese etwas beunruhigende Illusion das Beste war, was sie zustande gebracht hatte, dann konnte ich nur lachen.
Ich schloss die Augen und wünschte mir Kleidung. Als ich sie wieder öffnete, war ich immer noch nackt. Hm. Ich nehme an, die Nacktheit war ein Aspekt der Folter. Und für manche Leute wäre sie das vielleicht gewesen, aber ich bin nicht der Typ, der Alpträume davon hat, splitternackt durch ein Einkaufszentrum gehen zu müssen. Es kam also nicht weiter drauf an, vor allem angesichts der Tatsache, dass niemand da war, der mich hätte sehen können.
Niemand, der mich hätte sehen können, und nichts, das ich hätte sehen können. Auch nichts, das ich gehört hätte. Das erinnerte mich an die erste Stunde, die ich als Geist allein verbracht hatte. Das Schockierendste an dieser Stunde war die Stille gewesen. Wenn wir am Leben sind, ist Stille ein relativer Begriff.
Selbst wenn man es schafft, den gesamten Hintergrundlärm auszublenden das Klicken und Grunzen und Summen von Wasserrohren und Heizungen und Kühlschränken , hört man immer irgendwas, und wenn es nur das Geräusch des eigenen Atems ist. Aber wenn man tot ist, sind alle Quellen dieser Geräusche, die äußeren wie die inneren, verschwunden. Trotzdem hört man meistens noch irgendetwas, wenn man angestrengt genug lauscht die Schritte von jemandem, der vorbeigeht, das Lachen eines Nachbarn, das Zwitschern eines Vogels. Hier in dieser leeren Dimension war die Stille vollkommen.
Ich konnte mir vorstellen, dass dies nach einer Weile wirklich lästig werden konnte. Sensorische Deprivation, so nannte man das wohl. Ich erinnerte mich, gelesen zu haben, dass derlei als eine Form der Folter eingesetzt werden konnte. Gar nicht dumm, wenn man es sich so überlegte. Es hinterließ keine Spuren, und niemand konnte einem vorwerfen, dass man seinem Gefangenen etwas antat, weil man schließlich absolut gar nichts tat. Interessant auf eine sehr theoretische Art.
Im Moment allerdings sollte ich wohl nur verstehen, dass die Nixe mich an einen Ort schicken konnte, an dem ich nicht allzu viel Zeit verbringen wollte.
»Okay « Ich brach ab. Ich hatte gefühlt, dass ich das Wort aussprach, aber ich hatte nichts gehört. »Okay, Ladys!«
Die Stille saugte die Worte auf, bevor sie meine Lippen verlassen hatten.
»Hallo?«, versuchte ich zu sagen. »Hallo, hallo, hallo!«
Unheimlich, aber nichts, das weiter wichtig gewesen wäre.
Die Parzen schienen mich hören zu können, ob ich nun laut sprach oder nicht. Wenn sie so weit waren, würden sie mich zurückholen. Ich setzte mich auf den Boden, um zu warten.
Immer noch am Warten.
Es mussten bereits mindestens zwei Stunden vergangen sein.
Unverkennbar wollten mir die Parzen wirklich eine Vorstellung von dieser Einöde geben. Als ob ich für so was Zeit hätte. In Ordnung, wenn die mich nicht zurückholten, würde ich eben selbst etwas unternehmen.
Ich sprach die Worte einer Reisebeschwörung. Ich konnte meine Stimme immer noch nicht hören, aber ich sprach, und einen Brüllbonus gibt es beim Formelwirken nicht. Ich brachte die Formel zu Ende. Es passierte gar nichts. Ich versuchte noch ein paar weitere und blieb, wo ich war. Schön. Ich konnte warten.
Okay, jetzt reichte es mir allmählich. Ich war seit Stunden hier, hatte jede verdammte Formel ausprobiert, die ich kannte, sogar solche, die mit Fortbewegung überhaupt nichts zu tun hatten, und keine Einzige davon hatte funktioniert. Was glaubten die Parzen eigentlich, was sie da trieben? Sie hatten es mit einer mordenden QuasiDämonin zu tun, die wahrscheinlich in diesem Moment gerade die nächste Scheußlichkeit plante, aber das hielt sie nicht davon ab, ein paar Stunden zu investieren, nur um mich zu ärgern.
Die alte Parze steckte dahinter. Sie hasste mich. Genau wie meine Lehrerin, Mrs. Appleton. Ich hatte nie herausgefunden, was ich getan hatte, um mir Mrs. Appletons Hass zuzuziehen, aber ich war nie das Gefühl losgeworden, dass sie irgendetwas in mir gesehen hatte, etwas Schlechtes, das nur darauf wartete, hervorzubrechen. Wenn die alte Parze mich ansah, hatte ich den gleichen Eindruck.
Ich zog die Knie an die Brust, stützte das Kinn darauf und versuchte diese Gedanken aus meinem Hirn zu drängen. Sie klebten wie Kletten und rieben wunde Stellen in mein Selbstwertgefühl. Ich musste den Kopf klar bekommen, musste irgendetwas tun. Aber hier gab es nichts zu tun. Außer nachzudenken.
»Hallo! Himmeldonnerwetter, antwortet mir! Ich hab’s kapiert! Jetzt macht die Scheißtür auf!« Es war Nacht. Hier änderte sich das Licht nie, es gab nur einen trüben Schein, der von nirgendwoher kam, die Leere erhellte, einen daran erinnerte, dass niemand hier war und es nichts zu sehen gab. Aber mein Zeitgefühl teilte mir mit, dass es Nacht war. Kristof würde bei mir zu Hause sein und warten, weil er über den Zeitjob reden wollte, den er erwähnt hatte.
Ich schloss die Augen und konzentrierte mich auf einen Kommunikationszauber.
Hey, Kris? Meinst du, du könntest mir weiterhelfen?
Nichts.
Meine innere Uhr teilte mir mit, dass die Nacht vergangen war.
Geschlafen hatte ich nicht. Wir können schlafen, aber ich hatte es noch nie fertiggebracht, mich einfach zusammenzurollen und einzuschlafen nicht, wenn ich nicht sehr, sehr müde war.
Ein Geist wird nicht müde. Also schlief ich nicht, wenn ich nicht in meinem Bett lag.
Ich war seit über vierundzwanzig Stunden hier. Da war ich mir sicher. Okay, ich hatte lang genug darauf gewartet, dass etwas passierte. Es wurde Zeit, die Sache selbst in die Hand zu nehmen . . . oder vielleicht eher die Füße. Vielleicht konnte ich mich nicht hier rausbeamen, aber ich konnte immer noch laufen. Also suchte ich mir eine Richtung aus und ging los.
Und ging. Wenn ich mich umsah, sah ich die gleiche verdammte Umgebung, die ich beim Losgehen gesehen hatte, als wäre ich auf einem Laufrad. Aber ich bewegte mich vorwärts, ich wusste es. Das völlige Fehlen von Anhaltspunkten ließ es nur so erscheinen, als käme ich nicht voran. Jede Dimension, die ich je besucht hatte, war zu Ende gegangen. Diese würde es ebenfalls tun, wenn ich nur weit genug lief.
Es war wieder Nacht, und ich hatte das Ende nicht erreicht. Ich hatte überhaupt nichts erreicht. Die Beine taten mir nicht weh.
Kein Schmerz bedeutet unbegrenzte Energie. Ich konnte bis in alle Ewigkeit weitergehen, und verdammt noch mal, genau das würde ich auch tun, wenn das nötig war, um hier
Der Thronsaal erschien, genau so, wie ich ihn verlassen hatte; die alte Hexe war immer noch am Spinnrad.
»Zufrieden?«, fauchte ich; meine Stimme krächzte wie eingerostet. »Ich wette, ihr habt euch gut amüsiert. Habt ihr zugesehen? Abgewartet, wie lang es dauert, bis ich durchdrehe? Tut mir leid, wenn ich euch enttäuscht habe.«
Sie sah von ihrem Spinnrad auf. Ihr Blick traf auf meinen, ihr Gesicht war ausdruckslos.
»Ich glaub’s einfach nicht, dass ihr das getan habt«, sagte ich.
»Da ist diese Nixe unterwegs und bringt Leute um, und ihr habt mich zwei Tage lang dort schmoren lassen!«
»Das waren zwei Minuten, Eve.«
»Blödsinn! Da sind Tage vergangen!«
»Ja. Fast drei. Aber hier waren es nur Minuten. Die Nixe hat unsere erste Jägerin dort hingeschickt, und wir haben fünf Jahre gebraucht, um sie zu finden. Das ist es, von dem ich wollte, dass du es siehst. Das ist es, was diese Nixe tun kann.«
Fünf Jahre unserer Zeit? Das mussten dort unten Menschenleben gewesen sein. Allein, nichts zu sehen, zu hören, zu fühlen, zu riechen . . .
Die mittlere Parze erschien. »Sie ist wahnsinnig geworden, Eve. Wir haben unser Bestes getan, aber sie ist seit über sechzig Jahren wieder hier bei uns und nicht gesünder als an dem Tag, an dem wir sie gefunden haben.«
»Und die anderen?«, fragte ich langsam. »Ihr habt gesagt, es hat noch zwei andere gegeben.«
»Der Zweite hat uns im Stich gelassen. Den Dritten hat die Nixe in eine andere Dimensionsebene geschleudert.«
»Wohin?«
»Wir wissen es nicht.«
Mein Kopf fuhr hoch. »Ihr habt ihn noch nicht gefunden?
Nehmt es mir nicht übel, wenn die Jobbeschreibung auf einmal nicht mehr so attraktiv klingt, aber «
»Inzwischen haben wir Schutzvorrichtungen. Wir sind hinter ihre Tricks gekommen.«
»Sie kann mich also nicht in eine andere Dimension schicken?«
»Nicht auf längere Zeit.«
»Aha.«
Die alte Parze übernahm die Unterhaltung; ihre Augen funkelten. »Ist wohl ein bisschen zu viel für dich, Eve?«
»Macht euch nicht die Mühe, mich zu provozieren«, sagte ich. »Ich mache das, weil ich ein Versprechen gegeben habe, und ich halte meine Versprechen. Ihr habt mir das Schlimmste gezeigt, also bin ich jetzt gewarnt und bereit zum Einsatz.«
»Gut, dann möchten wir als Erstes, dass du «
»Das Erste, was ihr tun solltet, ist, mir zu erzählen, wie diese Nixe es aus ihrer Hölle herausgeschafft hat und warum sie das Gleiche nicht wieder tun wird, wenn ihr sie dorthin zurückschmeißt.«
»Das wird sie nicht.«
»Einzelheiten?«
»Ich denke gar nicht daran, dir unsere Sicherheitsvorkehrungen «
Die mittlere Parze schaltete sich ein. »Wir hatten sie ursprünglich an einem Ort, der gegen Dimensionssprünge und Teleportation abgeschirmt war, aber nachdem sie es zwei Jahrhunderte lang versucht hatte, hat sie ein Portal zu einer Dimension aufgestoßen, von der wir uns nicht hätten träumen lassen, dass sie sie als Fluchtweg wählen würde. Hast du einmal von Tieren gehört, die sich ein Bein abbeißen, um einer Falle zu entkommen? Die Nixe ist wissentlich in eine Dimension vorgestoßen, die ihre eigene Hölle aussehen ließ wie das Paradies, und sie hat es getan, ohne mehr als den Schimmer einer Hoffnung zu haben, dass sie sie jemals wieder verlassen würde.«
»Und das überrascht euch?« Ich schüttelte den Kopf. »Schon okay. Sagt mir einfach, dass sie diese Möglichkeit beim nächsten Mal nicht wieder haben wird.«
»Wird sie nicht.«
»Gut. Dann also weiter zu Schritt Nummer eins. Ich will «
»Wir haben schon einen Plan ausgearbeitet, Eve.«
»Prima, und wenn er besser ist als meiner, sagt mir Bescheid.
Also, als Erstes möchte ich mit einem von diesen Suchern reden, die ihr auf sie angesetzt habt. Unter den gegebenen Umständen ist es nicht weiter schwer zu entscheiden, wen ich mir aussuchen muss. Den Kopfgeldjäger hinter der zweiten Tür, den Typ, den ihr gefeuert habt.«
Die kindliche Parze antwortete mir. »Geht nicht. Da, wo der ist, kannst du nicht hin. Und glaub’s mir einfach, du willst da auch nicht hin. Du glaubst, der Ort von vorhin war übel? Ein Paradies verglichen mit dem Ort, wo er ist.«
»Aber ihr habt gesagt, die Nixe hat ihn nicht erwischt. Ihr habt ihn gefeuert.«
»Yep, haben wir auch. Bis runter in die «
Ihre mittlere Schwester unterbrach. »Du kannst nicht mit ihm reden.«
»Moment mal. Ist das das Motivationsprogramm? Wenn ich es nicht schaffe, schickt ihr mich an einen Ort, der schlimmer ist als der, an den die Nixe mich bringen würde? Kein Wunder, dass ihr keine Freiwilligen findet.«
»Wir haben ihn nicht dafür bestraft « Sie seufzte und schüttelte den Kopf. »Die Einzelheiten sind nicht von Bedeutung.«
»Für euch vielleicht nicht «
»Ein Fehlschlag wird nicht bestraft«, sagte sie. »Selbst wenn du mit dem Mann reden könntest, er würde dir nichts verraten.
Du musst einen von den anderen nehmen.«
»Die hoffnungslos Wahnsinnige oder den hoffnungslos Verschollenen? Hm, da fällt die Wahl schwer.«
»Es ist unwahrscheinlich, dass du Zadkiel finden kannst «
»Ach nee! Nachdem ihr ihn schon gesucht habt «
»Also würde ich Janah empfehlen. Den aufgestiegenen Engel.«
»Engel?«
»Die erste Jägerin. Die, die wahnsinnig geworden ist.«
»Aha.«
»Aber erst müssen wir sie darauf vorbereiten. Bis dahin kannst du «
»Bis dahin will ich mit jemandem reden, der mit diesen Jägern zusammengearbeitet hat. Einem Supervisor, einem Partner, irgendwem, der mir eine Vorstellung davon geben kann, wie eure Jäger arbeiten. Ich habe da nämlich den Verdacht, dass Janah keine sonderlich verlässliche Informationsquelle abgeben wird.«
»Dein Partner hat Erfahrung mit der Nixe.«
»Partner? Was ?«
»Du wirst ihn kennenlernen, wenn du mit Janah sprichst. Es kann ein, zwei Tage dauern, bis wir sie vorbereitet haben, ich würde also vorschlagen, du ruhst dich aus «
»Dann brauche ich einen Nekromanten.« Bevor sie widersprechen konnte, redete ich rasch weiter. »Wenn ich einen Geist finden soll, der lebende Menschen bewohnt, brauche ich eine Verbindung zur Welt der Lebenden etwas, das ihr mir verwehrt habt, seit ich hier bin.«
»Mit gutem Grund «
»Damit ich keinen Kontakt zu Savannah aufnehme. Schön.
Aber jetzt brauche ich diese Verbindung.«
Die Parze nickte. »Das stimmt, und wir sehen es ein. Wir haben schon etwas «
»Ich will Jaime Vegas.«
»Ich verstehe«, sagte die Parze langsam. »Und diese Wahl hat natürlich absolut nichts damit zu tun, dass sie deine Tochter kennt und zusammen mit Paige im paranormalen Rat sitzt?«
»Es hat sogar sehr viel damit zu tun. Jaime kennt Paige, die für mich sprechen kann. Versucht mal einen anderen Nekro zu finden, außerhalb des schwarzen Marktes natürlich, der freiwillig mit Eve Levine zusammenarbeitet. Aber natürlich kann ich auch gleich auf den schwarzen Markt gehen und einen von meinen alten Freunden ansprechen . . . «
»Was wir, wie du weißt, nicht gestatten würden.« Sie machte eine Pause, schob die Lippen vor und schüttelte schließlich den Kopf. »Bilde dir bitte nicht ein, dass wir dies nicht als das durchschauen, was es ist, Eve ein nicht sonderlich subtiler Versuch, deinen liebsten deinen einzigen Zeitvertreib hier fortzuführen. Aber ich werde es erlauben, jedenfalls für die Zeit, die du für deine Aufgabe brauchst, und unter der Bedingung, dass du deine Zeit mit Jaime ausschließlich für diese Aufgabe verwendest. Du wirst sie nicht bitten, ihre Berufsregeln zu verletzen und Savannah für dich zu kontaktieren.«
Ich ging ihre Worte auf ein Schlupfloch durch. Ich fand vorläufig keins, aber irgendwann würde ich eins entdecken. Bevor ich fragen konnte, wo ich Jaime finden würde, hob die Parze die Hände und beförderte mich davon.
5
Ich öffnete die Augen und starrte in das gleißende Licht der Sonne, das mich blendete. Ich stolperte und landete auf dem Hintern. Donnerndes Gelächter erklang von allen Seiten, und ich sprang so schnell auf, dass mein Blickfeld sich schlagartig klärte. Vor mir lag ein vollbesetzter Zuschauerraum.
»Na ja, so was passiert, wenn man mit den Toten zu tun hat«, sagte eine Frauenstimme. »Ein paar davon sind einfach nicht sonderlich intelligent.«
Ich drehte mich um, um die Sprecherin anzustieren, sah aber nur den Hinterkopf einer Rothaarigen, die mitten auf der Bühne saß. Als sie weitersprach, wurde mir klar, dass ich in der Kulisse einer Fernsehshow stand. Die Rothaarige und eine zweite Frau saßen in bequemen Sesseln, und die Bühne war eingerichtet wie ein Wohnzimmer.
Ich trat auf die Bühne hinaus, aber alle Augen blieben auf die beiden Frauen gerichtet. Wo ich auch war, ich war immer noch ein Geist. Ich warf einen zweiten Blick auf die Moderatorin und stöhnte in Gedanken. Ich hatte ihre Talkshow ein einziges Mal gesehen, während meiner Schwangerschaft; ich hatte vormittags im Bett gelegen, und mir war zu übel gewesen, um auch nur den Sender zu wechseln. An das genaue Thema kann ich mich nicht mehr erinnern, aber es war die Sorte von
»Jedes Leben hat einen Sinn«Psychoblabla gewesen, die von Leuten verschlungen wird, deren bloße Existenz die Botschaft Lügen straft. Aber mir hatte sie geholfen. Im Ernst. Sie hatte mir Kraft gegeben genug, um es bis aufs Klo zu schaffen, und danach fühlte ich mich viel besser.
Ich ging näher ran. Ich hatte eine Vorstellung, wer die Rothaarige war, die sich beim nächsten Schritt bestätigte. Ein paar Jahre älter als ich, obwohl man es ihr nicht ansah. Lange Beine, geschwungene Lippen und grüne Augen Jaime Vegas war die Verkörperung des Klischees von der sexy Roten. Sie schnürte den Sexappeal mit ihrem mittelprächtigen nekromantischen Talent zu einem Bündel und verkaufte das Ganze an die Trauernden. Manche Leute würden das eine verwerfliche Art nennen, seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Ich nenne es Überlebensfähigkeit.
»Aber im Ernst«, sagte Jaime, als die nächste Welle von Gelächter abgeebbt war. »Was ich tue, kann eine Menge Spaß machen, und diesen Aspekt meiner Arbeit liebe ich sehr, aber noch mehr liebe ich das, was ich dem Leben anderer Menschen damit geben kann das Gefühl, etwas abschließen zu können, den Frieden.«
Die Moderatorin nickte. »Und das ist es ja, worum es bei der Spiritualität geht, nicht wahr? Den Geist zu heilen. Nicht die Geister der Toten, sondern die der Lebenden.«
Oh Gott, hatte jemand eine Kotztüte da? Die Zuhörer strahlten und nickten und murmelten einen Refrain von Jas und Amens wie eine Armee von Zombies vor einer Vodounpriesterin.
»Bin’s bloß ich«, sagte ich, »oder ist das hier ein bisschen gespenstisch?«
Jaime fuhr zusammen wie eine versengte Katze. Als sie den Kopf drehte und mich sah, wurde ihr Gesicht weiß. Ich würde jetzt sagen, sie sah aus, als hätte sie einen Geist gesehen, aber für eine Nekromantin ist das ein alltäglicher Vorfall man sollte meinen, sie müsste inzwischen daran gewöhnt sein.
»Gute Show«, sagte ich. »Seid ihr bald fertig? Ich muss mit dir reden.«
»Jaime?«, sagte die Moderatorin, während sie sich vorbeugte.
»Was ist los? Hast du irgendwas gesehen?«
»Anscheinend habt ihr hier einen Hausgeist«, sagte Jaime.
»Normalerweise muss ich mich öffnen, um sie zu sehen, aber manchmal brechen sie einfach durch. Ungeduldig wie Kinder.« Ein Dolchblick in meine Richtung. »Ungezogene Kinder.«
»Ungezogen? Du bist eine Nekromantin. Ich hab nicht damit gerechnet, dass du jedes Mal zusammenfährst, wenn ein Geist «
»Kannst du ihn sehen?«, flüsterte die Moderatorin.
»Sie. Es ist eine Frau.« Jaime legte eine dramatische Pause ein. »Eine Hexe.«
Ein leises Keuchen aus dem Zuschauerraum.
»Keine wirkliche Hexe natürlich«, sagte Jaime, während ihre Stimme in den leisen Singsang des Geschichtenerzählers überging. »Obwohl sie glaubte, sie wäre eine. Sie glaubte sich allmächtig, aber sie war es nicht.«
»Bitte?«
»Sie führte ein gewalttätiges Leben und starb einen gewaltsamen Tod. Und jetzt ist sie ein gequälter, einsamer Geist, gefangen zwischen den Welten und auf der Suche nach Wiedergutmachung.«
Ich schnaubte.
»Und wenn nicht« Jaime warf einen weiteren wütenden Blick zu mir hin , »dann sollte sie es sein, denn sie hat vieles wiedergutzumachen.«
Ich verdrehte die Augen und verließ die Bühne.
Hinter den Kulissen legte ich mir einen Plan zurecht. Als Jaime die Bühne zehn Minuten später ebenfalls verließ, schloss ich mich ihr an.
»Okay, und nachdem du dir Luft gemacht hast, können wir uns vielleicht unterhalten. Du weißt offensichtlich, wer ich bin.«
Sie ging weiter.
»Du willst, dass ich mich in aller Form vorstelle?«, sagte ich. »Schön. Ich bin Eve Levine, Geist. Du bist Jaime Vegas, Nekromantin. Was ich brauche, ist «
Sie war um eine Ecke gebogen, bevor ich es gemerkt hatte.
Ich musste zurücktraben, um sie einzuholen.
»Ich weiß, dass du mich hören kannst«, sagte ich. »Und sehen. Also schenken wir uns diesen Mist doch und kommen zur «
Sie betrat eine Garderobe und schlug die Tür zu.
Ich ging hindurch. »Ich kann vielleicht durch Türen gehen, aber das gibt dir nicht das Recht, sie mir vor der Nase zuzuschlagen. Es ist immer noch unhöflich.«
»Unhöflich?«, sagte sie, wobei sie so schnell herumfuhr, dass ich unwillkürlich einen Schritt zurückwich. »Unhöflich? Du hast gerade der wichtigste Moment meiner Karriere, die eine große Chance, und du «
Ihre Hand flog zum Mund. Sie stürzte ins Bad und beugte sich würgend über die Toilettenschüssel.
»Wenn es dir hilft, auf mich hat sie genau die gleiche Wirkung.«
Jaime drehte sich zu mir um; ihre Augen blitzten. Sie richtete sich zu ihrer vollen Größe auf . . . mindestens zwölf Zentimeter weniger als meine eins zweiundachtzig. Wirklich einschüchternd.
»Such dir einen anderen Nekro, Eve. Einen, der dumm genug ist, dich mit Savannah reden zu lassen. Und falls du einen Rat willst: Wenn du einen gefunden hast, mach dir wenigstens die Mühe, dich an die etablierten Umgangsformen zu halten. Der Mist, den du da gerade abgezogen hast, hat vielleicht im Leben funktioniert, aber jetzt funktioniert er nicht mehr.«
Es gab dafür Umgangsformen? Verdammt.
Jaime stelzte an mir vorbei und zurück in die Garderobe.
Als ich ihr folgte, sah ich sie in einem überdimensionierten Kosmetikbeutel herumwühlen. Sie holte eine Schale und ein paar Säckchen mit Kräutern heraus.
»Eine Bannmischung?«, fragte ich. »Sieh mal, Jaime, ich weiß, dass du nicht viel wirkliche Nekromantie betreibst, also verrate ich dir jetzt ein kleines Geheimnis. Diese Mixtur funktioniert nur bei menschlichen Geistern. Wenn sie bei einem Paranormalen wirken soll, muss man schon ein verdammt guter Nekromant sein, und nimm’s mir nicht übel, aber «
Jemand rempelte mich von hinten an. Es war ein körperliches Anrempeln, das in Anbetracht der Tatsache, dass ich mich in der Welt der Lebenden aufhielt, unmöglich hätte sein sollen . . . was bedeutete, dass, wer auch immer da in mich hineingerannt war, ebenfalls ein Geist sein musste.
»Pass auf, wo du hintrittst, Süße.«
Ich sah über die Schulter und entdeckte einen Typen, etwa fünfzehn Zentimeter kleiner als ich, der Gamaschen und einen Strohhut trug und ein Maschinengewehr über die Schulter gehängt hatte. Er grinste, griff sich kurz an den Hut und schob sich an mir vorbei.
Ich stand auf einem Gehweg; auf der gegenüberliegenden Straßenseite sah ich ein rußverkrustetes Backsteingebäude mit vernagelten Fenstern, an dessen Haustür ein Blatt Papier klebte.
Ich schärfte meinen Blick, um es über die Straße hinweg lesen zu können. Es teilte mit, dass das Lokal nach dem Prohibitionsgesetz von 1920 geschlossen war.
Das Chicago der Geisterwelt also. Wie die meisten großen Städte im Jenseits war auch Chicago in seiner Blütezeit stehengeblieben, und viele der Bewohner, so wie mein untersetzter Gangster, spielten mit. Aber wenn ich hier war, dann bedeutete das, dass Jaime mich tatsächlich gebannt hatte. Mist.
Es gibt Methoden, das Gebanntwerden zu vermeiden. Ein paar Monate zuvor hatte Kristof die Unterstützung eines Nekro gebraucht und war zu einem gegangen, der ihm noch etwas schuldete. Der Typ machte den Fehler, zu glauben, Kristofs Tod hätte diese Ausstände verfallen lassen, und den noch größeren Fehler, Kristof bannen zu wollen, als dieser kam, um sie einzutreiben. Kris hatte etwas getan, das die Bannfähigkeit des Nekros für die nächsten paar Monate lahmlegte, als Erinnerung daran, dass man solche Spielchen mit einem Nast nicht spielte, auch dann nicht, wenn er tot war.
Ich brauchte also nichts weiter zu tun, als Kristof aufzutreiben und um Hilfe zu bitten. Das klang einfach . . . bis auf die Sache mit dem UmHilfeBitten. Oh, er würde helfen ohne eine Sekunde zu zögern und ohne etwas dafür zu erwarten.
Das war ja das Problem. Wenn ich etwas nahm, gab ich immer etwas zurück keine geschuldeten Gefallen, keine Ausstände.
Ich betrachtete Kris als Freund den besten, den ich in der Geisterwelt hatte , aber ich hasste es, ihn um irgendetwas bitten zu müssen. Ich hatte ihm schon genug genommen. Besser, es noch mal allein zu versuchen.
Jaimes Garderobe war leer.
»Verdammt«, murmelte ich.
Es gab Methoden, einen Nekro aufzuspüren, aber ich hatte mir nie die Mühe gemacht, sie zu lernen. Wir waren in Chicago, und es war Ende März. Wenn sie das Gebäude verlassen hatte, dann musste sie ihren Mantel mitgenommen haben und er war fort, ebenso wie ihre Handtasche. Aber der Koffer mit ihrem Outfit für die Show stand noch da. Ich erinnerte mich an das Würgen von vorhin und nahm an, dass sie etwas essen gegangen war. Ich erwog bei Savannah vorbeizuschauen, Jaime Zeit zum Essen zu geben und dann wiederzukommen. Mein letzter Besuch war erst ein paar Stunden her, aber in ein paar Stunden kann einem Mädchen im Teenageralter eine Menge zustoßen. Trotzdem . . . na ja, ich hatte mich auf Jaime eingeschossen, und ich hasste es, eine Spur aufzugeben, selbst wenn es wegen Savannah war. Ich würde noch Zeit für einen Besuch haben, wenn ich mit Jaime geredet hatte und während ich noch darauf wartete, dass die Parzen Janah auf meinen Besuch vorbereiteten. Im Moment würde ich auf der Spur bleiben.
Ich fand Jaime ein paar Häuser weiter; sie saß am Fenster eines Cafés und schob Salat auf ihrem Teller herum.
»In meinen Augen sieht das auch nicht sehr appetitanregend aus«, sagte ich.
Diesmal fuhr sie nicht zusammen, sondern sah sich nur um und musterte mich ärgerlich.
»Weißt du, was ich nicht verstehe?«, sagte ich, während ich den Stuhl gegenüber nahm. »Was sie sich dabei denken, Unkraut wie diese Löwenzahnblätter zu servieren und zu erwarten, dass die Leute dreimal so viel zahlen wie bei richtigem Salat.«
»Lass mich in Frieden«, sagte sie, ohne die Lippen zu bewegen.
»Ich will einfach nur mit dir reden.«
»Und das hier kommt dir vor wie ein guter Ort dafür?«, flüsterte sie. »Weißt du, was ich im Moment gerade tue? Ich rede mit mir selbst.«
Ihr Blick zuckte zu dem Tisch neben ihr hinüber, an dem eine ältere Dame mit gerunzelter Stirn die arme Frau anstarrte, die da eine Unterhaltung mit einem leeren Stuhl führte.
»Verdammt. Das ist wirklich ein Problem.«
»Und der Grund, warum du mich nicht in der Öffentlichkeit zu kontaktieren hast«, sagte sie, auch diesmal wieder fast ohne die Lippen zu bewegen.
»Sollen wir rausgehen?«
»Ich esse.«
»Sieht nicht so aus.«
Ein weiterer wütender Blick. Sie spießte ein paar Blätter von dem Unkraut auf und schob sie sich in den Mund.
»Ich sag dir was«, murmelte ich. »Du isst, und ich rede.«
Sie öffnete den Mund, um eine gereizte Antwort zu geben, brach dann ab und rieb sich mit einer Hand die Augen. Ihre Schultern sanken ab, und als sie die Hand sinken ließ, sah ich eine Erschöpfung in ihrem Gesicht, die kein Makeup verbergen konnte.
»Na schön«, sagte sie.
Sie hörte ohne einen einzigen Kommentar zu, als ich eine etwas bereinigte Version meiner Geschichte erzählte. Dann verschluckte sie ein Lachen.
»Eve Levine in geheimer Mission von Gott. Ich muss heute wirklich dämlich aussehen.«
»Glaub mir, wenn ich das Ganze erfunden hätte, hätte ich mir was Glaubwürdigeres einfallen lassen. Weißt du noch, vor ein paar Jahren als Paige und Lucas in der Geisterwelt gelandet sind? Hast du dich je gefragt, wie sie wieder zurückgekommen sind? Ich habe mich auf einen Deal eingelassen. Paige war dabei.
Ruf sie an und frag sie. Sie darf nicht drüber reden, aber sie wird es zumindest bestätigen können.«
»Oh, keine Sorge, ich werde sie anrufen. Sobald ich in die Nähe eines Telefons komme.«
»Gut. Bitte mach das.«
Ein Teil ihres Unbehagens war verflogen, aber ich konnte nach wie vor eine ganze Menge gesunder Wachsamkeit in ihrem Blick sehen. Nicht, dass mir das neu gewesen wäre. Ich hatte mein Leben mit dem Versuch verbracht, mir einen Ruf als faire Geschäftspartnerin aufzubauen, aber wenn man zugleich eine Reputation für die Schwarzen Künste hat, interessiert es niemanden, wie fair man ist. Wenn man jemandem die Augäpfel aus den Höhlen bläst, macht die Geschichte schneller die Runde als jeder Energiestoß, aber die Tatsache, dass das
»Opfer« einem vorher einen Dämon auf den Hals gehetzt hat, bleibt dabei aus irgendeinem Grund auf der Strecke.
Ich öffnete den Mund, um weiterzureden, als etwas am anderen Ende des Cafés meine Aufmerksamkeit erregte. Ich bin nicht leicht abzulenken, aber dies war ein Anblick, der noch die größte Konzentration gestört hätte. Ein Mann Anfang dreißig, der sich zwischen den Tischen hindurchschob, den Kopf in den Händen ganz wörtlich; er trug seinen abgetrennten Kopf in den Händen. Blut tröpfelte aus dem Halsstumpf und trocknete auf dem Kragen seines weißen Hemdes. Eingeweide quollen aus einem kleinen Loch im Hemd. Ringsum aßen und redeten und lachten die Leute. Was nur eins bedeuten konnte.
»Geist rechts hinter dir«, murmelte ich Jaime zu. »Und nicht mehr frisch.«
Sie drehte den Kopf, ließ ein winziges Stöhnen hören und sackte auf ihrem Stuhl zusammen.
»Kein erstmaliger Besucher, nehme ich an«, sagte ich.
Der Mann kam auf unseren Tisch zu. Sein Blick fiel auf mich.
»Was guckst du da, Gespenst?«, fauchte er mich an.
»Ich sehe mir das an, von dem du willst, dass ich’s mir ansehe«, sagte ich. »Spar dir die Spezialeffekte. Die Nekro ist nicht beeindruckt, und ich bin’s auch nicht.«
»Oh, mein furchtbares Ende ist dir also unangenehm? Entschuldige bitte. Nächstes Mal sorge ich dafür, dass ich auf ästhetische Art sterbe.« Er knallte seinen Kopf auf Jaimes Salatteller.
»Hier. Besser so?«
Jaime wurde bleich. Ich sah auf, um den Geist anzustieren . . .
nur dass dort oben keine Augen waren, was mein Stieren nicht sonderlich eindrucksvoll machte. Ich starrte stattdessen nach unten auf den Tisch, wo sein Kopf lag.
»Sie redet nicht mit dir, bevor du den Kopf nicht wieder aufsetzt«, sagte ich.
»Geh z. . . «
»Setz deinen gottverdammten Kopf wieder auf jetzt.«
Er verschränkte die Arme. »Warum sollte ich?«
Ich gab dem Kopf einen Stoß mit der Handfläche. Er flog vom Tisch, rollte über den Fußboden und blieb vor einem Blindenhund liegen. Der Hund hob den Kopf, und seine Nüstern blähten sich, als ihm eine Spur von Verwesung in die Nase stieg.
»Prima Fresschen«, sagte ich. »Na los, Junge, nimm einen Bissen.«
Der Körper des Geistes stürzte hinterher, quer durch das Restaurant, durch Tische und Gäste hindurch. Neben mir hörte ich ein unterdrücktes Schnauben Jaime versuchte sich das Lachen zu verkneifen. Zu mir hin formten ihre Lippen ein
»Danke«.
Der enthauptete Geist kam zu unserem Tisch zurückgestapft.
Allerdings war er nicht mehr enthauptet; offenbar war er zu dem Schluss gekommen, dass sein Kopf oben auf seinen Schultern sicherer war. Auch seine Kleidung hatte er in Ordnung gebracht. Dies war sein normales Aussehen als Geist. Die kopflose Version war eine Verkleidung, ein Trick, den manche Geister einsetzen, um ihren toten Körper ins Gedächtnis zu rufen, den Zustand, in dem sie sich im Augenblick ihres Todes befanden entweder, um an das Mitgefühl eines Nekromanten zu appellieren, oder um Menschen mit etwas Nekromantenblut einen höllischen Schrecken einzujagen.
»Und, fühlst du dich jetzt nicht schon viel besser?«, fragte ich.
»Oh, du hältst dich wohl für komisch, stimmt’s?«, antwortete er im Näherkommen. »Es ist immer komisch, sich über diejenigen lustig zu machen, denen es weniger gutgeht als einem selbst. Wenn du hier fertig bist, kannst du zurückgehen ins Paradies und dich über mich amüsieren den anderen erzählen, wie du mit dem Erdspuker umgesprungen bist.«
»Erdspuker?«
»Ich bin ein gequälter Geist!«, sagte er; seine Stimme hob sich wie die eines Predigers auf der Kanzel. »Dazu verdammt, die irdische Welt zu durchwandern, bis meine Seele Ruhe findet. Fünf Jahre lang fünf unvorstellbar lange Jahre bin ich jetzt hier gefangen, außerstande, ins Licht zu gehen, und ich will nur ein paar Minuten von der Zeit eines Nekromanten «
Jaime ließ den Kopf auf die Tischplatte fallen und stöhnte. Die ältere Frau am Nebentisch schob ihren Stuhl vorsichtig in die entgegengesetzte Richtung.
»Siehst du, wie sie mich behandelt?«, sagte der Mann zu mir.
»Sie könnte mich freigeben, aber nein, sie ist viel zu beschäftigt muss in Talkshows auftreten, den Leuten erzählen, wie sie gequälten Seelen hilft, ihren Frieden zu finden. Aber wenn ein wirklicher Geist auftaucht? Der wirkliche Qualen leidet?
Der nichts weiter will, als sich rächen an dem Menschen, der sein Leben beendete, seine Frau zur Witwe, seine Kinder zu Waisen machte «
»Du hast keine Kinder«, sagte Jaime durch zusammengebissene Zähne.
»Weil ich gestorben bin, bevor ich die Möglichkeit hatte!«
Ich beugte mich zu Jaime hin vor und senkte die Stimme.
»Sieh mal, der Typ ist ein Trottel, aber wenn du ihm helfen würdest, wärst du ihn los «
Sie stand abrupt auf und ging zur Tür. Als ich sie eingeholt hatte, sagte sie leise: »Frag ihn, wie er gestorben ist.«
Der Geist war unmittelbar hinter uns; er antwortete, bevor ich auch nur fragen konnte. »Ich erinnere mich gut! Der letzte Tag meines Lebens. Ich war glücklich, die Welt war schön «
»Es gibt keinen Oscar für Sterbeszenen«, sagte ich. »Die Tatsachen, bitte.«
»Ich war auf der Heimfahrt von einer geschäftlichen Besprechung«, begann er.
»Die in einer Bar stattgefunden hatte«, ergänzte Jaime, während sie in einen Durchgang abbog.
»Es war nach Feierabend«, sagte er. »Gegen ein, zwei Gläser ist ja wohl nichts einzuwenden.«
»Oder fünf oder sechs.« Sie blieb stehen und drehte sich zu mir um; von der Straße her konnte man sie jetzt nicht mehr hören. »Der Gerichtsmediziner hat einen Blutalkoholpegel von zweieinhalb Promille ermittelt.«
»Sicher, in Ordnung, ich war angetrunken«, sagte der Mann.
»Aber das war nicht das Problem. Das Problem war diese Siebzehnjährige, die auf meiner Spur einen Joyride gemacht hat!«
»Du warst auf ihrer Spur«, sagte Jaime. »Es gibt einen Polizeibericht, in dem’s steht. Wer dich umgebracht hat? Der Idiot, der sich ans Steuer von seinem Cabrio gesetzt hat, obwohl er so betrunken war, dass er nicht mal mehr den Gurt anlegen konnte. Dieses Mädchen, in das du da reingefahren bist die wird zeit ihres Lebens mit Beinschienen gehen. Und du verlangst von mir, ich soll dir helfen, dich an ihr zu rächen?«
Ich drehte mich mit schmalen Augen zu dem Mann um. Er fing meinen Blick auf und tat einen langsamen Schritt rückwärts; dann drehte er sich um und stelzte davon.
»Glaub bloß nicht, dass es vorbei ist!«, rief er über die Schulter zurück. »Ich komme wieder. Und beim nächsten Mal wirst du diese Geisterschlampe nicht als Leibwächter dabeihaben.«
»Du willst, dass ich dir helfe, Eve?«, sagte Jaime. »Sorg dafür, dass er nicht wiederkommt. Überhaupt nicht mehr.«
Ich lächelte. »Mit Vergnügen.«
Massachusetts 1892
Die Nixe sog die Luft ein. Es roch nach Pferden, Menschen und dem Schweiß und Kot von beiden. Daran hatte sich nichts geändert. Sie stand an einer Straßenkreuzung, breit genug, dass vier oder fünf Zweisitzer nebeneinander hätten fahren können. Metallene Schienen waren ins Straßenpflaster eingebettet, und ein seltsamer, pferdeloser Wagen glitt auf ihnen entlang. Hölzerne Masten säumten die Straße, und Drähte waren von Mast zu Mast gespannt; sie kreuzten sich über den Reihen von Ziegelbauten, drei, vier, sogar fünf Stockwerke hoch.
Die lebhaften Marktplätze, die engen gepflasterten Straßen, die hübschen kleinen Läden, an die sie sich erinnerte, waren verschwunden. Als sie das letzte Mal auf der Erde gewandelt war, hatte diese Neue Welt aus nichts anderem bestanden als ein paar trostlosen Siedlungen auf einem wilden Kontinent, einem Ort, an den man Mörder und Diebe verbannte.
Die Nixe ließ die Schultern kreisen, drehte den Hals und versuchte sich an diese neue Gestalt zu gewöhnen. In all den Jahren, in denen sie in MarieMadeline gewohnt hatte, hatte sie sich nie ganz an den Gestank gewöhnen können, den Schmerz und die Mühsal einer menschlichen Existenz. Aber zugleich hatte sie eine Freiheit gefunden, die sie in ihrer natürlichen Gestalt nie gekannt hatte die Freiheit, in der Welt der Lebenden zu handeln und sich das Chaos selbst zu schaffen. Jetzt steckte sie wiederum in einer anderen Form, etwas zwischen Mensch und Dämon einem Geist.
Eine Kutsche schwenkte in ihre Richtung. Sie streckte eine Hand aus, und ihre Finger krümmten sich zu Klauen, um eine Handvoll Fleisch herauszureißen, wenn das Pferd vorbeitrabte.
Aber das Tier rannte durch ihre Hand hindurch, ohne auch nur angstvoll mit den Augen zu rollen. Sie zischte wütend, als es sich die Straße entlang entfernte. Selbst ein menschlicher Geist sollte in der Lage sein, ein Pferd zu erschrecken. Früher einmal hätte ihre bloße Anwesenheit genügt, um dem Tier solche Angst zu machen, dass es alles in seiner Nähe niedergetrampelt hätte. Sie schloss die Augen und versuchte sich das Chaos vorzustellen, das sie hätte schaffen können. Und jetzt?
War sie nach zweihundert Jahren der Verdammnis entkommen, nur um zu winseln und zu beklagen, was sie verloren hatte?
Nein, es musste eine Möglichkeit geben es gab immer eine Möglichkeit.
Die Nixe tat ein paar Schritte die Straße entlang, prüfte die Menschen, die ihr begegneten, und kostete ihre Gedanken. Die Männer waren ihr verschlossen. Das hatte sie schon kurz nach ihrer Flucht festgestellt. Nachdem sie in der Gestalt einer Frau gestorben war, waren ihre Kräfte jetzt auf dieses Geschlecht beschränkt.
Ihr Blick glitt von Gesicht zu Gesicht auf der Suche nach den richtigen Anzeichen, forschte erst in den Augen, dann im Geist dahinter. Manchmal stießen Menschen auf einen Augenblick von solcher Bedeutung, dass ihre trüben Hirne ihn nicht erfassen konnten, und dann nahmen sie dieses Körnchen Wahrheit und warfen es in den Müll, aus dem es die Sänger und Dichter wieder herausklaubten und zu jaulenden Oden an die Liebe verbrieten. Die Augen waren wahrhaftig die Fenster der Seele. Klare Augen, und sie ging ohne einen zweiten Blick weiter.
Ein paar Wolkenstreifen hinter einem Blick, und gelegentlich zögerte sie, aber meist tat sie es nicht. Stürme waren, was sie suchte die finsteren Gewitterwolken einer sturmgepeitschten Seele.
Sie hatte die Straße zur Hälfte hinter sich gebracht und außer ein, zwei Regenwolken nichts gefunden. Dann musste sie vor einer Frau innehalten, die den Blick gesenkt hatte. Die Frau war Ende zwanzig und hatte ein breites, unscheinbares Gesicht; sie wartete auf dem Gehweg vor einem Geschäft. Ein Mann kam aus dem Laden, dunkel und wettergegerbt, gekleidet wie ein Arbeiter. Als er die Frau entdeckte, erhellte ein Lächeln sein Gesicht.
»Miz Borden«, sagte er, während er sich an den Hut tippte.
»Wie geht es Ihnen?«
Die Frau sah mit einem scheuen Lächeln auf. »Sehr gut, danke. Und Ihnen?«
Bevor er antworten konnte, kam ein großer Mann mit weißem Backenbart mit langen Schritten aus dem Laden, seine Augen blitzten. Er packte die Frau am Arm und zog sie auf die Straße hinaus, ohne dem anderen Mann auch nur einen Blick zuzuwerfen.
»Was machst du da?«, zischte er.
»Ich habe nur gegrüßt, Vater. Mr. O’Neil hat guten Tag gesagt, und ich «
»Es ist mir gleich, was er getan hat. Er ist Landarbeiter. Nicht gut genug für jemanden wie dich.«
Welcher Mann ist gut genug für mich, Vater? Keiner, wenn das bedeuten würde, dass du und sie ein weiteres Dienstmädchen einstellen müsstet, um mich zu ersetzen.
Der Gedanke lief auf einer Welle der Wut durch den Geist der Frau, aber nur ein winziges Lippenstraffen verriet ihn nach außen hin.
Als die Frau den Blick weit genug hob, sah die Nixe in Augen, die vor Hass fast schwarz waren. Sie lachte in sich hinein. Diese Frau wünschte ihrem Vater also den Tod . . . genau wie damals MarieMadeline. Was für ein verheißungsvoller Auftakt für dieses neue Leben.
Die Nixe streckte die Hand aus und strich mit den Fingern über die bleiche Wange der Frau. Hättest du gern, dass ich dir die Freiheit gebe, Liebes? Es wird mir ein Vergnügen sein.
6
Ein Erdspuker also. Ich hatte die Bezeichnung noch nie gehört, aber ihre Bedeutung war mir klar. Wenn wir sterben, gehen die meisten von uns ins Jenseits, aber ein paar bleiben zurück. Manche sind das, was der kopflose Geist zu sein behauptete Seelen, die noch etwas zu erledigen haben und deshalb nicht fortkönnen. Nur, dass sie in Wirklichkeit durchaus fortkönnten. Wie die weinende Frau in Savannahs Haus sie stecken fest, weil sie glauben, noch etwas zu erledigen zu haben.
Das hätte das Problem des kopflosen Geistes sein können, aber ich hätte Geld darauf verwettet, dass er in die zweite Kategorie dieser Erdspuker gehörte er war einer von denjenigen, die nach ihrem Tod zu einem Aufenthalt in dieser Zwischenwelt verurteilt werden. Wenn ich richtig lag, würde er hierbleiben, bis die höheren Mächte der Ansicht waren, dass er seine Lektion gelernt hatte. Und unter den gegebenen Umständen sah es ganz so aus, als ob er noch im nächsten Jahrtausend die Nekromanten belästigen würde. Aber eine bestimmte Nekromantin würde ich jetzt aus seinem Adressbuch streichen.
Mein Opfer war auf dieser Ebene gefangen und konnte nicht fliehen, insofern war es einfach, ihm zu folgen. Ich war nicht einmal fünfzehn Meter hinter ihm, aber er bemerkte mich nicht. Ich hatte mich umgezogen und trug jetzt Jeans und eine weite Windjacke; die Haare hatte ich zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden und eine Baseballkappe darauf gesetzt.
Außerdem hatte ich eine Tarnformel vorbereitet und hielt meine AspicioKräfte in Reserve, wobei ich von beiden nicht wusste, wie wirksam sie auf dieser Ebene sein würden. Ich hatte wirklich eine Menge zu lernen.
Ich folgte ihm durch halb Chicago, was die Fahrt mit zwei städtischen Bussen und der SBahn erforderte. Schließlich marschierte er über den Rasen vor dem hässlichsten Gebäude, das ich jemals gesehen hatte. Es sah aus wie meine alte Highschool, die in meinen Augen immer gewirkt hatte wie ein Gefängnis.
Das mag teilweise auf meine eigene Einstellung zur Schulbildung zurückgehen, aber ich schwöre, der Architekt dieser Schule hatte eine ehrliche Abneigung gegen Schüler gehegt. Wahrscheinlich war er während seiner eigenen Schulzeit dauernd in den Fahrradkeller gesperrt worden und hatte allen nachfolgenden Schülergenerationen Rache geschworen. Und dieser Bau hier bestand aus den gleichen kackbraunen Backsteinen, hatte die gleiche einschüchternde, trostlos langweilige Fassade, die gleichen winzigen Fenster. Es war sogar von einem ganz ähnlichen, drei Meter hohen Zaun umgeben.
Meine erste Theorie war natürlich, dass das Gebäude ein Gefängnis war. Sicher kein übler Ort für jemanden, der alkoholisiert Unfälle verursachte. Aber als ich an dem uralten Schild an der Einfahrt vorbeikam, las ich dort DALEWOOD PSYCHIATRIC HOSPITAL. Der kopflose Geist trieb sich also in einer psychiatrischen Klinik herum? Geholfen hatte es ihm bisher offenbar nicht.
Auf dem Parkplatz wartete ich hinter einem Kleinlaster, bis mein Geist durch eine Seitentür im Haus verschwunden war; ein halbes Dutzend Angestellte stand dort auf einen schnellen Nikotinstoß zusammen und zog in der bitteren Kälte die Schultern ein, während die Sonne gerade hinter dem Horizont verschwand. Ich überquerte den graslosen Rasen und ging an den Rauchern vorbei. Zwei Schritte von der Tür entfernt verstellte mir ein muskulöser, bulldoggenhässlicher Wachmann den Weg. Ich wurde nicht langsamer, weil ich erwartete, geradewegs durch ihn hindurchzugehen. Stattdessen rannte ich gegen eine Wand aus Fett und Muskeln. Noch ein Geist. Verdammt.
»Was glaubst du eigentlich, wo du hingehst, Junge?«, knurrte er.
Als ich den Kopf hob, zwinkerte er verblüfft und korrigierte sich. »Sieh mal, Lady, das hier ist Privatbesitz. Wenn du beitreten willst, musst du mit Ted reden.«
Ich sah ihm geradewegs in die Augen und aktivierte meine Fähigkeit, Leute vorübergehend zu blenden.
»Sag mal, bist du taub oder was, Süße?«, fragte er. »Ich weiß, dass ich gut aussehe, aber du bist nicht mein Typ. Also hör auf, mich anzustieren, und setz dich in Bewegung, bevor dein hübscher Arsch Bekanntschaft mit meinem Stiefel macht.«
So sehr ich bereit bin, mich gegen eine Beleidigung zu wehren, bin ich auch gut darin, ein Hindernis zu erkennen, wenn ich eins sehe. Ja, wahrscheinlich hätte ich ihn einfach auf die althergebrachte Art in den Arsch treten können, aber das hätte vielleicht meinen kopflosen Geist gewarnt. Also murmelte ich eine unaufrichtige Entschuldigung und trabte zurück zum Ende der Einfahrt.
Als ich noch ein Kind war und meine Mutter mir ständig predigte, ich solle mich an schulischen Aktivitäten außerhalb des Stundenplans beteiligen, trat ich dem Leichtathletikklub bei. Und ich war verdammt gut. Ich schaffte es bis ins Finale der städtischen Meisterschaften. Ich erinnere mich immer noch an den Moment, als ich an der Startlinie stand, vor einer Zuschauermenge, zu der meine Mutter und alle Ältesten des Hexenzirkels gehörten. Ich begab mich in Position und wartete auf den Startschuss, dann warf ich mich nach vorn . . . und mein Schnürsenkel verfing sich im Block. Ich landete platt auf dem Bauch. Und das war so ziemlich die Art, wie ich mich im Moment fühlte. Mein erster wirklicher Job in der Geisterwelt, und ich schluckte gleich an der Startlinie Staub. Das Schlimmste daran war, dass mein Fehler nicht zu entschuldigen war
wie wenn man vergisst, seinen Laufschuh zuzubinden. Dieser ErdspukRausschmeißer hatte unverkennbar gemerkt, dass ich ein Geist war; deshalb hatte er mir den Weg versperrt. Woher hatte er das wissen können? Ich hatte sorgfältig darauf geachtet, durch nichts hindurchzugehen. Und warum hatte ich nicht gemerkt, was er war? Grundlegende Fähigkeiten im Jenseits. Es war Zeit, mir einzugestehen, dass ich Unterstützung brauchte.
Mein Haus lag in der historischen Altstadt von Savannah. Vor der Geburt meiner Tochter hatte ich die paranormale Welt nach Quellen größerer Macht abgesucht, und dabei war ich mehrmals nach Savannah gekommen. Die Stadt hatte mir gefallen.
Savannah war die Verkörperung des kultivierten, altmodischen Südstaatencharmes, und in mir steckte kein Gramm Kultiviertheit oder altmodischer Charme, was mir nur recht war. Aber irgendetwas an dieser Stadt schien zu mir zu sprechen, so sehr, dass ich meine Tochter nach ihr benannte. Und nach meinem Tod, als ich mir den Wohnort aussuchen konnte, wählte ich Savannah.
Mein Haus war eine Stadtvilla aus der Vorkriegszeit mit zwei Stockwerken und Veranden auf dünnen, mit Efeu umrankten Säulen. Ein schmiedeeiserner Zaun umgab den winzigen Vorgarten, der so mit Palmen, Farnen und Rhododendren bewachsen war, dass ich dort noch nie einen Grashalm gesehen hatte.
Kristof sagt, es sei das Haus einer Südstaatenschönheit, und lacht jedes Mal dabei. Wenn er mich damit aufzieht, brauche ich ihn nur daran zu erinnern, wohin es ihn verschlagen hat. Da haben wir einen Mann, der sein Leben in Penthousewohnungen mit ein paar hundert Quadratmeter Wohnfläche verbracht hat, jede nur denkbare moderne Annehmlichkeit in Reichweite und Schwärme von Angestellten, die diese Annehmlichkeiten für ihn bedienen, wenn ihm besagte Reichweite einmal nicht nah genug sein sollte. Und wo hat er das Jenseits zu verbringen beschlossen? Auf einem Boot. Nicht einer dreißig Meter langen Luxusyacht, sondern einem winzigen Hausboot, das knarrt, als würde es gleich auseinanderbrechen.
Aber im Moment war Kris sicherlich nicht auf seinem Hausboot. Er würde vielmehr da sein, wo er fast jeden Abend der letzten zweieinhalb Jahre verbracht hatte. In meinem Haus. Er hatte sich das Vorbeikommen angewöhnt, sobald er gemerkt hatte, dass wir uns in derselben Dimension befanden. Nicht einmal eine Woche nach seinem Tod war er auf meiner Türschwelle aufgetaucht, war hereingekommen und hatte es sich bei mir gemütlich gemacht, ganz so, wie er es dreizehn Jahre zuvor in meiner Wohnung getan hatte.
Ich hatte zunächst nicht gewusst, was ich davon halten sollte, hatte es auf den Sterbeschock geschoben und hatte ihm in aller Höflichkeit erklärt, dass ich das nicht für eine sonderlich gute Idee hielt. Er ignorierte mich. Und blieb dabei, mich zu ignorieren, auch als ich zu weniger höflichen Formen der Zurückweisung überging. Nach einem Jahr machte ich mir nicht mehr die Mühe, mit etwas Nachdrücklicherem als einem tiefen Seufzer zu reagieren, und er wusste, dass er gewonnen hatte.
Inzwischen rechnete ich damit, ihn dort zu sehen ich freute mich sogar darauf.
Als ich durch das vordere Fenster ins Innere spähte, sah ich eine Sekunde lang exakt das, was ich zu sehen erwartet hatte.
Kristof saß in seinem üblichen Sessel vor einem knisternden Kaminfeuer, hatte sich einen SingleMaltScotch eingegossen und amüsierte sich mit seiner Abendlektüre, einem Comicband oder einer alten Ausgabe von Mad. Dann zerstob das Bild, und was ich sah, waren ein leerer Kamin, ein leerer Sessel und eine Karaffe, in der der Stöpsel steckte.
Ich versuchte eine Welle der Panik zurückzudrängen. Kris war immer hier, verlässlich wie die Gezeiten. Na ja, außer am Donnerstag, aber das lag daran, dass wir an den Donnerstagen
Mist! Heute war Donnerstag, oder?
Ich sprach eine Reiseformel, und mein Haus verschwand.
Ein Schwall kalter Luft schlug mir entgegen. Die lähmende Kälte des Zementbodens kroch durch die Sohlen meiner Laufschuhe. Vor mir befand sich eine zerschrammte Plexiglasscheibe, so dicht mit Kratzern überzogen, dass ich meine AspicioKräfte gebraucht hätte, um zu erkennen, was auf der anderen Seite lag.
Rechts von mir stieg wie eine Woge eine Sitztribüne auf; die hölzernen Bretter waren so abgenutzt, dass die ursprüngliche Farbe nicht einmal mehr zu erraten war.
Ich schob mich an der Plexiglasscheibe vorbei, bis ich etwas erkennen konnte. Zwei aus Geistern bestehende Mannschaften jagten über das Eis; die Kufen flogen, Geschrei und Gelächter mischten sich mit dem Lärm von den Zuschauerbänken.
Ich suchte das Eis nach Kris’ blondem Kopf ab. Ich fand ihn gleich am ersten Platz, den ich mir vornahm auf der Strafbank.
Eishockey war immer Kris’ heimliche Leidenschaft gewesen.
Heimlich deshalb, weil es für einen Nast kein passendes Hobby war, und für einen NastErben schon gar nicht. Es gab zwei Sportarten, von denen man erwartete, dass ein Kabalensohn sie betrieb: Golf, weil so viele Geschäftsabschlüsse auf dem Platz ausgehandelt wurden, und Racquetball, weil es nichts Besseres gab als ein schnelles, hartes Spiel, um den Vizepräsidenten zu zeigen, warum sie sich im Konferenzraum nicht mit einem anlegen sollten. Baseball und Basketball waren gute Sportarten zum Zusehen, weil man potenzielle Geschäftspartner mit den entsprechenden Sitzplätzen beeindrucken konnte.
Aber Eishockey? Das war kaum besser als AllStar Wrestling.
Nasts gingen nicht zu Eishockeyspielen, und ganz bestimmt beteiligten sie sich nicht an ihnen.
Als Kind hatte Kristof sich nie auch nur ein Paar Schlittschuhe angezogen was für einen gebürtigen Kalifornier wahrscheinlich nicht weiter überraschend war. An der Harvard hatte er sich das Zimmer mit einem Studenten geteilt, der in der Hockeymannschaft war. Bringt man Kristof auch nur in die Nähe von etwas, das sich anhört, als würde es Spaß machen, dann muss er es ausprobieren. Als er wieder in L. A. wohnte, trat er der League bei allerdings unter einem falschen Namen, damit sein Vater es nicht herausfand.
Als wir zusammen waren, ging ich zu all seinen Spielen.
Trotzdem redete ich jede Woche drum herum, erzählte ihm, dass ich vielleicht kommen würde, wenn ich gerade Zeit hatte, aber er sich bitte nicht darauf verlassen sollte. Natürlich versäumte ich niemals ein Spiel. Ich konnte einfach nicht widerstehen, ich musste ihn spielen sehen, strahlend hinter seinem Visier, wenn er übers Eis jagte, breit grinsend, ob er nun traf, danebenschoss oder auf dem Hintern landete. Noch während er auf der Strafbank saß, konnte er kaum ernst bleiben. Wie hätte ich mir das entgehen lassen können?
Er hatte sich dieser Jenseitsmannschaft vor etwa einem halben Jahr angeschlossen, und zu diesem Zeitpunkt waren wir uns wieder so nahe gewesen, dass ich darauf achtete, immer dabei zu sein und zuzusehen.
Ich warf einen Blick auf die Anzeigentafel und fragte mich, ob ich bis zur Pause warten oder zu der psychiatrischen Klinik zurückkehren und versuchen sollte, allein klarzukommen. Ich war drauf und dran, zurück zu der Markierung zu teleportieren, die ich bei der Klinik angebracht hatte, als Kristof neben mir an die Bande donnerte, hart genug, dass ich zusammenfuhr.
»Hallo, meine Schöne«, sagte er.
Er kam neben mir zum Stehen und grinste; sein Lächeln war so breit, dass mein Herz einen Purzelbaum machte. Unmöglich bei einem Geist, ich weiß schon, aber ich schwöre, ich spürte, wie es sich überschlug, so wie es das immer getan hatte, seit ich dieses Grinsen zum ersten Mal gesehen hatte das Tor zu
»meinem« Kris, dem, den er vor allen anderen verbarg.
Als er die Unterarme auf die Bande stützte und sich vorbeugte, kippte ein dickes Haarbüschel über seinen Kopf nach vorn. Ich widerstand der Versuchung, die Hand auszustrecken und es nach hinten zu streichen, aber ich gestattete mir, einen Schritt näher heranzukommen, bis in Reichweite.
»Ich dachte, du bist auf der Strafbank«, sagte ich.
»Von Zeit zu Zeit lassen sie mich mal raus.«
»Dumm von ihnen.«
Unsere Blicke trafen sich, und sein Grinsen wurde noch einen Zentimeter breiter. Wieder dieses schulmädchenhafte Flattern im Herzen gefolgt von einem ganz und gar nicht schulmädchenhaften Hitzegefühl. Er beugte sich noch weiter vor und öffnete den Mund, um etwas zu sagen.
»Hey, Kris!«, brüllte jemand hinter ihm. »Wenn du mit Eve flirten willst, sag ihr, sie soll auf der Strafbank auf dich warten.
Du bist ja demnächst sowieso wieder dort.«
Kris hob einen behandschuhten Mittelfinger in seine Richtung.
»Er hat recht«, sagte ich, während ich das warme Gefühl abschüttelte und zurücktrat. »Zeit zu spielen, nicht zu reden.
Ich wollte bloß sagen, dass es mir leidtut, dass ich so spät dran bin. Ich hatte zu tun, und ich hab’s komplett vergessen.«
Ein leiser Seufzer, als das Grinsen verblasste. »Was hat Savannah jetzt wieder gebraucht?«
»Sav. . . ?«
Über den Tagen, die ich in dem zeitverlangsamten Thronsaal und in dieser Höllendimension verbracht hatte, hatte ich vergessen, dass in Wirklichkeit nur ein paar Stunden vergangen waren, seit ich Kristof das letzte Mal gesehen hatte.
»Nein, es geht nicht um Savannah«, sagte ich. »Die Parzen haben mir einen Job verschafft. Anscheinend bist du nicht der Einzige, der meint, ich bräuchte was zu tun.«
»Die Parzen? Was «
Ein Ruf von einem seiner Mannschaftskameraden unterbrach ihn. Er winkte zurück, um ihnen zu sagen, dass er gleich kommen würde.
»Geh schon«, sagte ich. »Ich kann’s dir später erzählen.«
»Von wegen. Du schmeißt mir nicht diesen Brocken hin und rennst dann weg. Bleib, wo du bist.«
Er glitt auf seinen Kufen zurück zu seinen Kumpels, und ein paar Minuten später hatte er die Schlittschuhe ausgezogen und steckte er wieder in Straßenkleidung. Wir gingen hinaus, um zu reden.
»Kopfgeldjagd für die Parzen also, ja?«, fragte er, während wir uns auf ein Paar Schaukeln vor der Eishalle setzten. »Na ja, wenn es dich davon abhält, wie besessen « Er verschluckte den Rest des Satzes. »Wenn du wissen willst, wie man mit Heimsuchern fertig wird, bist du an der richtigen Adresse.«
»Du hast das schon mal gemacht?«
»Überrascht dich das?«
Ich lachte. »Eigentlich nicht.«
»Hab’s mal ausprobiert. Ich weiß nicht, was so toll daran sein soll. Ein Hobby für Feiglinge und Typen, die gern Machtspielchen spielen. Aber ich habe genug mitgekriegt, um dir bei diesem Kerl helfen zu können. Als Erstes müssen wir dir beibringen, wie du an den Erdspukern vorbeikommst, ohne dass sie dich gleich als Geist erkennen.« Er sprang von der Schaukel, kam ungeschickt auf, fing sich aber, bevor er das Gleichgewicht verlor. »Geisterlektion Nummer eins.«
»Du brauchst nicht «
»Weiß ich.«
Seine Finger schlossen sich um meine, und wir verschwanden.
Im Inneren der Eishalle wechselten wir zurück in die Welt der Lebenden. Auf der anderen Seite der Plexiglasscheibe torkelte eine Gruppe von Vorschulkindern auf winzigen Schlittschuhen vorbei. Die Kinder steckten in Skianzügen, in denen sie so breit wie hoch aussahen, und sie wippten und schwankten wie eine Herde betrunkener Pinguine, als sie versuchten, die paar Meter Eisfläche zwischen ihnen und der Lehrerin zu überqueren. Ein kleines Mädchen in der Mitte der Gruppe stolperte und brachte noch ein paar Mitschüler zu Fall. Geschrei brandete auf, und eine Gruppe von Eltern kam angestürzt, woraufhin ein paar Kinder am Rand der Gruppe ebenfalls hinzufallen beschlossen, um auch etwas von dem Mitleid abzubekommen.
»Du musst Sean und Bryce beigebracht haben, wie « Ich brach ab, als mir auffiel, dass ich allein war. »Kris?«