Fabian hörte, wie Tobi ihnen auf der Gegenfahrbahn mit dem Jeep folgte. Die Strecke zu Fuß zurückzulegen war beileibe kein Zuckerschlecken, aber dort lag offensichtlich der Begleiter des Mädchens. Wie die Kleine die ganze Strecke die zwei Rucksäcke getragen hatte ... Respekt. Was Adrenalin doch bewirken konnte. Zum Beispiel, dass es in seinem Magen grummelte. Mancher SEKler kotzte erst mal, wenn der Kampfrausch – ausgelöst durch den Adrenalinstoß – abflaute. Er hingegen bekam dann immer Hunger. Aber auf die Müsliriegel im Wagen musste er wohl noch ein bisschen warten.

Dann sah er in einiger Entfernung das Blut im Schnee und beschleunigte seine Schritte. Das Mädchen hingegen stürzte sich förmlich voran. Dann warf sie sich zu Boden, direkt hinter ein querstehendes Fahrzeug.

»Goof! Goof! Werde wach! Wir werden gerettet!«

Wohl keine Reaktion, denn jetzt wiederholte sie es noch einmal energischer.

Nun erreichte auch Fabian das Auto. Ein Junge lag im Schnee auf der Seite, glücklicherweise trug er Winterklamotten sowie Skimaske und -brille. Ansonsten wäre er sicher bereits tot. Was Fabian hingegen am linken Arm des Jugendlichen sah, gefiel ihm überhaupt nicht: Ein Ärmel war blutgetränkt. Das sah nicht gut aus..

Er ging in die Hocke, löste sanft die zitternden Hände des Mädchens vom Jungen und richtete ihn behutsam in eine sitzende Position auf. Ein schneller Griff in eine der unzähligen Taschen der Wintertarnkampfkombination förderte ein kleines Glasröhrchen hervor, das wie das Glas einer Sanduhr geformt war. Mit geübtem Griff zerbrach er es in der Mitte und schob die Hälften in die Nasenlöcher des Jungen. Dann hielt er ihn fest. Es dauerte keine zwei Sekunden, da musste er den Verletzten mit aller Kraft auf dem Boden halten, damit dieser nicht unkontrolliert aufsprang. Mit den Schneeschuhen an den Füßen wäre er sicher gestürzt.

»Ganz ruhig, Junge. Du bist in Sicherheit. Beruhig dich!«

Der Junge warf den Kopf hin und her, suchte etwas, dann sah er das Mädchen, das direkt hinter Fabian stand.

»Pia!«, stöhnte er auf. »Alles okay bei dir?« Ein kleiner Gentleman.

Geschluchze hinter Fabian, dann fiel das Mädchen auf die Knie und dem Verletzten in die Arme, wo beide sich so gut es ging umklammerten und ganze Bäche an Tränen niedergingen. Fabian stand auf und ging ein paar Schritte zurück. Die beiden sollten sich erst mal beruhigen. Nur die Sorge um ihren Kumpel hatte diese Pia wohl auf den Beinen gehalten. Jetzt brauchte sie ihre zwei, drei Minuten. Sollte sie haben.

»Räum bitte die Hinterbank aus, damit unsere Gäste Platz haben.«

»Aye aye«, kam es zurück.

»Und bitte Munition und Waffen so wegpacken, dass die Kleinen nicht drankommen.« Man wusste ja nie.

 

Die Ausbeute war gering gewesen, die Geiselnehmer hatten bis auf Waffen, Munition und ein paar Rationen alter Camping-Nahrung in Dosen nicht allzu viel dabei gehabt. Das bisschen Verbandszeug hatten sie zu ihren Vorräten gepackt, der Rest wanderte sicher verschnürt in einem Seesack in den Kofferraum.

Plötzlich brach das Heck aus und Fabian konnte nur mit Mühe einen Zusammenstoß mit dem nächsten Wagen verhindern.

»Konzentrier dich«, zischte er zu sich selbst und raunte ein kurzes »Sorry« in die Runde, was kommentarlos entgegengenommen wurde. Dann richtete er sein Augenmerk wieder auf das eigentliche Fahren, wenn man das Vorankommen mit zehn bis fünfzehn Stundenkilometern so nennen wollte. Ihr Wagen schlitterte mehr über das knöchelhohe Weiß, als dass er geradeaus fuhr. Sollten sie das alles überleben, wollte er nie wieder irgendetwas Weißes sehen. Die Abwesenheit von Farben und Unterscheidbarkeit machte das Fahren zu einer nicht enden wollenden Qual. Immerhin hatten sie nun Begleitung.

Pia und Goof, wie die beiden sich mittlerweile vorgestellt hatten, saßen auf der Rückbank, die Hand des Mädchens lag auf dem Oberschenkel des Jungen. Sie hatten sich den Arm angesehen. Er war gebrochen und musste gerichtet werden. Händchenhalten mit Goof fiel erst mal aus. Goof. Komischer Spitzname. Wobei Thunder nicht weniger bescheuert war, wenn er genauer darüber nachdachte. Vielleicht ... zu einer früheren, unbeschwerte Ren Zeit ... war Goof ein lustiger Kerl gewesen. Jetzt saß der Jugendliche mit dem extrem schlanken Gesicht einfach nur da und stierte in die Ferne, umklammerte seinen gebrochenen Arm und bemühte sich, nicht schon wieder ohnmächtig zu werden. Aber die Schmerztabletten waren aus und das bisschen noch vorhandene Morphium wollte er nicht an einen Armbruch verschwenden. Vielleicht brauchten sie es noch für eine wirklich hässliche Verletzung.

Die Fahrt verlief konversationslos, die Minuten krochen dahin. Tobi bemühte sich sichtlich etwas zu schlafen, was ihm aber nicht recht gelingen wollte. Die beiden auf der Rückbank stierten einfach nur vor sich hin.

»Wo können wir euch zwei Hübschen eigentlich absetzen?«

Die Hinterbänkler tauschten ein paar schnelle Blicke aus.

»Wohin sind Sie denn unterwegs?« Ein Blick hinüber zu Tobi, der sich im Sitz aufrichtete und mit den Achseln zuckte.

»Nach Norden«, hielt sich sein Kumpel bedeckt.

»Wir ebenfalls.« Dann war für einige Minuten Ruhe, wobei Fabian im Rückspiegel das mehr aus Fragen denn Antworten bestehende Mienenspiel mit ansehen konnte.

Irgendwann reichte es ihm.

»Also gut. Wir sind unterwegs nach Eckernförde.«

Der Junge lachte auf, nur um sofort mit einem schmerzerfüllten Stöhnen abzubrechen.

»Nicht euer Ernst, oder? Pia, komm, sag es ihnen.«

»Was soll sie uns sagen?«

Das Mädchen druckste herum: »Na, erst mal natürlich ein großes Dankeschön für unsere Rettung und so. Ohne euch wären wir wohl beide nicht mehr am Leben.«

»Geschenkt«, unterbrach Fabian sie. »Und was sollst du uns wirklich sagen?«

Pia warf Goof einen verzweifelten Blick zu, dann ließ sie die Schultern sinken.

»Auch wenn es komisch klingt, ich weiß. Wir wollten ebenfalls dorthin.«

Nun musste Fabian auflachen.

»Zufälle gibt es ... was wollt ihr denn dort?« Darauf war er jetzt wirklich gespannt.

Diesmal platzte es nur so aus Pia heraus, ohne Seitenblicke, vielmehr mit geröteten Wangen und einer Begeisterung und Hoffnung im Gesicht, dass es Fabian die Kehle zuschnürte.

»U-Boote. Wir haben in einem Polizeirevier den Computer geknackt und Meldungen lesen können, dass von dort aus U-Boote ablegen. Da wollen wir mitfahren!«

»U-Boote. Interessant. Und warum sollen die euch mitnehmen? Zwei Jugendliche ohne VIP-Eltern oder besondere Kenntnisse oder Ausrüstung, die für den Neuanfang unverzichtbar wären ...« Es hörte sich böser an, als es gemeint war, aber die Planung der beiden interessierte ihn. Konnte nur nützlich sein.

Das Leuchten in den Augen des Mädchens erstarb für eine Sekunde, nur um dann von einem noch heißeren Feuer ersetzt zu werden.

»Das wissen wir noch nicht. Aber ich bringe uns dort hinein, und wenn es das Letzte ist, was ich tue. Ich rette uns beide. Oder wenigstens Goof, ich verliere nicht noch jemanden! Und außerdem ... den Computer, den ich nicht geknackt bekomme, müsst ihr mir erst noch zeigen.«

Interessant. Beides. Er schaute kurz zu Tobi hinüber, der erst mit den Schultern zuckte, ihm dann aber zunickte. Also seine Entscheidung, was er erzählte. Teamleader eben, egal wie klein das Team auch war.

Im Rückspiegel konnte er sehen, wie die beiden sich Blicke zuwarfen. Er konnte sich vorstellen, was sie denken mussten. Sie wussten nicht, wieviel Vertrauen sie ihnen entgegenbringen konnten. Die Unsicherheit war in ihren Gesichtern abzulesen.

Fabian ließ den Wagen ausrollen, griff in die Seitentasche der Fahrertür und gab eine Runde steinharte Müsliriegel aus. Pia lächelte ihn an und nahm sie gierig entgegen, riss die Verpackung auf, reichte den Riegel an Goof weiter, öffnete den zweiten und stopfte ihn sich unverzüglich in den Mund. Dann schloss sie ihre Augen für ein paar Sekunden. Schokotropfen, die langsam auf der Zunge schmolzen. Kleine Freuden.

»Gut.« Er setzte sein freundlichstes Lächeln auf. »Tobi«, er nickte dem SEKler zu, »und ich, Fabian, sind auf demselben Weg wie ihr.« Er schnappte sich den PDA des toten Bundeswehrsoldaten und warf ihn Pia zu, die ihn überrascht auffing.
»Kannst alles nachlesen. Eure Infos stimmen. Es gibt dort U-Boote. Aber um ebenfalls ganz ehrlich zu sein: Einen echten Plan, wie wir an Bord kommen, haben wir auch noch nicht.«

»Man könnte auch sagen, wir planen on-the-fly, wenn wir uns die Basis angeschaut haben«, ergänzte Tobi und lächelte ebenfalls nach hinten.

»Ihr wollt uns verarschen...« Goof beteiligte sich nun ebenfalls an ihrem Gespräch, auch wenn seine Stimme schwach klang.

Pia hob die Hand, scrollte dann durch die Dateien des PDA.

»Es stimmt.« Sie grinste Goof an. »Siehst du, es stimmt wirklich. Zwei unterschiedliche Quellen sagen dasselbe: U-Boote. Eckernförde.«

»Okay, wenn du das sagst.« Der Junge versuchte, sich im Sitz aufzurichten, brach dann aber ab und versank stattdessen tiefer in der Rückbank, das Gesicht vor Schmerzen verzogen. Er atmete mehrmals tief ein und aus. Als er sich wieder gefasst hatte, sagte er: »Ohne unken zu wollen, aber mit meinem Arm und Ihrem Zustand wird das echt heavy.«

»Heavy ... kann man so sagen«, fing Tobi an, aber Fabian unterbrach ihn sofort. »Aber wir packen das.« Er drehte sich vollends um, schaute in die Gesichter. Die schmalen, hohen Wangen des Jungen betonten die blutunterlaufenen Augen noch mehr als ohnehin schon. Das Gesicht noch so jung, ebenso wie das seiner hübschen Freundin. Er hatte selten in den Augen eines so jungen Menschen derart viel Feuer gesehen. Und wenn sie ihren Kumpel eigenhändig tragen musste, sie würde ihn an Bord des U-Boots schaffen. Oder bei dem Versuch draufgehen.

»Wir vier gemeinsam packen das.«

»Meinst du das ernst?« Pia war übergangslos in das »Du« gewechselt, die Freude in ihrem Gesicht sprach aber auch so schon Bände. »Mit den beiden haben wir deutlich bessere Chancen, Goof. Zwei erfahrene Kämpfer ...«

»Und du hast dafür etwas, was wir nicht haben: Computer-Skills! Was an Bord eines hochtechnisierten U-Boots sicherlich nicht völlig fehl am Platze sein wird.«

Die vier schauten sich an, Stille, die erst von Tobi gebrochen wurde. »Machen wir's!« Dann an seinen Leader gerichtet: »Die Sommertarnkleidung hätten die uns eh nie abgenommen.« Tobi lachte.

Alle anderen nickten. Fabian drehte sich um und setzte den Wagen wieder in Bewegung.

»Nachdem das besprochen ist: Willkommen im Team. Und jetzt werden wir erst mal sehen, dass wir für unsere Krankenstation hier ein paar Schmerztabletten organisiert bekommen.«

 

Die Scheibenwischer ratschten im schnellen Rhythmus über die Frontscheibe und mühten sich redlich gegen den erneuten Schneefall. Viel konnten sie bei dem Schneetreiben nicht ausrichten und so schlich das Auto des Nachts über die Autobahn. Die mehr oder weniger regelmäßigen Atemgeräusche der anderen machten das Fahren für Fabian nicht gerade angenehmer. Ein paar ablenkende Gespräche wären nett gewesen. Aber es war verständlich, dass alle, außer dem Fahrer, eine Mütze Schlaf nahmen. Sogar die beiden Verletzten hatten die Augen geschlossen. Gut, sie würden ihre Kräfte bald noch brauchen. Die im HUD eingeblendete Karte verriet, dass die angepeilte Tankstelle nur noch eine Minute entfernt war. Bei normaler Autobahngeschwindigkeit. Sie würden dafür sicher zehn benötigen.

So leid es ihm auch tat, aber die Truppe hatte nun genug an den Sitzen gehorcht. Er drehte die Heizung etwas herunter und rüttelte leicht an Tobis Schulter. Als keine Regung kam, noch einmal fester.

»Hmm?«

»Wir sind gleich da. Tankstelle mit Shop.«

Tobi fuhr sich mit den Händen über das Gesicht und rieb sich die Augen.

»Okay.« Der SEKler trank einen Schluck aus einer Wasserflasche, die er zu seinen Füßen aufbewahrte und überprüfte anschließend seine Maschinenpistole.

In die beiden jungen Leute kam auch Bewegung.

»Sind wir schon da?« Pias Stimme klang müde. Dann sah sie die Waffe, die mittlerweile auch Fabian auf seinen Schoß gelegt hatte und schreckte hoch.

»Ist irgendwas?«

»Reine Vorsichtsmaßnahme«, beschwichtigte Tobi und Fabian nickte zustimmend.

»Eigentlich sollten sich alle denkenden Wesen Richtung Süden aufgemacht haben.« Fabian lachte auf, als ihm bewusst wurde, was er gesagt hatte. »Alle, bis auf uns, natürlich. Aber man weiß ja nie. Ich bin lieber vorbereitet, als das Nachsehen zu haben.«

Pia zögerte einen Moment, dann nickte sie und schaute anschließend zu ihrem immer noch schlafenden Kumpel. Es gab keinen Grund, ihn zu wecken. Es war überraschend genug gewesen, dass er mit dem gebrochenen Arm überhaupt hatte schlafen können. Für was eine ordentliche Portion Erschöpfung doch gut war. Sobald die Tanke gesichert war, hätten sie auch endlich Räumlichkeiten, um den Bruch richten zu können. In der Enge des Fahrzeugs, auch wenn es hier möglicherweise wärmer war, wollten sie es ungern machen. Der notdürftige Verband, mit dem sie die Wunde abgedeckt hatten, war schon lange blutdurchtränkt.

Die Minuten krochen dahin, Tobi und Fabian blickten konzentriert nach vorne, die Lüftung röhrte vor sich hin und spuckte weiterhin halbwegs warme Luft aus.

Dann kam die Tankstelle in Sicht. Fabian lenkte den Wagen auf die Abfahrt, der Wagen rollte über den überraschend leeren Parkplatz am unlesbaren Preisanzeiger vorbei.

»Nichts zu sehen«, beschied Fabian.

»Einmal um die Gaststätte herum fahren?«, fragte Tobi, und Fabian nickte. Sicher war sicher.

Er lenkte den Wagen einmal um das ganze Gebäude. Eine normale Autobahn-Tankstelle kleineren Formats. Shop, außen gelegene Toiletten, PKW- und LKW-Parkplatz. Kein Restaurant und keine geparkten Fahrzeuge, jedenfalls soweit sie im dichten Schneetreiben erkennen konnten. Sonst nur weiße Wüste.

»Dann lasst uns.« Fabian stoppte den Wagen unter dem Dach der Tankstelle, wo die weiße Decke etwas lichter war.

Thunder checkte ein letztes Mal seine Waffe, schloss die schusssichere Weste, zog die Jacke darüber und die Maske herunter.

»Ihr beide bleibt im Wagen! Wenn was sein sollte, hupt ihr! Tobi?« Der SEKler nickte ihm zu. Er war bereit. Auch wenn die bleiche Gesichtsfarbe etwas anderes erzählte.

Thunder atmete ein letztes Mal die trockene Heizungsluft ein, dann gab er sich einen Ruck, öffnete die Wagentür und stieg aus. Die Maschinenpistole in der Hand, entsichert, aber gen Boden gerichtet. Tobi kam deutlich langsamer nach, als er es gehofft hatte.

»Alles okay?«, fragte er seinen alten Kumpel, der einfach nur nickte. Das einzig sichtbare im Gesicht waren die Augen unter der Maske. Aber alleine deren Anblick reichte, um den Schmerz abschätzen zu können, unter dem Tobi gerade litt.

»Du kannst auch im Wagen bleiben!«

»Nein!«, presste sein Freund unter der Maske hervor und machte einen Schritt in Richtung des Tankstelleneingangs.

Gut.

 

Die Doppeltür aus Glas öffnete sich natürlich nicht. Wie auch, ohne Strom. Thunder drückte seine Nase an der Scheibe platt und schirmte das Gesicht mit den Händen ab. Das Licht des Autoscheinwerfers wurde von der tiefschwarzen Nacht bereits nach wenigen Metern wie von einem Schwamm aufgesogen. Hier an der Tür war es, als würden sie mitten in einer Höhle stehen. Er nahm die an seiner Kampfweste angebrachte Taschenlampe und leuchtete durch das Glas. Das erwartete Chaos. Umgekippte Regale, Waren überall auf dem Boden. Ansonsten nichts zu sehen.

»Einschlagen?«, wollte Tobi wissen.

Thunder schüttelte den Kopf. Zu laut. Nur weil hier nichts zu sehen war, hieß das nicht, dass keinerlei Gefahr drohte. Eine Lektion, die er schon mehrmals im Leben hatte lernen müssen.

Stattdessen ging er in die Knie, stieß sein Kampfmesser zwischen die Gummidichtung der beiden Türhälften und schnitt sie langsam nach oben weg. Als er genug Platz geschaffen hatte, nutzte er das genau für solche Gelegenheiten besonders stabil gefertigte SEK-Messer wie einen Hebel. Mit einem Knacken entfernten sich die Türhälften ein paar Zentimeter voneinander. Genug Platz für ihre Finger. Tobi auf der einen, Thunder auf der anderen Seite. Ein kurzes Nicken, dann zogen sie zugleich und die Türen glitten auseinander. Breit genug für eine Person, das sollte reichen. Muffige Luft schlug ihnen entgegen, leicht süßlich, im Hals kratzend. Und sie war wärmer, als Fabian erwartet hatte. Kein gutes Zeichen. Er nickte Tobi zu, ging als erster durch den Spalt und sicherte sofort in alle Richtungen. Nichts. Er schaltete die Lampe an der Waffe hinzu. Der Strahl fraß sich durch die Dunkelheit, glitt über einen Haufen Zeitschriften, der sich auf den Boden ergossen hatte, aufgeplatzte Milchkanister in der nicht mehr funktionierenden Kühltheke und einen kindsgroßen Stoff-Osterhasen mit einem dämlichen Grinsen, der ihnen ein Plastik-Osterei entgegenreckte. Thunder machte ein paar Schritte in den Raum hinein und hörte, wie Tobi ihm folgte.

Drei Reihen aus brusthohen Regalen in der Mitte des Raumes, und weitere an den Wänden. Eine typische, vollgestopfte Autobahnraststätte.

Thunder übernahm die linke Seite des Verkaufsraums, Tobi die rechte. Langsam arbeiteten sie sich vor. Die Regale waren fast aller sinnvoll nutzbarer Dinge beraubt. Haltbare Lebensmittel und Getränke waren Fehlanzeigen. Ebenso Batterien. Einzig etwas Brennbares in Form von Zeitschriften und ein paar Säcke Grillkohle waren übrig, ansonsten lag über allem das süßliche Aroma vergammelter Lebensmittel aus der abgeschalteten Kühltheke. Die Kasse kam in Sicht. Natürlich aufgebrochen. Sehr sinnvoll. Kein Ständer mit frei verkäuflichen Medikamenten. Also mussten sie im Büro suchen. Wenigstens einen Erste-Hilfe-Koffer musste es hier geben, falls nicht irgendjemand schneller gewesen war. Die Fahrt zur nächsten Apotheke kam jedenfalls nicht in Frage. Die war laut Navi fünfzig Kilometer entfernt und lag zudem noch in entgegengesetzter Richtung. Es hätten ebenso gut fünfhundert Kilometer sein können.

Eine Tür mit der Aufschrift »Privat« hinter der Theke. Thunder stieg über einen umgekippten Postkartenständer, kniete sich vor die Tür und drückte das Ohr an das aufgequollene Holz. Hinter ihm sicherte Tobi den Raum. Nichts zu hören. Fabian drückte Türklinke herunter. Abgeschlossen. Er seufzte, griff an seine Weste, zog das Dietrich-Set hervor und machte sich an die Arbeit.

Ein paar gezischte Flüche später klickte es endlich im altersschwachen Schloss, Thunder stand auf und öffnete vorsichtig die Tür. Deutlich wärmere Luft schlug ihnen entgegen, der süßliche Geruch wurde fast unerträglich. Verwesung. Viel zu oft gerochen. Keine Leichen hinter der Tür. Nur ein kleines Büro, ein Schreibtisch, Schränke und eine Multimedia-Anlage. Und eine Treppe, die nach unten führte. Ein verblichenes »Lager«-Schild hing über der Treppe. Tobi drängte sich an ihm vorbei und sicherte nach unten, während Thunder kurz den Raum durchsuchte. Nichts von Wert oder Interesse. Keine Medikamente. Also ab in den Keller.

Thunder ging voran, der Lichtkegel seiner Waffenlampe erhellte die Treppe vor ihm. Nachtsichtgeräte und Niederfrequenzlicht wären jetzt schön gewesen. Wie ein warmes Bad, ein Festgelage und nette Gesellschaft. Lag also in weiter Ferne. Stattdessen stieg er die Betontreppe hinab, folgte ihrem Knick und stand in einem kleinen Lagerraum mit gut einem Dutzend Kisten. Die meisten waren leer. Ein paar Kisten Wasser, ein Stapel eingeschweißter Decken mit Motiven vom letzten Animationsfilm. Irgendwas mit einem grässlich süßen Hund und einem kleinen Mädel. Wie von einer anderen Welt. Würden sie vielleicht gebrauchen können. Interessanter war da schon die nächste Tür an der gegenüberliegenden Seite des Raumes. Fabian und Tobi, der mittlerweile auch unten angekommen war, näherten sich der Tür von zwei Seiten.

»Licht«, wisperte Tobi zu ihm herüber. Dann sah Thunder es ebenfalls. Schwacher Lichtschein drang unter der Tür hindurch. Er hielt inne. Das Standard-Szenario sah hier den Einsatz einer Schockgranate vor. Ein Lichtblitz begleitet von einem infernalisch lauten Knall. Wenn man wusste oder wenigstens ahnen konnte, was auf der anderen Seite wartete. Also nicht hier. Freundlich anklopfen? Er sah schon eine Schrotflintenladung die Tür durchschlagen. Dann setzte plötzlich Musik auf der anderen Seite ein. Ein flotter Schlager rund um Herzschmerz und die Alpen. Déjà-vu, andere Zeit, andere Welt. Ohne lange nachzudenken stellte sich Thunder links der Tür an die Wand, streckte die Hand aus und drückte die Klinke entschlossen herunter. Die Tür schwang auf. Eine Flut ergoss sich in den Lagerraum: Licht, süßlicher Verwesungsgestank, Musik und Wärme.

»Hilde!« Ein ängstlicher Aufschrei. Thunder lugte um die Ecke. Ein alter Mann in viel zu großer Kleidung kniete vor einem Feldbett, auf dem eine Gestalt begraben unter einem Berg Decken lag, klammerte sich an sie und blickte Thunder mit weit aufgerissenen Augen an. Mit einem schnellen Blick in den kleinen Raum, der wohl der Technikraum der Tankstelle war, vergewisserte er sich, dass keine Gefahr drohte. Die freie Fläche war zugestellt mit aufgerissenen Kisten, Getränken und Decken. Außer einer leeren Dose Suppe entdeckte Thunder keine Lebensmittel. Ein kleiner Benzingenerator der neuesten Generation surrte fast geräuschlos vor sich hin und speiste einen Heizlüfter, ein paar Lampen und eine Musikanlage samt Lautsprecher. Enge war kein Ausdruck. Der Gestank, der von dem Bett ausging, auch nicht.

»Sicher«, gab er nach hinten durch, aber der Lauf seiner MP zeigte weiterhin auf den Brustkorb des alten Mannes.

Dieser rüttelte nun an dem Deckenberg, der wohl eine Person verbarg.

»Hilde! Sie sind da! Der Herr hat sie uns geschickt. Die Engel sind da!«

Engel? Thunder ging vorsichtig einen Schritt in den Raum hinein, während Tobi ihm weiterhin Deckung gab.

»Wer sind Sie und was machen Sie hier?«

Der alte Mann schaute Thunder an, als ob dieser Chinesisch sprechen würde.

»Merkwürdige Gewänder für Engel. Aber wir wollen nicht mäkeln, Hilde, nicht wahr? Nicht nach all der Zeit, die der Herr uns auf die Probe gestellt hat.« Damit stand der Mann auf. Im Stehen wurde noch deutlicher, dass die Kleidung viel zu groß für ihn war. Thunder schossen Bilder von befreiten KZ-Gefangenen durch den Kopf. Der Verwirrte war zwar besser genährt, aber man musste schon sehr genau hinschauen.

»Wir haben uns bereit gehalten, Ihr Engel.«

»Bereit? Wofür?« Tobi senkte seine Maschinenpistole und zog die Skimaske hoch, was den Mann keine Sekunde irritierte. Der Wahn war eine nette Ausflucht, wenn die Welt nicht mehr so war, wie man sie gerne hatte.

»Lass es gut sein.« Thunder nickte seinem Kumpel zu, ging in die Mitte des Raumes und schaute sich sorgfältiger um. Der Alte, dessen schlohweiße Haare in alle Richtungen abstanden und mit dem verfilzten Bart konkurrierten, kümmerte sich weder um seine Worte noch Taten, sondern antwortete.

»Na, für die Auferstehung. Jetzt, wo sie hier sind, können wir doch alle in den Himmel, oder nicht? Die Apokalypse, das Jüngste Gericht ist vorbei. Und wir sind noch hier, was nur einen Schluss zulässt: Wir sind für würdig befunden worden. Also. Wollen wir?« Er kniete sich wieder neben das Bett, schob seine Arme unter die Decken und stand zitternd auf. Die zuoberst liegenden Decken rutschten herunter und Thunder sah, was der Geruch schon angekündigt hatte. Der Mann hielt eine Frauenleiche in den Armen. Fortgeschrittener Verwesungszustand, die Haut löste sich bereits ab, war schwarz verfärbt. Abgemagert bis auf die Knochen. Der Gestank spottete jeder Beschreibung und übertünchte sogar das Ungewaschen-Odor des Mannes. Unwillkürlich hielt sich Thunder die Hand vor den Mund und machte einen Schritt rückwärts.

Der Alte schaute erst zu ihm, dann zu Tobi und wiederholte.

»Wollen wir?«

»Ja ... ähm ... später. Gleich«, versuchte sich der SEKler aus der Affäre zu ziehen.

»Gut.« Der Verwirrte setzte sich wieder auf das Bett und hielt die Frau – seine Frau – in den Armen, wiegte sie langsam hin und her, war der Welt entrückt.

Thunder ging zu Tobi herüber und flüsterte: »Wir können ihn nicht mitnehmen.«

»Ich weiß, Chef.« Ein Moment der Stille. »Und nu?«

Thunder zuckte mit den Schultern. So etwas hatten sie nicht beigebracht bekommen.

Hinter ihnen das Geräusch eines Glases, das auf Holz gestellt wurde.

»Lass uns den Raum nach Verwertbarem durchsuchen und abhauen. Der Arm des Jungen muss gerichtet werden, das könnten wir oben auf dem Kassentresen machen, wenn ich ein paar von den eingeschweißten Decken aus dem Lager nehmen kann.«

»Morphium?«, wollte Thunder wissen.

»Hmmm. Schwierig. Weißt du was: Lass es. Der wird beim Richten eh ohnmächtig.«

Thunder nickte.

Das Rascheln von Kleidung hinter ihnen, der Mann stand auf und stöhnte, das Leichenbündel auf den Armen.

»Ich weiß, warum wir noch nicht gegangen sind. Sie hätten es mir aber ruhig sagen können. Oder nein, das dürfen Sie sicherlich nicht.«

Thunder drehte sich um. »Was dürfen wir nicht?« Dann fiel sein Blick auf den Nachttisch neben dem Bett. Das leere Glas. Das offene Pillendöschen. Ohne Inhalt.

Er stürzte zu dem Alten und drückte ihn auf das Bett, während Tobi stolpernd die Leiche auffing, sie an den Resten des am Körper klebenden Nachthemds fasste und auf den Boden legte. Der Alte sträubte sich und wollte protestieren, dann fingen die Zuckungen an.

»Was haben Sie genommen?«, schrie Fabian ihn an.

»Wir kommen«, drückte der Alte nur noch heraus, dann trat weißer Schaum aus dem Mund.

Hände, die Thunder von hinten packten und zurückzogen.

»Lass ihn, Chef. Er hat es gleich hinter sich. Da machst du nichts.«

Fabian stand auf, die Knie zitterten. So viele Tode hatte er schon gesehen, auch Selbstmorde, aber besonders an die konnte er sich nicht gewöhnen. So verständlich sie in der aktuellen Situation auch waren, egal ob religiös verklärt oder nicht.

Der Mann krampfte sich auf dem Bett zusammen, zog die Beine an, streckte sie wieder ab, bäumte sich auf, noch einmal, dann sackte er in sich zusammen. Ein letztes Gurgeln aus seinem schaumgefüllten Mund, dann versank er in seiner Kleidung, als wolle sich der tote Körper darin verstecken.

Einen Moment lang sagte niemand etwas, dann straffte sich Thunder.

»Lass uns nach Brauchbarem suchen und dann weg hier.«

Tobi nickte stumm, dann machten sie sich an die Arbeit.

 

Fabian wuchtete die Kiste Wasser in den Kofferraum, Tobi hatte die Decken bereits verstaut. Der Generator war mit Bau-Nägeln im Boden verankert gewesen, ohne passendes Werkzeug hatten sie keine Chance, daher ließen sie ihn dort. Den eigentlichen Schatz hatte Tobi unter dem Bett gefunden. Eine fleckige Jutetasche mit verschiedenen Medikamenten, leider oft nur die Blister ohne Verpackung oder Beipackzettel. Aber ein paar Schmerzmittel waren darunter, Paracetamol, Ibuprofen, das übliche Kopfschmerzzeug also. Für den Kleinen mussten sie halt ein paar mehr nehmen. Und für Tobis Bein. Der SEKler saß bereits wieder im Fahrzeug, sein Brustkorb pumpte und selbst bei den miesen Lichtverhältnissen sah Fabian die Schweißtropfen auf der Stirn seines Freundes. Die Beinwunde schmerzte nach dieser Aktion sicher wieder mehr. Und sie hatten ihr eigentliches Ziel noch nicht erreicht. Er versuchte den Gedanken zu verdrängen. Sie würden es schaffen. Sie mussten.

Er ging zur hinteren Tür und öffnete sie.

»Na, ihr beiden Hübschen. Dann kommt mal mit ins Haus. Tobi hat schon alles vorbereitet.«

Als hätte er ihn gemeint, wollte sein Kumpel aufstehen, aber Fabian legte ihm von hinten die Hand auf die Schulter.

»Lass gut sein, ruh dich aus.«

»Ich schaff das!«, widersetzte sich Tobi verärgert.

»Ich weiß. Aber wer passt dann auf den Wagen auf?«

Schweigen. Beide wussten, was gemeint war. Dann nickte der SEKler kurz und ließ sich wieder in den Sitz sinken.

Fabian ging zurück in das Gebäude während die beiden Jugendlichen ihm folgten, wenn auch deutlich langsamer. Sie umliefen das Chaos im Verkaufsraum und kamen zur Theke, auf der Tobi bereits eine Plastikplane, eine Flasche Wasser, Verbandsmaterial und einen Blister Ibuprofen bereit gelegt hatte.

»Gut, dann wollen wir mal.«

 

Pia stand neben Goof und streichelte ihm aufmunternd über den Rücken.

Der durchtrainierte Kämpfer breitete gerade eine Plastikplane auf dem Kassentresen aus.

»Ich meine das nicht beleidigend, aber ich gehe davon aus, dass du beim Richten und Fixieren gleich ohnmächtig werden wirst. Daher wäre mein Vorschlag, dass ich dich bereits jetzt ins Land der Träume schicke, dann kannst du dir die erste Schmerzwelle ersparen. Ok?«

Goof schluckte laut hörbar und Pia versteifte sich. Mit welcher Direktheit der Mann zur Sache kam ...

Dann beugte sie sich ein Stück vor. »Lass es ihn machen«, flüsterte sie Goof ins Ohr und der Angesprochene nickte heftig. Nachvollziehbar, sie hätte genauso entschieden.

»Gut, damit du dich dabei nicht verletzt, leg dich bitte vorher auf den Tresen. Pia, hilfst du ihm bitte hoch? Und zieh ihm die Jacke aus und schieb den Ärmel des Pullis hoch, so dass nur noch der Verband über der Wunde ist.«

Pia nickte und fasste unter den gesunden Arm ihres Freundes. Gemeinsam setzten sie die schmale Person auf die Steinplatte. Der Platz würde für den langen Lulatsch gerade ausreichen. Vorsichtig schälte sich Goof mit ihrer Hilfe aus dem blutgetränkten Ärmel, schrie laut auf, als er sich zu schnell bewegte. Pia streichelte ihm über den Kopf und beeilte sich, die Wunde freizulegen. Der Verband war nur noch eine undefinierbare, rote Masse, wo er den Bruch abdichtete, der durch die Schiefstellung des Arms jetzt deutlich zu erkennen war. Goof wimmerte leise vor sich hin, hielt sich ansonsten aber erstaunlich tapfer.

Fabian drückte ihm eine Flasche Wasser und drei weiße Pillen in die Hand.

»Normales Schmerzmittel. Daher gleich drei davon. Damit dich nach dem Aufwachen nicht gleich der ganz große Dampfhammer trifft.«

Goof nickte dankbar, schluckte die Tabletten herunter und spülte mit reichlich Wasser nach.

»Gut, dann geht es jetzt los. Dreh dich auf die Seite, Fötusstellung, gebrochener Arm oben.« Kurze, knappe Anweisungen. Goof stöhnte auf, als er Folge leistete und Pia spürte den Knoten in ihrem Hals. Sie konnte sich die Schmerzen kaum vorstellen.

»Pia, du hältst ihn jetzt bitte fest, damit er nicht ohnmächtig vom Tresen rutscht.«

Ihre Hände zitterten, als sie die erschreckend spitze Hüfte ihres Freundes ergriff und festhielt.

»Gut. Entspann dich. Tut auch nicht weh!«

Goof wimmerte leise.

Der Kämpfer kümmerte sich nicht darum. Stattdessen ging er zur Kopfseite des Tresens und umfasste Goofs Hals mit beiden Händen, die Daumen am Adamsapfel. Dann drückte er mit den Fingern auf die Halsschlagadern. Goof zuckte einmal kurz auf und sein Bein drohte, herunter zu rutschen.

»Halt ihn fest!«

Pia brauchte all ihre Kraft, um die schmale Gestalt auf dem Tresen zu halten. Noch ein Zucken, dann erschlaffte Goof.

Unwillkürlich schluchzte sie.

»Alles okay! Ich hab ihn nur in das Reich ohne Träume geschickt. Jetzt hältst du ihn gut fest und ich widme mich seinem Arm. Pia hatte nur noch die Kraft, stumm zu nicken und drehte den Kopf weg, als Fabian sich den Bruch vornahm.

 

Goof lehnte an ihrer Schulter und atmete ruhig und gleichmäßig. Ob er wirklich nicht träumte, wie Fabian gesagt hatte? Der Begriff »Ohnmacht« legte es ja nahe. Sie war noch nie ohnmächtig gewesen. Und hatte kein Interesse daran, diese Erfahrung nachzuholen. Aber für Goof war es wirklich das Beste. So hatte er die Knackgeräusche nicht hören, das Blut nicht fließen sehen müssen. Einen offenen Bruch zu richten, war wirklich eine hässliche Angelegenheit.

»Fahren wir die Nacht durch?«, fragte sie nach vorne, wo Tobi ebenfalls vor sich hin schlummerte und Fabian den Wagen langsam durch die dunkle klare Nacht lenkte. Er sah Pia durch den Rückspiegel an.

»Nach meinen Berechnungen müssten wir morgen Abend am Zielobjekt sein. Wenn wir nur kurze Pausen machen.«
»Musst du nicht auch mal schlafen?«

Der Fahrer lachte kurz auf.

»Müssen? Ja. Leisten können? Nein. Oder willst du, dass die U-Boote weg sind, nur weil wir die ganze Nacht über schlafen?«

Pia antwortete schnell »Nein!«. Dann schob sie zögerlich nach: »Aber einen Unfall möchte ich auch nicht haben.«

Fabian lachte erneut auf, diesmal laut und herzlich, was Tobi auf grummeln ließ, der danach aber sofort weiter schlief. Kein Wunder, der Kerl sah aus wie der Tod auf Raten, käseweiß, konnte jede Minute Schlaf gut brauchen.

»Da hast du natürlich Recht. Keine Sorge, vier Stunden Schlaf pro Tag hab ich eingerechnet, das passt auch vom Benzin her, wenn wir den Wagen wegen der Heizung dabei laufen lassen. Ich will nur etwas Raum zwischen uns und die Tanke bringen, da könnten noch andere Leute hin unterwegs sein mit der Aussicht auf Benzin. Auch wenn die Tanks längst so trocken waren wie meine Kehle aktuell ist.«

Pia reichte Fabian eine Wasserflasche nach vorne.

»Danke, Kleine! Ihr beide«, er nahm einen großen Schluck aus der Flasche, bevor er sie unter den Sitz schob, »seid wirklich verdammt tapfer. So weit hätten es nur wenige geschafft.«

Pia wollte antworten, aber ein Kloß schnürte ihr den Hals zu. Ohne Boomer hätten sie es nicht geschafft. Und der hatte dafür mit dem Leben bezahlt. Sie verdrückte eine Träne und sah Fabians Blick im Spiegel, der Anstand genug hatte, nicht weiter nachzubohren, wofür sie ihm sehr dankbar war.

»Ich werde dann auch mal ein bisschen die Augen zumachen. Wenn was ist, sag Bescheid.«

»Ja, Frau Major!«

Ein Lächeln stahl sich auf ihr Gesicht, dann schloss sie die Augen, kuschelte sich so gut es ging auf die Rückbank und hörte Goof an ihrer Schulter atmen. Hoffentlich war ihr Schlaf auch ohne Träume. Wobei sie auf diese Gnade kaum zu hoffen wagte.

 

Fabian steuerte den Wagen durch die Nacht. Alleine. Die anderen schliefen, der eine ruhiger, andere etwas unruhiger, wie das häufige Aufstöhnen der Kleinen auf der Rückbank bewies. Er bemühte sich nach Kräften, sie vor allen Widrigkeiten zu bewahren. Vor ihren Träumen konnte er sie allerdings nicht beschützen.

Die Autobahn kroch unter den Reifen dahin, mit zehn bis maximal fünfzehn Stundenkilometern war kein Rennen zu gewinnen, aber dafür kamen sie halbwegs sicher voran. Wenigstens waren die Autowracks immer weniger geworden, je weiter sie nach Norden kamen. Mittlerweile war die Bahn fast völlig frei, nur ab und an unterbrach ein aufgegebenes Fahrzeug die Eintönigkeit.

Die Minuten zogen sich. Noch anderthalb Tage hatte er vorhin zu der Kleinen gesagt. Und dann? Wie würde er sie in die Anlage kriegen? Würde überhaupt noch ein U-Boot auf sie warten? Und selbst wenn: Sie mussten erst einmal an Bord kommen. Fabian schüttelte den Kopf. Wohin führte er seine Mannschaft gerade? In einen eiskalten Tod? Welche Hoffnung hatte er Ihnen gemacht?

Der Gedanke kroch langsam in sein Hirn und er murmelte ihn leise vor sich hin: »Sei ehrlich zu dir selbst. Nehmen wir mal an, du schaltest mit dieser Verletztentruppe die Wachsoldaten aus oder ihr schafft es an ihnen vorbei an Bord eines der U-Boote zu gelangen – sofern noch welche da sind – und ihr überzeugt den Bordcomputer, doch bitte mit einem Bruchteil der sonstigen Besatzung vorlieb zu nehmen ... wohin führt die Reise dann? In die Unterwasserbasis, von der die Datei spricht? Warum sollten die euch andocken lassen? Seid ihr die angekündigte Fahrt? Habt ihr die richtigen Codes? Warum sollten die euch nicht sofort über den Haufen schießen? Nur, dass du es nicht vergisst: Die Rettung vieler steht vor der Sicherheit weniger. Würdest du es anders machen?«

Fabian lachte und es hörte sich selbst in seinen Ohren an wie die Laute eines verzweifelten Mannes.

Sollte er umdrehen? Einfach nach Süden fahren wie alle anderen? In der Hoffnung, dass die Welt schon nicht komplett zufrieren würde und Afrika verschont bliebe? Wie auch immer die Leute glaubten, über das Meer zu kommen. Oder zum untersten Zipfel Italiens. Lag das südlich genug?

Seine Hände umklammerten das Lenkrad so fest, dass es schmerzte.

Welche Möglichkeiten hatte er denn?

Er warf einen Blick auf die Anzeigen auf der Frontscheibe. Der Sprit reichte für die Fahrt nach Norden. Bei einer Umkehr wären sie darauf angewiesen, wieder irgendwo Benzin zu finden. Auf einer Route, die alle, die noch nicht erfroren waren, vor ihnen genommen hatten. Er sah die leergepumpten Tanks förmlich vor sich. Letztlich waren sie für den Süden zu spät dran.

»Was grübelst du denn so vor dich hin?«, warf Tobi von der Seite ein. Sein Kumpel hatte die Augen zwar geöffnet, hing aber wie ein Schluck Wasser im Sitz und rieb sich müde das Gesicht. »Den Gesichtsausdruck kenn ich. Dafür kennen wir uns zu lang. Verzweifelst du gerade wieder an unserer Lage?«

Ein Lächeln stahl sich auf Fabians Gesicht. »Du kennst mich einfach zu gut.« Er seufzte. »Woher wissen wir, dass unser Plan funktioniert? Wenn man das überhaupt einen Plan nennen kann, mit unserer waidwunden und völlig U-Boot-unerfahrenen Truppe einen derartigen Stunt durchzuziehen.«

Tobi richtete sich langsam im Sitz auf, verzog kurz das Gesicht und beendete die Bewegung noch langsamer als er sie angefangen hatte.

»Ist dein Bein schlimmer geworden?«

Sein Freund nickte, griff in die Tüte vor sich und spülte gleich drei Schmerztabletten auf einmal hinunter.

Einen Moment schwiegen sie und Tobi hatte sichtlich Mühe, wieder Luft zu bekommen.

»Geht schon.« Tiefes Einatmen. »Aber mal ehrlich, was sollen diese Zweifel? Wir wussten alle, worauf wir uns eingelassen haben. Glaubst du ehrlich, die Flucht nach Süden wäre erfolgsversprechender? Wie sollen wir denn übers Meer kommen? Und wenn die Infos stimmen, die man so hört, wird das Eis nicht einfach an der afrikanischen Grenze halt machen. Die ganze verdammte Erde verwandelt sich in einen Eisklumpen, der durchs Weltall treibt!« Tobi holte wieder tief Luft und bekam einen Hustenanfall. Es dauerte Minuten, bis er sich wieder im Griff hatte. Fabian legte die Hand auf die Schulter seines Freundes.

»Also: Ich hab lieber die Perspektive, vielleicht doch ein U-Boot nehmen zu können in Richtung der tollen Unterwasserbasis und dann, nach tollem Kampf, dabei draufzugehen, als SEKler am Stiel auf irgendeiner Autobahn gen Süden zu krepieren. Ohne die Hoffnung gehabt zu haben, ohne jede Chance. Einfach erfroren zu sein.« Tobis Stimme zitterte. Dann zeigte er mit dem Daumen nach hinten. »Und die beiden Hübschen dort hinten wären schon längst tot, wenn wir sie nicht aufgelesen hätten. Sie waren aber auch auf dem Weg nach Norden. Also: Was willst du? Wir sind ein Team. Entweder wir schaffen es zusammen oder eben nicht. Aber es gibt deutlich schlechtere Wege, abzutreten, als bei der Jagd nach einem gemeinsamen Traum.«

Fabian musste laut loslachen, die ganze Anspannung löste sich mit einem Mal.

»So poetisch hab ich dich ja noch nie erlebt!«

Tobi verschränkte gespielt beleidigt die Arme vor der Brust.

»Weil du mir einfach nie zuhörst, Schatz!«

Fabian lachte erneut, beschleunigte den Wagen um wahnwitzige fünf Stundenkilometer und konzentrierte sich auf die Scheinwerferkegel, die sich durch die Nacht fraßen. Tobis Worte klangen in seinem Ohr nach. Sie würden sehen, ob das Schicksal gerade gut zugehört hatte.

 

*

 

Thunder stieg die letzten Stufen der Außenleiter hinauf, die auf das Dach der Polizeistation führte, dem größten Gebäude in Eckernförde, das nicht innerhalb der direkten Sichtweite des Piers lag. Unter ihm durchkämmte Pia das Gebäude nach etwas Brauchbarem. Tobi war dafür zu entkräftet, die Wunde am Bein war erneut aufgebrochen und hatte ihn wieder Blut gekostet. Und Goof schlief endlich, nachdem er sich weitere Schmerztabletten reingezogen hatte. Der Junge würde in kurzer Zeit all seine Kräfte brauchen.

Thunder bestieg das Flachdach und hoffte, das es hielt. Der Schnee war hier nur kniehoch, das sollte gehen. Ohne eine Ahnung von der Perimetersicherung der U-Boot-Basis brauchten sie nicht weitermachen. Also ein schneebedecktes Flachdach und ein paar schnelle Gebete. Thunder stapfte durch den Schnee, der unter seinen Füßen knirschte. Vorsichtig arbeitete er sich zum gegenüberliegenden Rand vor, ging in die Knie und zog das Fernglas unter dem Mantel hervor. Die Mittagssonne kämpfte gegen den Fieselschnee an und legte ein mattes Licht über die Szenerie, als hätte der Allmächtige den Dimmer betätigt. Ein schneller Schwenk über den kleinen Ort Eckernförde, der bis auf die U-Boot-Basis und einen zivilen Hafen wenig zu bieten hatte. Weiße Ruhe lag über allem. Keine Seele auf der Straße. Thunder richtete das Fernglas Richtung Süden. Da. Hinter der Reihe von Lagerhäusern und Verwaltungsgebäuden, die den Marinehafen wie ein U umschlossen, lag er, der U-Boot-Pier. Aus seiner Position konnte Thunder nicht erkennen, ob an der Landseite, der Kaimauer, Boote angedockt waren. Aber so oder so, sie mussten es probieren. Viel wichtiger war, dass er keinerlei Perimeterüberwachung sah. Keine vorgeschobenen Wachposten, keine Schützennester auf den Dächern der Gebäude. War das jetzt gut? Wenig Sicherheit hieß, dass wenig zu bewachen war. Waren sie zu spät? Oder war die Wachmannschaft absichtlich nur noch so klein wie irgend möglich, da alle anderen bereits per U-Boot abgerückt waren? Thunder ließ den Blick über den erfrorenen Ort schweifen. Nein, es stand fest. Keine erkennbare Überwachung. Wenn überhaupt, dann erst hinter dem Zaun der Basis, im Gebäudehof und natürlich direkt am Pier. Er schwenkte über den Maschendrahtzaun, stellte das Fernglas schärfer. Standardsicherung. Circa zwei Meter fünfzig hoch, Stacheldraht, vielleicht stromgesichert, obwohl er aufgrund der Schneemassen nicht davon ausging. Keine Wachtürme, man verließ sich also komplett auf die Wachsoldaten am Pier selbst, was sogar durchaus Sinn machte. Wachtürme machten sich in Friedenszeiten schlecht, insbesondere, da zwei Fußballplätze und Wohngebäude rings um den Hafen lagen. Es gab keine vorgelagerte Todeszone, für die Wachtürme ein Muss waren. Thunders Zuversicht stieg. Auf das Gelände des Stützpunkts würden sie auf jeden Fall kommen. Alles Weitere musste sich vor Ort ergeben. Er konnte seine Beobachtungen abbrechen, bevor der eisige Wind ihn endgültig in einen Eiszapfen verwandelte.

Ein letzter Schwenk, diesmal Richtung Haupttor, obwohl sie es da nicht versuchen würden. Es lag etwas abseits der Gebäude, so dass jeder Angreifer sich erst durch den Lagerbereich kämpfen müsste. Guter Aufbau. Dann sah er sie. Leichen. Direkt vor dem Haupttor lag ein Berg Leichen. Der Schnee hatte sie fast vollständig bedeckt, aber hier und da blickten ein paar Arme oder Beine heraus. Er zoomte so gut es ging heran. Ein Körper hing am Zaun. Als ob die Person versucht hatte, darüber zu klettern, aber auf halbem Wege erschossen worden war. Eiszapfen hingen am Anorak des Mannes wie die Zähne eines Säbelzahntigers. Tage mussten vergangen sein.

Thunder schauderte. Zivilisten vom Sturm auf eine angeblich verheißungsvolle Basis abzuhalten, war kein Szenario, das er miterlebt haben wollte. Sein Unterbewusstsein schickte zynische Worte an den Verstand. Eigentlich war das ein gutes Zeichen. Die Bürger hätten nicht ihr Leben riskiert, wenn es in der Basis nichts zu holen geben würde. Ein Ticket in die Sicherheit beispielsweise. Oder sie waren derart verzweifelt gewesen, dass sie nach dem letzten Strohhalm gegriffen hatten. Ob es ein gutes Zeichen für die Anwesenheit von U-Booten war oder nicht, das würden sie selbst herausfinden müssen. Auf jeden Fall stand damit eines fest: Nicht am Haupttor entlang.

Damit machte er sich an den Abstieg über die eisbedeckte Außenleiter. Er würde kein Wort über die Leichen verlieren. Unnötiger Schrecken in dieser weißen Welt.

 

»Und?«, fragte Tobi mit belegter Stimme, als Fabian wieder einstieg, die Skimaske samt Brille abnahm und sich über die gerötete Stirn kratzte.

»Soweit nichts zu sehen. Rein müssten wir kommen.«

»Gut.«

»Hast du U-Boote sehen können?«

»Nein. Aber der Blickwinkel war auch nicht gut. Wenn sie direkt an der Kaimauer liegen, was sie wohl normalerweise tun, hätte ich sie von dort oben nicht sehen können.«

Pia saß bereits wieder neben Goof, der ihn aus kleinen Augen anschaute. Ein Blick zu dem Mädel, das langsam den Kopf schüttelte. Wäre auch zu schön gewesen.

»Ich hab mir von oben angeschaut, wie weit wir fahren können, ohne dass sie uns hören können. Sind dann aber sicher noch fünfhundert Meter bis zum Zaun.«

Tobi reckte den Daumen empor. »Wir haben doch eh keine Wahl.«

Fabian nickte und steuerte den Jeep langsam zwischen den Häusern entlang. Hinter ihnen fiel der verdrängt Schnee in den vom Wagen gegrabenen Kanal im hüfthohen Schnee zurück.

»Sollen wir nicht besser warten, bis es dunkel wird?«, warf Pia von hinten ein.

Fabian nickte. »Hatte ich auch schon überlegt.«

»Nein!«, stieß Tobi lauter aus, als es Fabian ihm zugetraut hätte. Dann schob er ein leiseres »Nein« hinterher.

»Je länger wir warten, desto größer ist die Gefahr, dass sie schon weg sind. Dunkelheit hin oder her.«

Fabian stoppte den Wagen und schaute in die Runde. Entschlossenheit auf dem Gesicht seines Freundes, die selbst seine Erschöpfung überstrahlte. Im Rückspiegel sah er Goof auf irgendeinen imaginären Punkt in der Ferne schauen. Normale Verhaltensweise von Zivilisten bei Gefahrentscheidungen. Er überließ den Profis die Entscheidung. Anders Pia, die hin- und hergerissen von Tobi zu Fabian und zurück schaute.

»Ich meinte ja nur ...«, dann brach sie hilflos ab.

Fabian schaute Pia an und bemühte sich, ein beruhigend gemeintes Lächeln aufzusetzen..

Es galt eine Entscheidung zu treffen. Entweder Dunkelheit und damit bessere Chancen, unentdeckt hineinzukommen aber mit der Gefahr, dass es zu spät war. Oder jetzt. Bei diesigem Tageslicht, ohne jede Verzögerung, mit einem Tobi, in dem wenigstens noch ein bisschen Kraft war. Wie das in ein paar Stunden aussah, vermochte er nicht zu sagen.

»Wir gehen jetzt«, entschied er. »Ich denke, unsere Chancen sind dann sogar ungefähr gleich gut. Die unvermeidlichen Wachen werden Nachtsichtgeräte haben und wir haben davon nur zwei Stück. Wenn wir also Waffengleichheit wenigstens in diesem Punkt herstellen wollen, sollten wir es jetzt tun. Außerdem ist die Sicht aufgrund des leichten Schneefalls eh nicht die beste. Das könnte in ein paar Stunden wieder anders sein.« Er atmete tief durch und lächelte. »Außerdem hat unsere Kampfsau hier hinten gerade erst seinen Schönheitsschlaf genossen, da müssen sich die Wachen warm anziehen. Und wir wollen ja keinen warten lassen.«

Er erntete eine gerunzelte Stirn von Tobi. Okay, sein Humor war schon mal besser gewesen. Pia hingegen schaute unsicher drein, dann nickte sie langsam.

»Okay, ihr habt damit mehr Erfahrung. Das wird bestimmt das Richtige sein.«

»Dein Vertrauen in Gottes Ohr, Mädchen!«, murmelte Fabian vor sich hin und ließ den Wagen wieder anrollen. Alle schauten auf ihn, den Leader. Jetzt musste er zeigen, dass er diese Bezeichnung nicht nur verliehen bekommen hatte.

 

Thunder schob sich in der Hocke gehend durch den Schnee, den Zaun immer im Blick. Die gut fünfhundert Meter von ihrem »Parkplatz« bis hierher hatten unendlich Kraft gekostet. Dicht gepackte Rucksäcke auf vier Rücken verteilt, jeder bewaffnet so gut es ging, sogar die beiden Kleinen hatten nach einer kurzen Einweisung jeweils eine Pistole und ihre letzten Magazine für diese Waffen in die Hand bekommen. Musste reichen. Selbst wenn der schmächtige Junge schießen sollte, treffen würde der eh nichts. Aber fühlte es sich nicht doch etwas besser an, drei Bewaffnete statt einem hinter sich zu wissen? Die Überlegung war allerdings akademisch. Sollten sie in ein Feuergefecht geraten, waren sie so gut wie tot. Punkt.

Thunder erreichte den Maschendrahtzaun. Vorsichtig wischte er den Schnee weg. Ein Griff zur Kampfweste, dann lag die Drahtzange in den behandschuhten Händen. Thunder spannte die Muskeln, erwartete durch die Dicke des Drahtes einigen Widerstand, aber das erste Glied brach bereits, als er nur etwas Druck ausübte. Das Metall war spröde gefroren! Thunder beeilte sich und hatte in weniger als einer Minute ein so großes Loch in den Zaun geschnitten, dass sie alle durchpassen sollten, sogar mit ihren dicken Rucksäcken. Thunder blickte nach hinten. Pia reckte den Daumen empor, sie lugte hinter ihm über den Schnee.. Tobi und Goof taten es ihr nach. Er schnalzte mit der Zunge, Tobi nickte ohne sich umzudrehen, dann machte Thunder sich klein und kroch durch das Loch. Wieder schob er das festgebackene Weiß zur Seite, kam durch das Gewicht des Rucksacks immer wieder ins Straucheln. Dann waren knappe zwei Meter geschafft und er fühlte sich, als ob er einen Halbmarathon hinter sich hatte. Schnaufend sicherte er die vor ihm liegende, fast gänzlich freie, weiße Fläche. Weiterhin nichts zu sehen. Er schnalzte erneut und hörte hinter sich, wie die Gruppe in Bewegung kam. Goof stolperte und legte sich auf die Nase, als er bereits halb durch die Lücke war und wimmerte, als er sich mit seinem gebrochenen Arm abfangen musste. Tobi seufzte, packte Goof am Anorak und zog ihn mit einem Ruck durch das Loch.

»Reiß dich zusammen!«, zischte er überflüssigerweise den Jungen an. Goof schluckte schwer, wollte fast anfangen zu heulen, nickte dann aber und schluckte die Tränen hinunter, auch wenn er Pia einen verzweifelten Blick zuwarf.

Ein Stahlcontainer stand in gut fünfzig Metern Entfernung und bildete die einzige Deckung, ein paar eingeschneite Gabelstapler in gut hundert Metern, aber viel zu weit rechts. Dabei mussten sie sich eher halblinks halten, wenn sie zum Pier wollten. Also wühlte sich die Truppe im Entenmarsch durch den Schnee, bis sie Thunder hinter dem Container anhielt. Er blickte in die Runde. Trotz der Maske konnte er die Erschöpfung im Gesicht von Tobi erkennen, die Augen hatten jeglichen Glanz verloren. Als ob es eines letzten Beweises bedurft hätte, griff sich der SEKler ans Bein und drückte auf die Wunde, versuchte die Schmerzen wegzuatmen. Auch Goof sah alles andere als fit aus.

Thunder seufzte, zog dann Pia zu sich heran.

»Alles klar? Kannst du meinen Rücken decken, wenn wir auf Erkundung gehen? Die beiden schaffen das körperlich nicht und sollten hierbleiben.« Als er die weit aufgerissenen Augen des Mädels sah, schob er schnell nach: »Natürlich nur, um sich kurz auszuruhen. Dann holen wir sie.«

Pia zögerte einen Moment, dann nickte sie.

»Pia und ich gehen vor. Ihr haltet euch am Besten unten, und schaut nur ab und zu nach, ob die Luft rein ist. Es wird nur geschossen, wenn absolut notwendig. Klar?«

War es offensichtlich nicht. Tobi kroch an Pia vorbei zu ihm.

»Sie hat absolut keine Kampferfahrung. Hältst du das für schlau? Ich schaff das schon!«, zischte er Thunder an.

»Du hast im Auto selbst gesagt, dass sie tough ist. Und so ›fit‹ du auch bist, würdest du einen eventuell notwendigen Sprint in Deckung schaffen? Und willst du unsere beiden Kleinen hier alleine lassen? Was, wenn eine Wache kommt?«, flüsterte Thunder zurück.

In der Windstille hinter dem Container konnte er das Zähneknirschen seines Kollegen hören, dann wandte sich dieser ohne ein weiteres Wort ab. Diskussion beendet. Thunder blies den Schnee vom Visier seiner Maschinenpistole und klopfte Pia aufmunternd auf die Schulter.

»Auf geht's!«

 

Thunder spähte um das umgekippte Rettungsboot herum, an dem sich eine Schneewehe gebildet hatte. Die Gebäude zur Linken befanden sich in gut hundert Metern Entfernung, der Pier lag direkt davor. Immer noch waren keine Wache zu sehen. Sollten welche hier sein, hielten sie sich entweder im Gebäude oder im Windschatten der Pier-Treppen auf. Oder sie waren so gut getarnt, dass er sie einfach übersah. Thunder zog Pia zu sich heran.

»Wenn ich dir das Zeichen gebe, gehst du links um das Boot herum und arbeitest dich zur Außenwand des Gebäudes vor. Ich sicher dir den Rücken. Wenn du da bist, tust du dasselbe für mich. Klar?«

Pia nickte.

Ein schneller Blick über die Schneefläche. Alles frei. Soweit er sehen konnte. Der Wind war stärker geworden und wirbelte den neugefallenen Schnee auf. Von hier aus konnte er gerade mal die Außenmauer des Gebäudes sehen. Aber die Einschränkungen galten glücklicherweise für beide Seiten. Wenn es überhaupt zwei gab. Die Stimme in seinem Kopf war auch schon mal weniger fatalistisch gewesen.

Er stupste Pia an und die rappelte sich auf und lief los, sofern man das »Laufen« nennen konnte. Es war mehr ein kontrolliertes Vorwärtsstürzen und Stampfen mit hochgezogenen Knien im hüfthohen Schnee. Das Gewicht des Rucksacks war auch keine Hilfe.

Thunder legte an, blickte durch das Rotpunktvisier der MP. Nichts. Pia stolperte, fiel in den Schnee, kam aber wieder auf die Beine und kämpfte sich weiter vor. Noch dreißig Meter, zwanzig, zehn. Geschafft. In dieser Entfernung konnte er nur noch ihren Schemen sehen. Nun war er an der Reihe.

 

Pias Herz schlug bis zur Schädeldecke. Ihre Lunge brannte, die Beine bestanden aus flüssigem Feuer. Hundert Meter »Sprint« durch hüfthohen Schnee. Was für ein Wahnsinn. Wenigstens war es hier, an der Außenmauer des Gebäudes windstill. Pia schüttelte sich den Schnee von Anorak und Skimaske, dann schaute sie zur Schneewehe zurück, die im dichten Treiben kaum noch zu sehen war. Sie kniff die Augen zusammen, dann sah sie Fabian deutlich schneller und dabei behänder als sie durch den Schnee hetzen, die Waffe immer im Anschlag. Pia arbeitete sich bis zur Hausecke vor und spähte um die Ecke. Ein paar zugeschneite Jeeps standen auf der Freifläche, die das U bildete. Plötzlich schrie Fabian »Runter!«, Pia sah hektisch zu ihm herüber, wusste nicht, was sie tun sollte, war wie steifgefroren. Erst das knarrende Geräusch hinter ihr ließ sie herumfahren. Ein Fenster direkt hinter ihr! Sie musste es durch den Schnee und die Erschöpfung übersehen haben! Es wurde aufgerissen, eine Hand schnellte heraus und packte sie am Anorak. Sie schrie auf und ließ sich zur Seite fallen. Die Hand rutschte an ihrer Kleidung ab.

 

Thunder stockte der Atem. Ein Fenster! Pia stand genau vor einem Eckfenster, hinter dem gerade Licht angegangen war. War die Kleine blind? Sie schaute gerade um die Häuserecke. Verdammte Scheiße! Er hetzte vorwärts.

Ein Schemen hinter dem Fenster, der immer größer wurde, erst langsam, dann immer schneller.

Thunder ließ seinen Rucksack fallen, stürmte vorwärts. Der Pulverschnee stob nur so auf, als seine Beine durch die weiße Masse pflügten.

Der Schemen verwandelte sich in einen Soldaten, der eine Pistole zog und zum Fenstergriff langte, allein fixiert auf Pia.

»Runter!«, schrie er, doch das Mädchen reagierte nicht. Das Fenster wurde aufgerissen, der Soldat griff nach Pia, die erst jetzt aus ihrer Starre erwachte, aufschrie und sich zur Seite warf und so dem Griff des Mannes entkam. Thunder stürmte von der Seite heran, doch der Soldat hatte nur Augen für das Mädchen. Beugte sich aus dem Fenster, wandte Thunder dadurch den Rücken zu. Noch zehn Meter. Neun. Thunder schulterte die MP und zog das Kampfmesser aus der Westenhalterung. Sechs. Er atmete tief ein, spannte die Muskeln. Drei. Er sprang vorwärts, packte den Soldaten am dunkelgrünen Anorak und zog ihn aus dem Fenster in den Schnee. Für einen Sekundenbruchteil kreuzten sich ihre Blicke. Panik lag in den Augen des vielleicht Zwanzigjährigen. Dann verschwand das Kampfmesser seitlich im Hals des Mannes. Der Körper bäumte sich auf, doch kein Laut kam heraus, nur ein blutiges Gurgeln war zu hören, das vom Wind davongetragen wurde.

Pia robbte rückwärts, als das Blut über den Schnee in ihre Richtung spritzte. Sie schrie auf, dann presste sie sich die Hand auf die Lippen, wendete sich ab.

Thunder kam hoch, MP im Anschlag, Lauf in Richtung des offenen Fensters, aus dem sich das Licht in das weiße Treiben ergoss. Sonst war niemand in der Wachstube zu sehen. Feldbetten. Spinde. Zwei Schreibtische. Ein letzter Blick auf den Mann dessen Blut den Schnee rot färbte und schmelzen ließ. Ein geflüsterter Fluch kam über Thunders Lippen. Hoffentlich hatte der Kerl seine Entdeckung nicht durchgefunkt, bevor er abgetreten war. Er straffte sich.

»Handel jetzt, beklag dich später!«, flüsterte Thunder einen Spruch seines Ausbilders.

Immerhin waren sie jetzt etwas schlauer. Es gab hier etwas zu bewachen.

Er griff an sein Kehlkopfmikrofon.

»Sofort zum Gebäude vorrücken. Schnell!«

Tobi ließ das Mikro wie abgesprochen zweimal knacken.

 

Pia hatte sich wieder etwas beruhigt und lugte erneut um die Häuserecke. Thunder war froh, dass das Mädchen sich halbwegs im Griff hatte. Auch wenn ihr Verstand mehr auf Autopilot lief als auf bedachtes Handeln. Aber das war ok für den Moment.

Die Zeit zog sich wie ein zu lang gekautes Kaugummi, dann kamen Goof und Tobi ins Blickfeld. Sein Kumpel nahm Thunders Rucksack mit, den dieser vorhin in den Schnee geworfen hatte. Der SEKler stützte sich keuchend an die Häuserwand und rang nach Luft.

»Geht's?«

Der Angesprochene nickte nur, offensichtlich hatte er nicht genug Luft für eine Antwort.

Goof lief direkt zu Pia und machte dabei einen großen Bogen um die Leiche. Wenigstens stellte der Junge keine dämlichen Fragen.

Thunder klopfte seinem Kumpel auf die Schultern, schnappte sich den Rucksack, ging zu Pia und spähte über ihre Schulter. Alles frei. Auch aus dem offenen Fenster war kein Laut zu hören. Es könnte wirklich klappen. Wenn da hinten, in der weißen Fieselschneesuppe kaum zu erkennen, wirklich ein U-Boot am Pier lag. Falls.

Tobi gesellte sich zu ihnen.

»Erst im Gebäude nachsehen oder direkt zum Pier?«

Thunder überlegte einen Moment. Waffen, Munition, Vorräte. All das konnte im Marine-Gebäude zu finden sein. Auf der anderen Seite: Falls dort hinten wirklich ein U-Boot lag, sollten sie es nicht warten lassen.

»Nein, direkt zum Pier. Falls wir drinnen auf Widerstand stoßen, säßen wir schnell in der Falle und hätten das U-Boot nicht einmal gesehen. Im Moment haben wir – noch – das Überraschungsmoment auf unserer Seite.«

Tobi nickte. »Ich sichere nach hinten.«

Thunder zog Pia und Goof zu sich heran.

»Wir werden uns jetzt direkt zum Pier aufmachen, also über freie Fläche rennen müssen. Wir laufen in einer Reihe. Falls irgendwas schief geht, tut genau das, was wir auch tun. Klar?«

Pia hob den Daumen, Goof nickte.

Thunder schaute wieder um die Ecke. Nichts als Weiß.

Er hob die Hand über die Schulter und zählte von fünf abwärts. Als dann immer noch nichts zu sehen war, rannte er los. Er stapfte so schnell es ging durch das hüfthohe Weiß, dessen oberste Schicht knirschte, als er sich den Weg bahnte. Sie ließen das Gebäude hinter sich und hasteten über die Freifläche.

Plötzlich stöhnte Tobi auf.

»Oh, fuck!«

Zeitgleich erschien der helle Lichtschein eines Scheinwerfers, der sich auf sie richtete.

Thunder ruckte herum. Oh, wie recht Tobi hatte.

Windgeschützt, am schmalen Teil des U, stand eine Wachmannschaft von fünf Soldaten. Dazu ein Scheinwerfer im obersten Stockwerk, der jetzt aus dem Doppelflügelfenster heraus direkt auf ihre kleine Gruppe gerichtet war. Sein heller Schein fraß sich sogar durch den Schneefall und rahmte sie ein. Die Marinesoldaten hatten auf sie angelegt. Mit ihren SEK-Maschinenpistolen war da kein großer Staat zu machen.

»Stehenbleiben!«, bellten mehrere Soldaten. Was schon schlimm war. Viel schlimmer aber, dass einer der Soldaten sich an die Montur griff und in ein Funkgerät sprach.

Sie waren am Arsch!

Es kam Bewegung in die Gruppe. Die Soldaten näherten sich ihnen in Halbkreisformation. Gut zwanzig Meter trennten sie noch.

»Hände hoch. Waffen auf den Boden.«

Tobi schaute zu Thunder.

»Dass die sich auch nie entscheiden können.« Dann, ohne einen Befehl seines Truppführers abzuwarten, warf er die Maschinenpistole vor sich in den Schnee. Thunder seufzte und tat es ihm nach, wobei er die Waffe nur auf den Schnee legte, damit sie nicht vollends versank. Goof fing zu heulen an und ließ die Pistole sofort fallen. Pia hingegen bückte sich und legte die Waffe vorsichtig auf die feste, oberste Schneeschicht. Thunder nickte unmerklich. Die Kleine hatte in erstaunlich kurzer Zeit viel gelernt.

Tobi blickte über die Schulter und Thunder direkt in die Augen. Die Erschöpfung hatte sich tief hineingegraben, ein grauer Schleier lag über seinen sonst so strahlenden Augen. Thunder bemerkte, dass sein Kumpel nur noch auf einem Bein stand, das andere überhaupt nicht mehr belastete. Die Schmerzen mussten wieder schlimmer geworden sein. Dann zwinkerte ihm der SEKler plötzlich zu.

»Auf mein Zeichen!« Dabei zeigte er mit der offenen Handfläche nach hinten zu seinem Truppführer und offenbarte den winzigen Funkzünder, den er darin versteckt hielt.

Sein Kumpel würde doch nicht ...

Tobi rief den Soldaten zu: »Wir ergeben uns!«, hob die Hände und ballte sie dabei zu Fäusten. Machte einen Schritt vorwärts, dann noch einen. Die Soldaten blieben ruckartig stehen.

»Sofort stehenbleiben oder wir schießen!«, rief der Kleinste von ihnen. Mittlerweile waren die Soldaten nah genug herangekommen, dass Thunder ihre Rangabzeichen erkennen konnte. Der drahtige Mann war der einzige Unteroffizier, die anderen alles Mannschaftsdienstgrade. Normale Wachmannschaft.

»Aber ich will mich doch ergeben!«, tat Tobi völlig unschuldig. Und humpelte weiter, das verwundete Bein zog er nur noch hinter sich her.

Der Unteroffizier zielte auf die Brust des herannahenden Unbekannten. Seine Untergebenen zogen nach.

»Letzte Warnung!«

Tobi hatte sich bis auf acht Meter der Gruppe genähert.

Thunder schluckte schwer. Tobi, du Narr! Er raunte leise nach links und rechts: »Gleich rummst es. Köpfe in den Schnee und unten bleiben!«

»Aber ... aber«, stammelte Goof.

In diesem Moment knickte Tobi um, schrie und fiel seitwärts in den Schnee, griff sich dabei an sein Bein, jammerte laut und verfiel dann in ein leises Wimmern. Der Wachhabende senkte die Waffe.

»Müller, Grobowski, helfen sie ihm hoch. Der Rest zu den anderen Gefangenen.«

Die Soldaten führten ohne nachzufragen aus, nur der Unteroffizier blieb stehen. Tobi jammerte lauthals auf, als die beiden Soldaten bei ihm angekommen waren. Fast zeitgleich stapften die anderen zwei mit angelegten Waffen an dem SEKler vorbei und auf Thunder, Goof und Pia zu.

»Für die Freundschaft!«, rief Tobi, dann ging eine grellorangene Sonne auf, als er den C4-Sprengstoff im Rucksack zündete. Thunder hatte sich beim ersten Wort Tobis bereits in den Schnee fallen lassen, direkt auf seine Maschinenpistole. Die Druckwelle brandete über seinen Rücken hinweg. Die Kinder hoben ab und wurden nach hinten geschleudert. Der Geruch nach verbranntem Fleisch stieg in seine Nase. Fabian befreite sich von seinem brennenden Rucksack und rollte ihn im Schnee, um die Flammen zu ersticken. Dann kam er wieder auf die Füße, ignorierte die Schmerzen. Die Welt bestand nur noch aus Chaos, Leichenteilen, Blut. Ein kleiner Krater dort, wo gerade noch sein Freund gelegen hatte. Die Hitze der Explosion hatte darum herum Schnee und Eis verdampft. Weiter entfernt vom Explosionszentrum begann es wegen der tiefen Temperaturen bereits wieder zu gefrieren. Ein erstarrender roter See, durchsetzt mit Leichenteilen, über dem brennende Stofffetzen langsam aus der Luft herabschwebten. Thunder blendete alles aus, ließ den Stich der Trauer gar nicht erst zu. Stattdessen stürmte er vorwärts, geriet mehrmals ins Straucheln, hielt sich aber auf den Beinen. Dann sah er in diesem Chaos den Unteroffizier, der als einziger Soldat noch am Leben war. Die Explosion hatte die Skimaske mit dem Gesicht verschmolzen. Der Mann rappelte sich gerade wieder auf, schrie dabei vor Schmerz, drehte sich ohne Orientierung hastig hin und her. Dann stürzte er sich auf das neben ihm liegende Sturmgewehr, ging in die Hocke und wollte auf Fabian anlegen. Thunder riss die MP hoch und schoss im Laufen. Der Kolben schlug gegen seine Schulter. Salve um Salve verließ den Lauf und schlug in die Kampfmontur des Soldaten ein, der durch die Wucht der Treffer von den Beinen gerissen wurde und rücklings in den gefrierenden Matsch fiel. Das Gewehr flog ihm aus der Hand und schlitterte über das Eis. Wie Thunder befürchtet hatte, regte sich der Soldat bereits wieder. Schusssichere Arktiskombination. Seine Waffe klickte leer. Thunder ließ sie fallen, griff im Laufen sein Messer und stürzte sich auf den Unteroffizier, der trotz seiner Verletzungen behände reagierte, die Beine anwinkelte und Fabian voll auf der Brust traf. Der Tritt presste alle Luft aus Thunders Lungen, Sterne tanzten vor seinen Augen.

Schnell rappelte er sich wieder auf, kam schwankend hoch. Seine Hand schmerzte vom Sturz, doch er hatte das Messer nicht fallen lassen. Das hatten sie früher einfach zu oft trainiert.

Der Soldat sah sich hastig um und entdeckte das Gewehr in einigen Metern Entfernung. Sein Blick blieb an Fabian haften, der ihm viel zu nah war für eine solche Aktion. Der Mann stand auf und zog sein Stiefelmesser. Dabei stöhnte er. Die Treffer hatten trotz der schusssicheren Weste doch etwas bewirkt. Vielleicht ein paar geprellte Rippen. Vom verbrannten Gesicht ganz zu schweigen.

Schade, Thunder wäre es lieber gewesen, wenn der Soldat versucht hätte, an sein Gewehr zu kommen. Ein schneller Sprung, ein Messer von hinten in die Lunge. Fertig. Stattdessen begann nun der Tanz. Sie taxierten sich gegenseitig, verlagerten das Gewicht von einem Fuß auf den anderen. Kaum drei, vier Schritte trennten sie. Die Zeit verrann, Schweiß lief über Thunders Rücken, Sekunden dehnten sich zu Minuten. Der Feuerschein auf der glänzenden Klinge seines Gegenübers, dagegen das matte Schwarz seines Tötungswerkzeugs. Der Schnee fiel langsamer als vorhin, als wollte er den Vorhang öffnen für ihr kleines Duell.

Thunder spannte die Muskeln. Jede Sekunde konnten Verstärkungen aus dem Gebäude kommen, vielleicht brauchte eines der Kinder auch Hilfe. Er musste es beenden. Jetzt.

Dann sprang er vorwärts, täuschte rechts an, der Unteroffizier fiel drauf rein und riss die Linke zur Abwehr hoch. Mit dem Messer in der Rechten holte er aus, um Fabian die Klinge in die Seite zu rammen. Wie erhofft. Thunder duckte sich unter dem Messer hinweg und rammte seine Schulter in den Bauch seines Gegners. Der klappte zusammen und rang nach Luft. Thunder machte einen Schritt zur Seite, packte den Unteroffizier an der Kampfmontur und riss ihn zu sich heran. Dann versank das Metall im Hals des Gegners. Ein schneller Schnitt, dann riss er die Klinge wieder heraus. Blut spritzte aus der klaffenden Wunde. Ein kurzes, ersticktes Gurgeln. Der Soldat fiel zur Seite, griff sich an den Hals und zuckte noch ein paar Mal. Dann erschlaffte der Körper ohne einen weiteren Ton. Als ob es nach der Explosion noch leise hätte ablaufen müssen.

Thunder kniete sich hin und nahm einige Magazine und zwei Handgranaten aus der Kampfmontur der Leiche an sich. Zuletzt holte er noch das Sturmgewehr, das an einem Stein zum Liegen gekommen war.

Als wüsste das Wetter, dass die Show vorbei war, begann es heftig zu schneien, wobei gleichzeitig Wind aufkam.

Der Rückweg über das rote Eis geriet erneut zu einer glitschigen Angelegenheit. Thunder vermied es, die Stelle anzusehen, von der die Explosion ausgegangen war. Er blickte vorwärts und nahm seinen Rucksack wieder auf. Die Kinder befanden sich in einem Bereich, wo die Wirkung der Explosion nachgelassen hatte. Goof kauerte im Schnee, die Kleidung war an vielen Stellen geschwärzt und ein paar Verbrennungen zierten seinen Kopf. Insgesamt aber nichts Wildes. Dass er sich katatonisch vor und zurück wog und seinen gebrochenen Arm hielt, war da schon bedenklicher. Die Schiene hatte den Sturz wohl nicht überstanden.

Pia kniete hinter ihrem Freund, hatte einen Arm um ihn geschlungen. Mit der anderen hielt sie ihre Pistole und zielte zitternd in Thunders Richtung. Ihr Finger übte gerade genug Druck auf den Abzugsbügel aus, dass ein Laserpunkt auf Thunders Brust Samba tanzte.

»Waffe runter, ich bin es!«, rief er ihr zu. Eine endlos wirkende Sekunde lang passierte nichts, dann senkte sie die Waffe.

»Fabian!« Pia ließ Goof los und sprang hoch, mitten in die Arme des SEKlers. Er hatte Schwierigkeiten, sein Gleichgewicht zu behalten. Ihre Hände klopften wie wild auf seinen Rücken.

Langsam löste sie sich. Jetzt konnte er sich ein Bild machen. Bis auf ein paar Ruß Schwärzungen und leichtere Verbrennungen am Hals war das Mädel glimpflich davon gekommen.

»Wie auch immer du deine Pistole wiedergefunden hast, wir werden sie gleich brauchen«, stimmte er sie ein. »Die Wachen haben wohl Verstärkung gerufen, die können jeden Moment hier sein. Wir müssen los!«

Pia nickte, griff Goof unter die Arme und zog den aufschreienden Jungen in die Höhe, der anschließend schwankend neben ihr stand. Goof war offensichtlich am Ende seiner Kräfte angelangt.

Eine Alarmsirene heulte im Gebäude hinter ihnen auf, das durch den Schneefall nur noch schwach zu sehen war.

»Los!« Thunder klopfte Pia auf die Schulter und trieb seine zwei Begleiter zur Eile, auch wenn es bei Goof nur ein schnelleres Stolpern wurde. Er hielt es nicht mehr aus.

»Ich renn schon mal vor. Ihr folgt mir so schnell ihr könnt.«

Pia wollte noch ein »Aber ...« einwenden, da hatte Thunder sich schon einige Meter durch den Schnee in Richtung Pier gekämpft und ihnen gleichzeitig eine Schneise in den Schnee gegraben. Die Kaimauer kam immer näher, von einem Schiffsumriss war noch nichts zu sehen. Dann schälte sich die Mauerlücke zu einer Steintreppe aus dem Schneetreiben. Er hielt direkt darauf zu, lugte vorsichtig über die Mauer. Er erkannte schemenhaft zwei Wachen am Fuße der Treppe. Einer sagte etwas und dann blitzte eine kräftige Lampe auf. Thunder zuckte zurück. Mist! Vor dem Wind geschützt hatten die beiden Soldaten von da unten die Treppe perfekt im Blick. Ihn hatte nur die schlechte Sicht geschützt.

Für einen Sprung war es zu hoch, die Treppe überwand gut zehn Meter Höhenunterschied vom Pier zur Plattform dort unten. Thunder schnallte den Rucksack ab, legte sich flach in den Schnee, machte sich so breit wie möglich und robbte langsam nach rechts, weg von der Treppe, hin zur Kaimauer. Auch wenn er sie hier aufgrund des Schnees nicht sah, fühlte er plötzlich die Steine unter seinen Handschuhen. Dahinter ging es steil abwärts. Keine Geräusche von der Treppe. Wahrscheinlich glaubten die beiden Wachen an eine Täuschung, bei dem Wetter nicht unmöglich. Thunder riskierte einen Blick über die Mauer. Er blinzelte. Schaute nochmal. Es war wirklich wahr! Dort unten lag ein U-Boot!

Neben der Treppe befand sich ein steinerner Landungssteg, der vom Schnee befreit war. Dutzende Kisten warteten noch darauf, im Schiff verstaut zu werden. Das U-Boot lag direkt am Steg, eine große Planke führte hinüber. Bis auf die beiden Wachen am Fuß der Treppe war niemand zu sehen. Das Schiff lag tief im Wasser, schwer von Ladung. Oder man hatte die Tanks bereits geflutet, um möglichst wenig Oberfläche dieser extremen Kälte auszusetzen. Das Eis des Meeres war rings um das Schiff weggebrochen worden, gerade so viel, dass die dunkelgraue Schönheit genug Platz hatte.

Thunder robbte langsam wieder zurück zur Treppe. Einen Versuch war es wert. Sie mussten dort runter. Es musste schnell gehen!

Er winkelte den Arm an, legte das Sturmgewehr knapp über die Brüstung und gab mehrere ungezielte Schüsse ab. Die Waffe ruckte ohne vernünftigen Rückhalt so heftig, dass er sie gerade noch unter Kontrolle halten konnte. Ein paarmal hörte er das Splittern von Holz, ansonsten nur den Hall der Schüsse. Dann ein vom Wind davongetragener Rest eines Rufes von unten, bevor eine Salve dicht neben ihm im Stein einschlug, gefolgt von weiteren Kugeln, die über die Mauer hinweg pfiffen. Überlappende Geräusche. Zwei Waffen. Also waren beide Wachen noch unten an der Treppe.

Er konnte bereits die Schemen der Kinder erkennen, sie würden ihm gleich im Weg stehen. Also jetzt. Er legte das Gewehr neben sich, zog die beiden Handgranaten von der Weste, eine Granate in jede Hand. Er schmeckte Metall und Unteroffizier-Blut, als er die Sicherungsringe mit den Zähnen abriss.

»Eins.« Er sprang hoch.

»Zwei.« Er holte aus.

»Drei.« Einer der Wachen stand links an der Mauer, geduckt. Der andere rechts hinter einer Kiste. Er warf beide Granaten unabhängig voneinander. Die Todbringer trudelten durch die Luft.

»Granate!«, hörte er den Warnruf, dann explodierten die Splittergranaten gut einen Meter über den Soldaten in der Luft. Die Detonation hallte an den Steinwänden nach. Die beiden Soldaten lagen am Boden, die Kisten des Rechten waren geborsten. Er ergriff sein Sturmgewehr und brachte es in Anschlag. Das Rotpunktvisier machte aus den Schemen halbwegs als Menschen erkennbare Ziele. Thunder gab mehrere schnelle Salven ab. Der linke Soldat lag noch am Boden – der Schnee um ihn herum hatte sich rot gefärbt – als ihn die Kugeln in den Oberkörper trafen. Gegen die Sturmgewehrmunition hatte seine Splitterschutzweste keine Chance. Thunder schwenkte nach rechts, atmete aus und drückte erneut ab. Die Kiste hatte einen Großteil der Splitter abgefangen, der Soldat kam gerade wieder auf die Beine, nur seine linke Körperhälfte war zu sehen. Die ersten Kugeln verfehlten das Ziel deutlich. Thunder zwang sich zur Konzentration, blendete alles andere aus. Kein Herzschlag, der ihm fast das adrenalinüberflutete Gehirn platzen ließ. Keine Alarmsirene, deren Lärmen vom Wind davon getragen wurde. Nur der Körper seines Gegners und sein Visier. Thunder atmete aus und schoss erneut. Während der Soldat auf ihn anlegen wollte, trafen ihn die Kugeln in der Schulter. Ein gellender Schmerzensschrei. Der Soldat wand sich auf dem Boden und stieß sich wild mit den Füßen ab. Weiter ins Schussfeld hinein. Gut. Thunder schoss so lange, bis sein Magazin leer war. Keine Bewegung mehr. Er wechselte das Magazin und sah wieder durchs Visier. Zwei Tote. Ein schneller Schwenk zur Planke. Keine Bewegung auf dem Deck des U-Boots.

Dann hörte er hinter sich Schritte im Schnee.

Er drehte sich um und brachte ein zittriges Lächeln auf sein Gesicht. Pia schaute schwer atmend zu ihm und blieb stehen. Goof hing wie ein nasser Sack in ihrem Arm.

»Braucht ihr eine Mitfahrgelegenheit? Ich hätte da ein U-Boot anzubieten!«

Eine Sekunde verstrich, noch eine. Erst dann riss Pia ungläubig die Augen auf, bevor ihr Jubelschrei alles übertönte.

 

Thunder ging voran, sicherte nach vorne. Pia nach hinten, so gut das mit dem untergehakten Goof ging. Langsam die rutschige Steintreppe hinab. An den Leichen vorbei. Thunder hörte das Würgen hinter sich, dann übergab sich der Junge geräuschvoll mitten auf dem Weg, entglitt dabei Pias Griff und ging in die Knie. Der Schock ließ also nach. Oder der Anblick der von den Granaten in Mitleidenschaft gezogenen Soldaten hatte seinen Schockzustand durchbrochen. Pia versuchte vergeblich, den Schlacks wieder auf die Beine zu kriegen. Thunder ging die paar Schritte zurück, packte den Jungen grob am Anorak und zog ihn in die Höhe, wobei er seinen Schmerzensschrei ignorierte. Dann verabreichte er ihm eine Ohrfeige. Gott, tat das gut!

»Reiß dich zusammen, Mann! Konzentrier dich, wenn du das hier überleben willst!«

Die einzige Antwort war ein abgewendeter Kopf, der im Rhythmus des Wimmerns zitterte.

Thunder drehte sich um und ging wieder voran, sollte Pia sich um ihren Freund kümmern.

Vorsichtig betrat er die relativ breite Planke und prüfte ihre Festigkeit. Kein Problem.

»Los jetzt!«, rief er nach hinten und Pia setzte sich wieder in Bewegung, Goof hielt sich den Arm und schlich hinterher.

Vorsichtig überquerten sie die Planke.

Thunder erreichte das Vordeck des U-Bootes, gab Pia die Hand und zog sie von der Planke zu sich herüber. Während sie Goof half, stieg Thunder die Leitersprossen des U-Boot-Turms empor. Mehrmals verloren seine Füße den Halt auf dem eingeschneiten Metall. Dann endlich war er oben. Die Luke war natürlich geschlossen, wie nicht anders zu erwarten. Im Turm war glücklicherweise genug Platz, dass auch die Kinder hinter ihm hochklettern konnten, bis sie alle drei vor der Luke kauerten. Von hier aus hatte er ein freies Schussfeld Richtung Treppe. Dem Motorengeräusch zufolge, das vom Kai zu ihnen herüber drang, würde er es brauchen können.

 

Pia hatte selten einen herzhafteren Fluch als den von Fabian gehört, nachdem die Motorengeräusche von der Kaimauer verstummt waren. Sie hielt ihren Kopf unten, hinter der sicheren Stahlschürze des Turms, als die ersten Kugeln durch die Luft pfiffen. Goof lag zu ihren Füßen, in Fötusposition eingerollt und wimmerte vor sich hin. Sie hingegen konnte nicht untätig herumliegen, zu viel Adrenalin in ihren Adern. Fabian tauchte immer wieder aus der Deckung auf, gab ein paar Schüsse in Richtung der Angreifer und fluchte dabei vor sich hin.

»Kümmer dich um die Luke. Wir müssen runter vom Präsentierteller!« Fabian gab weitere Schüsse ab und ein Schmerzensschrei gellte zu ihnen hinüber.

Pia schob den Schnee von der Luke und drehte mit aller Kraft am Drehrad. Vergebens, da bewegte sich nichts. Da sah sie den kleinen Sensor direkt neben dem Rad. Ein RFID-Sensor für Schlüsselkarten! Hastig kramte sie in ihrem Rucksack. Die Turmumrandung klang wie eine Glocke, als weitere Schüsse dagegen prallten. Dann hatte sie den Handheld-Computer gefunden. Eilig streifte sie ihren rechten Handschuh ab und schützte mit ihrem Oberkörper den Bildschirm vor dem Schneefall. Die ersten Versuche, Kontakt herzustellen, schlugen alle fehl. Nun war es an ihr, einen Fluch abzulassen. Okay, zu einfach durfte es auch nicht sein. Sie probierte einen anderen Weg, prügelte ihren Computer geradezu, eine Verbindung mit dem Lukensensor aufzunehmen, griff zu den brachialsten Methoden, die sie sich in ihren jungen Jahren bereits angeeignet hatte. Endlich kam die Statuszeile »Verbindung erfolgt.« Ein kleiner Schritt für sie, ein großer für sie alle. Nun musste sie nur noch den Sensor überzeugen, dass er gerade Kontakt mit einer zugelassenen RFID-Zugangskarte hatte.

»Geht das etwas schneller?«, rief Fabian zwischen zwei Schüssen und wechselte anschließend das Magazin.

»Mir geht bald die Munition aus!«

»Jaja, bin dabei!«

Pia tippte so schnell es ihre gefrorenen Finger zuließen auf der Displaytastatur herum.

»Ich kann uns reinbringen, aber ...!«

Fabian schnitt ihr den Satz ab. »Dann tu es!«

Pia schluckte. Sie wussten nicht, ob an der Luke Wachen standen. Drei Klicks später hörte sie, wie sich ein Riegel bewegte.

Der Wartungsmodus war diesmal keine Option gewesen, dafür war das System zu gut gesichert. Aber wofür gab es so etwas wie die »112« beim Telefon auch in der Schloss-Software fast jeden Herstellers?! Notfallmodus! Feuer an Bord! Dann müsste der einzige Ausgang des U-Boots doch eigentlich aufgehen. Oder?

 

Schwere mechanische Schläge ließen das U-Boot unter ihnen erzittern. Was hatte Pia da gemacht?

»Das System sagt, noch fünfzehn Sekunden!«, rief das Mädel über das Sirren der Querschläger hinweg.

Thunder nickte, legte erneut an und ein weiterer Soldat kippte hinter der Mauer um. Im Hintergrund kamen weitere Wachen auf Schneemobilen an. Wenn das nicht funktionierte, waren sie geliefert.

Ein Surren hinter ihnen, als das Drehrad der Luke sich von alleine drehte, gefolgt von einem Zischen. Dann schwang die Luke in Zeitlupe auf.

Plötzlich sprang Goof in einer Geschwindigkeit auf, die Thunder bei ihm noch nie gesehen hatte. Pure Panik lag in seinen Augen.

»Ich muss hier weg!«, schrie er.

»Runter!«

Doch Goof hörte nicht, wendete sich von links nach rechts, während die Luke in die Endposition aufschwang.

Es war unglaublich, dass keine der Kugeln der Soldaten den Jungen, der nur noch Augen für die Luke hatte, trafen.

Er wollte sich gerade in die Öffnung stürzen, als er plötzlich aufschrie und sich an die Brust fasste. Ein roter Fleck breitete sich dort aus. Mit ungläubigem Blick schaute er erst zu Thunder, dann zu Pia, die aufkreischte. Dann fiel er nach vorne, genau in die Öffnung. Der Aufprall klang schwer und hallte nach.

»Los, runter!«

Pia zitterte, doch sie gehorchte und machte sich an den Abstieg in den Bauch des U-Boots. Thunder schoss seine letzten drei Kugeln in Richtung Mauer, dann lehnte er das leere Sturmgewehr an die Turmbrüstung, so dass es für die Soldaten wenigstens für einige wichtige Momente danach aussah, als wäre er hier weiterhin verschanzt. Dann schnappte er sich Goofs Pistole und schwang sich ebenfalls abwärts. Die Füße seitlich an der Leiter, rutschte er schnell hinunter. Unten angekommen ging er in die Hocke und sah sich um. Hoffentlich war das U-Boot noch nicht bemannt worden und die Mannschaft wunderte sich im Verwaltungsgebäude über die Schüsse hier draußen. Warum glaubte er bloß nicht daran?

Rötliche Notbeleuchtung tauchte die Brücke in düsteres Licht, wie er es sonst nur aus Filmen kannte.

Dann fiel sein Blick auf Pia, die stocksteif neben einer Konsole stand und auf den Boden dahinter blickte. Er ging zu ihr und dann sah er es auch. Fünf Tote, alle auf dem Boden zusammengesunken, in schrecklichen Posen, als ob jemand beim Ertrinken auf die Pause-Taste gedrückt hätte. Die meisten hatten ihre Hände am eigenen Hals, die Gesichter zu Grimassen verzogen, die man nicht wieder vergaß.

Thunder wendete sich ab, suchte neben der Leiter nach der Steuerungseinheit, fand sie und hieb auf den roten Knopf. Über ihnen schloss sich surrend die Luke und schwere Bolzen verschlossen den Eingang. Das würde ihnen die Soldaten erst einmal vom Leibe halten.

»Was ... was ist hier los?«, stammelte das Mädchen und drückte sich an seine Brust.

Fabian verkrampfte, mühte sich dann aber, seinen Arm um das kleine, heulende Häufchen Elend zu legen.

Die Sekunden zogen dahin, das Adrenalin kochte immer noch in seinen Schläfen. Fabian löste sich so vorsichtig es ging aus der Umklammerung, dann ging er zum Kapitänsstuhl in der Mitte des Raumes und drehte den daran befestigten Monitor zu sich.

»Löschvorgang abgeschlossen. Alle Bereiche wieder freigegeben. Halon gas abgepumpt«, las er vor. »Keine Ahnung warum, aber das Löschsystem ist angesprungen und hat alle Bereiche des Bootes versiegelt und dabei mit Halongas geflutet.« Fabian schüttelte den Kopf. Arme Schweine.

»Halon?«, stotterte Pia hinter ihm.

Fabian nickte langsam.

»Kenne ich aus der Ausbildung. Gab es früher auch an Bord von Flugzeugen. Ein Gas, das Brände erstickt. Leider nicht nur das. Das System ist nicht wirklich zimperlich vorgegangen.« Er blickte sich im Raum um und sprach seinen Gedanken aus. »Hier hat es jedenfalls nicht gebrannt. Wenn, dann woanders im Boot. Warum das System dann gleich alles mit dem Gas geflutet hat ... keine Ahnung.«

Hinter ihm fiel das Mädchen auf die Knie und schaukelte mit dem Oberkörper langsam vor und zurück.

Fabian bemerkte es, kniete sich erschrocken neben Pia und hielt sie im Arm.

»Anders hätte ich doch die Luke nicht aufgekriegt«, stammelte sie immer wieder.

Fabian erstarrte.

»Ach du Kacke«, flüsterte er, dann zog er sie hoch. »Du kannst nichts dafür! Du wusstest nicht, was passieren würde!«

Tränen erstickten Pias Stimme, sie konnte nicht antworten.

Thunder schüttelte sie, spürte jeden einzelnen ihrer dünnen Knochen unter dem Anorak, als ob er einen dünnen Strauch schütteln würde. Dann fasste er ihren Kopf so sanft wie er konnte an beiden Seiten und sah ihr fest in die Augen.

»Jetzt hör mir genau zu. Auch wenn es sich schlimm anhört – im Moment bringt es nichts, zu trauern. Wir müssen das Schiff in Gang kriegen. Wenn die Wachen hier ankommen und die Luke öffnen, dann haben sie uns, getötete Besatzung hin oder her.«

Pia blickte ihn ungläubig an.

»Ich habe doch noch nie ein U-Boot gesteuert!«

»Aber du hast bedeutend mehr Computererfahrung als ich. Ich erwarte keine Wunder von dir. Bring uns einfach nur unter Wasser und wenn möglich aus dem Hafen raus!«

Pia schüttelte den Kopf, wendete den Blick ab.

Er schüttelte sie erneut.

»Soll das alles umsonst gewesen sein?« Er packte sie grober als beabsichtigt an den Schultern und drehte sie um. Goofs Körper lag im Halbdunkel hinter der Leiter. Sein Kopf stand in einem sehr ungesunden Winkel ab. Die Diagnose war eindeutig.

»Goof! Tobi! Keiner dieser Tode war unnötig, wenn wir beide überleben! Jetzt starte dieses Mistvieh und bring uns unter Wasser.«

Pia schluchzte, schrie auf, ihre Beine sackten weg. Thunder hielt sie fest, zwang sie, sich zu besinnen. Sie hatte den toten Goof vorher wohl noch nicht gesehen, es war alles viel zu schnell gegangen. Dann fasste sie sich wieder. Und nickte. Immer wieder. Mit einem Mal setzte sie sich auf den Kapitänsstuhl, drehte den Monitor zu sich und tippte vorsichtig darauf herum.

»Das System kenn ich halbwegs. Ist ähnlich wie ein Steuerungssystem für Industrieanlagen, das ich mal gehackt habe.« Ihre Stimme klang mechanisch, fast wie bei einem Roboter. Thunder konnte förmlich zusehen, wie die Überlebensinstinkte alles andere, jeden Toten und alle schlimmen Ereignisse, ausklammerten. Bis zu dem Moment, in dem die Erinnerung zurückkehren würde. Danach würde er für sie da sein müssen.

 

Von der Luke hallten Schläge zu ihnen, immer wieder von Rufen unterbrochen, die sie aufforderten, aufzugeben. Pia tippte immer schneller auf dem Monitor des Kapitäns herum.

»An die Ruder!« Pia sah ihn hektisch an. »Den Rest kann ich über die Automatik steuern, aber die Ruder musst du übernehmen!«

Thunder schaute sich um. Was zum Geier war hier die Rudersteuerung? Sein Blick sprang von Konsole zu Konsole. Dann sah er das halbrunde Steuer an einer etwas größeren Eingabeeinheit.

»Das da?«

Pia schaute ihn verzweifelt an. »Keine Ahnung!«

Thunder eilte zu der Steuereinheit und schaute sie sich genauer an. Eine kleine Plakette half weiter. »Ruderanlage«.

»Okay, hab es!«

Pias jugendliche Stimme konterkarierte die klaren Anweisungen, die sie gab: »Gut. Ich schalte jetzt die Automatik an. Leichte Fahrt zurück, zwei Meter unter Null.« Sie sprang auf, rannte zu ihm hinüber und zeigte auf eine Anzeige direkt vor ihm. »Du musst dafür sorgen, dass wir dabei waagerecht bleiben. Nicht kippen, egal ob zur Seite oder nach vorne oder hinten. Gerade bleiben!«

Thunder nickte. Woher wusste die Kleine so viel über U-Boot-Steuerung? Kinder des volldigitalen Zeitalters? Seine Hände zitterten, als er die Handschuhe auszog und die glatte Plastikoberfläche des Ruders umfasste.

»Bereit?« Pia war zurückgeeilt und saß wieder auf dem Kapitänsstuhl, den Zeigefinger nur Millimeter über der Oberfläche ihrer Konsole.

Thunder atmete tief durch, schmeckte den metallischen Geruch des Schiffes und konzentrierte sich so sehr, dass sein Kopf wummerte.

»Los!«, rief er in den Raum hinein.

Pias Finger berührten die Konsole. Eine Sekunde. Zwei Sekunden. Immer noch nichts. Drei Sekunden. Dann ertönte ein infernalisches Krachen, als das U-Boot sich in Bewegung setzte und Eisschollen gegen die Außenwand krachten und über das Metall schabten. Thunder duckte sich unwillkürlich. Dann spürte er, wie sich das U-Boot langsam nach unten schob.

»Der Computer sagt, wir machen 1,5 Knoten. Leichtes Sinken!«

Das Steuer in Thunders Händen ruckte plötzlich, das Schiff legte sich zur Seite. Erneut Schläge gegen die Außenwand. Er drückte das Steuer zur anderen Seite. Doch er hatte zu heftig reagiert, das Boot schlingerte jetzt hin und her. Thunder bemühte sich, das Steuer ruhiger wieder in die Waagerechte zu bringen. Das Schlingern wurde weniger, ganz ruhig lag das U-Boot aber nicht im Wasser, immer wieder schlug Eis gegen die Außenwand.

»Wie tief ist das Meer hier?«, rief er über die Erschütterungen.

»Moment ... zwanzig Meter!«

»Dann bring uns tiefer runter! Wir müssen unter das Eis, sonst reißt es uns die Außenhaut auf!«

»Okay.« Pia tippte erneut auf der Konsole herum und Thunder konnte spüren, wie das Schiff weiter sank. Die Schläge wurden seltener, bis sie schließlich gänzlich verstummten.

»Wir sind jetzt auf acht Meter. Tiefer lässt mich der Computer nicht gehen. Irgendwas wegen ›Tiefgang‹.«

»Das ist gut. Wir wollen uns ja nicht den Bauch aufreißen!«

»Ach so.«

Das Steuer lag nun deutlich leichter in der Hand, das Zittern des Schiffes hatte aufgehört. Er kannte sich mit Technik nicht wirklich aus, aber der Antrieb war tatsächlich extrem leise, von den Maschinen war kaum etwas zu hören, bis auf ein leises Brummen wie eine laufende Mikrowelle.

»Bring uns erst mal aufs offene Meer hinaus. Zehn Kilometer oder so. Dann müssten wir endgültig in Sicherheit vor der Marine sein. Und dann schauen wir, ob wir den richtigen Kurs zur Exodus-Basis finden.«

Pia nickte und gab dem Autopiloten entsprechende Anweisung. Das Boot legte sich in eine leichte Kurve, dann folgte es nur noch dem eingegebenen Kurs. Das Brummen wurde etwas lauter, als die Maschinen auf mittlere Fahrt gingen, was laut der Anzeige vor Thunders Augen acht Knoten entsprach. Wenn er jetzt noch wüsste, wieviel ein Knoten umgerechnet in Stundenkilometer wäre, würde er sich besser fühlen. Wenn Halbwissen schon gefährlich war, was war dann erst fast völlige Unwissenheit?

 

Pia saß auf ihrer Matratze, die sie direkt vor die Waffenkonsole gelegt hatten und löffelte langsam und genussvoll ihre Dose Pfirsiche. Dies hier war nun ihr Reich. Die Brücke. Die Maschinen liefen schnurrend vor sich hin, der Autopilot brachte sie immer weiter auf das Meer hinaus. Der süße, klebrige Geschmack der Pfirsiche ließ sie für einen Moment den Schrecken vergessen, der tief in ihrem Inneren hauste und sich gegen die Wände ihres Selbst warf. Fabian hatte ihr nach einem Rundgang durch den Rest des U-Boots verboten, sich die anderen Räume ebenfalls anzuschauen. Eigentlich hätte sie ein Verbot nicht aufgehalten, hatte es noch nie. Dieses Mal aber folgte sie. Sie wollte gar nicht wissen, was es in anderen Teilen des Boots noch gab. Für sie bestand es nur aus der Brücke, und das war gut so. Die mittlerweile in angenehm hellem Licht erstrahlende Brücke, bei der nur noch ein eingetrockneter Blutfleck unter der Leiter an die Ereignisse vor wenigen Stunden erinnerte. Fabian hatte hier alles weggeräumt. Auch Goof. Bei dem Gedanken an ihren Freund versuchte der Schrecken, wieder Besitz von ihr zu ergreifen. Aber die Beruhigungstabletten, die Fabian ihr vorhin fast zwangsweise verabreicht hatte und der süße Geschmack der Dosenfrüchte hielten ihn im Zaum. So sah es doch gleich schöner aus auf der Brücke. Ihr muskulöser Begleiter hatte mehrere Taschen mit allerlei Dosen und Flaschen aus der Kombüse geholt und zwei Matratzen samt Bettzeug. Warum deckte er denn nicht den Tisch mit einem schönen Deckchen samt Kerzen? Pia musste unwillkürlich kichern, dann versuchte sie sich zusammenzureißen, was sie nur erneut kichern ließ. Blöde rosa Tabletten.

 

Fabian überlegte einen Moment, dann legte er noch eine dicke Schicht Dosenfleisch auf das daumenbreit geschnittene Brot und biss herzhaft hinein. Der Geschmack der Götter. Sie hatten genug zu essen für Monate. Da musste er jetzt nicht sparen. Jeder nur erdenkliche Quadratzentimeter des U-Boots war vollgestopft mit Kisten. Mit Nahrung und Maschinenteilen. Wasser- und Luftaufbereiter im Dutzend. Doch den größten Fund hatte er im Torpedoraum gemacht. Setzlinge, abgepackt in Plastikdosen und einer künstlichen Sonne ausgesetzt. Eine Bewässerungsanleitung lag glücklicherweise dabei. Sie waren an Bord einer Art Flora-Arche gelandet. Es warteten noch so viele Probleme auf sie, da war wenigstens das eine gute Nachricht: Die Ladung ihres Bootes war sicher wertvoll. Vielleicht sogar so wertvoll, dass man sie an Exodus andocken ließ. Und sie erst dann erschoss. Fabian zuckte fatalistisch mit den Schultern und biss erneut in das Brot. Der salzig, sämige Geschmack des Dosenfleisches breitete sich in seinem Mund aus. Wann hatte er das letzte Mal etwas derart Gutes gegessen?

Ein »Ping« von der Kapitänskonsole ließ ihn aufhorchen. Er stand von seiner Matratze auf, die sie praktischerweise direkt neben den Kapitänsstuhl gelegt hatten und drehte den Monitor zu sich.

»Der Computer ist mit den Autopilotberechnungen fertig.« Er ließ die Luft hörbar durch seine Zähne zischen. »Wenn alles glatt geht, sind wir mit diesem Kahn zehn Tage bis Exodus unterwegs.«

»So lange? Schön!« Pia kicherte albern. Vielleicht waren zwei Beruhigungstabletten doch etwas viel gewesen. Aber die Kleine hatte, nachdem sie den Autopiloten unter ihre Kontrolle gebracht hatte, mit jeder Minute verschreckter gewirkt. Die verdrängte Erinnerung an das Erlebte musste wieder an die Oberfläche gelangt sein. Was kein Wunder war. Da waren einfach zu viele Eindrücke von Tod und Schuld innerhalb zu kurzer Zeit für eine Jugendliche. So erwachsen sie auch gewirkt hatte in den letzten Tagen, sie war eine Jugendliche, wie er sich immer wieder klarmachen musste. Allein der Überlebensinstinkt hatte sie bis hierhin gebracht und sie funktionieren lassen. Wenn jetzt die Bilder gestorbener Freunde und letztlich durch ihre Hand gestorbener U-Boot-Besatzungsmitglieder hochkamen, war das nur zu menschlich. Daher hatte er zur ersten Lösung gegriffen, die ihm in den Sinn kam. Die Sanitätsstation war glücklicherweise ordentlich ausgestattet.

Er ließ sich vom Computer den Kurs einblenden. Auf den Karten waren noch keine Vereisungswerte eingetragen. Also alte Daten. Solange ihr Boot drunter her fuhr, konnten sie damit navigieren. Nur ein einziges Auftauchen für Frischluftzufuhr war vom Autopiloten vorgesehen, irgendwo vor Spanien, aber selbst das war abwählbar. Es war nun mal ein Kampf-U-Boot. Danach ging es weiter südwärts, bis zur Westküste von Nordafrika. Exodus lag wenige hundert Kilometer vor der Südküste Senegals. Afrika. Fror dort das Meer nur unvollständig zu? War das die Hoffnung der Exodus-Erbauer gewesen? Fabian hoffte, dass die Eierköpfe recht hatten. 3.300 Seemeilen. Wenn sie weiterhin mit 14 Knoten, wie aktuell, unterwegs waren, bedeutete das laut Autopilot knapp zehn Tage ununterbrochene Fahrt. Eingeschlossen in dieses Grab aus Stahl. Aber über Wasser konnten sie nicht fahren, dafür war der Atlantik schon zu stark vereist, wenn auch noch Eisschollen statt einer festen Decke vorherrschten. Das war zu gefährlich für das Boot. Der Autopilot schlug eine Tiefe von dreißig Metern vor. Ob das ausreichte? Gab es dort draußen schon richtige Eisberge, die sich in die Tiefe ausdehnten? Er wusste es nicht. Verdammt, er war nur ein einfacher Kämpfer, kein U-Boot-Spezialist! Fabian schob sich den Rest des Brotes in den Mund, das auf einmal fader schmeckte als vorhin. Willkommen zurück, liebe Sorgen.

 

Ein Zischen und das Torpedorohr schickte das letzte in ein Betttuch eingewickelte Besatzungsmitglied in die dunkle Tiefe. Fabian zögerte kurz. War ein Gebet angemessen? Dann schüttelte er einsam im Bug-Torpedoraum den Kopf. Wenn Gott wollte, würde er die armen Seelen längst in seine Obhut genommen haben, ob mit oder ohne das Gebet eines Ungläubigen.

Er hatte die Leichen keinen Moment zu früh über Bord geschickt. Neun Tage würden sie noch unterwegs sein. Und der süßliche Geruch des Todes hatte sich bereits an Bord ausgebreitet. In ein paar Tagen in der feucht-warmen Bord Luft wäre es nicht mehr auszuhalten gewesen.

Sein Blick fiel auf das vergleichsweise kleine Bündel, das noch auf dem Boden lag, direkt neben den Bohnensetzlingen, die wie ein grüner Heiligenkranz rundherum angeordnet waren. Sollte er Goof ebenfalls einfach hinausspülen in die unendliche Tiefe des Meeres? Was würde Pia dazu sagen? Er musste an Tobi denken. Der war ohne ein Begräbnis geblieben. Es schnürte ihm die Kehle zu und ein Brennen breitete sich in seinen Augen aus. Nein, er würde der Kleinen die Chance geben, sich von ihrem Freund zu verabschieden.

 

Pia rutschte auf dem Kapitänsstuhl herum und tippte auf dem Touchpad des Kommandanten. Der Autopilot arbeitete fehlerfrei und steuerte das Boot ruhig durch die Tiefen des Atlantik. Nicht sehr aufregend, aber effektiv. Pia genoss den Moment der Langeweile. Nichts zu tun. Keine Aufregung, einfach nur der Moment und sie selbst.

Sie hörte Fabian kommen, die Stiefel hallten auf den metallenen Gittern, die den Boden bildeten. Er brachte einen süßlichen Geruch mit sich, hatte dieses Mal nicht alle Schotten hinter sich geschlossen. Unwillkürlich fing Pia an zu zittern, zog die Beine heran. Sie hatte diesen Geruch erst einmal erlebt. Bei der Leiche im Polizeirevier. Es war der Gestank des Todes. Er erinnerte sie an all ihre Fehler, alle Verluste. Boomer, der sich im Wald opferte. Goof, der sterbend in das U-Boot fiel. Gleich neben die Soldaten, die sie selbst umgebracht hatte. Auch wenn sie es nicht gewollt hatte, es war ihr Befehl an das Sicherheitssystem gewesen, der die Männer getötet hatte. Der Gedanke daran war unerträglich. Ihr Bewusstsein schrumpfte bis auf die Größe einer Perle zusammen, ein heller Lichtklecks in undurchdringlicher Schwärze. Sie zog die Beine bis auf die Sitzfläche heran, schlang die Arme darum und wiegte sich langsam vor und zurück. Dann spürte sie eine Hand, die warm und wie ein menschgewordenes Sicherheitsversprechen auf ihrer Schulter lag.

»Komm bitte mit.«

Ein Blinzeln später war sie bereits im Torpedoraum. Wie war sie hierhergekommen? Vor ihr überall kleine Pflanzen in durchsichtigen Plastikkisten, der Geruch nach Erde, Dünger und Verwesung lag in der Luft. Und mittendrin ein Körper, eingewickelt in weiße Bettlaken. So klein. So verloren. So tot.

Sie drehte sich abrupt um, wollte weglaufen, doch ihre Beine zitterten so stark, dass sie gegen die Wand des kleinen Raumes prallte und zu Boden ging.

»Langsam!«

Fabians starke Hände zogen sie sanft in die Höhe, er griff ihr unter die Achseln und hielt sie so aufrecht.

Sie wand sich in seinem Griff, wollte einfach nur fliehen.

Doch er hielt sie beinahe spielend fest.

»Verabschiede dich von ihm. Du könntest es sonst später bereuen. Ich möchte dir eine Chance geben, die ich zu oft im Leben nicht hatte.«

Pia zitterte so stark, dass ihre Zähne klapperten. Schüttelfrost am ganzen Körper. Übelkeit wallte auf, als sie das weiße Bündel anstarrte. Goof.

Sie drehte sich in Fabians Griff, drückte ihren Kopf gegen seine Brust, hämmerte mit ihren dürren Armen dagegen.

»Goof! Es tut mir so leid! Ich bin schuld! An allem! Dass sie alle tot sind! Alles ist meine Schuld!«

Fabian ließ sie gewähren. Sie schlug immer weiter auf seinen Brustkorb, bis sie nicht mehr konnte. Tränen liefen ihr über das Gesicht, wurden von Fabians Shirt aufgesogen. Die Minuten verstrichen. Süßlich-erdiger Geruch in ihrer Nase, Fabians herber Eigengeruch, das Summen der Maschinen, die anklagende Stille aus dem weißen Bündel. Sie konnte nicht weglaufen. Der Raum war begrenzt. Und Fabian war schnell. Wollte sie es überhaupt? Ja. Und doch nein.

Langsam drehte sie sich um, ging zitternd in die Knie, legte ihre Hand auf das weiße Laken, das an einigen Stellen rot oder gelb verfärbt war. Ihre Hände griffen wie von selbst zu, wollten den toten Körper auswickeln, Goof noch einmal enthüllen. Eine große Männerhand, die sich auf ihre legte. Ein Kopfschütteln von Fabian.

»Nicht. Lass es. Der Anblick ist nicht schön.«

Er legte ihr die andere Hand auf die Wange, wischte eine weitere Träne weg, die sich aus ihren Augen gestohlen hatte.

»Schließ die Augen.« Seine Stimme war sanft, aber unnachgiebig.

Nur zu gerne folgte sie.

»Denk an Goof. Wie er war. Ein lebendiger, schlaksiger Junge, dem deine Freundschaft alles bedeutet hat.«

Die Bilder erschienen wie von selbst. Goof im Polizeirevier, wie er sich mit Boomer stritt. Seine dummen Späße, bevor sie den Supermarkt fanden. Wie er friedlich schlafend in dem Bunker auf dem Boden lag. Sein schmerzverzerrtes Gesicht, als der SEKler den Bruch richtete. Die aufmunternden Worte im Auto in Richtung Norden. Es schnürte ihr die Kehle zu.

»Halt diese Bilder fest. Wie er gelebt hat. Diese Bilder sollen dich immer begleiten, nichts anderes hätte er gewollt. Hätte er gewollt, dass du dich wegen seines Todes selbst fertig machst? Ich glaube nicht. Verabschiede dich. Und behalte ihn doch bei dir. Beides geht. Vertrau mir!«

Pia nahm ihre Hand langsam unter Fabians weg, strich sanft über das runde Ende des Bündels.

»Du warst ein besserer Freund, als wir alle verdient hatten. Danke. Machs gut. Wir sehen uns. Irgendwann.«

 

Als Fabian merkte, dass Pia nichts mehr hinzufügen wollte, hob er die Leiche hoch und schob sie so sanft es ging in das Torpedorohr. Er schloss die Luke und ging zum Auslöser.

»Möchtest du?«, fragte er Pia. Das Mädchen saß auf dem Boden, zitterte immer noch, aber – so schien es ihm zumindest – etwas weniger als noch vor ein paar Minuten.

Pia schüttelte den Kopf, den Blick starr auf das Torpedorohr gerichtet.

Fabian drückte auf den Auslöser, im Rohr zischte es, dann war es vorbei und Goofs Körper im Meer versunken.

Er kniete sich hin.

»Lass uns wieder zurückgehen. Die Pflanzen brauchen ihre Ruhe.«

Pia nickte geistesabwesend und ließ sich von ihm aufhelfen, bevor sie sich langsam durch die schmalen Gänge zurück Richtung Brücke aufmachten.

Ihre Schritte hallten laut durch das menschenleere Boot. Nun waren sie endgültig allein. Aber auf Kurs.

 

Zweiundzwanzig, dreiundzwanzig, vierundzwanzig. Fabian drückte sich immer wieder hoch. Liegestütze waren zwar eine Erfindung direkt aus der Hölle, aber sie hielten ihn in Form. Er spürte den Schmerz in seinen Muskeln, die bereits seit mehr als zwei Stunden das übliche SEK-Fitnessprogramm über sich ergehen lassen mussten. Auch wenn er nicht wirklich wusste, wofür er das machte. Hier an Bord lauerten keine Gefahren, und falls Exodus sich entscheiden würde, sie nicht an Bord zu lassen, würden auch die dicksten Muskeln der Welt nichts helfen. Aber er trainierte weiter. Seinen Rekruten hatte er immer Härte gegen sich selbst gepredigt, denn Feinde kannten auch keine Gnade. Und wer wäre er, wenn er es sich selbst bequemer machte, als er es einem Schutzbefohlenen durchgehen lassen würde.

Er stand auf und absolvierte Kniebeugen, diesmal ohne zu zählen. Die Zeit verschwamm zu einem trüben Einerlei, wie die letzten Tage schon. Irgendwie hatte er sich die Fahrt spannender vorgestellt, schließlich waren sie an Bord eines U-Boots! Aber daraus war nichts geworden. Der Autopilot spulte die Strecke mit beängstigender Routine ab, selbst das kurze Auftauchen zum Frischlufttanken hatte er automatisch in eine relativ eisfreie Zone gelegt. Und die Aussicht unter Wasser war einfach beschissen. Mit den leistungsstarken Scheinwerfern eines modernen U-Boots musste man doch weiter als drei Meter fünfzig sehen können. Hatte er zumindest gedacht. Nichts da. Undurchdringliche Schwärze war ihr steter Begleiter in der vom Autopiloten vorgeschlagenen Reisetiefe von 150 Metern. Auch wenn ihm das Gefühl für diese Tiefe abging. Das Boot gab kaum Laute von sich. Und einfach mal das Fenster aufmachen war auch nicht drin. Also zogen sie lautlos ihre Bahn, einem ungewissen Ziel entgegen. Gelangweilt und doch zugleich angespannt.

 

Pia schaute vom Kapitänsstuhl halb belustigt, halb gelangweilt zu, wie Fabian sein Fitnessprogramm auf dem Boden der Brücke absolvierte. Situps, Liegestütze und so ein Zeugs und all das in einem Mordstempo. Der Schweiß glänzte auf seinem blanken Oberkörper, die dicken Muskelstränge zeichneten sich deutlich unter der Haut ab. Was für eine Verschwendung von Energie. Nichts für sie. Die letzten Wochen waren anstrengend genug gewesen. Bis Exodus sollte es laut Nav-System noch gut ein Tag sein. Grund genug, sich weiter zu entspannen. Genüsslich nahm sie einen weiteren Schluck heißen Kakao, ließ ihn langsam im Mund abkühlen, genoss die süße Explosion. Eis und Schnee waren wie weggewischt, dabei lagen gerade einmal neun Tage zwischen ihrer Flucht nach Norden und dem Hier und Jetzt.

Plötzlich erschien eine Infobox auf dem Touchscreen des Kapitäns.

»Fabian? Hier passiert irgendwas!«

Der SEKler sprang sofort auf und kam zu Pia.

»Was ist es?«

Pia tippte auf die Infobox, die daraufhin aufklappte.

»Sonarboje entdeckt. Gefunden durch: Passives Sonar. Entfernung: 4,3 Seemeilen. Ziel nutzt: Aktives Sonar. WARNUNG: Entdeckung wahrscheinlich!«

Pia schluckte.

»Was sollen wir tun?«

Der schwitzende Mann neben ihr überlegte einen Moment.

»Die Boje liegt genau auf dem Weg nach Exodus, wenn man sich wie wir auf dem direkten Kurs aus Europa hierher bewegt. Das kann kein Zufall sein. Vielleicht ein Warnsystem. Ähnlich einem Schild auf dem heimischen Rasen.«

Pia schaute zu ihm hoch und sah das verräterische Zucken seiner Augen.

»Aber sicher bist du dir nicht!«

Fabian hob hilflos die Arme.

»Nein, sicher bin ich mir nicht. Ich bin nun mal kein Experte für den ganzen Scheiß hier!« Mit diesen Worten zeigte er ins Rund, seine Geste umfasste die zahlreichen Steuerkonsolen.

Die Infobox leuchtete erneut auf.

»Bestätigte Erfassung durch: Aktives Sonar. Herkunft: Sonarboje. Sonarträgerart: Deutsch.«

»Ist das jetzt gut oder schlecht?«

 

Fabians Augen überflogen den Text. Selten hatte er sich so hilflos gefühlt.

»Deutsch ist in jedem Fall ... nicht völlig ... wahrscheinlich schlecht.«

»Klare Aussage«, ätzte Pia. Fabian hörte die Angst in der Stimme des Mädchens. Aber was sollte er auch tun?

Die nächste Infobox poppte auf. War ja wie früher am heimischen Computer.

»Aktuellen Kommandoschlüssel von Sonarboje empfangen. Ziel identifiziert sich als ›Sonarboje Exodus 3‹. Art: Leitstrahlboje. Soll Kontakt aufgenommen werden? ›Ja‹. ›Nein‹.«

Die beiden letzten Worte waren hervorgehoben.

Pia schaute ihn fragend an.

Fabians Kehle war wie zugeschnürt. Gut, irgendwann hätten sie so oder so Kontakt aufnehmen müssen, um anzudocken. Und wenn es jetzt im ersten Schritt mit einer seelenlosen Boje war, war das vielleicht ein guter Test. Wenn noch nicht mal das automatische System ihnen vertraute, was sollten dann erst die Menschen auf Exodus machen?

Er zögerte, dann tippte er mit seiner Fingerspitze auf das Touchpad. Eine Sekunde verstrich. Zwei. Drei.

»Verbindung hergestellt. Navigationskoordinaten erhalten. Ziel: Exodus-Basis. Autopilot an Bojen Leitsystem koppeln? ›Ja‹. ›Nein‹.«

Dieses Mal fiel Fabian die Wahl deutlich leichter. Bald würden sie erfahren, ob all das ihre Mühen wert gewesen war.

 

Die vergangenen Stunden waren erfüllt gewesen von Nervosität. Pia hatte die Pflanzen zum dritten Mal manuell gegossen, Fabian hatte so lange trainiert, bis er vor Erschöpfung Sterne gesehen hatte. Anschließend gönnten sie sich ein schweigsames Mahl. Sie hatten es sich nochmal so richtig gut gehen lassen. Rouladen aus der Dose, Kartoffelpüree, Erbsen und Möhren. Deftig und schwer. Keiner hatte es ausgesprochen, aber so musste sich eine Henkersmahlzeit anfühlen. Oder aß man auch so, bevor man ein neues Land entdeckte? Fabian wusste es nicht.

Die Zeit verrann wie Sirup, der Autopilot zählte die Zeit herunter, völlig emotionslos. Mittlerweile kamen die Sonarbojen in immer kürzeren Abständen, bildeten eine Art Kette, der sie direkt nach Exodus führen sollte. Die Machthaber hatten wohl nichts dem Zufall überlassen sollen. Wer gerettet werden sollte und daher über ein U-Boot verfügte, sollte sich nicht auf den letzten Metern noch verfahren, nur weil sein Kartenmaterial vielleicht nicht mehr ganz up-to-date war. Das hier war sicher von langer Hand geplant. Und oben an Land krepierten die Menschen zu Tausenden, erfroren elendig oder schlitzten sich wegen der letzten Dose Mais gegenseitig die Kehle auf.

Wäre er nicht so ermüdet gewesen von der wochenlangen Flucht, er würde noch zorniger sein. So reichte es nur, um sein Weltbild zu bestätigen.

 

Fabian stützte sich mit den Ellbogen auf die Rückenlehne des Kapitänsstuhls, in dem Pias schmale Gestalt fast verschwand. Wie ein erster Offizier dem Kapitän schaute er ihr über die Schulter, wie ihre Finger über das Touchpad flogen. Auf dem Ruderkontroll-Stuhl hatte ihn nichts mehr gehalten. Der Autopilot hatte sie fest im Griff und lenkte sie direkt nach Exodus, immer tiefer hinab. Bei 300 Metern hatte er aufgehört, auf die Skala zu schauen. Tödlich tief. Sollte die Basis sie nicht andocken lassen, war eh alles vorbei. Egal ob knapp unter den Eisschollen oder in tausend Meter Tiefe. Man würde sie nicht entkommen lassen. Also galt es.

Pia öffnete auf dem Touchpad die Umgebungskarte. Ein dunkles Blau, auf dem helle Linien ein feines Raster bildeten. Und am äußeren Rand, ganz unten, kam langsam ein Gebilde in Sicht. Eine Kuppel! Die Linien zeichneten zwar ein eckiges Bild, doch die Form war klar erkennbar. Mit jeder Sekunde blendete das Ortungssystem neue Daten der Basis ein. Sie sah aus wie eine auf den Kopf gestellte Müslischale. Nur, dass diese Müslischale dreihundert Meter Durchmesser hatte und vom Meeresboden aus einhundert Meter in die Höhe ging. Aber irgendetwas störte Fabian daran. Er wusste nur nicht, was. Der Meeresboden war aufgrund einer nahen Insel deutlich höher als auf ihrer Fahrt hierher gewesen. Fabian hatte sich sowieso nicht vorstellen können, dass man eine Kuppel auf dreitausend Metern Tiefe hätte bauen wollen. Und die Meereskarte hatte für viele Bereiche mehr als das doppelte dieser Tiefe angegeben. Aber in der Nähe einer Insel war das natürlich anders. Es war tief genug, dass das Eis sie wahrscheinlich nicht erreichte. Und nicht so tief, dass der Bau unmöglich gewesen wäre.

Seine Augen flogen über die eingeblendeten Skalenwerte. Eine zu groß geratene umgedrehte Müslischale. Wäre er in Mathe nicht so schlecht gewesen, er hätte eine Begründung für sein Bauchgefühl gehabt. Aber auch so war klar: Das passte nicht. Die Kuppel war ziemlich klein für mehrere zehntausende Flüchtlinge, auf jeden Fall zu klein für hunderttausende. Oder hatte die Regierung wirklich einen derart harten Schnitt gemacht und nur ein paar zehntausend Menschen evakuiert? Das konnte doch gar nicht funktionieren, mit so wenigen Menschen konnte man doch keinen Staat machen. Tja, bald würden sie es herausfinden.

Jetzt, wo sie nur noch ein paar hundert Meter von der Kuppel entfernt waren, verlangsamte der Autopilot die Fahrt. Das Summen der Maschinen wurde noch leiser als ohnehin schon, das Boot legte sich in eine leichte Rechtskurve. Hoffentlich übernahm der Autopilot auch den Andockvorgang!

Noch Eintausendfünfhundert Meter. Tausendvierhundert. Vom Antrieb war überhaupt nichts mehr zu hören. Tausenddreihundert.

Ohne Pias Zutun öffnete sich ein Videofenster auf dem Touchpad und ein Mann in Uniform erschien darauf. Marineuniform. Mitte 30. Raspelkurze, schwarze Haare, leicht zusammengekniffene Augen, als hätte er zu lange über schneebedeckte Landschaften gestarrt.

»Exodus-Basis ruft Exodus-XXII. Bitte kommen, Exodus-XXII.« Unter dem Videofenster blendete das System zwei Buttons ein. Verbindung herstellen? ›Ja‹. ›Nein‹.

Ohne dass Fabian ein Wort hätte sagen müssen, trollte sich Pia vom Kapitänsstuhl und sah ihn flehentlich an. Wenn Angst Gewicht hätte, wäre sie längst davon erdrückt worden. Er strich ihr im Vorbeigehen über die Wange.

»Alles wird gut!« Warum er flüsterte, wusste er selbst nicht.

Dann atmete Thunder tief durch und setzte sich auf den Kapitänsstuhl. Zig Tage an Bord und er hatte hier noch kein einziges Mal gesessen. Jetzt wusste er warum. Dieser Platz war Gestalt gewordene Verantwortung.

Pia stellte sich an seine Rechte, außer Reichweite der Kamera des Touchpads und klammerte sich an die Lehne. Ihre Fingerknöchel traten weiß hervor, er konnte ihr Zittern über den Stuhl spüren.

Ohne weiteres Zögern drückte Thunder auf »Ja« und ein grünes Licht an der kleinen Kamera des Touchpads leuchtete auf.

Sein virtuelles Gegenüber erschrak sichtlich.

»Exodus-XXII? Sind Sie das?«

Thunder nickte nur.

Der Soldat blickte zur Seite. »Leutnant Kaworsky? Wir haben hier ein Problem!«

Die Kamera wurde kurz abgeschaltet, dann erfasste sie plötzlich ein kleines Büro, für dessen Zulassung man früher Ärger mit der Legehennenverordnung bekommen hätte. Okay, Raum war in einer Exodus-Kuppel sicherlich Luxus, aber das hier wirkte stark übertrieben. Leutnant Kaworskys Glück war, dass er dünner und kleiner als Pia aussah. Dafür hatte er eine schicke Uniform mit Balken und Stern auf der Schulter, die den Kampf um bedeutungsvolles Aussehen dennoch gegen seine verschwindende Statur verlor.

»Mein Name ist Leutnant Kaworsky, diensthabender Offizier der Ortungs- und Dockkontrolle von Exodus-Basis. Mit wem spreche ich?«

»Hier ist Exodus-XXII. Wenn auch mit geänderter Besatzung.« Thunder bemühte sich, seine Stimme so ausgeglichen wie möglich klingen zu lassen.

»Und ihr Name ist?«

»Fabian Seifer. Kein zutreffender Dienstgrad, tut mir leid. Früher war ich Angehöriger des SEK, als es das noch gab. Falls Ihnen das weiterhilft.«

»Gut, Herr Seifer. Wie kommen Sie an Bord von Exodus-XXII, falls es wirklich dieses Boot ist?«

Das Touchpad meldete, dass sie von einem aktiven Sonar getroffen wurden, fast im Sekundentakt. Hier wollte jemand auf Nummer sicher gehen. Dass Flucht unmöglich war, hätte er allerdings auch so gewusst. Bis er die Maschinen wieder auf volle Fahrt gebracht hätte, wären sie längst von einem Torpedo versenkt worden.

»Es ist wirklich Exodus-XXII«, nahm Thunder das Ergebnis der Untersuchung vorweg.

»Gut. Und wie sind Sie an Bord gekommen?«

Thunders Gedanken rasten. In den letzten Tagen hatte er dieses Gespräch immer wieder durchgespielt. Und er war jedes Mal zu dieser Schicksalsfrage gekommen. Lügen? Die Besatzung sei bereits tot gewesen und sie hätten einfach nur die Chance ergriffen? Falls auch nur ein einziger Soldat an Land überlebte und es doch irgendeine technische Möglichkeit zur Kontaktaufnahme gab, wäre die Lüge sofort aufgeflogen. Schlechter Start. Allerdings war der einfache Dock-Lotse etwas zu verwundert über ihn am Touchpad gewesen. Dafür war der Leutnant aber wiederum die abgeklärte Ruhe selbst. Verdammter Mist! Er war für so einen Scheiß nicht ausgebildet worden!

»Wir haben das U-Boot in Eckernförde geklaut.« Erzähl mir mehr, Mister Offensichtlich.

Kaworskys Augen verengten sich zu kleinen Schlitzen. Dass eine so unscheinbare Gestalt derart feindselig dreinblicken konnte.

»Und die eigentliche Besatzung?«

Thunder neigte leicht den Kopf.

»Es tut mir sehr leid. Aber es gab leider einen Unfall, bei dem alle Besatzungsmitglieder starben, als wir das Boot betraten.« Er hörte Pia neben sich würgen, das Mädchen wandte sich ab und atmete mehrmals gut hörbar durch. Fabian hätte ihr jetzt gerne beigestanden.

»Und was wollen Sie dann hier?« Mit Kaworskys Stimme hätte man Stahl schneiden können.

»Andocken. Wir haben wichtige Versorgungsgüter für Exodus-Basis an Bord. Wir möchten diese gegen Asyl eintauschen.«

»Und wenn wir das ablehnen? Immerhin haben Sie Marineangehörige getötet.«

»Es war ein Unfall«, wiederholte Thunder. Er musste ja nichts von der Schießerei am Pier wissen. Die Sache mit dem Löschsystem klang als Erklärung deutlich besser.

»Egal. Tot ist tot.« Leutnant Kaworsky blieb hart.

»Da gebe ich Ihnen recht und wir bedauern das sehr. Aber falls wir nicht andocken dürfen und von Ihrer Führung keine eindeutige Zusicherung für ein sicheres Asyl erhalten, nehmen wir die Vorräte an Bord von Exodus-XXII mit und fahren damit Richtung Süden, landen irgendwo an der Küste Afrikas an und versuchen dort unser Glück. Vielleicht schaffen wir es, vielleicht nicht. Aber in jedem Fall sind dann alle Vorräte für Sie verloren.« Thunder holte Luft, dann ergänzte er: »Checken Sie einfach die Frachtdaten von Exodus-XXII. Ich glaube kaum, dass sie auf Hunderte von Pflanzensetzlingen verzichten wollen. Die Zeit hier unten wird lang werden, Leutnant, das wissen Sie genauso gut wie ich.«

Kaworsky starrte ihn einfach nur an. Die Sekunden verrannen. Dann schnaubte Thunders Gegenüber einmal kurz.

»Gut. Nehmen wir einmal an, ich nehme ihnen diese Geschichte ab, erachte ihre Ladung als so wichtig, dass wir sie andocken lassen und überzeuge meine Vorgesetzten davon, dass sie Asyl erhalten, auf wie viele Neuankömmlinge dürfen wir uns dann freuen? Dieses Boot hat eine reguläre Besatzung von dreißig Mann.«

»Zwei. Mich und eine Jugendliche.«

Kaworsky stutzte und brach dann in ein hässliches, bellendes Lachen aus.

»Zwei?« Er prustete. »Sie haben zig Marineangehörige getötet und ein U-Boot entführt für zwei Menschen? Zwei?«

Thunder nickte nur. Dass sie ursprünglich zu viert gewesen wären, verschwieg er lieber.

Der Leutnant beugte sich vor, bis sein Gesicht den Bildschirm ganz ausfüllte.

»Wenn es nach mir ginge, würden ich Sie jetzt versenken! Aber wenn ich einen Blick aus meinem Büro werfe, sehe ich, dass die Kunde über ihr Eintreffen bereits die Runde macht und dann würden hässliche Fragen gestellt. Also werde ich jetzt meine Vorgesetzten informieren. Wir geben Ihrem Autopiloten Befehl, tausend Meter vor der Station auf weitere Anweisungen zu warten.« Er kniff die Augen zusammen und sein Grinsen verschluckte fast die Ohren. »Denn falls wir uns doch entscheiden, Sie auf den Meeresgrund zu schicken, wollen wir doch nicht, dass die Explosion unsere schöne Kuppel zerstört, nicht wahr?«

Thunder schüttelte unmerklich den Kopf. »Danke für Ihre Offenheit, Herr Leutnant. Ich erweitere hiermit meine Bedingungen. Sobald Sie sich mit Ihren Vorgesetzten abgestimmt haben, möchte ich direkt mit diesen weiterverhandeln. Sie sind hiermit raus.« Mit diesen Worten drückte Thunder auf den roten Knopf am Bildrand des Videostreams und beendete diesen damit.

Pia ergriff seinen Arm und klammerte sich so fest daran, dass es schmerzte.

»Die gehen doch darauf ein, oder?«

Fabian legte schnell ein Lächeln auf. »Sicher! Die wollen doch die ganzen schönen Pflanzen nicht verlieren, die du so schön gegossen hast die letzten Tage!«

Er sah in ihrem Gesicht, dass sie sein falsches Lächeln durchschaute. Aber sie sagte dennoch kein Wort. Willkommen in der Welt der Erwachsenen, Mädel.

 

Eine kurze Textnachricht vor zwei Stunden. »Die Kommandantur beschäftigt sich mit Ihrem Anliegen. Bleiben Sie bis zu einer Entscheidung in Position. Dock-Kontrolle Exodus-Basis«

Als hätten sie irgendetwas anderes machen können ... der Autopilot reagierte mittlerweile nicht mehr auf ihre Eingaben, musste irgendwie von Exodus-Basis übernommen worden sein. Pia fluchte innerlich. Diese Art des Admin-Verrede war fest verdrahtet in der Firmware des Bootes. Keine Chance, dagegen anzukommen, ohne die ganze Anlage hier aufzuschrauben. Und ohne genaue Kenntnisse, was hier genau wo verbaut war, lag das außerhalb ihrer Möglichkeiten. Ganz zu schweigen davon, dass sie sowieso keine passenden Ersatzplatinen dabei gehabt hätte. Zählte nicht gerade zur Standardausrüstung einer durch Eis und Schnee fliehenden jungen Frau. Also mal wieder warten. Wenigstens hatten sie darin Erfahrung.

Fabian saß schweigend im Kapitänsstuhl und stierte in die Unendlichkeit. Pia leerte mittlerweile die dritte Dose Pfirsiche hintereinander und wenn ihr nicht speiübel gewesen wäre, hätte auch noch eine vierte dran glauben müssen. Aber es wäre doch eine Schande gewesen, all die guten Vorräte gleich abgeben zu müssen, wenn sie andockten. Wenn. Und wenn nicht, waren sie in ihrem Magen immer noch besser aufgehoben, als auf dem Meeresgrund. Auch wenn der Magen dann, ebenso wie Pia, Fabian und das ganze Boot, auch da liegen würde.

 

Admiral Mondert legte die Finger in gekonnter Geste aneinander und schaute auf den zweigeteilten Bildschirm. Was die Dockkontrolle gerade berichtet hatte, grenzte an eine Unmöglichkeit. Zwei Zivilisten hatten Exodus-XXII gekapert und hatten es dank Autopilot bis hierher geschafft? Warum ausgerechnet Exodus-XXII? Die Setzlinge waren mit Geld nicht aufzuwiegen, falls das hier unten überhaupt einen Wert gehabt hätte.

»Wenn ich einen Rat geben darf ...«, setzte sein Adjutant an, aber Mondert unterbrach ihn mit einem einzigen erhobenen Finger. Sprenger wusste, wann er den Mund zu halten hatte. Deshalb war er trotz seiner Härte gegenüber den Untergebenen so eine gute rechte Hand. Aber das hier war allein seine Angelegenheit, da würde er sich nicht reinreden lassen. Als Kommandant der Basis war er für ihre Sicherheit verantwortlich.

Der Admiral stand auf und ging zum Fenster seines Büros, von dem er auf den zentralen Platz der Exodus-Basis schauen konnte. Frauen und Männer, Kinder und auch eine Handvoll Ältere liefen gut ein Dutzend Meter unter ihm auf dem »Platz des Neubeginns« umher. Viele in Uniform, andere in Zivilkleidung. Exodus war wie eine Uhr, in der sich noch nicht jedes Rädchen an seinem Platz befand. Was kein Wunder war. Im Schnellverfahren hochgezogen, bestückt mit einem Sammelsurium an Militärs, Forschern, Zivilisten und Politikern. Sie alle mussten noch ihren Platz finden. Regiert theoretisch von den Überresten der deutschen Regierung. In der Praxis konnte der Kanzler hier unten noch nicht einmal die Farbe der Wände entscheiden, wenn er, Admiral Mondert, es nicht billigte. Alle Schlüsselstellen waren mit Militärs besetzt, das Militär hatte – gut, zusammen mit der Wissenschaft – Exodus-Basis errichtet und gerade jetzt, in der noch turbulenten Startphase, war Wissen über das Funktionieren der Basis ein nicht zu unterschätzender Vorteil. Die Pläne, in denen Exodus-Basis nach »Abschluss von Phase II« in die Hände einer neu zu wählenden Regierung übergeben werden sollte, ruhten natürlich bereits im Schreibtisch des Kanzlers und in seinem. Ob es wirklich so kommen würde, war heute aber noch gar nicht abzusehen. Und damit ein Problem von morgen.

Mondert sah einer Schar Frauen zu, die eine Gruppe Kinder über den Platz führten, sicherlich waren sie auf dem Weg zu einem der Kindergärten der Basis. Ein kleines Mädchen schaute zu ihm herauf und winkte. Etwas steif hob er die Hand und winkte zurück. Dafür machte er seinen Job. Um sie und ihresgleichen zu beschützen. Zehntausende Menschen, die entweder in der Kuppel oder der darunter sich weit in den Fels erstreckenden eigentlichen Basis wohnten und arbeiteten.

Waren wirklich nur zwei Menschen an Bord von Exodus-XXII? Und die Setzlinge noch in gutem Zustand? War es ein Trick einer fremden Nation, um Exodus-Basis zu übernehmen? Vielleicht hatten die Eindringlinge eine Atombombe an Bord und drohten, die Basis zu sprengen, wenn man ihnen nicht die Kontrolle geben würde. Nicht alle Nationen hatten ihre Basen rechtzeitig fertig bekommen, wenn seine Informationen richtig waren. Aber fast alle hätten genügend Bomben übrig. Mondert schnaubte und er konnte die gekräuselte Stirn seines Adjutanten förmlich fühlen. Aber er hielt den Schnabel. Guter Mann.

Mondert straffte sich, ging zum Schreibtisch zurück und ließ sich in den Sessel sinken. Ein kurzes Zögern, dann drückte er auf das Touchpad.

»Video-Verbindung mit Exodus-XXII aufnehmen und direkt in mein Büro legen.«

»Sofort, Herr Admiral.«

»Sprenger?«

»Ja?«

»Ich brauche Sie im Moment nicht.«

»Selbstverständlich. Ich bin in meinem Büro, falls Sie mich benötigen.«

Mondert hörte die Enttäuschung in der Stimme des jungen Mannes, der für sein Alter bereits ein beachtlich guter Offizier war. Aber das hier war allein seine Entscheidung. Den Kanzler würde er vor vollendete Tatsachen stellen, hier ging es um Sicherheitsbelange und damit alleine um sein Ressort.

Der Admiral stellte das Pad in die Dockingstation auf dem Tisch, der Videofeed öffnete sich und ein durchtrainierter Mann in einem T-Shirt der U-Boot-Besatzung der deutschen Marine erschien. Das Alter war kaum zu schätzen. Das raue Leben in Eis und Schnee hatten sich tief in seine Züge gegraben. Ende vierzig? Mitte fünfzig? Es konnten auch locker zehn Jahre weniger sein.

»Mein Name ist Admiral Mondert, militärischer Kommandant von Exodus-Basis.«

Der Angesprochene nickte ihm zu, sein Ausdruck blieb sachlich.

»Fabian Seifer. Im Moment der Mann auf dem Kapitänsstuhl von Exodus-XXII. Auch wenn er mir nicht zusteht und ich von diesen Blechbüchsen keine Ahnung habe. Ein SEK-Mann gehört nicht ins Wasser.«

Mondert musste unwillkürlich lächeln. Auch wenn ihm ein anderer Offizier mal offenbart hatte, dass er dabei aussehe, als ob ein Hai die Zähne fletsche.

»Humor haben Sie, Herr Seifer. Und Chuzpe. Gesetzt den Fall es stimmt, was Sie behaupten: Das ist Exodus-XXII. Die Pflanzensetzlinge und nur Sie und noch eine Person sind an Bord.«

»Es stimmt, Herr Admiral. Um die ganze Sache etwas abzukürzen: Sie haben meine Erlaubnis, mich und meine Begleiterin standrechtlich auf Ihrer Basis zu erschießen, wenn die von Ihnen gerade aufgezählten Fakten nicht stimmen sollten.«

Mondert nickte und ließ ein paar Sekunden verstreichen.

»In welchem Zustand sind die Pflanzen?«

»Es geht ihnen den Umständen entsprechend gut. Wir haben uns nach bestem Wissen um sie gekümmert. Aber wir sind nun mal nur zu zweit und keine Gärtner! Wenn also die ein oder andere Pflanze später auf ihrer Basis etwas mehr Liebe benötigt, dann ist das leider so. Und wenn ich das hinzufügen darf: Mit jeder Minute, die wir länger reden, wird das Grünzeug nicht schöner.«

»Geschenkt.« Mondert legte seine Finger erneut in seiner ständigen Geste aneinander, die mittlerweile zu seinem Markenzeichen geworden war. Er wog die Worte des Fremden ab, zog Optionen aus dem Hut, reduzierte sie auf ihre Nützlichkeit, verwarf und kombinierte sie.

»Also gut, Herr Seifert. Wir werden Folgendes machen: Wir werden den Autopiloten anweisen, anzudocken. Währenddessen legen Sie jegliche Bewaffnung auf den Boden der Brücke, gehen mit ihrer Begleiterin in den Bugtorpedoraum und verweilen dort, bis wir Sie holen. Das Enterkommando wird Exodus-XII von vorne bis hinten durchsuchen, und sollten die Soldaten auch nur das kleinste Anzeichen für Gefahr finden, werden wir Sie unverzüglich erschießen und gegebenenfalls sogar das Boot auf den Meeresgrund schicken. Haben wir uns verstanden?«

Der SEKler nickte.

»Verstanden. Haben wir Ihre Zusicherung, falls alle Fakten stimmen und sie die Setzlinge und sonstige Fracht so unbeschadet wie vorhin beschrieben übernommen haben, dass wir dann Asyl auf Ihrer Basis erhalten? Andernfalls kommt das Geschäft nicht zustande. Meine Begleiterin, die diese Fahrt dank ihrer Computerkenntnisse überhaupt erst möglich gemacht hat, sagte mir, dass sie den Autopiloten mit einem Fingerschnippen wieder unter Kontrolle hätte. Sollten Sie also ablehnen, werden wir mit den Setzlingen und dieser tollen Blechbüchse verschwinden und woanders unser Glück versuchen.«

Mondert lächelte. Ein Mann nach seinem Geschmack.

»Ich habe ebenfalls verstanden. Wir haben einen Deal.«

»Welche Zusicherung habe ich, dass auf Exodus-Basis keine unliebsame Überraschung auf uns wartet, sondern wirklich das Asyl?«

Mondert lehnte sich nach vorne: »Mein Wort.«

Nun war es an seinem Gegenüber zu lächeln und diese Mimik sah auf seinem Gesicht genauso deplatziert aus, wie auf dem des Admirals.

»Das genügt mir. Instruieren Sie den Autopiloten. Wir gehen dann mal zu den Pflänzchen.«

Damit beendete Exodus-XXII die Verbindung. Und hatte das letzte Wort behalten.

 

Mondert beobachtete das Andockmanöver von Exodus-XXII über die Außenkameras des Docks, die mit gigantischen Scheinwerfern der Tiefsee gut zehn Meter Sichtweite abtrotzten. In wenigen Minuten würden sie den dringend benötigten Nachschub in Händen halten. Exodus-XXII hätte schon vor Wochen hier sein sollen, aber irgendwas musste sie in Deutschland aufgehalten haben. Die Pflanzen waren essentiell wichtig, ansonsten würden sie Probleme bekommen. Nicht heute, aber in ein paar Jahren. Dosenfutter hielt nicht ewig und die bisher geretteten Pflanzen reichten laut den Wissenschaftlern nicht aus, um eine überlebensfähige Pflanzenkultur zu etablieren. Exodus-XXII war der Schlüssel. Und er hatte ihn in Händen. Er, Admiral Mondert. Nicht der Kanzler. Nicht der wissenschaftliche Leiter. Er.

Er drückte auf sein Touchpad und ein zweites Fenster öffnete sich neben dem Dock-Videostreams.

»Ja, Herr Admiral?« Sein Adjutant schaute ihn ohne übertriebene Neugierde an. Er wäre nicht überrascht, wenn er die Ereignisse nicht auf irgendeine Art mitverfolgt hätte. Mondert erwartete es sogar von ihm, sonst wäre er nicht der Adjutant, den er brauchte.

»Organisieren Sie eine Pressekonferenz für heute achtzehn-hundert. Liveübertragung auf alle öffentlichen Monitore und in alle Quartiere.«

»Irgendeine Vorabinfo an die Presse über den Inhalt?«

Mondert schüttelte den Kopf. »Nein, die geretteten Pflanzen serviere ich denen höchstpersönlich.«

Sein Gegenüber lächelte und neigte den Kopf. »Ein guter Schachzug, wenn ich mir das erlauben darf zu sagen.«

»Sie dürfen, Sprenger, Sie dürfen.« Damit unterbrach er die Verbindung.

Ganz Exodus würde an seinen Lippen hängen. Die Verspätung von Exodus-XXII war in den Gängen der Basis bereits seit Wochen das Thema Nummer eins, alle fürchteten den Verlust der Pflanzen. Es war Zeit, dem Volk seinen Retter vorzustellen. Und wenn dann die Wahlen kamen, war die Vereinigung von Kanzlerschaft und militärischer Kommandantur in einer Person nur eine logische Folge. Er würde Exodus beschützen. Komme, was wolle.

 

Der Klang schwerer Stiefel auf Metallgittern drang zu ihnen. Rufe, dass ein Raum »sauber« sei. Der Lärm aufgestoßener Türen und umherfliegender Gegenstände.

Pia klammerte sich an Fabians Seite, der stoisch wie ein Fels inmitten der Pflanzen stand. Der Torpedoraum schien noch kleiner, als er ohnehin schon war. Der Geruch nach Erde und Dünger überlagerte alles, die Luftfeuchtigkeit erschwerte ihr das Atmen. Sie schaute zu Fabian hoch. Der Kämpfer schaute stur geradeaus, hatte die Welt um sich herum ausgeblendet. Sie sah seine Kaumuskeln arbeiten, seine Hände hatten sich in den Hosenstoff verkrampft. Auch er harrte der Soldaten, die da laut hörbar kamen. Pia hatte mit irgendeinem Ass im Ärmel des SEKlers gerechnet, so etwas wie ausgegossenem Alkohol zwischen den Pflanzen und einer Signalfackel in der Hand, für den Fall, dass der Admiral falsch spielte. Nichts dergleichen. Fabian hatte einfach seine Waffen zusammengesucht, auf den Befehlsstandboden gelegt und war dann mit ihr im Schlepptau in den Torpedoraum gegangen. Hatte dabei kein Wort gesagt, ihr nur einmal über den Kopf gestreichelt.

Die Schritte kamen näher, sie mussten jetzt im Gang direkt vor dem Torpedoraum sein. Sie verstärkte ihren Griff um Fabians Hüfte, er löste seine Linke und legte sie ihr auf den Rücken. Das Gewicht fühlte sich gut an.

 

Das Schott zum Torpedoraum öffnete sich und ein einzelner Soldat trat ein. Marineuniform, Unteroffizier, schusssichere Weste. Wenigstens war die Pistole geholstert. Der für ein U-Boot deutlich zu große Mann schaute erst Pia, dann ihn an und bemühte sich dabei, nicht an die Decke zu stoßen.

»Herr Seifer und Begleitung?«, fragte er völlig überflüssigerweise.

Fabian nickte nur.

»Bitte folgen Sie mir.«

»Natürlich. Wohin werden wir gebracht?«

»Der Admiral hat angeordnet, Sie zur Medizinischen Station Drei zu bringen, wo Sie zuerst durchgecheckt werden sollen. Wenn von dort grünes Licht kommt, geht es anschließend zum Admiral. Jemand aus der Bevölkerungsverwaltung wird ebenfalls anwesend sein, um Ihnen Ihre Quartiere zuzuweisen und den weiteren Fortgang zu erläutern.«

»Ist das das Standardprotokoll bei Neuankömmlingen?«

Der lange Kerl lächelte.

»Nun ja. Es hat schon seit einigen Wochen kein U-Boot mehr angelegt. Vorher kamen die Menschen immer in großen Schüben. Aber der Ablauf war im Grunde derselbe. Wenn auch ohne persönliche Audienz beim Admiral.« Er nahm sein Barrett ab und kratzte sich über die Glatze. »Ist die Geschichte wirklich wahr? Sie haben Exodus-XXII menschenleer, aber mit programmiertem Autopilot gefunden und einfach die Gelegenheit genutzt?«

Fabian sah kein Misstrauen in den Augen des Gegenübers. Der Admiral hatte anscheinend für eine passende Sprachregelung gesorgt, sodass es kein Nachfragen nach der toten Original-Besatzung geben würde. Jedenfalls kein offenes. Ein Lächeln schlich sich auf sein Gesicht. Er würde zu gerne das Gesicht des Dock-Offiziers sehen, der nun die Schnauze halten musste. Letztlich funktionierte die Welt unter Wasser genauso, wie sie es vorher ohne Eis und Schnee getan hatte. Ober stach Unter.

Fabian nickte dem Entersoldaten zu und legte seinen Arm um Pia.

»Genau so war es.«

Der Soldat drehte sich um und ging voran. Fabian folgte ihm. Pias Zittern ließ nach. Er streichelte ihr über den Kopf und durchquerte das Schott. Ein weiterer Schritt aus Exodus-XXII heraus und hinein in eine neue Welt, die sie jetzt erwartete. Er ging mit dem Geruch nach Erde in der Nase, der Leben versprach für einen Neuanfang unter Wasser. Ob die Menschheit ihn sich verdient hatte, wusste er nicht. Die junge Frau an seiner Seite aber auf jeden Fall. Und dadurch auch er.