Ein muffiger Geruch lag in der Luft, gemischt mit dem bitteren Aroma von rostigem Metall und altem Öl. Regina spürte jede einzelne der altersschwachen Federn des Sofas, saß mit angezogenen Beinen einfach nur da und ließ die Tränen über ihr Gesicht laufen. Ben war weg. Lebensmittel besorgen, damit sie sich erst mal verkriechen konnten. Hier. Im Nirgendwo. Irgendein halbleeres Lagerhaus, irgendein Industriegebiet. Völlig egal. Ihre Existenz war weg, einfach davongewischt von den Ereignissen der letzten Stunden. Wie sie im Eiltempo zu ihren beiden Wohnungen gerast waren und das Nötigste zusammen gekratzt hatten. Immer einen Blick über die Schultern geworfen, ein kerniges »Stehenbleiben, Sie sind verhaftet« erwartend. Nichts dergleichen war passiert, aber untertauchen mussten sie trotzdem. Denn es war nur eine Frage der Zeit, bis die Polizei ihre Namen und Adressen hatten, ihrem verlorenen Laptop sei Dank. Natürlich war sie eine brave IT-Frau gewesen und hatte ihr Laptop mit einer entsprechenden Verschlüsselung versehen. Aber wenn die Polizei es wirklich ernst meinte ... wie gesagt, nur eine Frage der Zeit. Dass außerdem ihr Portemonnaie mit im Rucksack gewesen war, machte die Diskussion um den Laptop überflüssig. Und ein Foto von Ben mit Liebesschwur in Handschrift auf der Rückseite lag in der Vordertasche. Ein letztes sarkastisches Detail, ein letztes Puzzlestück, das endgültig jenes Bild ergab, dass das Schicksal sich eine Meinung über ihre Aktivitäten gebildet hatte. Und es war ihnen nicht mehr wohlgesonnen, sondern hatte ihnen stattdessen in die Kniekehlen getreten. Lege dich nicht mit Mächten an, die du nicht begreifst. Sie umschlang ihre Beine. Salzig warm lief ihr die Tränen über die Wangen. 

Ihr fehlte Bobo. Aber Ben hatte recht. Einen Hund mit »auf die Flucht« zu nehmen, wäre eine bescheuerte Idee gewesen. Also hatte sie den Hund bei einer Nachbarin gelassen, die schon früher ab und zu mit ihm Gassi gegangen war. Bobo, der immer bei ihr im Bett geschlafen hatte und sie morgens so lange nervte, bis endlich Futter im Napf war. Ihr Schniefen hallte laut in dem halb leeren Büro der Lagerhalle nach, ein Weinkrampf schüttelte ihre Glieder und sie ließ sich von ihren Emotionen davontragen. Ihr Leben, wie sie es kannte, war vorbei.

 

Ben saß neben ihr auf der altersschwachen Couch. Sie schwiegen sich an. Draußen surrte ein Gabelstapler durch die halbleere Halle und Regina schreckte hoch.

»Keine Sorge. Das Büro wird nicht mehr gebraucht, wir können hier bleiben, hab ich abgeklärt.« Er legte seine Hand auf ihren Oberschenkel. Fast panisch wischte sie den Arm weg und stand auf.

»Spinnst du? Ich soll mir keine Sorgen machen? In so einem Mist wie dem hier hab ich noch nie gesteckt. Wir sind völlig am Arsch, Schatzi!« Regina verschränkte die Arme vor der Brust und schaute Ben direkt in die Augen. Am liebsten hätte sie ihm eine runtergehauen. 

Ben breitete die Arme aus, ließ sie aber schnell wieder sinken, als sie ihn düster anfunkelte.

»Hey, komm schon. Ich weiß selbst nicht, was da gelaufen ist.«

»Ach nein, auf einmal weiß Mister Allwissend mal nicht weiter?! Ist ja was ganz Neues!« Das Blut stieg ihr in den Kopf.

Sein Mund blieb halb offen stehen, dann zogen sich seine Augenbrauen zusammen.

»Jetzt hör mal zu. Hätte ich dich besser den Bullen überlassen sollen, anstatt dich aus ihren Händen zu retten? Kannst du haben! Geh einfach zu ihnen. Dank deines Laptops und deines Rucksacks wissen sie ja auch gar nicht, wer du bist ...« 

Sein Kopf flog nach links, die Ohrfeige hatte er nicht kommen sehen. Regina rannte in die andere Ecke des Raums, ließ sich an der Wand zu Boden sinken und vergrub ihren Kopf in den Armen.

Die Minuten verstrichen. Dann setzte sich Ben neben sie und legte den Arm um ihre Schulter. Erst versteifte sie sich, dann ließ sie ihn gewähren und die Tränen fließen.

Ben strich ihr sanft über den Kopf.

»Komm schon, wir schaffen das. Ich kenne Leute, die uns neue Identitäten besorgen können. Wir fangen einfach noch mal von vorne an. Und du kannst nicht gerade behaupten, dass du deinem Traumjob ewig hinterher trauern wirst«, und knuffte ihr in die Seite. 

Sie lachte, wischte sich mit dem Ärmel über das Gesicht. Wie sie wohl aussah ... völlig egal in diesem Moment. Regina kuschelte sich an seinen Arm. Seinen starken Arm. Und schloss die Augen.

»Und wie geht es jetzt weiter?«

Ben küsste sie auf den Kopf und sagte: »Jetzt hören wir erst mal bei den anderen nach, wie sie aus der Scheiße herausgekommen sind. Oder ob wir vor unserem Besuch beim Türken noch zum Baumarkt müssen, um eine Metallsäge für die Gitter zu besorgen.«

»Du kannst auch nicht einen Moment ernst bleiben«, schalt sie ihn.

»Nein. Wenn du in meiner Nähe bist, verliert das Leben an Ernsthaftigkeit.«

»Alter Charmeur.«

Dann stand sie auf und reichte ihrem Adonis die Hand.

»Dann lass uns mal, bevor wir hier endgültig in Tränen versinken.«

Er lächelte zu ihr hoch, griff ihre Hand und ließ sich hochziehen. Sie umarmten und küssten sich.

Es musste einfach weitergehen. Und Ben hatte Recht. Wenn Sie es genau bedachte, war ihr altes Leben nichts, dem sie ewig hinterhertrauern würde. Teile davon würden ihr fehlen. Das Gros aber nicht. Aber konnte Sie als Flüchtling leben? Immer den Kopf unten halten, falsche Identitäten benutzen, immer den Atem der Verfolger im Nacken? Sie schüttelte innerlich den Kopf, alles war so kompliziert geworden. Ein Seitenblick zu ihrem Traummann, dessen Augen selbst in diesem Moment siegessicher strahlten. Hauptsache, er war bei ihr.

 

»Ischar ist nirgendwo aufzufinden«, sagte Mike und schüttelte den Kopf. Wie eine Klischee-Verschwörer Truppe standen Sie unter dem Bahnhofsvordach, in Reichweite von Taxistation, U-Bahn und mehreren Fluchtmöglichkeiten in alle Richtungen. 

»Ich hab auch nichts von ihm gehört«, pflichtete Kevin bei und nippte an seinem Kamps-Kaffee.

Ben warf Regina eine Brötchentüte zu und gesellte sich zu der Truppe.

»Die Bullen haben ihn nicht, da sind meine Informanten absolut sicher.« Die letzten Worte gingen fast im Schmatzen unter, als Ben in sein Bulettenbrötchen biss. Das beste Essen seit Tagen.

Sie standen schweigend beisammen, Nieselregen zog Schlieren über die Welt. Der dumpfe, allgegenwärtige Verkehrslärm übertönte leisere Gespräche.

Mike brach als erster das Schweigen. »Ich sprech es ja nur ungern aus. Aber wir müssen davon ausgehen, dass das mit den Bullen kein Zufall war. Unsere Truppe ist aufgeflogen.«

Er sprach den Fakt so kühl, fast berechnend aus. Regina schauderte, auch wenn sie Mike mittlerweile gut genug kennengelernt hatte, um zu wissen, dass er in Krisensituationen so reagierte. Ben nannte ihn manchmal »den Vulkanier«. Das passte – wenn es hart auf hart kam. Sonst war auch Mike ein Spaßvogel.

Ben nickte und auch von Kevin kam zwischen zwei Schlucken Kaffee ein zustimmendes Brummen. Wortkarg wie so oft.

»Also?«, fragte Regina in die Runde.

»Also?«, erwiderte Ben und zuckte mit den Achseln. »Wir machen weiter, oder?«

Mike schaute Ben an, zögerte einen Moment, nickte dann fast unmerklich.

»Die ganzen schlauen Sprüche hätten wir uns sparen können, wenn wir schon beim ersten wirklichen Ärger den Schwanz einziehen und zu den McDonalds-Jüngern desertieren.« Der Öko drückte einige hartnäckige Strähnen seines dunkelblonden Haares wieder unter die Norweger-Mütze, die er sich so weit wie möglich ins Gesicht zog. Im wärmsten Winter seit Menschengedenken. Sie sahen wirklich aus wie die Archetypen einer Verschwörergruppe. Warum riefen sie nicht gleich nach den Jungs in Grün?

Kevin nippte weiter an seinem Kaffee, die Sekunden verstrichen. Ein LKW fuhr brummend vorbei. Dann ließ er den Pappbecher sinken und schaute in die Runde. »Ich bin mir nicht sicher. Ganz ehrlich, Jungs. Wir werden eh in der nächsten Zeit die Köpfe unten halten müssen, bis die Bullen ihr Interesse an uns verloren haben. Wenn wir nicht unsere komplette Identität wechseln wollen samt neuem Ausweis und so, werden wir umziehen müssen. Da weiß ich nicht, ob wir uns den Ärger neuer Aktionen in dieser Zeit wirklich aufladen sollten.«

Regina hatte sich bei Ben eingehakt und spürte, wie er die Faust in der Tasche ballte.

»Du willst also die Umweltverschmutzer für ein ›paar Monate‹ gewähren lassen? Die Natur hat auch keinen Urlaub, Kevin!« Er spuckte den Namen fast aus, wie ein Schimpfwort.

Der Dürre zuckte zusammen, blickte schuldbewusst zu Boden.

»Ich sag doch nur für kurze Zeit. Nicht ewig. Dann machen wir natürlich weiter, egal ob hier oder woanders in Deutschland.«

Ben ging zu seinem Mitstreiter, hielt ihn an den Oberarmen fest und schaute ihm ins Gesicht.

»Ich brauche dich, Mann. Ohne dich können wir nicht weitermachen. Wir haben das hier zusammen angefangen, also müssen wir es auch gemeinsam zu Ende bringen. Dass wir in dieser beschissenen Welt des Kommerz und Politikbetrugs am Ende wohl kaum als strahlende Helden in den Sonnenuntergang reiten würden, war uns allen klar.«

Kevin konnte den Blick seines Anführers nicht aushalten und schaute zu Boden. Dann nickte auch er und aus der Umklammerung wurde ein Umarmen. Bens Laune machte einen 180-Grad-Turn und er lachte seinen Mitstreitern zu.

»Wir schaffen das, gemeinsam.«

Regina schluckte. Die letzten Worte ihres Adonis hatte sie sich so bisher nie klar gemacht. Wohin führte ihr Weg, wenn man ihn mal zu Ende dachte? Letztlich doch ins Gefängnis. Oder ein »ewiges«- und wahrscheinlich kurzes – Leben im Untergrund, dauernd auf der Flucht. War es das, was sie wollte? Gab es noch eine Abfahrt »normales Leben«?

Ben nahm sie am Arm, ging mit ihr und den anderen hinunter zur U-Bahn.

Er musste ihre Zweifel gespürt haben, jedenfalls setzte er sich in der U-Bahn mit einem Nicken zu den anderen allein mit ihr auf eine Bank. Ben verscheuchte ein paar Punks, die die restlichen beiden Sitzplätze in der Vierergruppe ergattern wollten und sich daraufhin vom Acker machten. So sicherte er ihnen den größtmöglichen Raum an Privatsphäre, den das moderne Reisen ohne Auto bieten konnte. Einen Einzelplatz in einer brechend vollen U-Bahn. Mitten im modernen Sprachen- und Geruchsgewirr, das über allem lag mit seiner Mischung aus Deo-, Achselschweiß- und Pommesgeruch.

»Willst du aussteigen, Schatz?« Er sah ihr tief in die Augen, strich ihr über die Wange. »Wenn es das ist, was dich glücklich macht, werde ich das möglich machen. Okay, anderer Name und andere Stadt, darum wirst du kaum herumkommen nach dem unerfreulichen Aufeinandertreffen mit den Grünen Männchen. Aber du könntest wieder halbwegs normal leben.«

Sie zuckte mit den Achseln, kämpfte mit den Tränen, blickte zu Boden. Sanft hob er ihr Kinn hoch und legte seine Stirn an ihre.

Die U-Bahn fuhr ratternd los, ihre Köpfe schaukelten.

»Hör mir zu, Baby. Du hast hinter den Vorhang geblickt. Gesehen, was in dieser Welt möglich ist, wenn man mit den lächerlichen Vorschriften der ach so aufgeklärten Beckmann-Jauch-Teletubby-Gesellschaft bricht.« Er ließ seinen Blick durch die prall gefüllte Bahn streifen.

»Willst du wirklich wieder zurück zu den Horden uninformierten Wahlviehs? Oder den Handzettel-Verteilern von Greenpeace?«

Ihr Kopf schwirrte. So viele Fragen, so schwerwiegende Entscheidungen. Regina schaute zu ihm hoch, ihre Blicke trafen sich. Und das Gefühl kehrte zurück, das wichtigste Gefühl in ihrem Leben. Das, das sie die letzten Wochen bereits begleitet hatte: Sicherheit. Sie spürte es tief in ihrem Inneren mit einer Vehemenz, die alles andere davonwischte. Mit ihm an ihrer Seite fühlte sie sich sicher. Sie gestand sich ein, dass es ihr letztlich relativ egal war, was sie da taten. Wenn sie ihn aufgefordert hätte, mit ihm als Schausteller über die Lande zu ziehen oder nach Australien auszuwandern um Straußenfarmer zu werden, sie hätte es genauso getan. Sie stand der grünen Sache nahe und gestand sich durchaus ein, dass ihre Aktionen in wenigen Wochen sicherlich mehr bewirkt hatten, als die lokale Greenpeace-Zelle in Jahren geschafft hatte. Richtig fühlten sich Sachbeschädigung, Einbruch und Diebstahl trotzdem nicht an. Dafür sein Blick, sein Geruch, den sie selbst hier, in dieser Geschmacksverwirrung von U-Bahn, riechen konnte. Es war völlig egal, wofür oder wogegen sie kämpften. Solange sie an seiner Seite war. Über das Ende, das irgendwann unausweichlich kommen musste und wahrscheinlich Knast hieß, wollte sie nicht nachdenken. Noch Jahrzehnte Lohnsklavin zu sein und irgendwann dankbar über ihre Einheitsrente auf der Couch im Altenheim zu sitzen und Quizshows zu schauen, konnte sie sich auch nicht vorstellen. Dann lieber wie eine Sternschnuppe leben: Schnell, hell und dann verglühen. Wenn es am schönsten war.

 

*

 

Sebastian rückte die Schale unter dem Mikroskop mehr in die Mitte, ging einen Schritt zurück und schaute gemeinsam mit Di Matteo auf den Bildschirm. Er brauchte nicht in das Gesicht des Italieners zu schauen, um die Enttäuschung zu spüren. Es hatte wieder nicht funktioniert.

»Cazzata«, fluchte der Dicke und ließ sich schnaufend auf einem Laborhocker nieder, um sich danach mit einem Tuch über die mit Schweißperlen bedeckte Stirn zu wischen. Sebastian wollte gar nicht erst wissen, wie er außerhalb des temperierten Komplexes zerfließen würde. Sicherlich kein schöner Anblick.

In diesem Moment öffnete sich mit einem Zischen die gläserne Schleuse des Labors und Sebastian schaute zur Seite. Heiderlein kam mit zügigen Schritten heran, während hinter den Glasscheiben im ebenfalls glasumfassten Laborvorraum ein Dutzend Arbeiter weitere Kisten mit Hilfe des Liftes herunterschafften. Trotz der guten Dämpfung war der Lärm beträchtlich, den sie dabei machten. Kein Wunder, der Lift war in der Lage, mehr als drei Tonnen zu heben und machte daher mit seinen kräftigen Gelenken mächtig Lärm. Außerdem warf die wenige Meter über ihnen befindliche Decke den Schall nur zu gut zurück. Ein Labor in der obersten Reihe des Glas-Stahl-Labor-Gitters zu haben, hatte eben auch Nachteile. Das Schott im Dach des Bunkers war offen und das Tageslicht fiel bis hier unten. Sebastian strich sich über den Nacken. Die UN machte wirklich keine halben Sachen. Der Lift war eine geniale Idee, um zügig Dinge von oberhalb des Bunkers direkt in die geschützte Laboratmosphäre zu schaffen, ohne durch das Labyrinth von Gängen zu müssen. Da war etwas Lärm zu verkraften. Jetzt aber nahm Heiderlein seine ganze Aufmerksamkeit in Beschlag, als sie heranrauschte und mit ihrem österreichischen Akzent fragte, ob bereits Resultate vom letzten Versuch vorliegen würden.

Sebastian zeigte auf den Bildschirm und nach einer Sekunde schüttelte die dürre Frau den Kopf.

»Das kann doch nicht sein! Zwei Wochen harter Arbeit! Und wieder keine Ergebnisse, die man als solche bezeichnen kann!«

Sebastian zuckte mit den Schultern, was er augenblicklich bedauerte, als ihn der Blick des Todes traf.

»Finden Sie das etwa nebensächlich, Herr Born?«

»Jetzt ist es aber gut, Werteste! Wir stehen alle unter demselben Druck, Resultate zu erbringen. Hören Sie auf, sich hier wie eine Feldherrin zu geben!« Di Matteos Wangen waren deutlich gerötet und sein Atem ging stoßweise.

Die Vogelscheuche baute sich vor dem deutlich kleineren Mann auf, der ihr Körpergewicht sicherlich vier-, wenn nicht fünfmal auf die Waage brachte. Ein ungleicher Kampf, als sie sich anstarrten. Heiderlein war derartige Duelle gewohnt, der Italiener hatte lediglich seinem Temperament nachgegeben.

Sebastian beeilte sich, die Wogen zu glätten. »Ja, der Versuch hat nicht die erwünschten Ergebnisse gebracht. Aber was haben wir auch erwartet? Zwei Wochen sind in der Welt der Wissenschaft wie eine Sekunde!«

Heiderlein ruckte zu ihm herum und stieß dabei fast eine Versuchsanordnung einer anderen Gruppe, die gerade frei hatte, vom mittigen Labortisch. Die Reagenzgläser wankten bedrohlich, und nur Di Matteos schnellem Eingreifen hatten sie es zu verdanken, dass jetzt keine Scherben aufzukehren waren. Alle erstarrten. Dann lachten sie gemeinsam los, sogar Hungerhaken konnte es sich nicht verkneifen. Sebastian atmete aus, die Spannung war gelöst.

Sebastian schaute auf den Bildschirm, ging dann zum Terminal und ließ den Drucker losrattern. Mit dem Blatt in der Hand ging er zu seinen Mitforschern hinüber und sie schauten gemeinsam auf die Daten.

 »Die Aufnahmefähigkeit des Meerwassers für Kohlenstoffdioxid wurde so gut wie gar nicht beeinflusst.« Di Matteo schüttelte den Kopf und einen Schokoriegel aus dem Ärmel.

»Da hatte ich mir von den Bakterien mehr erhofft.« Heiderlein konnte es sich offensichtlich nicht verkneifen, einen Seitenblick auf Sebastian zu werfen, und der hatte den Wink verstanden. Die Idee war gewesen, Wasser durch spezielle Bakterien mehr CO2 als bisher aufnehmen und dann dort durch eben diese Bakterien abbauen zu lassen. Seine Idee. Hatte ja toll funktioniert! Er knibbelte an den eigentlich wieder gut verheilten Fingern, dank Melanies gutem Einfluss, und ging im Kopf die möglichen Fehlerquellen durch. Sebastian seufzte.

»Ehrlich gesagt, weiß ich dann hier erst mal nicht weiter. Ich bleibe dabei. Die Idee, von den extrem anfälligen CO2-Lagerstätten an Land weg- und zum Meer hinzukommen, halte ich weiterhin für richtig.«

»Absolut, Herr Born«, pflichtete der Italiener kauend bei. »Aber entweder übersehen wir irgendetwas, oder das Bakterium ist einfach noch zu schwach auf der Brust.«

Sebastian nickte in Richtung der Schleuse.

»Sollen wir erst mal was Essen gehen und dann weitermachen?«

Dass der Italiener dafür sofort zu haben war, überraschte wohl keinen, aber selbst die Österreicherin nickte zustimmend. Es gab noch Zeichen und Wunder.

 

Eine Stunde später – der Küchenchef hatte das Buffet gerade frisch aufgefüllt und Di Matteo hatte darauf bestanden, alles mindestens einmal probieren zu müssen – gingen sie zurück zum Labor. Sie bogen gerade um die letzte Ecke des Gangs, der zum großen Zentralraum führte, als sie den Lärm hörten. Rufe, ein lautes Getöse. Sie schauten sich fragend an und fingen an zu laufen, wobei der Italiener sofort zurückfiel.

Sebastian öffnete die Tür mit seinem Zahlencode und eilte in die Haupthalle. Überall auf der Metallbalustrade standen Leute, hauptsächlich Arbeiter und Personal, und schauten zum gläsernen Laborkomplex herüber. Sebastian eilte um aufgetürmte Kisten herum und dann konnte auch er den Aufruhr sehen: Ein Mann mit Atemmaske und Tank auf dem Rücken zog auf der obersten Ebene gerade eine Frau im weißen Kittel in die Schleuse zum Laborvorraum – ihrem Labor – und von dort auf den Lift zu ihnen herunter. War das die junge Japanerin, mit der er heute Morgen gefrühstückt hatte? Tanaka oder so? Die Geologin, die vor allem abends in diesem Labor arbeitete? Er hatte sie bisher kaum gesehen, da sie normalerweise im Nebenlabor im Abschnitt Gamma tätig war, aber sie hatte heute Morgen gesagt, dass ein paar der per Lift angelieferten Kisten für ihre Forschungen bestimmt waren und sie daher ein paar Sachen in dem hauptsächlich von Sebastians Gruppe genutzten Labor zwischenlagern wollte.

Der Sicherheitsmann zog sich die Atemmaske vom Gesicht, als der Lift unten ankam und legte die zierliche Japanerin auf den Betonboden. Ihr Gesicht war blau angelaufen, sie bewegte sich nicht.

»Sanitäter!«, rief die Wache über das Gemurmel der herumstehenden Gaffer. Zwei Sanitäter mit Notfallkoffer und Trage drängten sich durch die Menge. Der ältere von beiden beugte sich über die am Boden Liegende, fühlte Puls und Atmung und machte sich dann geschwind daran, den Beatmungsbeutel zusammenzusetzen, während er seinen Kollegen anwies, die Frau zu intubieren. Dann folgte die Wiederbelebung. Die Umstehenden hielten den Atem an, Di Matteo kam nun auch an und schnaufte auf Brusthöhe neben Sebastian wie ein alter Dampfkessel.

»Was ist denn los?«, wollte er wissen, aber Sebastian schüttelte nur den Kopf.

Nach bangen Momenten kam Regung in die zierliche Frau und die Sanitäter hoben sie sofort auf die Trage und brachten sie weg, während der Wachmann mit aschfahlem Gesicht aufstand, seine Rettungsausrüstung aufhob und ihnen entgegen kam. Sebastian ging auf den Endzwanziger zu und konnte noch die Druckstellen der Atemmaske auf dem jungen Gesicht sehen.

»Was war hier los?«

Der Angesprochene zuckte mit den Achseln. »Es wurde Gasalarm in ihrem Labor ausgelöst, ich war der Erste vor Ort. Hab die Frau dann am Boden liegen sehen, mitten im Schleusenausgang zum Laborraum. Dann hab ich sie halt rausgeholt.« Er schulterte die Atemflasche und schaute Sebastian müde an. »Darf ich dann?« Sebastian beeilte sich, Platz zu machen, nicht ohne dem Mann anerkennend auf die Schulter zu klopfen, der ihm ein gequältes Lächeln schenkte. War schon was anderes als die endlosen Übungen.

Sebastian berichtete der erschrockenen Heiderlein und dem mittlerweile sitzenden Di Matteo von den Worten des Wachmanns und sie schauten sich fragend an.

»Kann das etwas mit unserem Versuch zu tun haben?«, brach der Italiener als Erster das Schweigen.

Heiderlein schaute ihn strafend an. »Wohl kaum. Denn Sie haben doch sicherlich die CO2-Flasche verschlossen, bevor wir gegangen sind, oder etwa nicht? Das war Ihre Aufgabe!«

Der Dicke wurde schlagartig bleich.

Sie fuhren zu dritt hoch zu ihrem Labor. Sebastian ging zur Schleuse des Laborvorraums und tippte auf dem angebrachten Display herum.

»Komisch«, murmelte er.

Heiderlein trat hinter ihn und zuckte mit den Achseln, bevor sie sagte: »Nichts mehr vom CO2 zu sehen. Die Lüftung muss es nach draußen befördert haben.«

Sebastian schüttelte den Kopf. »Das ist es eben. Die Lüftung ist überhaupt nicht angesprungen.« Er zeigte auf das Sicherheitslog, das er auf dem Display anzeigen ließ. »Der Computer hat den Gasalarm wegen zu hoher CO2-Konzentration ausgelöst, anschließend versucht, die Lüftung zu starten und von dort aber eine Fehlfunktionsmeldung erhalten.« Er tippte auf einen anderen Eintrag, der daraufhin farbig unterlegt erschien. »Und dennoch ist die CO2-Konzentration jetzt kaum noch messbar. Wie kann das sein?« Er drehte sich um und schaute in die gleichsam ratlosen Gesichter seiner Kollegen.

 

*

 

Das Gefühl des Déjà-vus war überwältigend und lag Regina wie ein Geschmack auf der Zunge. Mal wieder rannte sie mit Ben an ihrer Seite davon, mal wieder hörte sie Polizeisirenen in der Ferne. Mal wieder brannte hinter ihnen ein Fuhrpark. Oder war es eine Lagerhalle? Die Aktionen der letzten Wochen vermischten sich in ihrer Erinnerung, kamen ihr vor wie eine stete Abfolge von Aktion, Flucht, Untertauchen, Planung und neuerlicher Aktion. Bei diesem Tempo würde ihre Sternschnuppen-Metapher sich bald erfüllen, keine Frage.

Mit quietschenden Reifen kam Mike mit seinem gestohlenen Van um die Ecke, Kevin im Inneren riss die Seitentür auf und Regina und Ben sprangen hinein. Dann gab der Öko Vollgas und schleuderte sie in die Sitze.

»Hey, mach mal langsam!«, rief ihm Ben über den Lärm des aufheulenden Motors zu. »Oder ruf den Bullen doch gleich zu, dass wir hier sind.«

Mike zügelte seinen Fahrstil und nach wenigen Abbiegungen waren sie im nächtlichen Verkehr des Ruhrgebiets untergetaucht.

Kevin zitterte, sagte kein Wort und schaute zu Boden. Regina streichelte ihm sanft über den Kopf. Erst versteifte sich der dürre Körper, dann warf er sich förmlich in ihre Arme und zitterte vor sich hin.

Ben schaute fragend zu ihr hinüber, deutete eine wegziehende Handbewegung an, aber sie schüttelte den Kopf. Es war zu viel gewesen in den letzten Wochen. Für jeden von ihnen, aber vor allem für den Koffeinjunkie hier. Sie spürte, wie Tränen ihre Hose befeuchteten und ließ Kevin gewähren. Das Tempo der letzten Zeit war höllisch gewesen, jeder von ihnen arbeitete an seinem Limit. Ihre Aktionen waren immer häufiger in den Nachrichten, gerüchteweise hatte die Polizei eine eigene SoKo für sie gebildet. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie das Ruhrgebiet verlassen mussten. Aber auch woanders würde Ben weitermachen. Er würde immer weitermachen. Das Feuer in ihm loderte mit einer Kraft, das es sie alle verbrennen würde.

Das Zittern der Gestalt in Reginas Armen wurde weniger, die Tränen versiegten. Bis er das nächste Mal zusammenbrechen würde. So wie vor ein paar Tagen. Als sie das mit Ischar erfahren hatten und Ahnung sich in kalte, schneidende Gewissheit verwandelte. Der dicke Türke war der Grund dafür gewesen, dass die Polizei an jenem Tag bereits auf sie gewartet hatte. Er hatte aussteigen wollen. Und wenn sie Ben so ansah, mit seiner ganzen Ausstrahlung von Siegeswillen und Kraft, die einem Mongolenführer gut zu Gesicht gestanden hätten, hatte sie fast Verständnis dafür, dass der Dicke es ihm nicht ins Gesicht gesagt hatte. Aber warum direkt der Verrat und nicht einfach nur das normalste der Welt, bekannt aus vielen gescheiterten Beziehungen? Das einfach-nicht-mehr-melden und Verleugnen? Diese Frage nagte an ihnen allen. Ischars Verrat hatte insbesondere Kevin, seinem besten Freund, hart getroffen.

Der Dürre kam langsam wieder hoch, blickte Regina aus verquollenen Augen an und wollte zu einer Entschuldigung ansetzen, aber sie schüttelte den Kopf und streichelte ihm über den Arm. Sie waren eine Gemeinschaft, in der jeder dem anderen half.

Die altersschwachen Scheinwerfer quälten sich durch die Dunkelheit, als Mike von der Hauptstraße abbog und sie mitten in der Nacht in ein anderes Industriegebiet führte. Diesmal nicht, um dort ebenfalls ein Chaos anzurichten, sondern in ihrem neuesten Unterschlupf ein paar Stunden Schlaf zu finden. Sie hatten ihn alle nötig.

 

Das bläuliche Licht des Bildschirms erhellte Reginas Gesicht und notdürftig das kleine Zimmer. Sie war völlig im Internet versunken, surfte auf diversen Seiten gleichzeitig, die ihr mehr darüber verrieten, in welchem Ballungsraum es sich am ehesten lohnte, zu leben. Und wo man sich dort nötigenfalls verstecken konnte. Die Umzugspläne waren weit gediehen, das Pflaster im Ruhrgebiet wurde immer heißer. Nachdem die SoKo der Polizei sie vor einigen Tagen bei einem Brandanschlag auf einen Fuhrpark fast erwischt hatte, hatten sie wohl alle eingesehen, dass hier erst mal nichts mehr zu holen war. Also ein Umzug. Man hätte ja sagen können, dass sie darin »übereingekommen waren, umzuziehen«, aber so war die Lage nicht. Ben hatte beschlossen, dass sie weggingen. Und die Gruppe hatte sich dem gefügt, wie immer. Sie bewunderte ihn für seine ihm angeborene Gabe, Menschen zu führen und sie nötigenfalls auch gegen ihren eigentlichen Willen für eine Sache begeistern zu können. War das bei ihr auch der Fall? Oder war er zu ihr rundherum ehrlich? Diese Frage brannte ihr schon seit Wochen auf der Seele, aber bisher war es ihr gelungen, sie ein Weilchen nach hinten zu verschieben. Als ob sie dann eine Antwort gehabt hätte.

Regina seufzte, nahm einen Schluck Kaffee und widmete sich wieder meinsprawl.de und den anderen Seiten, die ihr weismachen wollten, dass man ausgerechnet in Hamburg, Berlin, München oder in irgendeinem anderen versifften Ballungsraum gut leben könnte. Sie schaute sich in dem winzigen Ein-Zimmer-Appartement um, in dem Ben und sie im Moment Unterschlupf gefunden hatten, und musste laut auflachen. Letztlich war es egal, wie die Stadt aussah, auf ihrer Dauerflucht bekamen sie eh nicht mehr zu sehen als brennende Industriegebiete, Verstecke, von denen der hier noch einer der besseren war, und ab und an einen Schnellimbiss, um zwischen den Einsätzen ihres »heiligen Kriegs« etwas in den Magen zu bekommen. Immerhin hatte dieser unstete Lebenswandel sie gut fünf Kilo gekostet. Die Terroristen-Diät. Sie musste dringend mal einen Leserbrief an Bild der Frau schicken. Zum Nachahmen empfohlen.

Ein Geräusch an der Tür. Ohne nachzudenken griff Regina neben sich, entsicherte die 9-mm-Pistole, klappte den Laptop zu, legte ihn neben sich, stand auf und zielte auf den Eingang. Die Abläufe waren ihr von Ben immer und immer wieder eingetrichtert worden, bis sie ein Teil ihres Selbst geworden waren. Sicherungshebel umlegen, Waffe fest mit beiden Händen umgreifen, Ziel erfassen, abdrücken. Am Anfang – auf dem »grünen« Schießstand im Wald – hatte sie bei jedem Schuss die Arme weggerissen, weil ihr Hirn den Rückstoß sozusagen vorweg nahm. Ein Anfängerfehler, der ihr mittlerweile nicht mehr unterlief. Dann klopfte es. Dreimal schnell, zweimal langsam. Sie sicherte die Waffe, steckte sie in den Hosenbund, trat neben die Tür und öffnete. So, dass sie von ihr wegschwang und sie im Ernstfall eine vorgestreckte Waffe schnell greifen konnte. Es war fast lächerlich, welche Abläufe sie mittlerweile automatisiert hatte.

Aber nur Ben stand nun in der Tür, kein Polizist hinter ihm und auch sonst war niemand zu sehen. Sie atmete durch, gab Adonis einen Kuss und ging wieder zu ihrem Sessel und dem Laptop zurück. Wollte sie jedenfalls, doch Ben hielt sie am Arm fest und drehe sie zu sich herum. Mit einem schelmischen Blick schaute er ihr tief in die Augen.

»Ich habe es!«

Sie zog die Stirn in Falten und erwiderte: »Was hast du?« Was für ein Spiel spielte er denn nun schon wieder mit ihr?

Ben drückte sie sanft auf ihren Stuhl, ging vor ihr in die Hocke und strich ihr sanft über das Gesicht. Seine Finger fühlten sich wunderschön an auf ihren Wangen. Sie konnte sich, selbst jetzt nach mehreren Monaten, immer noch in diesem Gefühl verlieren.

»Den Riesenhinweis. Das große Ding, auf das wir so lange gewartet haben. Unsere Fahrkarte im Unsterblichkeitszug. Unsere Chance, mit einem Schlag mehr für die Umwelt zu tun, als mit all unseren bisherigen Aktionen zusammen.«

Er musste ihre Verwirrung spüren, denn er lachte auf und fuhr nahtlos fort: »Dimitri hat diesmal einen ganz dicken Infofisch an der Angel gehabt und mich prompt damit versorgt. Im Norden steigt ein Riesending. Ach, was sage ich?! Gigantisch!«

Sie stand auf, ging zum Kühlschrank und warf ihrem Romeo einen Mango-Ananas-Smoothe zu. Wenn sie schon gejagt wurden und in Sardinenbüchsen leben mussten, konnten sie sich wenigstens ordentlich ernähren. Dafür sorgte sie schon. Denn wenn die Kacke mal wieder am Dampfen war, vergaß Ben sonst so Nebensächlichkeiten wie Essen und Trinken, doch sie kümmerte sich schon darum, dass er seinen Traumkörper halbwegs ordentlich versorgte. So ordentlich, wie das auf der Dauerflucht jedenfalls möglich war. 

»Jetzt trink erst mal was, du siehst völlig abgehetzt aus.«

Mit einem dankbaren Gesichtsausdruck leerte er den Obstdrink in einem Zug, redete dann aber – samt orangenem Bärtchen über der Oberlippe – einfach weiter. »Danke. Jedenfalls ist da oben im Norden grad ein heißes Ding am Kochen. So ein paar Wissenschaftsspinner von der UN forschen an Mitteln, um die globale Erwärmung aufzuhalten. Und wie wollen sie das natürlich machen?« Er fuchtelte theatralisch mit den Armen. »Leider nicht, indem sie der Menschheit empfehlen, mal einen Gang zurückzuschalten, mal langsamer zu machen. Und bestimmt auch nicht dadurch, neue Filter in Fabriken einzuführen und Billigflieger zu verbieten.« Seine Gesichtsfarbe war bedenklich rot geworden. »Nein, natürlich nicht. Vielmehr haben sie sich einen Weg ausgedacht, Mutter Natur zu verarschen, indem sie an den natürlichen Schutzschichten der Erde herumspielen und diese verändern.« Er ging zu Regina und packte sie an den Oberarmen. »Das dürfen wir nicht zulassen. Wenn jetzt selbst die UN meint, dass die Erde ein beliebig manipulierbarer Ort sei, dann müssen wir dem Einhalt gebieten. Sofort!«

Regina schaute in das gerötete, verschwitzte Gesicht. Die Bartstoppeln auf den kantigen Zügen gaben ihm eine unwiderstehlich männliche Ausstrahlung und sie spürte förmlich sein Drängen nach ihrer Unterstützung, was jeden Widerstand wegwischte. Sie drückte ihm einen Kuss auf die Lippen.

»Okay, Schatz. Also auf in den Norden.«

 

*

 

Sebastian zupfte unwillkürlich an seinem Hemdkragen herum, es war schon Monate her, dass er einen Anzug getragen hatte. Irgendein Vortrag auf einer Konferenz, die völlig harmlos ausgegangen war. Er konnte sich ein Grinsen kaum verkneifen und versteckte es hinter der Hand. Dann richtete er seine Aufmerksamkeit wieder auf den Konferenzraum, in dem er stand. Ein Tisch, an dem mit etwas Zusammenrücken zehn Leute Platz finden würden. Ein Rednerpult, aber vor allem ein Bildschirm, der die ganze Wand ausfüllte. Man fühlte sich eher in die CIA-Zentrale aus einem der bekannten Agentenfilme versetzt, als in einen umgebauten Bunker im Norden Dänemarks. Nun stand er am langgezogenen Konferenztisch, neben sich Melanie und den immer noch geheimnisvollen Weihhausen, der heute Morgen per Hubschrauber eingeflogen war, um die Videokonferenz zu leiten. Der große Bildschirm war in mehrere Abschnitte unterteilt und jedes der sechzehn Quadrate zeigte eine andere Person an einem Schreibtisch sitzend. Alle sahen wichtig aus. Ein Japaner im Anzug hatte netterweise eine Blume auf seinem Tisch drapiert, bei allen anderen sah es so aus, als ob sie um die Sterilität ihrer Büros wetteifern wollten.

Weihhausen räusperte sich und schaffte es so, die Aufmerksamkeit der zugeschalteten Entscheider auf der ganzen Welt wieder auf sich zu ziehen. Seine Kleidung war schlicht und gleichzeitig edel wie immer, wieder einmal ein klassisch schwarz-weißer Anzug, und der schlohweiße Zopf konkurrierte noch immer mit dem sonnengebräunten Teint um ein möglichst strahlendes Ergebnis.

»Nachdem ich Ihnen nun also die wichtigsten Fakten wiedergegeben habe, übergebe ich das Wort an den leitenden Forscher des Experiments, Herrn Sebastian Born.«

Leitender Forscher? Wann war das denn passiert? Sebastian stockte, aber Melanie drückte ihm, unsichtbar für die Kamera, die über dem Bildschirm angebracht war und die Videokonferenz ermöglichte, die Hand und schob ihn leicht vorwärts. Sebastian machte einen Schritt und nickte den Gesichtern auf dem Schirm zu. Manche erwiderten es, andere schauten einfach nur stur zu ihm herüber. Es war unschwer festzustellen, dass er der mit Abstand jüngste Konferenzteilnehmer war. Alle Personen auf dem Schirm waren in hohen Machtpositionen, da kam man nicht mit dreiunddreißig hin.

Sebastian räusperte sich unsicher, dann straffte er die Schultern und begann.

»Wie Sie aus den Ihnen vorliegenden Dossiers entnehmen können, hat das von meinem Team und mir entwickelte Bakterium die Fähigkeit, CO2 binden zu können und dies in einem Ausmaß, das unsere kühnsten Erwartungen übertraf.« Von hinten kam ein Räuspern und Sebastian schalt sich innerlich. Ja, ja. Sie hatten natürlich immer gewusst, was sie getan hatten, zu jeder Zeit, egal ob das stimmte oder nicht.

»Wir schlagen diesem Konsortium daher vor, den unter Punkt 3.7. aufgestellten Teil des Budgets in die Weiterentwicklung unseres Experiments zu verteilen. Davon werden wir, wie unter 4.2. aufgeführt, Drohnen und Sprühvorrichtungen entwickeln, ferner die Bakterien in großer Zahl züchten und anschließend in der ersten Stufe, siehe 5.1., in einem begrenzten Gebiet einen Versuch durchführen.«

Der Japaner mit der Blume deutete eine Verneigung an, was sitzend mehr als merkwürdig aussah.

»Entschuldigen Sie die Unterbrechung, Herr Born. Aber mir ist aus den Unterlagen noch nicht offenbar geworden, was die Bakterien bewirken sollen.«

Von hinten murmelte Melanie leise ein »Einfach nur lesen, Bürokratenhengst.« und Sebastian nickte dem ergrauten Asiaten zu.

»Vielen Dank für diese Frage. Ich möchte Sie hier nicht mit Fachbegriffen langweilen. Der Kern unseres Experiments ist Folgender. Wir werden das Bakterium in der Höhe der Atmosphäre versprühen, in der der Treibhauseffekt angesiedelt ist.« Er ging ein paar Schritte. »Die mittlerweile in Forschung und Lehre herrschende Meinung ist, dass der von Menschen gemachte Anteil am Treibhauseffekt überwiegt und vor allem CO2-induziert ist. Stichwort ist hier die fortschreitende Industrialisierung. Wir möchten Sie heute bitten, unser Großexperiment zu genehmigen. Damit wären wir in der Lage zu zeigen, dass unser Bakterium eben dieses CO2 in ausreichendem Maße binden und damit unwirksam für den Treibhauseffekt machen kann. Damit könnte der Treibhauseffekt auf das Ausmaß reduziert werden, wie es vor dem zwanzigsten Jahrhundert gegeben war. Dies möchten wir erst einmal in einem begrenzten und damit beherrschbaren Gebiet erproben.«

Eine Südamerikanerin, die auf einem Teilbildschirm in der unteren Reihe zu sehen war, räusperte sich deutlich hörbar und legte ihr strengstes Gesicht auf. »Machtmensch« war das erste Wort, das Sebastian in den Sinn kam.

»Wenn ich Sie also richtig verstehe, sind wir durch das Bakterium, wenn sich Ihre Forschungen bestätigen, in der Lage, den Treibhauseffekt zu beherrschen?«

Sebastian nickte.

»Gut,« fuhr die Dame mit dem khakifarbenen Teint fort, »warum beenden wir ihn dann nicht ganz, anstatt ihn nur zu begrenzen.«

Weihhausen machte einen Schritt nach vorn, stand neben Sebastian.

»Señora Elaya, das wäre nicht empfehlenswert«, richtete er sein Wort sie. Seinen Blick jedoch ließ er über den gesamten Bildschirm gleiten und breitete die Arme aus. »Das wäre sogar vielmehr äußerst destruktiv. Wie mir Herr Born erläutert hat, benötigt die Erde stets einen Treibhauseffekt in geringem Ausmaß. Sonst...« Er nickte Sebastian zu.

Der nahm den Ball auf. »Sonst würde sich wohl nur die Heizdeckenindustrie freuen, denn uns stünde eine neue Eiszeit bevor. Es gab schon immer einen Treibhauseffekt, selbst zu Zeiten der alten Römer. Ohne ihn wäre die Erde längst ein Eisblock im Weltall. Daher ist unser Ziel ›nur‹«, und er zog das letzte Wort in die Länge, »den Effekt wieder auf das Ausmaß zurückzuführen, bevor der Mensch massiv in das Klima eingriff. Wenn sie so wollen«, er machte eine Geste, als würde er einen Knopf drücken, »setzen wir den Treibhauseffekt nur wieder auf sein Grundniveau zurück. Wir resetten ihn.«

Melanie meldete sich nun ebenfalls zu Wort. »Vielen Dank für Ihre Ausführungen, Herr Born.« Sie nickte ihm zu und wie abgesprochen ging er ein paar Schritte zurück und überließ ihr die Bühne. »Wie Sie Abschnitt 3 entnehmen können, sind die Kosten zwar überschaubar, aber sie übersteigen für ein Einzelexperiment die 15-Prozent-Grenze des Jahresbudgets, daher sitzen wir heute zu dieser damit vertraglich notwendigen Abstimmung zusammen. Wir hier vor Ort sind von der Notwendigkeit der Ausweitung dieses erfolgversprechenden Strangs der Experimente absolut überzeugt. Natürlich werden alle anderen Forschungsgruppen weiterhin an ihren Ansätzen weiterarbeiten. Wir waren uns bei Gründung alle einig, einen Multi-Ansatz zu fahren.« Sie schaute in die Runde. »Auch wenn die Kosten natürlich ein wichtiger Punkt sind, erscheinen sie uns gerechtfertigt. Denn eines sollten wir uns klar vor Augen führen. Das Experiment von Born und seinen Kollegen ist, sollte es gelingen, ein echter Durchbruch und löst eines der größten Probleme der Klimadiskussion, den Treibhauseffekt, so dass wir uns den anderen Problemen mit mehr Ruhe und auch mehr Rückhalt aus unserer Bevölkerung widmen können.« Sie machte eine Kunstpause. »Die Menschen wenden sich hilfesuchend an uns, ihren Regierungen. Und während sie dabei vom sommerlichen Wind mitten im Winter umstrichen werden, fragen sie sich, was wir eigentlich tun, um ihnen zu helfen. Bitte lassen Sie daher Ihre Vorbehalte fallen, die uns vor dieser Konferenz zu Ohren gekommen sind und bejahen Sie unseren Antrag. Vielen Dank.«

»Gibt es noch weitere Fragen, die vor der Abstimmung geklärt werden sollten?« Weihhausen schaute in die Runde und breitete seine sonnengebräunten Hände aus. Keine Stimme regte sich, einige schüttelten den Kopf.

»Gut, dann lassen Sie uns bitte zur Abstimmung schreiten.«

Nach und nach leuchteten grüne und rote Lämpchen über jedem Bildschirm auf. Sebastian zählte hektisch nach. 10 grüne, 6 rote. Reichte ein Mehrheitsentscheid?

Weihhausen wartete einen Moment, bis sich jeder von der Abstimmung überzeugt hatte, dann fuhr er fort, nicht ohne einen gewissen Triumph in der Stimme. »Ich danke Ihnen für Ihre Weitsicht, das Projekt zu genehmigen. Damit beende ich die heutige Konferenz, wir werden Sie über den Fortschritt des Experiments natürlich zu jeder Zeit unterrichten.«

Offensichtlich hatte es genügt. Die Bildschirmausschnitte wurden nach und nach dunkel und als der letzte erlosch, drückte Melanie Sebastian einen Kuss auf die Wange.

»Du hast es geschafft! Du darfst weitermachen!«, flüsterte sie ihm ins Ohr und Sebastians Knie wurden weich, während im Schauer über den Rücken liefen. Damit hatte niemand rechnen können. Ein fehlgeschlagenes Experiment war nötig gewesen, um die eigentliche Fähigkeit der Bakterien, seiner Bakterien, aufzuzeigen. Er grinste. Das Schicksal nahm manchmal schon merkwürdige Wege.

 

*

 

Die Bahn fuhr an, leise, nur ein Summen war von draußen zu hören. Innen sah es dagegen anders aus. Eine schwitzende Großfamilie ließ sich lautstark auf ihren Plätzen im Großraumabteil nieder und kaum hatten ihre Hinterteile den Sitz berührt, wurden Butterbrote ausgepackt und der Nintendo auf maximale Lautstärke gestellt. Auch das Drumherum war alles andere als leise und konterkarierte die Werbung des »leisesten Fortbewegungsmittels Deutschlands«, mit dem die Bahn gerade für sich Stimmung machte.

Regina seufzte, zog ein Taschenbuch aus der Jacke und kuschelte sich an Bens Arm. Ihr Schatz versteifte sich fast unmerklich und es dauerte mehrere Minuten, bis er sich halbwegs entspannte. Sprechen mochte er nicht, die Fahrt verlief schweigsam, für ausreichend Hintergrundlärm war durch den Geschwisterstreit auf den Nebensitzen bereits gesorgt. Es ging wohl um die Frage, ob irgendeine Fantasygestalt mit lächerlichem Namen bessere Superkräfte hatte als eine andere. Keiner der beiden Jungs im Grundschulalter wollte nachgeben und so wurden die Vor- und Nachteile von Hero-Man und Awesome-Cat im ganzen Waggon wiedergegeben.

Ben griff wortlos an Regina vorbei und holte eine Getränkeflasche aus ihrem gemeinsamen Rucksack.

Sie ließ ihn schweigen. Manchmal reichten 160 Zeichen aus, um eine Beziehung zu beenden oder eine Feindschaft neu aufleben zu lassen. Oder eine Freundschaft zu beenden. »Wünsche euch Glück. Suche meines woanders. Ich kann und will diesen ständigen Kampf nicht mehr. Lebt wohl! Kevin«

Bens Gesicht hatte sich in den ungesund roten Bereich verfärbt, als er Kevins SMS kurz vor der Abfahrt erhalten hatte. So etwas nahm er persönlich, endgültig. Dass Mike kurz davor angekündigt hatte, erst noch ein paar persönliche Dinge regeln zu müssen, bevor er in den Norden nachkommen konnte, machte es nicht besser.

Langsam und stetig streichelte Regina Bens Hand, während sie sich erneut an ihn lehnte. Sie mussten erst mal alleine klarkommen.

 

Regina wurde selbst jetzt noch schlecht, wenn sie daran dachte. Wellengang und ein Landei aus dem Ruhrpott waren zusammen keine gute Idee. Selbst auf dem kleinen Bildschirm des Camcorders war die raue See zu erkennen, der sie sich vorgestern ausgesetzt hatten, um diese Bilder zu machen. Die Bilder, die nun Ole zu sehen bekam. Regina bestellte bei der Bedienung auf Englisch einen Tee mit Schuss, um ihren Magen wieder halbwegs in Reih und Glied zu bekommen.

Ole beugte sich nach vorne und nahm Ben den Camcorder aus der Hand. Im schummrigen Licht des auf urig gemachten Hafen-Cafés konnte er so mehr erkennen. Leise dänische Musik kam aus versteckten Lautsprechern und untermalte die ansonsten menschenleere Szenerie. Um elf Uhr vormittags waren auch hier an der dänischen Küste die Cafés schlecht besucht.

»Wo habt ihr das Video gemacht?« Ole kratzte sich an der Glatze und fuhr sich durch das wettergegerbte Gesicht, das ihn deutlich älter aussehen ließ, als er mit seinen achtunddreißig Jahren eigentlich war. Wenn man ihm glauben wollte.

Regina wollte gerade zu einer Erklärung ansetzen, da fuhr Ben hart dazwischen. »Du bekommst die Koordinaten, wenn es notwendig sein sollte. Jetzt musst du dich erstmals mit der Info ›vor eurer Küste, gut drei Stunden von hier‹ begnügen«.

Der dänische Greenpeace-Aktivist, den Ben über ein Forum für »handlungsaktive« Umweltschützer kennengelernt hatte, lachte kurz auf. »Mann, sind wir aber paranoid. Aber gut, ist euer Ding, soll mir egal sein.« Er schaute sich um und Regina hätte fast gelacht. Man konnte sich fast in einem schlechten Agentenfilm wähnen.

»Hinter was seid ihr da her? Ihr habt mich sicherlich nicht angemailt, um über das herrliche Wetter bei uns zu quatschen!«

Ben nahm einen Schluck Kaffee und schaute Ole einen Moment schweigsam an.

»Was weißt du über das Projekt ›Climate Mending‹?«

Der Däne schüttelte den Kopf. »Gar nichts.« Im skandinavischen Singsang ausgesprochen, hatte das fast etwas Melodisches.

Das entlockte Ben ein Lächeln und er schaute zu Regina. »Da siehst du, wie gut die UN das alles unter der Decke hält, wenn noch nicht mal die Einheimischen davon Wind bekommen haben.«

»Also?«, hakte Ole nach.

»Um es kurz zu machen. Die UN forscht nach unseren Informationen in einem ehemaligen U-Boot-Bunker hier in der Nähe an einer Möglichkeit, das Klima zu verändern, um die globale Erwärmung aufzuhalten.«

»Aha.« Ole kratzte sich am Kinn. »Und?«

»Und? Mein Informant in Deutschland sprach davon, dass sie mit genetisch veränderten Bakterien, extrem gefährlichen Chemikalien und ähnlich verantwortungslosen Scheiß probieren, zu flicken, was die Menschheit selbst angerichtet hat. Die haben völlig freie Hand, solange das Ergebnis das Ende der Erderwärmung ist und die Menschheit weiterhin mit dem Auto zum Supermarkt um die Ecke fahren und für zwanzig Euro nach Mallorca fliegen kann.«

Ole lachte. »Hättest Redner werden sollen.« Er zwinkerte Regina zu. Dann wurde er wieder etwas ernster und zog einen Handheld-PC aus der Hosentasche, öffnete ein Notizprogramm und nickte Ben zu. »Okay, ich bin dabei. Was braucht ihr?«

»Wir müssen dort rein, um diesen Quatsch zu stoppen. Ich ... wir haben aber hier keinerlei Connections und keine Ahnung, wie wir das anstellen sollen. Wie wir dort hineinkommen sollen.«

Ole beugte sich wieder über das Video.

Regina deutete auf die beiden röhrenartigen Ausfahrten des Bunkers.

»Wir sind so nahe herangefahren, dass wir mit maximalem Zoom was erkennen konnten. Soweit wir gesehen haben, gab es auf See keine eigene Sicherheit, wir wollten aber nicht in den Fokus der sicherlich vorhandenen Außenkameras geraten.«

Ole schüttelte den Kopf. »Ich wusste gar nicht, dass wir hier sowas haben. Und ich wohn seit zwanzig Jahren in Skagen. Aber klar. Ihr Arier hattet ja damals diese fixe Idee mit den U-Booten, die die Welt in Angst und Schrecken versetzen sollten. Hier an der Nordspitze ... liegt echt nicht schlecht. Aber ich komm irgendwie nicht darüber hinweg, dass unsere Zelle hier vor Ort nichts von den Forschungen mitbekommen hat.«

Regina erwiderte: »Mach dir nichts draus. Die Anlage liegt völlig versteckt, ist über die Jahre in Vergessenheit geraten, noch nicht mal bei den meisten Historikern bekannt, da nie fertig gebaut, und die dänische Regierung hat da wohl gut den Deckel drauf gehalten. So eine versteckte Anlage in der Hinterhand ist nie verkehrt und wenn es nur wie jetzt ein ›Geschenk‹ an die UN war. Geheim forscht es sich ruhiger. Der Bunker ist zwar einer der kleineren im Vergleich zu mancher Anlage in Deutschland aus dem zweiten Weltkrieg, aber immer noch nutzbar. Wenn eine ›Herrenrasse‹ im besetzten Gebiet mal was baut, dann vernünftig.« Sie lachte. Man konnte auch politisch zu korrekt sein. »Die UN hat die Anlage ausgebaut. Die Deutschen sind damals nicht über die Bunkeranlage hinaus gekommen, innen soll wohl noch nichts fertig gewesen sein. Für geheime Forschungen nicht das Schlechteste, so eine leere Hülle. Liegt extrem unzugänglich, nur eine Straße und übers Wasser kommt man kaum in die Nähe, ohne gesehen zu werden. Wenn man dann noch sein Wunschequipment quasi von Null aufbauen darf ...«

Ole wiegte den Kopf hin und her, der trübe Schein der Lampe spiegelte sich auf seiner zerfurchten Glatze.

»Gut. Beziehungsweise nicht gut.« Der Däne holte Luft. » Das wird hart. Aber ich hab da eine Idee. Die Anlage sieht auf eurem Video zu klein aus, um den ganzen Forschern und vor allem dem ganzen Drumherumpersonal genug Platz zum Pennen zu bieten. Und wer extern wohnt, könnte eventuell etwas empfänglicher für Bestechungsgeld oder ein paar kleine Annehmlichkeiten im Austausch für Informationen sein.«

Ben erwachte aus seiner Starre, in der er in den letzten Minuten verharrt hatte.

»Gut, dann also den menschlichen Faktor nutzen. Dann lass mal die Drähte glühen, Ole.«

 

Ole hatte nicht zu viel versprochen, da war sie. Nene Hanning, Biologin in Diensten der UN, schlenderte durch den Supermarkt und kaufte diverse Naschereien ein. Der Däne hatte Recht behalten. Bei weitem nicht alle Wissenschaftler wohnten in der Bunkeranlage, und die, die außerhalb an der Matratze horchten, brachten ihren »kasernierten« Kollegen gerne mal etwas Junkfood aus der Stadt mit. Die UN sorgte angeblich gut für das leibliche Wohl. Aber an Chips, Schokolade und Sahnepudding hatten sie wohl nicht gedacht. Das menschliche Hirn schon. Und so stand eine auffallend kleine Frau Anfang dreißig vor dem Chipsregal und strich sich nachdenklich durch ihre hellblonde Kurzhaarfrisur. Eine ansehnliche Frau, die so gar nicht dem Archetyp des Elfenbeinturmforschers entsprach, den sich Regina bei Studium ihrer Veröffentlichungsliste im Internet vorgestellt hatte. Aber gut, auch Genies durften hübsch aussehen. Gott verteilte seine Gaben gerne unausgewogen.

Frau Hanning hatte ihre Wahl getroffen, packte vier Tüten Chips zum restlichen Süßkram in ihren Einkaufswagen und schob ihn Richtung Kasse. Ben nickte Regina zu, sie teilten sich auf. Regina ging vor und passierte zügig die Kassen. Sie postierte sich neben der Brottheke, um Frau Doktor falls nötig abzufangen. Aber alles ging glatt. Die Frau zahlte, packte ihre Siebensachen ein und ging gemütlichen Schrittes zum Ausgang, hinaus in den milden Spätwinterabend in Skagen. Regina folgte ihr und auch Ben schloss schnellen Schrittes auf. Eine sanfte Brise kam auf und trug das hier allgegenwärtige Aroma von Salz und Wasser mit sich. Sie passierten eiserne Parkbänke, gingen unter pittoresken Straßenlaternen im Stil der Fünfziger vorbei und steuerten den gegenüberliegenden Parkplatz an. Hier wollten sie sie ansprechen. Kooperierte sie, perfekt, dann konnte man einen »unverbindlichen Plausch« bei den Wagen halten. Und wenn nicht, war es ein Leichtes, von dort zu entkommen. Hatte Ben jedenfalls gesagt und auch aus ihrer Sicht sprach nichts dagegen. Ein Auto, das von einem Stellplatz wegfuhr, würde hinterher wohl niemand mehr beschreiben können, und ihre Tarnung wäre immer noch intakt. Gut, wenn es total schief lief, war die UN gewarnt, dass sich jemand zu sehr für ihre Anlage interessierte, aber dieses Risiko mussten sie eingehen. Die Geduld für langwierige Beobachtungen brachte Ben einfach nicht auf. Das Feuer in seinem Inneren war stets kurz davor, ihn nicht nur anzutreiben, sondern auch zu verbrennen. Er musste immer aktiv sein, die Zügel in der Hand behalten, anführen.

 

Die Biologin wartete ab, bis ein Auto vorbeigefahren war, dann schob sie ihren Einkaufswagen über die Straße und hielt auf einen silbernen Volvo zu, öffnete die Heckklappe und packte die Kalorienbomben in den Kofferraum. Schnellen Schrittes gingen sie hinterher, schlossen auf und standen kurz drauf links und rechts von der Frau. Sie musste die Bewegung in ihrem Rücken gespürt haben, denn ruckartig drehte sich die Norwegerin um und schaute sie fragend, aber mit einem Lächeln auf dem Gesicht an.

»Ja?«. Englisch. Natürlich.

»Guten Abend, Frau Hanning«, eröffnete Ben den Reigen.

Das Lächeln im Gesicht der Wissenschaftlerin gefror.

»Woher kennen Sie meinen Namen? Und wer sind Sie überhaupt?«

Keine Regung auf Adonis' Gesicht. »Das tut nichts zur Sache. Wir wollen nur ein paar Informationen über das Projekt, an dem Sie arbeiten.«

Ihre Augenlieder zuckten kurz. »Ich weiß nicht, wovon sie sprechen. Und nun gehen Sie beiseite, ich möchte fahren.«

»Selbstverständlich.« Ben machte keine Anstalten, wegzugehen. »Sobald Sie unsere Fragen beantwortet haben.« Regina lief es kalt den Rücken hinunter.

»Wenn Sie nicht sofort verschwinden, schreie ich um Hilfe.« Das musste der Schneid ihr lassen, ihre Stimme zitterte zwar, aber äußerlich ließ sie sich kaum etwas anmerken.

Ben schaute sich kurz um. »Hier ist keiner. Die UN hat ihr Projekt nicht ohne Grund in beziehungsweise außerhalb einer Kleinstadt angesiedelt.«

Ein paar Passanten überquerten hinter ihnen die Straße, aber ansonsten hatte Ben recht. Um diese Uhrzeit war hier der Hund begraben.

»Wir bezahlen Sie auch«, warf Regina ein und holte ein dickes Geldbündel aus der Tasche. Hunderter. Gut, es bestand im Inneren aus Zeitungspapier, aber das tat jetzt nichts zur Sache. Sie waren mittlerweile nicht mehr allzu flüssig.

Die kleine Frau ruckte trotzig den Kopf hoch. »Lassen Sie mich sofort gehen. Ich rede nicht mit Ihnen.«

Sekunden vergingen, keiner sagte ein Wort. Festgefahren. Gut, dann mussten sie es eben bei einem anderen UN-Wissenschaftler probieren. Was sollten sie auch sonst machen?

Regina machte einen Schritt zur Seite. Eine Lücke zwischen ihr und dem Einkaufswagen entstand.

Sie setzte ihre finsterste Miene auf, zu der sie fähig war. »Gehen Sie. Aber wenn Sie irgendjemandem von uns erzählen, ist das ihr Ende.«

Das schlanke Persönchen schluckte, straffte dann ihre Schultern und machte Anstalten, zu gehen. In dem Moment, in dem sie sich der Lücke zuwandte, sprang Ben plötzlich vor, hielt ihr eine Hand auf den Mund und erstickte ihren Schrei. Regina sah hilflos mit an, wie er scheinbar mühelos die Frau festhielt und ihr mit der anderen Hand eine Spritze in den Hals setzte. Wann hatte er sich die denn besorgt? Von einem Moment auf den anderen erschlaffte die Biologin und ohne zu zögern warf Ben sie sich über die Schulter, schloss den Kofferraum, öffnete die Tür zur Rückbank und warf das leblose Etwas hinein.

»Los! Schlag da keine Wurzeln. Beweg dich und fahr mir hinterher.« Hinterher? Wohin?

Aber Ben stieg bereits ein, griff nach hinten, kramte aus der Jackentasche der Doktorin den Autoschlüssel und ließ den Motor an. Regina konnte gerade noch den Einkaufswagen beiseite schubsen, bevor Ben ihn überfahren hätte. Sie stand eine Sekunde still, die Hände in die Hose gekrallt. Dann spurtete sie zu ihrem Mietwagen und folgte ihm in einer erst rasanten, dann halbwegs manierlichen Fahrt. Woher hatte er die Spritze? Wohin fuhren sie? Was hatte er vor? Waren sie jetzt auch noch Kidnapper geworden?

Es ging raus aus Skagen, was bei einer Stadt mit unter 70.000 Einwohnern natürlich schnell ging. Kein Vergleich zum Ruhrpott. Gut zehn Minuten später fraßen sich die Scheinwerfer bereits durch das Dunkel eines Feldwegs, abseits der Zivilisation und ließen links und rechts Dünen mit spärlichem Grasbewuchs hinter sich. Bremslichter leuchteten auf, Ben war wohl am Ziel. Sie wendete – schnell fliehen zu können war ihr mittlerweile ins Blut übergegangen – und stellte den Wagen ab.

Ben stieg zügig aus, holte die Doktorin von der Rückbank und trug sie zu einer Holzbank. Gut einen halben Meter vor der Bank ging es leicht bergab, hier endeten die Dünen und der Strand begann.

 

Das Meer schickte im Hintergrund seine Wellen auf das Land, einige Möwen drehten schreiend ihre Runden. Meeresgeruch lag in der Luft und als Unternote steuerten die in der winterlichen Wärme verwesenden Algen ihr süßlich-herbes Aroma bei. Wenn sie keine betäubte Wissenschaftlerin dabei gehabt hätten, hätte das hier ein vergleichsweise malerischer Fleck sein können. So aber eilte Regina schnell zu der Bank, ignorierte das friedliche Bild des mondbeschienenen Meeres und half Ben, Frau Hanning an die Bank zu fesseln. Ben warf Regina ein Paar Handschellen zu. Sie schaute ihn fragend an. Wann hatte er die denn besorgt? Im selben Einkaufsgang wie der, der ihm die Spritze eingebracht hatte? Was verheimlichte er ihr sonst noch?

Kopfschüttelnd half sie, die Dame festzumachen. Das altersschwache Holz der Bank knarrte unter ihren Bewegungen, hielt aber. Ein Speichelfaden lief der Doktorin aus ihrem hübschen Mund und hinterließ einen kleinen Fleck auf ihrer Bluse.

Ben zog eine weitere Spritze aus der Tasche und injizierte das Medikament in die Halsvene. Dann stellte er sich mit Regina hinter die Bank. Die Sekunden zogen sich wie Minuten bis ihr Opfer die Augen öffnete. Und zu schreien begann.

Regina wollte gerade etwas sagen, da machte Ben eine herrische Geste. Jeder Muskel in seinem Körper war angespannt, er glich einem zum Zerreißen gespannten Bogen. Regina machte einen Schritt zur Seite und spannte die Arme hinter dem Rücken.

Die Schreie gingen weiter.

»Hilfe! Bitte! Hilfe!« Sie konnte zwar kein dänisch. Aber Hilfeschreie erkannte man in jeder Sprache. Die Schreie gingen in einem fort. Bis der Frau die Kraft ausging und sie schluchzte, sich in die Fesseln warf, nur um vor Schmerzen wegen der scharfkantigen Metallfesseln wieder aufzuschreien.

Dann erst trat Ben von hinten an sie heran und beugte sich zu ihr herab.

»Hören Sie auf zu schreien.« Er machte eine Geste auf das Meer hinaus und der Kopf des Opfers ruckte weg von seiner Hand. »Hier draußen hört Sie eh keiner.«

»Was ... was wollen Sie von mir?« Zittriges Englisch.

»Hätten Sie doch einfach das Geld genommen und unsere Fragen auf dem Parkplatz beantwortet.« Er seufzte theatralisch. »Es hätte uns allen eine Menge Arbeit erspart.«

»Bitte! Bitte lassen Sie mich gehen! Ich werde niemandem etwas erzählen.«

Regina fühlte einen Stich in ihrem Herzen, als Ben der Frau die Wange streichelte.

»Ich weiß das, keine Sorge. Wenn ich etwas weiß, dann, dass Sie niemanden etwas erzählen werden.«

Er holte eine Zigarette aus der Hose, setzte sich nun mit auf die Bank und schaute schweigend auf das Meer hinaus. Die Wissenschaftlerin rückte so weit ab von ihm, wie sie konnte.

Ihre Frisur war zerwühlt, die Kleidung verknittert. Regina schüttelte den Kopf. Wollte ihr Unterbewusstsein vor der Situation fliehen, oder warum fielen ihr solche Nebensächlichkeiten gerade jetzt auf?

Ben zog einen Notizblock und einen Stift hervor.

»Gut, dann wollen wir mal. Schließlich wollen wir doch alle bald wieder im Trockenen sitzen.« Ein Druck auf den Kuli. »Nicht wahr?«

Die Wissenschaftlerin schluchzte auf. »Bitte, lassen Sie mich gehen. Bitte!«

»Sie wiederholen sich, Werteste. Also, zu meinen Fragen. Wie kommen wir in den UN-Bunker an der Küste, ohne einen Alarm auszulösen?«

Die Frau versteifte sich. »Ich weiß nicht, wovon Sie reden«, schluchzte sie.

»Bitte. Ersparen Sie uns diesen Scheiß. ›Climate Mending‹. Klimamanipulation. Wir wissen alles.« Er griff ihr grob an den Nacken und drehte ihren Kopf zu sich. Das Opfer schrie auf. Regina spürte eine Träne ihre Wange hinunterlaufen. Sie traute sich nicht, sich zu bewegen. Wollte zu Ben gehen, ihn da wegreißen. Wollte in den Wagen steigen und abhauen. Wollte der Frau zuschreien, sie solle endlich reden. Stattdessen blieb sie einfach stehen.

»Also? Ich wiederhole meine Frage gern für Sie. Wie kommen wir in den Bunker, ohne auf Wachen zu stoßen?«

Die Frau versuchte, den Kopf zu schütteln, doch Bens stahlharter Griff verhinderte es.

»Sie enttäuschen mich.« Mit diesen Worten stand er auf, griff an seinen Stiefel und hatte plötzlich ein Messer in der Hand. Das Mondlicht brach sich auf der blank polierten Klinge des kleinen, aber bösartig glitzernden Klappmessers. Ein neuerlicher Schrei durchbrach das Möwengekreische und das Rauschen der Wellen.

»Ich gebe Ihnen eine letzte Chance, vernünftig zu sein. Danach wird es hässlich. Sehr hässlich.«

Statt einer Antwort warf die Frau sich erneut in die Fesseln, tobte, raste, spuckte. Ein knackendes Geräusch, neuerliche Schreie.

»Ich kann mich nur wiederholen. Sie enttäuschen mich.« Ohne zu zögern zog Ben ihr den linken Stöckelschuh aus und warf ihn die Düne hinunter.

Er seufzte und schaute zu der wimmernden Frau hinauf. »Bitte! Ihre letzte Chance!«

»Aber ich weiß doch gar nichts, ich bin doch nur eine Forscherin!«

»Das glaube ich Ihnen nicht.« Mit diesen Worten packte er ihre Fußgelenke und stach das Messer in den linken großen Zeh, mitten durch den Zehennagel. Ein Dreh, dann splitterte der Knochen. Regina hatte noch nie so einen spitzen Schrei gehört. Sie drehte sich zur Seite und übergab sich.

Hinter ihr ging es weiter, Fragen und Wimmern überschlugen sich, wurden zu einem Sprach- und Schrei-Brei, der alles andere übertönte.

»Das hier kann die ganze Nacht dauern. Außer, Sie beantworten endlich meine Frage!«

»Die Felsentreppe! Die Felsentreppe!«

Regina wagte wieder zu atmen, wischte sich den Mund ab und ging zitternd wieder zur Rückseite der Bank.

Ben nickte ihr zu und ließ die Fußgelenke der Doktorin los, die ihre Beine sofort unter die Bank schob und dabei leise wimmerte. Eine feine Blutspur rann unter der Bank in das immergrüne Gras des dänischen Nordens.

»Also. Es gibt eine Felsentreppe. Über die kommen wir ungesehen in den Bunker?«

»Ja.«

»Keine Kameras und Wachen dort?«

Das Zögern, bevor die Frau mit dem Kopf schüttelte, hatte nur eine Sekunde gedauert, aber selbst Regina hatte es bemerkt. Sie sah, wie Bens Kiefermuskeln hervortraten. Unvermittelt schlug er der Frau so heftig ins Gesicht, dass der Kopf zurückflog und die Lippe aufplatzte.

»Verarschen Sie mich nicht!« Speichel flog bei seinem Schrei. Sein Gesicht hatte sich tiefrot verfärbt und er sprang von der Bank auf, trat mit seinem Fuß immer wieder unter die Parkbank, genau auf die Füße des Opfers. Schreie gellten durch die Nacht.

Regina hielt sich an der Parkbank fest, um nicht umzukippen.

»Nein! Nein! Es gibt eine Kamera! Eine!«

Ben setzte sich wieder hin und wischte sich mit einem Taschentuch Blut vom Stiefel.

»Gut. Mehr nicht?«

Die Frau schüttelte den Kopf so heftig, dass Regina Angst hatte, er würde ihr von den Schultern fallen.

Ihr Adonis schaute sie an. Zuckte mit den Schultern.

Zitternd ging sie zu ihm, beugte sich zu ihm herunter. »Ich glaube ihr.«

Ben schaute sie lange an, dann schüttelte er den Kopf und sah fast enttäuscht aus. »Nein, du willst ihr glauben. Du willst einfach nur, dass das hier vorbei ist. Aber sicher, dass sie uns alles gesagt hat, bist du auch nicht.«

Sie griff ihn am Arm. »Doch, bin ich. Sie hat uns alles gesagt. Bitte, bitte lass uns fahren!«

Ihr Schatz schaute sie wieder nur an, aber sein Gesichtsausdruck sprach Bände. Eine Unendlichkeit später nickte er und drehte sich wieder dem Opfer zu.

»Sie wissen, dass wir wiederkommen, wenn Sie nicht die Wahrheit gesagt haben. Dann war das hier nur ein Vorgeschmack auf die Schmerzen, die sie noch erwarten dürfen.«

»Ich weiß nicht mehr! Bitte glauben Sie mir«, wimmerte sie.

Auch, als er ihr das blutige Messer vors Gesicht hielt, wiederholte sie immer nur ihren letzten Satz. Ben nickte. Dann wischte er das Messer an der Bluse der Wissenschaftlerin ab und steckte es wieder in den Stiefel. Eine weitere Spritze kam zum Vorschein. Adonis riss den Kopf seines Opfers hart nach hinten und stach ohne jede Regung zu, wieder in den Hals. Sekunden später kippte der Kopf nach vorne und ein Blut- und Speichelfluss sickerte langsam die Bluse hinab.

»Sie schläft ein paar Stunden. Los, lass uns.« Als ob das Erklärung genug gewesen wäre, ging er zu ihrem Wagen.

»Wollen wir sie hierlassen? Gefesselt?«

Ben drehte sich zu Regina um und setzte sein süffisantestes Lächeln auf.

»Nein, Schatzi, wir machen sie los, damit sie nach dem Aufwachen direkt zur Polizei stolpern kann. Oder schlimmer noch: Zu ihren Freunden im Bunker, um damit unseren Plan kaputtzumachen!« Er lachte auf und stieg ohne ein weiteres Wort in ihren Wagen, ließ den Motor an und öffnete von innen die Beifahrertür. Ihr Zögern war unmerklich, aber dann setzte sie sich in Bewegung und ließ sich weinend auf dem Sitz nieder. Schatz fuhr mit ihr in die Dunkelheit.

 

Regina schwitzte, rückte immer wieder ihren Rucksack zurecht, der schwer auf ihrem Rücken lastete, konnte dem »Wohlfühl-Campingrucksack« aber keine gemütliche Position entlocken. Die dunkelgrüne Armeejacke klebte ihr mittlerweile am Körper. Lächerliche Klamottenwahl bei zwanzig Grad im Spätwinter, aber wenn sie sich auf der Felsentreppe oder im UN-Bunker mal auf die Nase legte, hatte sie lieber etwas Schweiß als Abschürfungen. Sie konnte nur froh sein, dass ihr derzeitiger Aufenthaltsort etwas Schatten spendete. Mike hockte neben ihr im Schneidersitz, angelehnt an einen mächtigen, alten Baum, hier im nachmittäglichen Wald, gut drei Kilometer vom Bunker entfernt und sah aus, als könne er kein Wässerchen trüben. Er habe seinen Frieden mit der Situation gemacht, hatte er bei seiner Ankunft heute Morgen gesagt. Und tatsächlich wirkte er ruhiger als beim letzten Mal, als sie sich gesehen hatten. Mike war wortkarger geworden. Ob es an seinem inneren Frieden lag oder daran, dass er eingesehen hatte, dass alles nach Bens Willen lief und er ihm einfach folgte, wusste Regina nicht. Für sich selbst hatte sie schon lange eine Entscheidung getroffen: Ben. Alles, was dadurch links und rechts an ihnen vorbeizog, registrierte sie mit fatalistischer Ruhe. Einer Ruhe, die erst Adonis ihr gegeben hatte.

Wind kam kräftig auf und fuhr durch die Bäume. In der Nähe knackte etwas und Regina zuckte zusammen. Dieses Knacken. Der splitternde Zehenknochen ihres Opfers an der Parkbank. Gestern Abend. Oder war es eher heute Morgen gewesen? Welten entfernt. Energisch schüttelte sie den Kopf, versuchte die Gedanken zu vertreiben. Es hatte sein müssen. Wie hätten sie sonst all das hier so schnell auf die Beine stellen sollen? Sie hätten noch ewig observieren können, ohne Erfolg zu haben. Langsam ließ sie die Hand über den Boden gleiten, spürte Laub, Nadeln und Erde und fühlte sich bestätigt. Wegen der Natur tat sie all das. Selbst Dinge, die eigentlich nicht in ihr Wertesystem passten. Ihr früheres Wertesystem. Denn Ben hatte es verändert, hatte die Natur über alles gestellt. Der kleine, verletzliche Mensch musste sehen, wo er in der Rangfolge blieb. Und da die Natur selbst dafür nicht sorgen konnte, mussten sie es tun. Auch wenn dafür ein einzelner Mensch leiden musste. Auf Dauer war es für alle besser, wenn die Menschheit wieder zur Räson kam, Natur wie Menschen. Okay, und sie tat es für Ben.

Der dänische Aktivist hatte Wort gehalten und auf die Schnelle eine offizielle Greenpeace-Demo zusammengetrommelt, die gerade laut skandierend auf das Haupttor zuhielt. Die drei Kilometer waren nah, aber doch so fern, dass sie hier nichts hören konnten. Sie konnten den Demonstranten nur die Daumen drücken. Aber so gefährlich war es ja auch nicht. Vielleicht tickten ein paar Wachleute etwas aus und bedienten sich ihrer Fäuste. Aber das war eher unwahrscheinlich, da Greenpeace es geschafft hatte, ein Fernsehteam des Lokalsenders für ihre Demo zu interessieren. Und live im TV wollte niemand Fäuste fliegen sehen.

 

Ben beendete seine Ausführungen, wie sie in den Bunker reinkommen wollten und Mike nickte. Regina ertappte sich dabei, dass sie kein Wort mitbekommen hatte. Und nickte dennoch. Ben schaute sie kurz an und ein Lächeln stahl sich auf sein Gesicht, durchdrang seine Anspannung, die sich durch deutlich hervortretende Kiefermuskeln zeigte. Regina wurde warm ums Herz. 

»Also, meine Lieben, dann lasst uns.« Mit diesen Worten stand er auf, schnappte sich nun auch seinen Rucksack und half Regina, die Gurte nochmals festzuzurren. Bequemer wurde es dadurch nicht. Aber jemand musste die gut tausend Flugblätter ja mitnehmen, die sie im Bunker verstreuen wollten. Es sollte eine klare Warnung sein. Wenn wir wollten, hätten wir den ganzen Laden in die Luft fliegen lassen können. Also hört auf mit dem Mist, sonst machen wir beim nächsten Mal ernst und ihr dürft die Einzelteile des Bunkers vom Boden aufkehren. Gut, ein paar Sachen kaputtmachen wollten sie auch. Ein Komplex dieser Größe würde mit einer zentralen Serveranlage arbeiten. Dort einen – kleinen – Sprengsatz deponieren und es würde die Forschungen weit zurückwerfen. Solange niemand dabei körperlich zu Schaden kam, war es für Regina in Ordnung. Heute Nacht hatten sie genug Schmerzen verursacht. Sollten diese Spinner von der UN doch merken, dass man nicht ungestraft das Klima manipulieren konnte. Und Mike sollte dabei alles mit seinem Camcorder filmen. Ins Netz gestellt würde das die Öffentlichkeit über die Machenschaften der UN aufklären und sie gleichzeitig der Lächerlichkeit preisgeben. Ein paar Zivilisten stolzierten in ihrem hochgeheimen Forschungstrakt herum. Regina konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen.

 

Sie liefen los. Erst langsam, um sich an den unebenen Waldboden zu gewöhnen – verstauchte Knöchel waren jetzt das Letzte, was sie brauchten – dann nahmen sie Tempo auf. Drei Kilometer zu Fuß wollten auch erst mal bewältigt werden.

Sogar Mike bemühte sich, mitzuhalten, auch wenn der Öko schon bei ihren früheren »Unternehmungen« immer zu den Langsamsten gehört hatte.

Nach einiger Zeit lichtete sich der Wald, sie kamen dem Rand näher und das Meeresrauschen wurde lauter. In wenigen hundert Metern müsste nach ihrer Karte der Waldboden abrupt aufhören und in eine zwanzig Meter senkrecht abfallende Steilküste übergehen, die mehr an Cornwall als an Dänemark erinnerte. Regina konnte das Ziel bereits vor sich sehen, als Ben plötzlich die Hand hob. Sie gingen neben ihm in die Knie.

 

»Ist was?« Sie bemühte sich, leise zu sprechen.

Ben schüttelte den Kopf und ließ sich Reginas Handy geben, wählte sich ins Netz ein und blendete auf dem kleinen Bildschirm die Live-Übertragung des Lokalsenders ein.

»Will nur sichergehen, dass die Ablenkung funktioniert.«

Mike trat von hinten an sie heran und stützte sich auf ihren Schultern ab, um auch einen Blick auf das Display zu werfen. Regina keuchte.

»Hey, ich würde gerne noch etwas atmen können!«

Mike lachte kurz auf, trollte sich dann aber.

Und wie ihre Ablenkung funktionierte! Auf dem Bildschirm sah man eine Kette von gut fünfzig Demonstranten, die vor einem Pförtnerhäuschen samt Schranke standen und auf Dänisch irgendwelche Parolen riefen. Dazu selbstgemalte Schilder und Tee in Thermoskannen. Greenpeace live. Etwa zwanzig Wächter in dunkelblauen Uniformen hatten sich vor der Schranke postiert und hielten Maschinenpistolen in Händen. Vielleicht lag es an der körnigen Auflösung des Displays, aber Regina hätte schwören können, dass einige der Wachposten nervös von einem Bein aufs andere wechselten. Sah nicht allzu sattelfest aus. Dass ihr kleines Projekt nicht mehr wirklich geheim war, musste ihnen einen Riesenschreck eingejagt haben. Wartet ab, das dicke Ende kommt doch erst noch! 

Ben warf ihr das Handy zurück und gab das Zeichen. Sie liefen wieder los, eine starke Brise trug den salzigen Duft des Meeres zu ihnen und kurz darauf ging es keine drei Meter vor ihnen in die Tiefe. Regina schluckte. Zwanzig Meter konnten verdammt hoch aussehen. Mike hob den Arm und zeigte nach rechts. Und richtig, endlich sahen sie den Bunker mal nicht nur aus großer Entfernung vom Meer aus. Er war nur wenige hundert Meter entfernt und saß wie eine hässliche Eiterbeule auf einer felsigen Landzunge, die gut fünfundzwanzig Meter über dem Strand lag und diesen zerteilte. Unten konnten sie die Einfahrten für die U-Boote erkennen, die im Krieg hier hätten Station machen sollen, wenn die Anlage rechtzeitig fertig geworden wäre. Die Nazis mussten die ganze, steinerne Felszunge ausgehöhlt haben. Regina schluckte erneut. Dann musste die Anlage im Inneren riesig sein. Hoffentlich hatten sie sich da mal nicht überhoben. Aber es war zu spät. Eine Bewegung zu ihrer Linken riss sie aus ihren Beobachtungen. Ben beugte sich gerade über seinen Rucksack, holte die drei Kletterseile und Haken heraus, verteilte die Bergsteigerpickel und machte sich schon daran, die ersten drei Haken in den Fels zu treiben. Die Schläge hallten weit hinaus und auch Mike machte ein alles andere als selbstbewusstes Gesicht. Musste das so laut sein? Aber Ben hielt erst inne, als drei stählerne Haken wie sich windende Würmer aus dem Gestein heraus schauten.

»Okay, alles wie besprochen. Mike, du gehst zuerst und sicherst unten. Dann Reggi, dann ich.«

Der Öko nickte, packte sich mit bleichem Gesichtsausdruck eines der Seile und führte es in die Vorrichtung seines Klettergeschirrs ein. Dann stellte er sich mit dem Rücken zum Abgrund und ließ sich langsam herab. Regina zwang sich, Mike zuzuzwinkern. Eine merkwürdige Aktion für Großstadtkinder, die sie da gerade durchführten.

Nach ein paar Minuten kam ein Pfiff von unten. Nur einer. Also alles klar.

Regina nahm sich ihr Seil und Ben half ihr, es an ihren Rucksackgurten festzumachen. Sie hatten auf die Schnelle nur ein Klettergeschirr beschaffen können. Und das hatte Mike. Soviel zu »Ladies first«.

Regina stellte sich vor den Abgrund, drehte sich um.

»Nicht runter schauen«, feixte Ben und grinste.

Regina lächelte zurück, auch wenn es ihr schwerfiel. Dann ließ sie das Seil langsam kommen und »lief« rückwärts die Felswand herab. Das Tempo kam ihr lächerlich langsam vor, wenn man es mit entsprechenden Actionfilmen verglich. Aber sie war nicht Stallone und die zwanzig Meter waren real, ganz ohne Netz. Die Gurte des Rucksacks schnitten in ihre Schultern und sie bemühte sich, den Schmerz wegzuatmen. Schritt für Schritt ließ sie sich herunter. Dann trat sie auf Sand. War das schön, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben.

Im Vergleich zu Mike und ihr machte Ben beinahe einen Dauerlauf aus seinem Abseilen und stand in Rekordzeit unten. Seine Muskeln pumpten unter dem hautengen, dunklen Overall, der dem eines Technikers nicht unähnlich sah. Gut, falls sie entdeckt wurden und ein paar Sekunden Täuschungsmanöver zum Abhauen brauchten. Regina konnte ihren Blick fast nicht von dem Spiel seiner Muskeln abwenden. Ben merkte es, ging zu ihr, nahm sie in den Arm und küsste sie zärtlich auf die Stirn.

»Können wir dann?«, nörgelte Mike etwas genervt.

Ben schenkte ihm den Blick des Todes, sagte aber kein Wort, sondern ging stattdessen zügigen Schrittes voran, den Strand hinunter. Die Felszunge vor ihnen wurde immer größer und nun wurde auch die Steintreppe sichtbar, von der ihre unfreiwillige Informantin gesprochen hatte. Da sollten sie hoch? Verwitterte Überreste einer offensichtlich nie ganz fertig gebauten Betontreppe führten im Zickzack den Fels hinauf. Einzelne Teile eines verrosteten Geländers lagen auf dem Sandstrand und die wenigen bereits sichtbaren Stufen glichen einem Schweizer Käse.

»Bitte was?«, entfuhr es Mike und er sprach damit aus, was auch Regina dachte.

Aber Ben schüttelte herrisch den Kopf.

»Kein Problem, mit sowas mussten wir rechnen. Außerdem hatte ich eh nicht vor, die Treppe zu nehmen.«

»Ach nein?« Regina runzelte die Stirn.

»Nein, Schatzilein. Oder willst du direkt in den Aufnahmebereich der Kamera laufen?«

»Wo?«, fragte Mike und Ben zeigte nach oben. In luftiger Höhe hob sich eine Tür mattgrau vom braunen Gestein ab.

»Kannst du da eine Kamera erkennen?«, fragte Mike und Regina schüttelte den Kopf.

Ben seufzte, griff in seinen Rucksack und holte ein Fernglas heraus. Er schaute hindurch und nickte dann.

»Doch, da ist eine. Direkt über der Tür. Der einzige Euro, den sie hier an der Flanke offensichtlich investiert haben. Rechnen wohl nicht damit, dass jemand diesen Weg nehmen könnte und setzen daher auf passive Sicherheit.«

»Soll uns nur recht sein.« Regina klang forscher als sie sich fühlte.

»Das ist mein Mädchen.« Ben knuffte sie in die Seite.

»Also«, fuhr er fort, »ich kletter links von der Treppe die Felswand hoch, schalte oben die Kamera aus und gebe euch dann ein Zeichen. Bis dahin könnt ihr die halbe Treppe schon mal hochgehen. Dort müsstet ihr euch im toten Winkel befinden und wir wollen ja keine Zeit verlieren.« Er zeigte zu einer Stelle der Treppe, an der wildes Gestrüpp vom Beton Besitz ergriffen hatte. »Dort wartet ihr, bis ich das Zeichen gebe. Dann bitte den Rest zügig hoch, damit wir die Kamera schnell wieder anklemmen können.«

Das war ihre Schwachstelle. Wenn jemand in diesem Zeitfenster von gut fünf Minuten – zehn Minuten, korrigierte Regina, als sie die Treppe nochmals ansah – auf den Monitor der Kamera sah, bevor sie sie wieder aktivieren konnten, waren sie am Arsch. Aber auf die Schnelle eine Überbrückung basteln, war nicht drin. Von passendem Werkzeug ganz zu schweigen.

»Ich geb euch dann das Zeichen«, sagte Ben noch, und ohne eine Erwiderung abzuwarten, rannte er über den Sandstrand die gut hundert Meter zur linken Seite der Treppe.

Mike schüttelte den Kopf, öffnete den Mund und schloss ihn dann schnell wieder, bevor er sich auch in Bewegung setzte. Regina stimmte ihm stumm zu. Wenn Ben einmal die Hummeln im Hintern hatte, konnte ihn nichts mehr stoppen.

Adonis ließ den von grünlichen Algen überzogenen Sand nur so zur Seite spritzen, als er zur Treppe lief. Mike und Regina folgten und gingen dann langsamen Schrittes den bröckeligen Beton hoch. Immer wieder mussten sie Halt machen und auf allen vieren die Stufen vor sich abtasten. Die salzige Gischt, Regen und Zeit waren dem »Bauwerk« nicht gut bekommen. Überall klafften Risse in den Stufen, manche fehlten ganz. Regina kroch vor, Mike folgte in Handreichweite. Der Rucksack wog in diesen Momenten noch schwerer. Scheiß Flugblätter! 

Regina drückte sich gerade eng an die Wand und setzte vorsichtig einen Fuß auf eine braun angelaufene Stelle der Betonstufe vor ihr, als Mike plötzlich aufschrie, gefolgt von einem Krachen. Wie in Zeitlupe drehte sie sich um und sah ihren Kumpel an dem rostigen Überrest einer Geländerstrebe hängen. Mit einer Hand. Die andere suchte verzweifelt Halt am bröckeligen Beton, riss aber immer nur weitere verrottete Masse daraus hervor, anstatt Sicherheit zu finden.

»Hilf mir hoch!«, schrie er.

Sie warf sich hin und griff nach seiner freien Hand. Er rutschte weiter ab, seine Finger glitten an ihren vorbei. Die Augen weit aufgerissen sah Mike zu ihr hoch. Regina rutschte so weit sie konnte auf der Stufe vorwärts, griff über den Abgrund und packte Ökos Rucksack. Sein Pendeln hörte abrupt auf, die Anstrengung ließ ihre Muskeln zittern.

»Zieh dich hoch«, keuchte Regina.

Mike nickte panisch, schaffte es mit der freien Hand, Halt an ihrem Rucksack zu finden und zog sich hoch. Manchmal hatte ihr Übergewicht auch gute Seiten. Sie konnte jederzeit einen Nebenjob als Haltepfosten finden. Schwer atmend sank Mike auf die Treppe, drehte sich dann abrupt zur Seite und entleerte geräuschvoll seinen Magen. Regina half ihm hoch und Mike wischte sich den Mund ab.

»Danke.« Sein Atem stank säuerlich und Regina brachte nur ein knappes Lächeln zustande, dann drehte sie sich um und kletterte die Stufen weiter empor, noch vorsichtiger und langsamer als zuvor. Ihre Schulter brannte wie Feuer und das Gewicht des Rucksacks hatte sich vervielfacht.

Da kam ein lautes »Bescheid!« von oben. Regina seufzte. Wer hatte hier den schwereren Job abbekommen?

 

Schwer keuchend stützte Regina sich an der alten Metalltür ab, während Ben sich grinsend über das Geländer schwang und neben ihr zum Stehen kam. Mike nickte zum Seil, das Ben genutzt hatte, um zur Kamera zu kommen, die derzeit ohne Verbindungskabel war.

»Willst du das Seil nicht abmachen?«

Ben schüttelte den Kopf. »Keine Chance, ich musste zu viele Bolzen in die Wand kloppen, um halbwegs Halt zu haben. Das kriege ich nicht wieder heraus. Jedenfalls nicht in einer vernünftigen Zeit. Und außerdem ... kümmere du dich lieber endlich um das Schloss!«

Regina sah, dass Mike deutlich schluckte, sich dann aber ruckartig abwandte und am Schloss der Tür zu schaffen machte. Das war eines seiner Spezialgebiete. Schon bei ihren Aktionen im Ruhrgebiet war er es gewesen, der seine spezielle »Magie« an den Schlössern gewirkt hatte. Da hatte er ein echtes Händchen für. Die vom Beton rissigen Hände des Ökos holten ein Dietrichset heraus und machten sich am Schloss zu schaffen. Die Sekunden verstrichen. Eine salzige Brise mit einer Spur verrottender Algen strich vom Meer zu ihnen hoch. Hier in der luftigen Höhe hatten sie einen tollen Ausblick über das Meer, das grünlich-blau unter ihnen schimmerte. Hinter ihr klickte es, was Regina aus ihren Beobachtungen riss.

»Wir können«, verkündete Mike überflüssigerweise und Ben stieg behände auf das Geländer. Mike und Regina gingen zügigen Schrittes über die Schwelle, dann steckte Ben das Kabel wieder ein, sprang hinter ihnen her und schloss die Tür.

Sie hielten kurz inne, um zu hören, ob ein Alarm ausgelöst worden war. Offensichtlich war der kurze »Ausfall« der Kamera nicht entdeckt worden. Regina atmete als erste laut aus.

»Okay, nun zum schwierigen Teil.« Ben nickte und ging voran.

Erst jetzt sah Regina sich um. Der Raum war klein und die Decke niedrig. Rissiger, alter Beton bildete die Begrenzungen, und vom zentimeterdicken Staub auf dem Boden abgesehen, war der Raum leer. Ben hatte den Eingang auf der anderen Seite erreicht und spähte vorsichtig um die Ecke.

»Alles frei.« Dann ging er voran.

Der Flur zog sich. Grauer Beton, Risse in Wänden und Boden, ein Geruch von Öl und Salz in der Luft. Alle paar Meter führten türlose Durchgänge in andere, ungenutzte Räume. Nur den wenigen, rot leuchtenden Notlichtern hatten sie es zu verdanken, dass sie die Taschenlampen nicht benötigten. Das Rotlicht tauchte den Gang in eine düstere Atmosphäre und Regina konnte förmlich die zusammenschlagenden Hacken der alten Soldaten hören.

Sie schüttelte den Kopf und beeilte sich, zu Ben aufzuschließen, der den nächsten Gang inspizierte.

»Wieder nichts.« Man sah seine Kiefermuskeln deutlich hervortreten. »Wo zum Geier geht es zum genutzten Bereich der Anlage? Ewig wird die Demo die Wachen vorne nicht beschäftigen!«

Regina schluckte und streichelte ihrem Adonis über den Rücken.

Dann schaute sie sich um.

»Dort.« Sie zeigte auf einen Plan, der an einer Gangkreuzung an die Wand gemalt war. Ein verwitterter, ehemals weißer Pfeil zeigte einen weiteren Gang hinunter und war mit »Kern« überschrieben.

»Wenn ich diese Anlage wieder zum Laufen gebracht hätte, dann hätte ich im ehemaligen Kern angefangen. Dort befinden sich die besten Kabelschächte für moderne Gerätschaften und sicherlich auch die breitesten Zugänge, um Material hineinzuschaffen«, pflichtete ihr Mike bei und schaffte es sogar, ein unsicheres Lächeln auf sein Gesicht zu zaubern.

»Gut gemacht, meine Lieben!« Ben klopfte ihnen anerkennend auf die Schulter und ging dann wieder rasch voran.

 

Sie waren richtig. Die Notbeleuchtung war hellen, modernen Wandlampen gewichen, die Durchgänge mit Türen versehen und vereinzelt waren dumpfe Laute zu vernehmen. Das dicke Mauerwerk schluckte fast jedes Geräusch, jederzeit konnte sich eine Tür öffnen und eine Wache erscheinen, ohne dass sie sie vorher hätten bemerken können. Regina strich sich nervös durch die Haare.

Ben eilte den Gang hinunter, ließ nun die zahllosen Türen links und rechts liegen, folgte unbeirrbar wie ein Falter einer Lampe den Richtungshinweisen zum Kern. Mike und Regina hatten Mühe, Schritt zu halten.

Dann blieb er endlich stehen. Eine massive Stahltür samt modernem Nummernschloss.

»Mike!«

Öko zog einen Handcomputer aus dem Rucksack, entfernte die Abdeckung des Nummernpads und begann, Drähte zu verbinden.

»Dauert zwei Minuten.«

Regina schaute sich hektisch in alle Richtungen um. Die Sekunden dehnten sich. Dann wurde das rote Lämpchen auf der Tastatur grün und Mike zog vorsichtig die schwere Tür auf. Ben huschte natürlich als erster hindurch. Er war nicht mehr zu halten.

Regina folgte und ihre Augen hatten Probleme, sich an das plötzlich taghelle Umfeld zu gewöhnen. Sie waren in einer großen Halle angekommen, die Decke war gut zwanzig, fünfundzwanzig Meter über ihnen, frischer Beton hob sich hellweiß vom alten, vergilbten Boden dort ab, wo wohl früher ein nun zugeschüttetes Becken für U-Boote gewesen war. Der zentrale Innenhafen. Eine logische Wahl für das Laboratorium. Die höchste Decke, die dicksten Wände, der meiste Platz. Gut ein Dutzend große Strahler tauchten die Halle in gleißende Helligkeit.

Ben huschte um die Ecke und drückte sich hinter einige Holzkisten, die an der Wand hochgestapelt waren. Regina fühlte sich in einen der Indiana-Jones-Filme versetzt, so unwirklich kam ihr alles vor. Dann war sie auch schon bei ihm, hinter ihr der schwer atmende Mike.

Englisch in diversen Akzenten war zu hören, Schritte auf der metallenen Balustrade über ihnen, Gesprächsfetzen drangen von unten herauf. Regina spähte über Mike hinweg und sah, dass sie ziemlich am linken Ende der länglichen Halle herausgekommen waren. Auf der gegenüberliegenden Seite führten weitere Schotts tiefer in den Bunker hinein. Hoffentlich kam dort jetzt keiner heraus!

Weiter hinten war ein riesiges Labor hinter Glasfronten eingerichtet, armdicke Stromleitungen fielen von der Decke herunter in den Raum und auch eine Art Aufzug mit einer großen Plattform stand dort, samt Schott in der Decke. Offensichtlich der Hauptaufzug für schwere Lasten, die oben angeliefert wurden. Was zum Geier hatten diese UN-Spinner vor? Auf der Plattform stand eine mannshohe Apparatur mit Flügeln an der Seite. Eine Rakete? Menschen mit weißen Kitteln arbeiteten gerade daran. Regina hätte gerne mehr gesehen, aber es lag am ganz anderen Ende der langen Halle und sie traute sich nicht, sich weiter herauszulehnen.

Zwischen ihnen und der Glasfront des Laboratoriums lagen gut und gerne achtzig Meter. Der Raum dazwischen war vollgestellt mit diversen Kisten, schweren Gerätschaften wie Gabelstaplern und einigen Bänken und Tischen. Eine kleine Kaffeeküche war an eine der Wände gerückt worden. Offensichtlich konzentrierte sich in diesem Raum die eigentliche Forschungsarbeit.

 

»Serverraum?«, flüsterte Ben und Regina schüttelte den Kopf. Ihr Lover unterdrückte sichtlich einen Fluch und spähte selbst um die Kisten herum. Plötzlich zuckte er zurück und nur Sekunden später gingen zwei Frauen in grünen Kitteln an ihnen vorbei, beide mit Datenpads in den Händen.

»Die Auswertung ist nicht schlüssig«, zischte die Linke in russisch angehauchtem Englisch.

Die andere nickte. »Entschuldigen Sie, Frau Obskaja. Ich lasse die Programmroutine überprüfen.«

»Aber beeilen Sie sich!«

Die Angesprochene nickte und drehte sich zackig um, eilte dann zur anderen Seite der Halle, um durch eine unscheinbare Tür zu verschwinden, während ihre Vorgesetzte zur Kaffeeküche hinüber schlenderte.

Ohne Vorwarnung schlich Ben sich aus ihrer Deckung und verschwand hinter einem weiteren Kistenturm. Mike seufzte und er und Regina folgten ihm. Was sollten sie auch tun?

 

Frauenbeine, die durch eine Tür verschwanden. Das Summen von elektrischen Anlagen. Fetzen eines Gesprächs über »Daten verifizieren«, die gerade noch so zu ihnen drangen, bevor die Tür schwer hinter dem Grünkittel zufiel.

Ben drückte sich an die Wand und lugte durch das kleine Glasfenster im oberen Teil der Tür.

Dann schlich sich ein Grinsen auf sein Gesicht.

»Datenstationen! Und es führen dicke Datenkabel an der Wand lang.« Er machte eine künstlerische Pause, dann wies er den Gang hinunter, auf die Tür, die direkt hinter der jetzigen lag. »Dort muss der Serverraum sein, da gehen die Kabel hin!«

Sie schlichen weiter, Mike wollte durch das Fenster dieser Tür schauen, aber Ben stieß ihn so fest zur Seite, dass er gegen die Wand prallte und blickte selbst hindurch, dann reckte er den Daumen in die Höhe.

»Bingo!«

Mike rieb sich die Schulter. »Vergiss nicht, dass wir das hier zusammen durchziehen!« Der Ärger in seiner Stimme war deutlich zu hören.

Der Angesprochene wirbelte herum und Regina erschrak beim Anblick seines wutverzerrten Gesichts.

»Streiten können wir nachher! Jetzt mach dich an deine scheiß Arbeit!«, presste Ben hervor.

Mike zögerte einen Moment, Ben ballte die Fäuste, dann seufzte der Öko, nahm wieder sein Datenpad und machte sich am Nummernschloss der Tür zu schaffen. Und hielt inne. »Wenn das hier vorbei ist, bin ich raus, Ben!« und zog die Verschalung vom Schloss.

Keine Regung bei Ben, dann ein abruptes Nicken. »Gut, wir kommen auch ohne dich klar.« Regina wollte etwas sagen, die Streiterei beenden, aber da ging die Tür auch schon auf, Ben stieß Mike beiseite und eilte in den Raum. Mike fiel der Länge nach hin. Regina half ihm hoch, klopfte den Staub von seiner Kleidung.
»Es tut mir leid«, flüsterte sie.

Mike schaute ihr tief in die Augen, nahm seinen Rucksack ab und stellte ihn an die Wand.

»Hier ist alles drin, was ihr braucht. Wir haben den Serverraum gefunden, jetzt braucht der Maestro mich ja nicht mehr.« Dann drehte er sich um und wollte gehen, aber Regina zog ihn am Pullover.

»Nicht, Mike! Wir brauchen dich!«

Mike drehte sich nicht um, ließ den Kopf sinken und eine Sekunde später verfärbte sich ein einzelner Punkt auf dem Boden dunkel.

»Nein, tut ihr nicht.« Dann riss er sich los und schlich den Gang wieder zurück.

Regina zögerte, wollte ihm nachgehen, da lugte Ben aus der Tür heraus.

»Jetzt komm endlich, wir haben hier nicht Ewigkeiten Zeit!«

Regina schaute ihn wütend an.

»Gut. Aber wenn das hier alles vorbei ist, müssen wir über deinen Umgang mit Freunden reden. Und glaub ja nicht, dass ich das hier auf sich beruhen lasse, Schatz!«

Ben schaute sie etwas ungläubig an, dann nickte er, ging auf sie zu und drückte ihr einen Kuss auf die Wange.

»Ist in Ordnung, Maus, machen wir.« Er schaute ihr in die Augen. »Jetzt komm!«

Und sie folgte ihm in den Serverraum.

 

*

 

Das Telefonat mit seiner Mutter war erfreulich kurz gewesen. Natürlich war sie nicht damit einverstanden gewesen, dass er so lange zu einem Auslandsforschungseinsatz ging, aber wenigstens war er dabei die Karriereleiter hochgestiegen und damit konnten Mütter ja meist gut leben, so auch seine. Sebastian schüttelte den Kopf. Nur mit dem Versprechen, ihr nach der wochenlangen Funkstille wenigstens jede Woche eine E-Mail zu schreiben, hatte er das Gespräch kurz halten können. Aber ein zumindest kleines schlechtes Gewissen hatte ihn ja schon gedrückt und er wollte ohne die störenden Hintergedanken in das Experiment gehen. Er stand vom Laptop in seiner kleinen Schlafstatt auf und drückte auf den Senden-Knopf. Damit war auch seine Schwester auf dem aktuellen Stand und er zufrieden. Er stellte sich vor den Spiegel. Der Kittel stand ihm, gab ihm eine Aura der wissenschaftlichen Unfehlbarkeit. Sebastian strich sich durch die Haare und machte sich daran, seine kleine Wohnung zu verlassen.

Der Betonboden des Bunkergangs flog nur so unter ihm daher, als er mit großen Schritten in Richtung des Zentralraums ging. Grüppchen anderer Bunkerbewohner standen herum. Sie tuschelten untereinander und schauten zu ihm. Alle wussten, dass heute sein großer Tag war. Als Experimentleiter war er mittlerweile wer, wenn auch nur hier in der Forscherkommune. Ob man nach Gelingen des Experiments »draußen« seinen Namen veröffentlichen würde? Er verscheuchte den Gedanken und drückte sich die Fingernägel so fest in die Handinnenfläche, dass es schmerzte. Erst mal mussten sie Erfolg haben.

Jennings aus der Pflanzenzucht löste sich aus seiner Diskussionsrunde am Eingang zur Messe und ging ein paar Schritte mit Sebastian. Aus der Messe drangen laute Gesprächsfetzen. Der halbe Bunker hatte sich dort vor dem aufgebauten Bildschirm versammelt, um das Experiment zu beobachten. Sein Experiment.

»Und, schon nervös, Born?« lachte der bullige Ire und klopfte Sebastian kräftig auf die Schulter.

Sebastian quälte ein Lächeln auf sein Gesicht. »Merkt man mir das etwa so deutlich an, mein Bester?«

Der Forscher bemühte sich um einen ernsten Gesichtsausdruck und schüttelte den Kopf, konnte sich dann aber ein Lächeln nicht verkneifen.

»Nein, überhaupt nicht! Mal ehrlich, sie sehen aus, als ob der Leibhaftige persönlich über das Experiment wachen würde.«

Sebastian nickte. »Ja, so fühle ich mich auch.« Er schaute ernst zu dem Iren herüber, während sie den Gang weiter entlang liefen. Das Schott zum Zentralraum kam in Sicht. »Es muss funktionieren, Mann! Es muss einfach.«

Der Mann hielt ihn an der Schulter fest und drehte ihn zu sich. Sebastian fielen die vielen Furchen im Gesicht des Mittvierzigers auf, mehr, als man für sein Alter gewöhnlich hatte. Obwohl, bei ihm konnten diese nur von seinen ständigen Lachern kommen, mit denen er etwas Leben in die Bunkergemeinschaft brachte. Zusammen mit den schweinischen Witzen von Izniv.

»Wir glauben an Sie, Born. Sie werden Erfolg haben, da bin ich mir absolut sicher. Da sind wir uns sicher.«

Sebastian nickte ihm dankbar zu. Ihre Wege trennten sich. Der Ire ging zurück zu seiner Gruppe. Sebastian schnappte noch das beginnende Gespräch auf. »Schade, dass sich Hanning krank abgemeldet hat. Da wird sie von Griesinger noch Stress kriegen, habe gehört, sie hat nur eine E-Mail geschickt und geht auch nicht ans Telefon ...«

Er konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Nein, so etwas mochte Melanie gar nicht.

Er öffnete das Schott und trat in die immer noch beeindruckend große Haupthalle. Überall standen neue Kisten herum, es war mittlerweile ein echtes Labyrinth. Aber der Deckenaufzug prädestinierte diese Location einfach dafür, als Lager genutzt zu werden, auch wenn es ursprünglich anders gedacht gewesen war. Er ging an einer Reihe Holzkisten mit der Aufschrift »Saat« vorbei – sicherlich für die Pflanzenforschung, die auch ein paar sehr Erfolg versprechende Ansätze zur Klimakontrolle hatte –, steuerte auf die Glasfront des Labors zu und fuhr mit dem Aufzug nach oben. Fast alle waren schon da. Di Matteo, Heiderlein und Izniv legten gerade noch einmal Hand an die kühlschrankgroße Drohne, die silberfarben auf der Aufzugplattform im Vorraum glänzte. Der kleine Russe versank fast in seinem weißen Kittel, während er mit einem Handheld-Computer letzte Daten an die Steuereinheit überspielte. Di Matteo ging Hungerhaken zur Hand, die über eine Fülleinrichtung an der Seite die Bakterienflüssigkeit in das Innere der Drohne pumpte. Parallel verputzte er einen Schokoriegel. Wahrscheinlich der Nervosität geschuldet. Sebastian lächelte. Er hätte kein besseres Team erwischen können.

Sebastian legte seine Hand auf den Scanner, und die Tür zum Laborvorraum, in dem der Aufzug mitsamt Drohne stand, öffnete sich. Die Anwesenden drehten sich ihm zu und grüßten, bevor sie sich wieder an ihre Arbeit machten. So war es richtig, Konzentration war jetzt das Wichtigste, es durfte nichts schiefgehen. Wochenlang hatten sie die Bakterien gezüchtet, mitsamt Ingenieuren anderer Fachbereiche die eigentlich für militärische Zwecke gedachte Drohne umgerüstet und mehr als eine schlaflose Nacht über den Berechnungen der perfekten Flugbahn zugebracht.

Die Drohne glänzte im Licht der Deckenscheinwerfer. Sebastian hatte die eigentlich mattschwarze Oberfläche silber lackieren lassen. In schwarz hatte sie sehr nach ihrer eigentlichen, militärischen Bestimmung ausgesehen. Giftgasangriffe aus der Luft, erdacht für die Eroberung schwer zugänglicher Bereiche, wie den Hochebenen Afghanistans. Ja, auch die Amis waren mittlerweile an Bord und erst ihre Ausrüstung hatte einiges hier möglich gemacht, was sonst noch Monate gedauert hätte. Die Drohne sah aus der Nähe aus wie ein runder, großer Kühlschrank mit ihrer nahtlosen Oberfläche und dem Silberlack. Nur die beiden Flügel an der Seite und der Raketenantrieb am Boden störten das Bild. Sebastian strich ehrfurchtsvoll über das Metall und spürte dessen Kälte, ging mit den Händen jede Riffelung der Triebwerke entlang. Erst einmal in der Atmosphäre angekommen, sollten durch Düsen an den Flügeln die Bakterien versprüht werden. Sie hatten sich aus Zeitgründen entschieden, den Test direkt hier über der dänischen Küste durchzuführen. Es war auch noch ein kleiner Behälter mit einer lila Flüssigkeit mit an Bord, der Sebastian besonders wichtig war. Ein Schauer lief ihm über den Rücken und er verschränkte die Hände hinter dem Rücken. Er hoffte, dass er nie auf den Knopf drücken musste, der das Gegenmittel austreten und die bereits ausgesprühten Bakterien vernichten würde. Aber er hatte gegenüber den Bedenkenträgern darauf bestanden, auch ein Gegenmittel herzustellen, auch wenn es sie eine weitere Woche und Ladekapazität an Bord der Drohne gekostet hatte. Nur vorbereitete Menschen kommen ins Ziel. 

Di Matteo nickte ihm zu.

»Wir sind so weit, von uns aus kann es losgehen.«

Sebastian holte tief Luft, schmeckte die metallisch-sterile Atmosphäre des Büros, und ging mit den anderen Forschern durch die Schleuse in das eigentliche Labor. Als er sich umdrehte, um das Schott hinter ihnen zu verschließen, sah er zwei Technikerinnen am anderen Ende der Halle, die miteinander sprachen. Eine der Grünkittel verschwand anschließend in einem der vielen Schotts an der Seite der Haupthalle. Er war den Technikern sehr dankbar, sie hatten unglaublich viel in der kurzen Zeit geleistet, seit das Experiment in die heiße Phase gegangen war. Sebastian nahm sich vor, der technischen Abteilung eine Kleinigkeit zukommen zu lassen. Man musste die Apparatur ölen, damit sie lief.

Die Techniker hatten einige andere Versuchsanordnungen für heute entfernen lassen und dafür das Steuerboard in Sebastians Labor aufgebaut. Das Board war State-of-the-Art. Drei miteinander vernetzte High-Tech-Rechner und ein großer Zusatzmonitor in der Mitte, so dass alle sehen konnten, wie der Versuch lief. Die Techniker waren sogar so freundlich gewesen, auf einem Nebentisch einen Bildschirm zu platzieren, der eine Kameraansicht der Messe zeigte, wo sich mittlerweile fast der ganze Bunker zusammenquetschte, um einen Blick auf den großen, ebenfalls neuen, Wandbildschirm zu erhaschen, auf dem ihr Experiment live übertragen wurde. Der Küchenchef hatte zwar protestiert, aber die Wissenschaftler hatten ihn überstimmt. Die Messe war einfach der beste Ort, um sich das Schauspiel gemeinsam anzuschauen. Mit der Kamera hatten die Grünkittel wirklich an alles gedacht, sie würden die Kollegen sogar jubeln sehen können. Oder ihre Bestürzung mit ansehen müssen. Sebastian schüttelte den Kopf und ballte die Fäuste so fest, dass es schmerzte. Keine negativen Gedanken. Nicht heute! 

Er nahm am Metalltisch Platz und zog seine Tastatur zu sich heran, der Italiener setzte sich zu seiner Linken, Heiderlein zu seiner Rechten und ausgerechnet Izniv ging an das Mikrofon, das auf einem Beistelltisch lag.

Der Russe mit dem Gesichtsausdruck einer feisten Ratte räusperte sich und tippte mit dem Finger auf den Mikrofonkopf. Auf dem Zusatz-Bildschirm konnte man sehen, wie die anderen Forscher in der Messe zusammenzuckten.

»Willkommen zu Projekt Posteritas, oder auch, wie die nichtlateinischen Banausen dort draußen sagen würden: Projekt Zukunft!«, schnarrte er mit seinem unverkennbar russischen Akzent.

»In Kürze starten wir den silbernen Riesendildo dort draußen und dann wird kräftig abgespritzt!«

Sebastian schlug die Hände vors Gesicht. Noch nicht einmal heute konnte Izniv seinen Humor auf nicht-peinliches Niveau herunterfahren.

Er führte einen schnellen Check der Programmeinstellungen durch, klickte sich durch diverse Kontrollmenüs und sah dann zu Heiderlein herüber.

»Starten Sie Phase Eins.«

Die Österreicherin nickte und tippte einen kurzen Befehl in ihren Computer. Der Boden erbebte, als sich das Schott im Bunkerdach über dem Laborvorraum öffnete und grelles Sonnenlicht in den Bunker fiel. Gähnend langsam fuhren die schweren Stahlschotts in das Gestein. Währenddessen glitt der Aufzug langsam nach oben.

Dann verschwand der »silberne Dildo«, wie Izniv die Drohne genannt hatte, durch die Deckenöffnung und Sebastian schaltete auf seinem PC die Außenkameras zu und autorisierte, dass ihr Bild auch auf den Monitor in der Messe überspielt wurde. Auf dem Hauptbildschirm kam Leben ins Bild, die versammelte Gemeinde beugte sich nach vorne, um möglichst viel zu sehen.

Sebastian startete den Countdown und zählte so laut mit, dass die Computerstimme im Hintergrund kaum noch zu hören war.

»Alle Systeme online, Countdown läuft.«

»10 ... 9 ... 8 ... 7 ... 6«

»Zündungssequenz vorbereitet. Alle Systeme grün.«

»4 ... 3 ... 2 ... 1 ... Ignition!«

»Und ... Liftoff«.

Wie ein Pfeil schoss die Drohne in den Himmel, eine immer länger werdende grau-weiße Rauchfahne hinter sich herziehend, die einen leichten Bogen bildete.

Sebastian klickte erneut und die Drohnenkamera wurde zugeschaltet.

Wolken flogen an ihnen vorbei, mit ungeheurer Geschwindigkeit schnitt das Gerät durch die Luft, zerpflügte die Kumulus-Ansammlungen. Dann greller Sonnenschein und ein weißer Teppich zu ihren Füßen. Die Drohne war durch die Wolkendecke und schraubte sich in immer größer werdende Höhen empor.

Di Matteo räusperte sich zu seiner Linken und holte Sebastian wieder in das Labor zurück.

»Wir erreichen in einer Minute die Sprühzone.« Direkt hinter Sebastian kicherte jemand schweinisch.

»Okay, Zuleitungen öffnen, Lösungen vermischen und Sprühvorrichtung test-ausblasen.« Lautes Lachen von hinten.

Auch der Italiener konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen, machte sich aber sofort an die Arbeit und hob nach zehn Sekunden den Daumen. »Perfetto!«

Die Zeit kroch nur so dahin, während die Drohne immer höher stieg.

»Zielhöhe erreicht, alle Systeme nominal. Wir können!« Die Österreicherin hatte wahrlich ein Lächeln auf ihr Gesicht gebracht.

Sebastian konzentrierte sich auf die Anzeigen, checkte alles nochmal gegen. Höhe? Passte. Druck? Gut. Sensoren klar? Ja, sie würden mitbekommen, ob die CO2-Konzentration in dem Ausmaß abnahm, wie sie errechnet hatten.

Er drehte sich schnell um, nahm dem verdutzten Russen das Mikrofon aus der Hand und räusperte sich leise. Die Köpfe in der Messe ruckten nach oben.

»Projekt Posteritas ist im Zielgebiet. Wir beginnen nun mit Phase 2, dem Ausbringen der Bakterien in der Trägerlösung, gefolgt von Phase 3, den Messungen und Phase 4, der Heimkehr der Drohne.« Er wartete eine Sekunde, ehe er einem Bauchgefühl folgend hinzusetzte: »Wünschen Sie uns Glück.« Mehrere Forscher in der Messe reckten ihren Daumen in die Höhe und Sebastian lief ein Schauer den Rücken hinunter. Diese UN-Geschichte hier war das Beste, was ihm bisher widerfahren war. Eine tolle Forschergemeinde, beinahe unbegrenzte Mittel. Und Melanie, die, wie er sah, sich einen Platz in der vordersten Reihe gesichert hatte.

Er schaltete das Mikro aus und tippte zügig eine Befehlsreihe auf seiner Tastatur. Nacheinander leuchteten ein paar Anzeigen auf dem Bildschirm grün auf. Die Düsen waren gefüllt.

»Sprühvorgang einleiten.«

Dann klickte er auf den Startbutton.

 

Die zweite Kamera, die seitlich auf dem Kopf der Rakete angebracht war, wurde aktiviert und man sah einen grünlichen Nebel aus den Flügeln austreten. Das Moosgrün war nur für den Bruchteil einer Sekunde zu sehen, dann hatte sich die Lösung schon mit der Luft vermischt und war für menschliche Augen nicht mehr zu erkennen.

Sebastian stand auf, lief auf und ab und knibbelte unbewusst an den Daumen. Jetzt hieß es warten.

 

*

 

Regina zog den letzten Sicherungsstift heraus und ein weiteres Lämpchen leuchtete rot auf. So wie an vier weiteren Sprengladungen hier im Raum, die die küchenschrankgroßen Server in Stücke reißen würden. »Irreparabel« würde kein Ausdruck sein. Hoffentlich hielten die Wände zum Nachbarraum, Regina wollte keine Verletzten. Keine weiteren. Dass mit der Wissenschaftlerin gestern hatte ihr gereicht.

Ben reckte den Daumen hoch. Er war ebenfalls fertig, die Funkzünder waren auch dort aktiv. Endlich.

Er nickte ihr zu. »Bleib du hier und pass auf. Ich leg eben die Flugblätter in einen der Nachbarräume, dann können wir abzischen.« Eigentlich hätte das ihr Job sein sollen, warum auch immer er den Plan jetzt änderte. Noch ein Punkt, über den sie mit ihm würde reden müssen.

Ben wartete ihre Antwort gar nicht erst ab, schnappte sich Reginas und seinen eigenen Rucksack, den sie neben der Tür abgestellt hatten und verschwand.

Regina kaute nervös auf ihrer Unterlippe, bis sie einen metallischen Geschmack im Mund spürte. Wenn jetzt jemand hereinkommen würde, was sollte sie tun? Wir führen hier nur eine Sicherheitsübung durch! Sie verwarf den lächerlichen Gedanken. Nett haben Sie es hier. Nur etwas unaufgeräumt, aber keine Sorge, gleich ist hier wieder jede Menge Platz. Regina musste kichern. Die Nervosität suchte sich ein Ventil. Sie hatte schon vor langer Zeit aufgehört zu zittern, hatte die Endgültigkeit ihrer Aktion akzeptiert. Danach würde nichts mehr so sein wie zuvor. Aber war es das nicht jetzt schon? Bobo fiel ihr plötzlich ein. Ob es dem Hund gut ging bei der Nachbarin? Eine Träne lief ihr die Wange hinunter und verärgert über ihre Unkonzentriertheit wischte sie sie energisch weg. Sie überprüfte nochmals – zum fünften Mal, seit Ben gegangen war – die Funkzünder. Alles in Ordnung. Wo blieb er nur? 

Wie auf Stichwort klopfte es dreimal kurz an der Tür und Regina atmete auf. Die Tür schwang auf und Ben winkte sie zu sich.

Endlich ging es hier raus!

Da fiel ihr auf, dass sie wieder seinen muskulösen Rücken sehen konnte. Wo war sein Rucksack? Und der von Mike? Nur ihrer war übrig und hing schlaff über Bens Arm.

Gerade wollte sie ihm eine Frage zuflüstern, da zog er sie in die Hocke.

»Warum stoppen wir? Wir müssen weg!«

Ben winkte genervt ab.

»Keine Zeit.« Er griff in seine Hosentasche und holte einen kleinen Funkzünder heraus.

»Spinnst du? Wir sind noch viel zu nah dran.«

Ben funkelte sie an.

»Guck dir mal den meterdicken Beton um uns herum an. Dicker als ich befürchtet hab. Wir müssen hier zünden, sonst kommt das Signal nie durch.«

Regina fluchte. »Hatten wir nicht einen größeren Zünder? Wo ist der denn?«

Sie erntete ein merkwürdiges Lächeln. »Geht nicht, wir können nur den hier nehmen.« Ohne weiter auf sie einzugehen, ging er rasch weiter den Gang entlang und stoppte erst vor der Tür, die sie zurück in die Kern-Halle führen würde.

»Jetzt oder nie!« Sie konnte seine Vorfreude auf die Explosion förmlich spüren, während die Angst sich langsam durch in ihr Hirn grub und ihre Knie in Pudding verwandelte.

 

*

 

Die Minuten verrannen, der Bakterientank der Drohne war so gut wie leer. Zwei Prozent. Ein Prozent. Ende.

»Haben wir schon Resultate?«

Heiderlein klickte sich zum Sensorenmenü durch und schüttelte den Kopf.

»Nein, bisher keine Verringerung des CO2 im messbaren Bereich feststellbar.«

Sebastian unterdrückte einen Fluch.

Die Österreicherin hob plötzlich die Hand, der Ärmel des Kittels rutschte zurück und offenbarte ungesund aussehende weiße Haut, dünn wie Pergament.

»Die Werte verändern sich. Ein Prozent. Der CO2-Anteil in direkter Umgebung der Drohne sinkt. Zwei. Fünf. Acht Prozent! Es wirkt!«

Sebastian ließ den Kopf sinken und genoss das Gefühl des Triumphs, das sich in seinem Inneren warm ausbreitete. Am liebsten hätte er vor Freude aufgeschrien, aber mit so wenig Contenance wollte er nicht in die Historie eingehen.

Vielmehr setzte er sich wieder und überspielte die Sensorenergebnisse auf den Bildschirm der Messe. Erst war Stille, dann jubelte Melanie, die durch seine zahlreichen Erzählungen genau wusste, auf welche Werte sie zu achten hatte, dann stimmten die Forscher, Techniker und Angestellten mit ein. Applaus war zu sehen. Schade, dass die Techniker nicht auch ein Mikro in die Messe gelegt hatten. Stattdessen nahm er sich seins vom Tisch und setzte überflüssigerweise ein »Wie Sie sehen: Es funktioniert!« hinzu. Melanie hob jubelnd ihre Arme.

Dann räusperte sich Heiderlein und Di Matteo schnappte entsetzt nach Luft.

»Born! Born! Die Messwerte, sehen Sie sich das an!«

Sofort schaute er auf den Bildschirm der Österreicherin. Der CO2-Gehalt nahm ab, so weit so gut, aber das ging eindeutig zu schnell. Der Effekt reichte mittlerweile weit über die direkte Umgebung der Drohne hinaus, wie er den Messwerten der Messballons entnahm. Sie hatten drei davon im ungefähren Zielgebiet des Versuchs platziert. Es waren gar nicht genug Bakterien an Bord für einen so starken Effekt. Es sei denn ...

»Die Bakterien sterben nicht ab. Sie arbeiten immer weiter!« Die Stimme des Italieners überschlug sich.

Das konnte nicht sein. Die Bakterien hatten eine Lebensdauer von nur wenigen Minuten. Jede einzelne hatte kaum eine Auswirkung, erst in der Masse erzielten sie einen spürbaren Effekt. Daher waren sie in einer derart großen Konzentration in der Lösung enthalten, dass Izniv schon vom »Posteritas-Puff« gesprochen hatte. Wenn sie jetzt doch nicht abstarben ...

Sebastian überlegte nur eine Sekunde, dann ballte er die Faust.

»Abbruch«, befahl er der Österreicherin harsch und die Frau nahm die Maus und fuhr mit dem Zeiger auf den großen roten Button in der Ecke ihres Bildschirms. Das Gegenmittel würde ausgesprüht, während ein Heizstab im Bakterientank ansprang und dort eventuell noch befindliche Reste vernichtete. Ein Fehlschlag, aber ein kontrollierter, einer, aus dem man lernen konnte. Dennoch brannte das Feuer der Niederlage in seinem Inneren.

Heiderlein wollte gerade klicken, da ging die Welt im Chaos unter.

 

*

 

Ben drückte auf den Knopf und die Welt wurde auf links gedreht. Eine gewaltige Explosion einige dutzend Meter hinter ihnen. Glas- und Betonsplitter flogen durch die Gegend, augenblicklich füllte dichter, schwarzer Rauch den Gang aus. Reginas Ohren klingelten und der Rauch gebärdete sich wie ein Tier, grub ihr seine Krallen in die Lunge und wollte sie zwingen, einzuatmen. Da packte sie ein starker Arm an der Schulter und zog sie vorwärts. Eine Tür öffnete sich, Lichtstrahlen durchfuhren den Rauch. Alarmsirenen dröhnten durch das Fiepen in ihrem Ohr. Ein Hustenanfall schüttelte Regina, aber sie hatte keine Zeit, setzte mehr mit Willens- als Muskelanstrengung Fuß vor Fuß. Schreie von der Balustrade und aus Richtung des Labors. Eine weitere Tür, sie waren wieder im ursprünglichen Gang, der sie zurück zum ungenutzten Teil des Bunkers und damit dem Ausgang Richtung Strand bringen würde. Ben lief vor ihr, seine raumgreifenden Schritte hallten unendlich nach.

»Stopp!« Dann ein Klicken. Oder meinte ihr Unterbewusstsein nur, dass dieser Ton dazu gehören würde und überspielte damit den Tinnitus?

»Langsam umdrehen, auf die Knie, Hände hinter den Kopf!« Die männliche Stimme zitterte. Vor Angst? Oder war es blanke Wut auf sie, die »Terroristen«?

Regina drehte sich um, Ben neben ihr ebenfalls. Ein Wachmann in der bekannten, dunkelblauen Uniform hatte eine Pistole auf sie gerichtet.

Ihre Gedanken rasten. Sie spürte Bens Ärger, seine Wut auf diesen Zwischenfall. Er würde durchdrehen. In einem Gang ohne Ausweichmöglichkeit. Das konnte sie nicht zulassen. Zögerlich ging sie auf die Knie.

»Schneller!«

Ben stützte die Hände auf den Boden. Regina bemerkte, wie er seine Muskeln anspannte. Augenblicklich schaute sie hoch, direkt zur Wache, dann ein paar Zentimeter neben sein Ohr. Und zwang ein Grinsen auf ihr Gesicht, gepaart mit einem Zwinkern und einem Nicken. Es funktionierte. Der junge Mann wirbelte herum, erwartete einen Komplizen der Terroristen hinter sich. Reginas Hirn nahm die Sinneswahrnehmungen wie durch einen Filter auf, als sie vorwärts sprang, der Wache direkt in die Kniekehlen, und mit ihm zu Boden ging. Ein Ellbogen, der auf sie zuraste. Schmerzen in der Brust. Panisch geweitete Augen direkt vor ihren. Sie stieß ihm den Kopf ins Gesicht. Etwas knackte. Ein schriller Schmerzensschrei. Beine, die sie davonstießen. Eine Hand, die ihr dabei in den Magen hieb. Sie, wie sie sich zusammen krümmte. Der Wachmann, der langsam aufstehen und dabei die Pistole wieder in Anschlag bringen wollte. Dann war Ben plötzlich neben ihr, trat der Wache aus vollem Lauf mit der Fußspitze gegen den Kopf. Ein hässlicheres Knacken hatte sie noch nie gehört. Dann Stille, untermalt nur von den nun dumpfen Alarmsirenen aus der Ferne und dem allgegenwärtigen Brandgeruch in der Luft. Ben streckte den Arm aus, sie hielt ihm ihre Hand entgegen, aber er nahm stattdessen der Wache die Pistole ab, steckte sie in den Gürtel und half ihr erst dann hoch.

 

*

 

Erst war es nur ein Grollen, dann bebte der Boden und das Licht flackerte. Sebastian hielt sich am Tisch fest. Ein Erdbeben? Hier an der Küste? Dann fiel sein Blick auf den Messe-Bildschirm. Feuer! Flammen leckten durch den Raum, Menschen stoben in Panik auseinander, ein paar lagen bereits auf dem Boden. Erst fiel die Kamera aus. Dann der Strom. Völlige Dunkelheit für einige Sekunden. Plötzlich rötliches Licht von der Notbeleuchtung. Die Notstromgeneratoren hatten ihre Arbeit aufgenommen. Das Rotlicht tauchte die Szenerie in weiche Schatten, Sebastian fühlte sich an Bord eines U-Bootes versetzt.

Melanie!
Sebastian schrie auf und stürmte zur Labortür, prallte mit dem Kopf voran gegen das Glas, taumelte mit schmerzverzerrtem Gesicht zurück.

»Geh auf!« Mit aller Kraft warf er sich gegen die Glastür, aber sie wollte sich nicht öffnen. Er trommelte mit den Fäusten dagegen, bis es schmerzte. Dann sprang die normale Beleuchtung wieder an, die Tür öffnete sich und er wollte gerade hinausstürmen, als Di Matteo fragte: »Das Gegenmittel?« Sebastian hielt inne, drehte sich aber nicht um.

 

Heiderlein schluckte. »Ich kam nicht mehr dazu, es zu aktivieren. Der Computer fiel vorher aus.«

Fuck! Sebastian fluchte laut und stürmte dann aus dem Raum. Um die Bakterien mussten sie sich nachher kümmern – die Drohne bergen, reparieren, mit Gegenmittel randvoll pumpen und starten lassen. Er fluchte weiter, als er im schnellen Schritt den Kisten auswich und zu dem Gang lief, der zur Messe führte. Er überschlug ein paar Berechnungen im Kopf, auch, um sich abzulenken von dem Bild, das ihm immer wieder in den Sinn kam: Melanie, wie sie zu Tode getrampelt in der Messe lag. Wenn die Daten gestimmt hatten, bevor das System ausfiel, war es sowieso zu spät, bis sie die Drohne in der Luft hatten. Das Gegenmittel war zu schwach, es war für einen ohnehin schon sterbenden Bakterien-Rest entwickelt worden, nicht für eine volle Konzentration von sich vermehrenden Posteritas.

Eine Träne lief ihm die Wange hinunter, als er die Gangtür aufstieß und den betongrauen Flur hinunterlief, der nur alle paar Meter durch rote Notlichter beleuchtet war. Überall war Rauch, die Deckenbeleuchtung ausgefallen, Menschen taumelten umher, hielten sich die Köpfe, Blut lief aus Ohren und Nasen, einige hielten sich gebrochene Gliedmaßen oder lagen stöhnend auf dem Boden. Sein Blick sprang panisch umher, ruhte für einige Sekunden auf jedem Opfer. Nein, Melanie war nicht dabei. Da, der Eingang zur Messe!

 

*

 

»Los! Wir müssen hier weg!« Mit diesen Worten drehte Ben sich um, klaubte den Rucksack vom Boden und rannte los. Regina brauchte eine Sekunde, dann lief auch sie los. Wobei es in ihrem Fall mehr ein Behindertenwettlauf war. Ihr Magen und die Brust brannten wie Feuer. Sie zwang sich, nicht den Kopf zu drehen, wollte die Wache nicht sehen. Dann bogen sie um die Ecke, Ben hatte schon mehrere Meter Vorsprung. Da! Ihre alten Spuren im Staub, wie sie links durch eine Tür abbogen. Der Ausgang! Regina stolperte der Tür entgegen, flog mehr hindurch, als dass sie lief. Ben hatte die Außentür bereits geöffnet. Ein Schuss. Funken stoben aus der Kamera auf seine Haare.

Nie hatte es so gut getan, verfaulende Algen zu riechen. Es war so ruhig hier, keine Sirene zu hören. Als wäre das alles gar nicht passiert.

»Das Seil! Die Treppe dauert zu lange!«, rief Ben und stieg bereits auf das Geländer, packte das zurückgelassene Seil und ließ sich herunter. Ihre Bauchmuskeln rebellierten, und Übelkeit wallte in ihr auf, aber bevor das Gefühl übermächtig werden konnte, überstieg sie das Geländer. Sie packte das Seil mit beiden Händen, schlang die Beine darum und ließ sich herunter, wenn auch deutlich langsamer als Ben.

Der Sand unter ihren Füßen fühlte sich gut an. Sicherer jedenfalls als der rissige Beton des alten Bunkers. Vielleicht konnte ihre Flucht wirklich gelingen. Ben rannte bereits vor, zu den Seilen am Abhang.

»Hey, warte auf mich!«, rief sie ihm zu.

Ben winkte sie genervt zu sich, half ihr beim Anlegen des Gurtes, den Mike freundlicherweise hier auf dem Boden zurückgelassen hatte. Gut, dann hatte er es geschafft. Ihr schlechtes Gewissen nagte unentwegt. Sie hätte Mike beistehen und Ben in seine Schranken weisen müssen. Aber mitten im Einbruch? Nein, das wäre auch Quatsch gewesen.

Regina schüttelte den Kopf, seufzte und griff zum Seil, zog sich vorsichtig die zerklüftete Felswand hoch. Ben war neben ihr. Selbst Freestyle war er schneller als sie, das Seil anzulegen hielt er offensichtlich für unnötig.

Erde. Dunkle Erde und Bäume. Ihre Muskeln zitterten, als sie sich das letzte Stück hoch- und über die Kante zog. Der dumpfe, muffige Geruch der Erde stieg ihr in die Nase, als sie auf dem Bauch liegend nach Luft rang. Gräser kitzelten in der Nase. Völlig egal. Sie wollte einfach nur atmen. Ein. Aus. Zu mehr war sie kaum noch in der Lage. Der Adrenalinspiegel sank und damit kam das Zittern.

Eine kräftige Hand legte sich auf ihre Schulter, dann wurde sie sanft hochgezogen.

Sie legte ihren Kopf an Bens starke Brust und hielt sich einfach fast.

Dann wandte sie sich zum Gehen.

»Komm. Lass uns. Bevor die Polizei auftaucht und hier alles durchkämmt.«

Ben grinste sie an. Sein Gesichtsausdruck war merkwürdig. Vorfreude? Auf was? Dann griff er in den Rucksack und holte einen Funkzünder heraus. Einen deutlich größeren mit langer Antenne. Den Zünder, den sie vorhin vermisst hatte.

»Was ... was wird das?« Ihre Stimme zitterte.

»Oh, nur eine kleine Überraschung für diese UN-Pisser. Treibstofftanks und Sprengstoff. Tolle Mischung, sag ich dir. Keine Sorge, durch die erste Explosion werden alle schon geflohen sein.« Seine Augen flackerten. »Und selbst wenn nicht, sie haben es verdient!«

Ihre Knie wurden weich.

»Was? Aber ... aber warum? Wir haben unser Ziel doch erreicht? Die Serveranlage ist Geschichte, die brauchen Monate um den Rückstand aufzuholen. Wenn überhaupt!«

Seine Kiefermuskeln traten deutlich hervor. Das Licht der untergehenden Sonne brach sich an seinen Konturen, ließ sie hart hervortreten. Er sah so unnahbar aus. So wahnsinnig. Regina schluchzte.

»Du hast nichts begriffen! Überhaupt nichts!« Er drehte sich um und zeigte auf den Hügel, in dessen Inneren der Bunker verborgen war. »Die werden das alles wieder aufbauen. Die Natur braucht nicht ›ein paar Monate‹ Atempause. Sie braucht Leute, die bereit sind, für sie aufzuräumen.«

Seine Augen richteten sich auf einen fernen Punkt, den nur er sehen konnte. Mehr zu sich als zu Regina setzte er hinzu: »Das ist die einzige Wahrheit, die zählt. Schmerz für Schmerz.«

Regina sah ihrem eigenen Körper zu, wie er lossprang, direkt auf Ben zu. Sie war nur Zuschauerin. Das Adrenalin hatte ihr Denken übernommen und sie ließ ihrem Handeln freien Lauf. Sie prallte auf Ben, riss ihn zu Boden. Der Funkzünder flog zur Seite und blieb an einer Grasnarbe liegen. Ben schaute erst erschrocken in ihr Gesicht, das nur wenige Zentimeter von seinem entfernt war. Vor kurzem war dies noch der schönste Anblick gewesen. Jetzt empfand sie nur noch Wut und Verzweiflung.

»Bitte! Bitte tue es nicht!«

Bens Wangen färbten sich rot und mit einem Mal stieß er ihr den Kopf ins Gesicht, sie konnte gerade noch rechtzeitig den Kopf drehen und so krachte seine Stirn nur auf ihre Wange. Tränen schossen ihr in die Augen. Dann spürte sie plötzlich sein Knie in ihrer Magengegend und sie wurde weggestoßen und prallte unsanft gegen einen Baum. Die Metallösen des Klettergeschirrs gruben sich in ihren Rücken und sie sah Sternchen. Ein Schatten fiel auf sie. Ben stand direkt über ihr, den Funkzünder wieder in der Hand. Selbst mit verdreckten Klamotten und seinem wilden, wahnsinnigen Gesichtsausdruck wirkte er wie ein verlorengegangener König, der sein Volk wiedergefunden hatte und zu ihm sprechen wollte. Wenn da nur nicht der Zünder gewesen wäre, der Reginas Aufmerksamkeit gefangen hielt. So klein, so unscheinbar, so tödlich.

»Bitte!« keuchte sie. »Lass es! Noch haben wir niemanden umgebracht!«

Mike spuckte zur Seite aus. »Du hast es immer noch nicht begriffen, oder? Es muss sein! Wir müssen die Natur beschützen, denn sie kann es nicht alleine!«

Dann drückte er auf den Auslöser. Erst passierte gar nichts und Regina wollte schon erleichtert ausatmen, da begann ein Grollen. Tief in der Erde wuchs es immer weiter an, der Hügel rechterhand schüttelte sich geradezu, dann riss er plötzlich oben auf und eine Flammensäule brach mit ohrenbetäubendem Krach daraus hervor. Sie konnte sogar die Hitze spüren. Dann war für einen Moment nur das Meer zu hören. Und dann kamen die Schreie. Brennende Gestalten wankten aus der Tür an der Seite des Hügels. Weitere Explosionen ertönten und erneut züngelten Flammensäulen aus der Hügelkuppe.

»Jaaaa!« Ben schrie sich die Seele aus dem Leib. Zeigte immer wieder auf die klaffende Wunde in dem Berg, die seine Hand gerissen hatte.

Regina rappelte sich auf. Wollte etwas sagen. Konnte es nicht. Murmelte ein leises »Lebwohl!«, drehte sich um und rannte davon.

Sie rannte und rannte und rannte. Die Zeit zog sich wie ein Kaugummi. Es konnte eine halbe Ewigkeit oder fünf Minuten gewesen sein, bis sie sich erschöpft an einem Baum abstützte. Das Ende des Waldes war in Sicht, die kleine Zubringerstraße zum Bunker. Die sollte sie besser meiden. Plötzlich vibrierte etwas in ihrer Jacke. Ihr Handy? Mike?

»Ja?«

»Schalt die Nachrichten ein. Was habt ihr nur getan?« Mike legte auf.

Mit zitternden Händen drückte sie auf dem Handydisplay herum, musste mehrmals neuen Anlauf nehmen, dann hatte sie sich wieder in den Livestream des Fernsehsenders eingewählt. Es mutete wie Stunden an, als sie ihn das letzte Mal betrachtet hatten. Es war auf jeden Fall ein Leben her.

Auf dem kleinen Display erschien ein wackeliges Kamerabild. Eine Reporterin rannte hinter einem Trupp UN-Wachen her. Bäume. Moos. Die waren hier im Wald! Regina wollte sich wieder aufrappeln, aber die Livebilder ließen sie nicht los.

Zwischen den Bäumen kam eine Gestalt in Sicht, die sich immer wieder panisch umblickte und beim Rennen die Seite hielt. Ben! Die Soldaten holten unaufhaltsam auf, die Kamera fing auf, wie sie ihre Maschinenpistolen schussbereit machten. Plötzlicher Stopp. Ben drehte sich um, die Kamera zoomte auf sein Gesicht. Ein beinahe irres Grinsen hatte sich in sein Gesicht gebrannt, während Blut die Wange hinunter lief. Plötzlich griff er zu der Pistole, die vorne in seinem Hosenbund klemmte. Die Soldaten eröffneten das Feuer, die Kamera hielt drauf. Bens Brust, wie die Kugeln einschlugen. Sein drahtiger Körper, der in Zeitlupe umfiel, Blätter empor wirbelte, als er auf den Waldboden aufschlug. Blutiger Schaum vor dem Mund, als er ein paar letzte, stumme Worte murmelte. Und leblos erschlaffte.

Die Reporterin trat aschfahl vor die Kamera, stammelte ein paar Sätze, die auf dem Handy unhörbar blieben und der Fernsehsender schaltete zurück zu einer anderen Kameraansicht, die die Greenpeace-Demonstranten vor den Absperrungen zeigte. Menschen lagen sich in den Armen, blickten auf den brennenden Bunker, auf die noch qualmenden Leichenteile, die überall herumlagen. Erste Krankenwagen kamen mit Blaulicht heran.

Regina stand auf und steckte das Handy weg, setzte einen Fuß vor den anderen. Sie musste das Auto erreichen und abhauen. Noch war hier so viel Chaos, dass sie es schaffen konnte. Wie durch Watte lief sie vorwärts, ständig in Angst, ein »Stehenbleiben« von hinten zu hören.

Dann saß sie im Auto. Der Gegend draußen flog nur so an ihr vorbei. Dann war sie schon in Skagen. Dachte darüber nach, noch zum Hotel zu fahren und ihre Sachen zu holen. Verwarf die Idee, da würden sie zuerst suchen. Setzte stattdessen den Blinker und bog auf die Landstraße ab, die Richtung Süden führte. Ob sie sie noch schnappen würden? Regina erschrak über die Gleichgültigkeit, mit der ihr Unterbewusstsein auf diese Frage reagierte. Aber es stimmte. Es machte kaum einen Unterschied. Ob im Gefängnis oder in »Freiheit« auf der Flucht. Ihr Leben war vorbei. Sie wischte sich eine Träne weg und drückte das Gaspedal durch.

 

*

 

Dicker Rauch quoll aus der Öffnung, Sebastian hielt sich das T-Shirt, das er unter dem Kittel trug, vor die Nase, holte nochmal tief Luft und stürmte dann in den Raum. Seine Augen benötigten mehrere Sekunden, ehe er Details erkennen konnte. Flammen leckten aus dem Küchenbereich. Sein Blick hetzte durch den Raum, bis er eine Gestalt entdeckte, die regungslos unter einem umgestürzten Tisch lag. Er sah lange rote Haare und ein hellgrünes Oberteil. Melanie! Er sprang über Bänke und Tische und warf mit ungewohnter Kraft das auf seiner Herzensdame liegende Möbel beiseite. Sie atmete! Flach, aber sie atmete!

Sebastian griff unter ihre Achseln und zog sie hoch, Melanie stöhnte auf, Blut war aus einer Kopfwunde über ihr hübsches Gesicht geflossen und verkrustet, sie sah schauerlich aus. Melanie hustete, als Sebastian sie hochhob und mit ihr in den Armen durch den Hindernisparcours zurück zum Ausgang stolperte. Der Rauch biss in seinen Augen und seine Lungen brannten, aber er konnte in seinem Inneren Kräfte spüren, deren Existenz ihm bisher verborgen geblieben war. Melanies Werk. Er peilte das rötliche Licht aus dem Gang an und stolperte hinaus. Die Luft wurde klarer. Er ließ Melanie zu Boden sinken, ging selbst in die Knie und bekam einen heftigen Hustenanfall.

»Hilfe! Wir brauchen hier Hilfe! Sanitäter!« Er schaute sich um, aber es herrschte heilloses Chaos. Bis ihnen geholfen werden konnte, würde einige Zeit vergehen.

Er schaute in Melanies Gesicht, sah, wie sie langsam die Augen aufschlug. Erkennen lag in ihrem Blick. Sie brachte es fertig, zu lächeln, aber das verkrustete Blut und ihr folgendes schmerzerfülltes Stöhnen machten das Bild zunichte und verstärkten die Furcht in Sebastians Herz. Er musste sie hier weg bringen!

Er atmete mehrmals tief durch, dann schlang er wieder die Arme um sie und hob sie hoch. Keine Ahnung, was die Erschütterung und das Feuer verursacht hatte, aber der Brand in der Küche war gefährlich genug. Ins Freie! Das war sein einziger Gedanke. Stöhnend richtete er sich auf und trug Melanie wie ein Kind den Gang hinunter, immer weiter Richtung Haupteingang der Basis. Zahlreiche andere Gestalten kämpften sich mit ihm durch den Rauch, das Herdentier Mensch floh vor dem Feuer. Kittel machten da keinen Unterschied zu Blaumännern oder Wachuniformen, in ihrer Angst waren alle gleich.

Nach mehreren Abbiegungen war plötzlich Lärm von vorne zu hören und grelles Licht bahnte sich seinen Weg durch den lichter werdenden Rauch. Wachen mit starken Taschenlampen kamen ihnen entgegen.

»Alle raus! Verlassen Sie die Basis. Sammelpunkt Parkplatz. Sofort!«, wies sie der Anführer der Mannschaft an und Sebastian beeilte sich, dem nachzukommen. Immer weiter die Gänge entlang, den roten Pfeilen an den Wänden folgend.

Dann eine weitere Biegung und Licht. Licht flutete ihnen aus den geöffneten Flügeltüren des Bunkereingangs entgegen. Laute Rufe von draußen, vielstimmig, durcheinander. In der Ferne sah er Schilder, die geschwenkt wurden und eine aufgebrachte Menge vor dem Tor. Eine Demonstration? Er ging weiter, durch die Tür und stand endlich auf dem Parkplatz. Melanie hob ihren Kopf, als die Wolken aufrissen, und die Sonne ihr Gesicht beschien.

Dann wackelte die Erde erneut, Sebastian musste sich an einen geparkten Jeep anlehnen.

Plötzlich erhielt er einen Schlag in den Rücken und Melanie entglitt ihm. Eine laute Explosion erschütterte die Erde. Flammen schossen aus den Bunkertüren und erfassten Sebastian, schleuderten ihn vorwärts über den Jeep hinweg.

Danach waren da nur noch Schmerzen. Alles drehte sich, die Welt bestand nur noch aus Schreien, Flammen und Schmerzen. Autos lagen auf der Seite und brannten. Ein verkohlter Arm landete plötzlich neben ihm. Er drehte sich zur Seite, Schmerzen brandeten durch seinen geschundenen Körper, die Sicht verschwamm, aber er konnte sehen, wie der Bunker sich in einen Vulkan verwandelt hatte. Der Hügel war oben aufgeplatzt und Flammen leckten überall empor. Pechschwarzer Rauch quoll aus den Überresten der Anlage. Brennende Menschen wankten über den Parkplatz und brachen zusammen. Leichenteile, vor allem mit Uniformteilen der Wachen, lagen in der Gegend, wohl aus dem Bunker herausgeschleudert. Dann regnete es Staub, Erde und versengte Reste ihres Equipments. Eine Sirene heulte los, nur um Sekunden später zu ersterben.

Sebastian ballte die Fäuste, unterdrückte den Schmerz und die Übelkeitswogen, die durch seinen Körper brandeten. Er kämpfte sich auf die Knie, dann auf die Beine und wankte vorwärts. Melanie! Wo war Melanie?! Panisch schaute er sich um, konnte aber in dem Chaos keine Gestalt erblicken, die ihr ähnlich sah.

 

Er hatte Melanie gefunden, hielt ihren Körper in den Armen, ihren Kopf in seinem Schoss und wiegte sich langsam vor und zurück. Die Schmerzen, die sein verbrannter Rücken verursachte, ignorierte Sebastian, Tränen liefen sein Gesicht hinunter und fielen in rote Haare. Haare, die nun kaum verdecken konnten, was die Explosion angerichtet hatte. Ihr Schädel war von der Wucht zertrümmert worden, als sie gegen den Geländewagen geschleudert worden war. Gräulich-rote Masse quoll aus dem Riss in ihrem Schädel und machte jede Hoffnung auf Heilung zunichte.

Von seiner Position aus sah er, wie die Wachen die Demonstranten am Tor zur Seite trieben, da in der Ferne bereits die ersten Blaulichter zu sehen waren. Egal, alles egal, es war zu spät.

Wie durch Watte bekam er mit, wie ihn jemand in die Höhe zog. Er schlug um sich, wollte Melanie festhalten. Melanie, die so friedlich in seinen Armen lag. Jemand hielt ihn plötzlich fest, sagte etwas, irgendetwas. Ein kaltes Stechen an seinem Hals, seinem geschundenen, verbrannten Hals. Ein warmes und wohliges Gefühl breitete sich in ihm aus. Plötzlich lag er in der Waagerechten. Sebastian erkannte zwei Sanitäter über sich, die ihn auf einer Bahre festschnallten und ihn über den huckeligen Parkplatz davonschoben. Wo war Melanie? Er wollte den Kopf wenden, konnte es aber nicht, seine Muskeln gehorchten nicht. Sein Blick war gefangen, er konnte nur gen Himmel schauen. Geschah ihm recht. Dort oben war seine Schöpfung längst am Werk. Posteritas. Zukunft. Welch euphorischer Name für ihre Arbeit. Die Türen des Krankenwagens wurden zugeschlagen. Kurz darauf setzte er sich mit heulenden Sirenen in Bewegung.

Posteritas. Melanie. Das lächerlich unterdimensionierte Gegenmittel. Keine Drohnenstartanlage mehr. Keine Drohne mehr. Oh ja, es würde ihnen eine Zukunft bringen. Nur keine, die sie gewollt hatten.