Anfang August 2040

 

Schwere Schritte hinter ihm. Michael blickte sich panisch um. Das fahle Licht, das durch die schmutzigen Dachfenster der Lagerhalle fiel, reichte nicht. Er sah seine Verfolger nicht. Dafür konnte er sie sehr gut hören. Er rannte weiter. Seine Lungen pumpten, Seitenstiche machten jeden Schritt zur Qual, aber das Adrenalin trieb ihn immer weiter. In Plastik eingeschweißte Paletten mit Maschinenteilen flogen nur so an ihm vorbei, als er durch die Gänge der an diesem Vormittag verwaisten Lagerhalle rannte.

Plötzlich dröhnten schwere Schritte über ihm auf dem metallenen Laufsteg, der hoch oben über dem Boden durch die Halle führte. Eine Gestalt beim Deckenkran! Hatte er ihn gesehen? Michael warf sich hinter einen in die Ecke gedrängten Haufen Plastikmüll und zog eine Plane vor sich. Der Geruch nach PVC und Angst lag in der Luft. Seiner Angst. Stöhnend hielt er sich die Rippen, beim Unfall vorhin hatte er sich wohl ein paar Rippen geprellt. Oder Schlimmeres. Fahrig strich er sich über die stoppelige Glatze, deren letzte Rasur schon zu lange zurücklag, aber Körperpflege war in den letzten Tagen seine geringste Sorge gewesen. Wenn die ihn erwischten, war er tot. Der Gedanke ließ ihn nicht mehr los.

»Wenn«, flüsterte er, und erschrak beim Klang der eigenen Stimme. Aber nicht so sehr, wie ihn dieses Wort verstörte. Er hatte »wenn« gedacht, nicht »falls« und als Journalist fühlte er sich durchaus imstande, selbst seinem Unterbewusstsein die Erkenntnis des Unterschieds zuzugestehen.

Sie würden ihn fangen. Nur eine Frage der Zeit, nicht des Ob.

Wie zur Bestätigung hörte er eine weitere Person mit schweren Stiefeln die Lagerhalle betreten. Warum hatten Killer eigentlich immer schweres Schuhwerk an? Schien ein ungeschriebenes Gesetz der Branche zu sein, wenn er an den anzugtragenden Killer zurückdachte, der ihm vor Kurzem aufgelauert hatte. Fast hätte er losgekichert, konnte sich aber gerade noch zurückhalten. Das Adrenalin machte ihn fertig, mit jeder Minute der Jagd auf ihn ein wenig mehr.

Immer tiefer drückte er sich in den Berg aus alten Plastikplanen, die mit einer öligen Substanz überzogen waren. Jedes Rascheln ließ ihm das Herz stehen bleiben, aber die Schritte verteilten sich in der Halle. Einer über ihm. Zwei irgendwo hinten bei den Gabelstaplern. Oder waren es sogar drei?

Michael atmete tief durch, dann wagte er es, seinen Kopf aus der halbwegs sicheren Deckung zu recken. Und er unterdrückte einen herzhaften Fluch. Die Halle hatte laut der leuchtenden Notschilder nur drei Ein- und Ausgänge. Der, durch den er hineingerannt war und wo mittlerweile sicherlich weitere Verstärkung der Obrigkeit eingetroffen war, heiß darauf, ihm einen vorzeitigen Nachruf einzubringen. Einen am anderen Ende der Halle, gut zwei Fußballfelder entfernt. Mit dem Mann oben auf der Balustrade hätten es auch Lichtjahre Entfernung sein können. Keine Chance. Der dritte lag hinten bei den Gabelstaplern, die zu dieser Uhrzeit den Elektroschlaf der Gerechten schliefen. Also dort, wo sich vorhin noch zwei Killer aufgehalten hatten.

Die Erkenntnis, dass er in der Falle saß, verstärkte das »wenn« in seinem Kopf und erstaunt stellte er fest, dass eine beängstigende Ruhe von ihm Besitz ergriff. Er stank noch immer nach Schweiß und die Kleidung klebte an der Haut, aber er fühlte sich ruhig. Zum ersten Mal seit einer Ewigkeit. Sie würden ihn kriegen. Und töten. Es war nur eine Frage von Minuten. Wenn er Glück hatte. Endgültigkeit erfüllte ihn.

Dabei hatte alles so harmlos angefangen.

 

*

 

Michael streckte sich auf seinem Bürostuhl und in seinem Rücken knackte es laut hörbar. Aua.

»Na, Zemmler, müssen wir mal wieder ins Ersatzteillager?«, spottete Heider aus der Wissenschaftsabteilung, bevor er sich vom Kaffeeautomaten im Großraumbüro trollte und in Richtung Aufzüge ging. War das wirklich so laut gewesen? Jennys Blick zufolge, dem sie ihm über die fadenscheinige Trennwand seiner Fünf-Quadratmeter-Box hinweg zuwarf, offensichtlich. Er zog eine Grimasse und Jenny lachte, bevor sie sich wieder ihrem Bildschirm zuwandte. Ihr blondes, schulterlanges Haar glänzte im orangefarbenen Schein der angeblich stimmungsaufhellenden Deckenlampen, die eine Wärme in das Büro der Wochenzeitung »Der Morgen« brachten, die diese Anstalt des privaten Irrsinns gar nicht verdiente. Und die der wirklichen Arbeitsatmosphäre geradezu ins Gesicht spuckte. Irgendjemand hatte mal geschrieben, dass Krieg nur die Fortführung der Politik mit anderen Mitteln sei. Der hatte noch nie in dieser Redaktion gearbeitet. Hier war Krieg die Steigerungsform von heuschreckenbedingten Mobbing.

Michael beugte sich wieder vor, justierte den Tischsensor, der jede seiner Äußerungen aufzeichnete und las noch einmal seinen Text für die in zwei Wochen erscheinende Ausgabe durch, die vor ihm auf dem 30-Zöller eingeblendet war. Anachronistisch. Wie gerne hätte er von zu Hause aus gearbeitet, sein Heim-System war dem hier um Längen überlegen. Bildschirme. Vorsintflutlich. Aber die Redaktionsleitung wollte es so. Gegenseitiges Befruchten in den Großraumbüros war der Hintergedanke. Michael schüttelte den Kopf. Auch wenn sie es sicherlich nicht so ausgedrückt hätten. Er seufzte, nahm einen Schluck des miserablen und mittlerweile kalten Kaffees und stellte den Pott zurück neben Sandras Bild. Sandra, wie sie ihm von der Schaukel aus zuwinkte, die roten Locken flogen in alle Richtungen, das Kleidchen dreckverschmiert, ein verschmitztes Lächeln auf dem Gesicht. Ein Bild aus besseren Tagen, die schon Jahre zurücklagen.

»Zurück an die Arbeit, heb dir die Depris für den Feierabend auf«, flüsterte er vor sich hin. Dann sah er zum Bildschirm und dem blinkenden Cursor, der sich bei seinen Worten deutlich weiter nach rechts verschoben hatte. Drecksteil! Er unterdrückte einen Fluch, griff zur Tastatur und löschte umständlich den letzten Satz vom Bildschirm. Diese Spracherkennung hier in der Redaktion war ein schlechter Witz. Die zu Hause war um Längen besser und er hätte die Tastatur nie gebraucht. Ein Relikt aus einer Zeit, als das Internet noch das Allheilmittel und Web 2.0 der letzte Schrei war. Aber Tastatur und Bildschirm waren Ausdruck der allgemeinen Sparmaßnahmen beim Morgen. Irgendein Politiker hatte mal das Bonmot »Sparen bis es quietscht« eingeführt, nur um dann ein paar Jahre später von einer maroden S-Bahn überrollt zu werden, als er sich gerade volksnah geben wollte. Quietschen war hier schon lange kein Ausdruck mehr, darüber waren sie hinweg. Schon lange. Dazu musste man nur gut fünf Meter geradeaus schauen. Ein Euro-Zeichen auf dem Kaffee-Automaten machte mehr als deutlich, dass selbst die essenziellsten Bedürfnisse eines Journalisten – guter Kaffee mit ausreichend Koffein, um einen Werwolf zum Herzinfarkt zu treiben – hier nur als weitere Einnahmequelle gesehen wurden. Und darüber hinaus verdiente diese schwarze Plörre den Ausdruck »Kaffee« wirklich nicht. Michael schüttelte den Kopf und strich sich müde über das abgespannte Gesicht, in dem für einen Enddreißiger deutlich zu viele Falten waren. Durchwachte Nächte unter Neonröhren hatten Spuren hinterlassen. Ganz zu schweigen von seiner Familie.

Wenigstens hatte er halbwegs seine Körperform gehalten und sah immer noch so unscheinbar aus – irgendwo zwischen schlank und normal bei durchschnittlicher Körpergröße –, dass es geradezu perfekt für den Journalistenjob war, in dem man sich selbst in den Hintergrund zu stellen hatte. Außerdem konnten sich viele Leute schon Minuten nach einem Gespräch mit ihm nicht mehr an sein Gesicht erinnern, von der Glatze mal abgesehen. Da hatten es einige andere Schreibtischtäter beim »Morgen« mit ihren dutzenden Kilos zu viel auf den Rippen deutlich schwerer.

Er las sich den letzten Absatz nochmals durch, auch, um sich zu vergewissern, dass die Sensoren nicht noch andere seiner Selbstgespräche in den Text eingefügt hatten.

Nein, soweit war alles klar. Er nahm einen letzten Schluck gefärbtes Koffeinwasser, verschränkte die Hände hinter dem Kopf und konzentrierte sich.

 

Der letzte Absatz war geschafft, der Senden-Button für die nicht weltbewegende Story gedrückt. Eine Lobby kaufte in Berlin Stimmen zusammen für einen Staatsvertrag mit Russland über eine neue Gaspipeline. Basisjournalismus. Korruption in Berlin, welch Überraschung. Aber einer musste es ja aussprechen. Michael rieb sich die müden Augen. Wann hatte er das letzte Mal geschlafen? Er konnte sich nicht mehr erinnern. Er hasste den Redaktionsschluss. Er schaute durch den Raum. Überall noch Lichter in den Büroboxen, erst recht in den Einzelbüros der leitenden Redakteure. War ja auch erst ein Uhr nachts, noch vier Stunden bis Redaktionsschluss, da konnte man noch nicht nach Hause. Man wollte ja vorankommen. Michael seufzte wohl etwas zu laut, denn Jenny von gegenüber schaute erneut über die Trennwand und bedachte ihn mit einem mitleidigen Blick.

»Geht's nicht gut voran?«, wollte sie wissen.

Michael beeilte sich, den Kopf zu schütteln. »Nein, bin fertig.« Er hörte den Reibeisenklang seiner Stimme. Zuviel Kaffee, zu wenig Schlaf.

»Warum seufzt du dann so?« Jenny spielte mit einer Strähne ihres Haares, das die dämlichen Deckenlampen golden schimmern ließ.

Michael breitete die Arme aus und drehte eine Runde mit seinem Bürostuhl.

»Das alles hier. Legehennen-Journalismus.«

Jenny setzte sich abrupt wieder hin und schaute schnell nach links und rechts, während ihr Gesicht den Ausdruck des real existierenden Sozialismus einnahm. Angst.

»Sowas will ich nicht hören! Stell dir vor, Schultz bekommt das mit!«

Er seufzte und rieb sich erneut die Augen, bemerkte das Zittern in seinen Händen.

»Entschuldige«, zischte er leise über die Trennwand und ein bestätigendes »Hmm« antwortete ihm.

Ein paar Sekunden der Stille, in der nur die Klimaanlage und das Gemurmel der Kollegen aus den Boxen links und rechts zu hören war, lediglich unterbrochen vom Gurgeln des Kaffeeautomaten, wenn die Koffeinsüchtigen ihren nächsten Schuss brauchten.

»Sollen wir nachher was essen gehen?«

Ihr Lachen war Balsam für seine Seele, er wollte es sich gerade mit Jenny nicht verscherzen, eine der wenigen anderen Freidenker im Morgen, die nicht nur der Chefredaktion nach dem Mund redeten.

»Ein andermal, Herr Zemmler, ein andermal. Heute bin ich viel zu müde.« Sie zögerte einen kleinen Moment und setzte dann kess hinzu: »Und außerdem wartet zu Hause bereits ein Mann auf mich.«

Er wollte gerade eine entsprechende Erwiderung loslassen, dass Haustiere nicht zählen, da steckte Schultz seinen bullenartigen Kopf durch die Tür seines Einzelbüros schräg gegenüber.

»Zemmler, herkommen!«

Michael seufzte und erhob sich mit knackenden Knochen.

»Viel Spaß«, kam es aus Jennys Box und Michael rang sich dazu durch, ihr zuzuzwinkern. Nächste Runde im Affenkäfig.

 

»Daran haben Sie die ganze Woche gearbeitet?« Schultz ließ die Frage unnötigerweise im Raum ausklingen, bevor er einen mit rotem Filzstift durchgestrichenen Ausdruck des Pipeline-Artikels vor Michael auf den schweren Holzimitatschreibtisch warf. Ein schwacher Windhauch erreichte Michael, wie er kerzengerade auf dem einzigen Stuhl vor Schultz' Schreibtisch saß. Wenigstens kam dadurch etwas Luftbewegung in den stickigen Raum, der von der Größe her mit einer Telefonzelle früherer Tage konkurrieren konnte. Nur, dass Schultz auf die glänzende Idee gekommen war, in einem Raum dieser Größe Schreibtisch, Bürosessel, Stuhl und Aktenschrank unterzubringen. Von der Musikanlage, mit der er die Redaktion mit 00er-Oldies quälte, ganz zu schweigen, die neben dem einzigen wirklich lebenden Objekt im Raum – einer kleinen Kaktee auf dem Aktenschrank – ihr Dasein fristete. Dass Schultz auch noch die Tür geschlossen hatte, machte es nicht besser. Klaustrophobie sollte man bei dem Mann mit dem Bullenkopf und selbiger Statur nicht haben – gerüchteweise war der Chefredakteur früher Mitglied einer paramilitärischen Einheit gewesen. Glauben konnte man es, wenn man den arnie-haften Körperbau betrachtete. Leider hatte er auch das Temperament eines Bullen.

Michael nickte. »Ja, Chef. Gute Story. Vielleicht muss ich hier und da noch was polieren, aber die Geschichte dahinter ist grundsolide und wird durch mehrere unabhängige Quellen gedeckt.«

»Grundsolide? Unabhängige Quellen? Gute Story?« Schultz ließ den Kopf kreisen, was ein hässliches Knacken hervorrief. »Jetzt will ich Ihnen mal was sagen, Zemmler, ganz langsam und zum mitschreiben, aber nur, weil ich Sie so mag.« Der Chefredakteur holte tief Luft und seine Gesichtsfarbe ähnelte der Lackierung eines Feuerwehrwagens. »Das hier ist Bullshit! Gequirlte Scheiße!« Mit diesen Worten fegte er die durchgestrichenen Blätter vom Tisch, die langsam auf den uralten Teppich sanken.

»Haben Sie völlig den Verstand verloren?«

Michael runzelte gut sichtbar die Stirn. Er wusste, dass Schultz diese Geste überhaupt nicht mochte. Aber der Trotz gewann die Oberhand gegen die Bedenken seines gesunden Menschenverstands, der unaufhörlich etwas von Bankkonto und schlechter Arbeitsmarktsituation faselte.

Die Reaktion war wie erwartet. Die Farbe der kantigen Züge des Bullen wechselte von feuerwehrrot zur Farbe eines ausbrechenden Vulkans.

»Jetzt hören Sie mal zu, Sie Schreiberling! Sie erwähnen in Ihrem Artikel gleich fünfmal – fünfmal! –, dass Winterchem einer der Hauptakteure der Bestechung sei!« Schultz holte erneut Luft, um dann ungerührt fortzufahren. »Aber Sie wissen schon noch, wer zugleich Vorstandsvorsitzender von Winterchem ist und an dem Verlagshaus, für das Sie zufälligerweise arbeiten, mehr als fünfzig Prozent hält?«

Aha, darum ging es also. Das Kuschen vor dem Tiger. Dem russischen Tiger.

»Ja, Igor Debenfeev.« Michael sprach es so ruhig aus, dass er der Halsschlagader des Bullen beim Schwellen zusehen konnte.

»Genau richtig!«, brüllte dieser und sprang geradezu in seinen Bürosessel zurück, der protestierend quietschte. Hatte genau wie der Arsch darauf schon bessere Tage gesehen.

»Aber meine Informanten bestätigen, dass Winterchem mit den Lobbyisten und ihrem Schwarzgeld unter einer Decke steckt. Und zu meiner Verteidigung, ich habe Debenfeev mit keinem Wort erwähnt.« So bescheuert war selbst er nicht.

»Das interessiert mich einen Scheißdreck. Dieser Artikel wird nicht erscheinen!« Schultz stand so ruckartig auf, dass der Sessel zurück rollte und mit einem lauten Krachen gegen die Wand des Büros prallte. »Und jetzt raus hier!«

Michael stand in aller Seelenruhe auf, nahm die Papiere vom Boden auf und ging die drei Schritte zur Tür, als ihn eine Stimme von hinten innehalten ließ.

»Und in vierundzwanzig Stunden habe ich einen neuen Artikel von Ihnen auf meinem Schirm. Einen netten, in dem sie irgendwas Positives über Winterchem erzählen!«

Michaels Gesichtszüge entgleisten. »Das wird bei diesem Korruptionsverein verdammt schwer, eine solche Story sauber zu machen!«

»Das ist mir völlig egal, ob sie sauber oder an den Stoppeln auf Ihrer Glatze herbeigezogen ist! Entweder der Artikel ist bis morgen Abend auf meinem Schirm oder Sie können sich einen neuen Verlag suchen!« Der Bulle setzte sich wieder und strich sich dabei affektiert das in Unordnung geratene Hemd glatt, bevor er mit ekelhaft gönnerhaftem Tonfall hinzusetzte: »Ich will Sie doch nur vor sich selbst schützen, Zemmler. Mit der Story wären Sie geflogen! Und Sie wissen, wie mies der Arbeitsmarkt für Journalisten derzeit ist.«

Michael flüsterte: »Nicht, wenn Sie sich wie ein ordentlicher Chefredakteur vor mich und meine gut recherchierte Story gestellt hätten, wie man es zu früheren Zeiten getan hätte«. Ohne abzuwarten, ob Bullenkopf die Worte gehört hatte, verließ er das Büro und ging schnurstracks zu seinem Schreibtisch. Jeder einzelne der zwanzig Schritte ließ die Wut in ihm weiter hochkochen. Was dachte sich dieser Arsch! In einem Tag einen neuen Artikel, der der vergleichsweise guten (wenn auch offensichtlich nicht immer wahrheitsgetreuen) Schreibe des Morgen gerecht wurde? Vor seinem inneren Auge flog ein Bett winkend davon. Sein Bett. Hey, hängte er doch einfach noch einen Tag ohne Schlaf dran, womit es dann vier wären. Nicht ganz der Rekord von damals, als der Haupt- und der Sicherungsserver der Redaktion kurz vor der Deadline von Viren geplättet worden waren. Diesen Sechs-Tage-Rekord wollte hier keiner so bald brechen.

Jenny warf ihm einen mitleidigen Blick zu, duckte sich aber schnell wieder hinter ihre Seite der Trennwand, als Schultz den Kopf aus dem Büro steckte, eifrig auf der Suche nach dem nächsten nicht massenkompatiblen Opfer.

Michael schnappte sich seine Tasche und machte sich vom Hof. Wenn er schon durchmachen sollte, dann wenigstens zu Hause, wo er schneller und ruhiger arbeiten konnte. Sollten sie ihn doch wegen Verstoß gegen das Gebot der Anwesenheitsarbeit rüffeln. Wäre erst seine fünfte Ermahnung. Diesen Monat.

 

Michael stand aus dem alten Ohrensessel auf und ging zum Fenster seines Ein-Raum-Appartements. Der Verkehr floss zu dieser Stunde nur dürftig und selbst die Polizeidrohnen, die in dieser miesen Gegend die Funktion der Fleischpolizisten übernahmen, ließen sich nicht blicken. Umso besser, die Blechkübel auf vier Rädern in der Größe eines umgekippten Kühlschranks zogen die Randale-Gangs so sicher an wie Freibier. Wer auch immer auf die Idee gekommen war – natürlich aus Kostengründen – die vollautomatisierten Polizeidrohnen samt Videokamera und Elektroschocker einzusetzen, hatte an den Dortmunder Westen gedacht. Fleischpolizisten trauten sich hier nur noch in Hundertschaft-Stärke rein, um zwischen den grauschwarzen Plattenbauten für Recht und Ordnung zu sorgen. Michael lächelte unwillkürlich. Tja, wer so gut verdiente wie er, wohnte halt mit Stil.

Auf der anderen Straßenseite trugen gerade je fünf Russen und Türken ihre Version interkultureller Freundlichkeit aus, ging wahrscheinlich wie immer um die Vorherrschaft in diesem Viertel. Er hätte diese Drecksgegend noch nicht einmal geschenkt genommen.

Michael schüttelte den Kopf, setzte sich die Brille wieder auf und stülpte die dunkelgrünen Cyberhandschuhe über, die an den Fingerkuppen mit Sensoren verbunden waren und an die Lack- und Lederexzesse früherer Tage erinnerten. Er bewegte die Finger geübt in schnellen Bewegungen und die Brille erwachte zum Leben. Gestochen scharf leuchtete das Head-Up-Display auf. Uhrzeit, Geodaten, unten lief ein Nachrichtenticker durch. Mit zwei Fingergesten dimmte Michael alle Einblendungen auf die niedrigste Intensität und rief dafür ein das ganze Blickfeld einnehmendes Textfeld auf. Sein Artikel. Er seufzte. In der zehnminütigen Pause am Fenster hatten die Geister der Maschine leider kein Erbarmen mit ihm gehabt, der Text war immer noch nicht länger geworden. Gerade mal ein Viertel fertig, Rohtext, unpoliert. Ein schneller Blick in die obere rechte Ecke auf die bei dieser Intensität kaum zu erkennende Uhr. Halb fünf in der Nacht. Nach zwei Stunden Arbeit hätte er schon deutlich weiter sein müssen. Michael griff an den rechten Bügel der Brille und aktivierte das Mikrofon, das sich nur als kleiner Knubbel auf dem dezenten Schwarzplastik abzeichnete. Dann diktierte er weiter. Das Mikrofon erfasste seine Stimme, sendete sie drahtlos an den Computer der Wohnung, die wiederum in Verbindung mit der Brille stand. Die Sätze erschienen mit einer Verzögerung von unter einer halben Sekunde im Textfeld, die Fehlerquote war derart gering, dass sich Michael mal wieder fragte, warum die Redaktion nicht ebenfalls auf dieses System umstieg. Kostenreiter! Er schnaubte und die Software erkannte es als eine seiner häufigen Missfallensbekundungen und versuchte erst gar nicht, es in Text umzuwandeln. Mit einer drehenden Geste seines Zeigefingers wechselte er das Programm, rief die Internetseite von Winterchem auf und dort den Bereich »Soziale Verantwortung«. Das Projekt zur Rettung der Antarktis ließ sich vielleicht wirklich zu einem guten Artikel verarbeiten. Michael griff zu seinem Glas und ließ einen weiteren Schluck des miesen Whiskys die Kehle hinunterrinnen. Es könnte dann ein Artikel werden, wenn man ignorierte, dass Winterchem einer der Hauptverursacher der Probleme der Antarktis war, spätestens seit dem dritten Ölfeld, das sie dort eröffnet hatten. Aber diesen Aspekt würde er unter den Tisch fallen lassen, der Whisky half dabei, das Gewissen zu betäuben. Er ekelte sich vor sich selbst. Er prostituierte sich. Ein schneller Blick in die Runde und die mit »einfach« noch euphorisch beschriebene Ausstattung seines Appartements machte ihm erneut deutlich, dass er den nächsten Lohn dringend brauchte. Wenn hier überhaupt etwas Wert hatte, dann sein Computersystem, das auf dem Stand des letzten Jahres war. Der Rest stammte aus Second-Hand-Läden und von Billiganbietern. Passte zu ihm, dem Billigjournalisten, wenigstens fühlte er sich aktuell so. Ein Schluck und dann weiter im Text.

 

Eine letzte zittrige Handbewegung, ein falsches Wort verschwand und wurde durch das richtige ersetzt. Dann schickte Michael den Text an die Redaktion. Sechs Uhr spätnachmittags, die Frist war eingehalten, sogar ein paar Stunden zu früh. Der Artikel war sicherlich kein Meilenstein des Journalismus, erst recht nicht des investigativen, aber der Rausschmiss war erst mal abgewendet. Das musste reichen.

Irgendetwas zuckte an seinem Oberschenkel. Michael streifte die Brille ab und sah, dass es seine linke Hand war, die wie unter Strom auf der Jogginghose herumtanzte. Er nahm seine andere Hand zu Hilfe, um sie zu bändigen und wartete das Ende des Anfalls ab. Glücklicherweise war es diesmal nur die Hand gewesen. Das Zusammenbrechen im Supermarkt, als beide Beine gleichzeitig den Dienst versagten, war letzte Woche wirklich unlustig gewesen. Der Arzt hatte ihn davor gewarnt, dass die Wachmacherpillen diesen Nebeneffekt hatten. Nicht bei jedem, aber es waren durchaus einige. Die Symptome wurden in Fachkreisen auch »Überstunden-Zittern« genannt, ein Tribut der arbeitenden Bevölkerung an immer strengere Vorgaben ihrer Arbeitgeber. In Journalistenkreisen gehörte es fast zum guten Ton, die kleinen Wachmacher einzuwerfen, um den Anforderungen standzuhalten. Ohne war es fast nicht mehr zu schaffen. Michael erhob sich aus seinem besten Möbelstück, dem alten Ohrensessel in jägergrün vom Trödel, und blickte erneut hinunter auf die Straße. Der Verkehr brummte nur so über die Kreuzung und die drei Polizeidrohnen am Straßenrand taten in ihrem silbergrün ein Übriges, dass hier niemand trödelte und womöglich auf dumme Gedanken kam.

Vorsichtig bewegte er die Linke, spürte den vertrauten Schmerz in den Gelenken, der jedes Mal nach einem Anfall dezenter Begleiter der nächsten Stunden war. Egal, die Rente mit fünfundsiebzig erreichte eh keiner, der diese Pillen schluckte. Vorher machte in jedem Fall das Herz schlapp. Seine Form der privaten Altersvorsorge. Er spülte den letzten Schluck Whisky herunter. Wenn er schon den Löffel abgab, sollte der Rechtsmediziner sich neben einem explodierten Herzen noch über eine schöne Leber freuen können. Er schmiss sich in seine Straßenkluft – Jeans, Pulli, abgewetzte Lederjacke – und machte sich auf. Noch ein paar Runden um den Block, die Beine vertreten. Nachschub des billigen Gesöffs beschaffen, um die Wachhalter aus der Blutbahn zu spülen. Ohne den Alke kam er von den Pillen nicht auf normales Niveau herunter, an Schlaf war vierundzwanzig Stunden nach der Einnahme nicht zu denken. Jedenfalls nicht ohne ein ordentliches Besäufnis. Und komischerweise hatte er genau darauf gerade Lust, so mies, wie die letzten Tage gelaufen waren.

Als er vier Stockwerke tiefer vor die Tür des Wohnblocks trat, schlug ihm die eiskalte Luft wie ein Schnellzug vor den Kopf. Ihm wurde schwindlig. Michael stützte sich an der Hauswand ab, ließ ein turtelndes Punkerpärchen passieren und bemühte sich, seinen Kreislauf wieder in den Griff zu bekommen. Es dauerte mehrere Minuten, bis er wieder halbwegs sicher laufen konnte. Wachpillen, Alkohol und der kälteste Sommer seit Beginn der Wetteraufzeichnungen mit Tageshöchsttemperaturen von zehn Grad und regelmäßigen Hagelstürmen in der Nacht waren eine unheilvolle Allianz eingegangen, die ihn früher oder später ins Krankenhaus bringen würde. Er lachte auf, was ihm einen verwunderten Blick einer älteren Dame einbrachte, die sich schnell daran machte, weiterzukommen. Irre Gestalten gab es hier mehr als genug und in dieser Gegend war es die beste Lebensversicherung, darauf gar nicht zu reagieren, sondern einfach weiterzugehen. Wenn möglich, mit erhöhtem Tempo.

Auch Michael hielt sich an diese simple Regel, schlug zum Schutz gegen den kalten Nieselregen den Kragen der in die Jahre gekommenen Lederjacke hoch und senkte den Blick, um keines der urbanen Raubtiere auf sich aufmerksam zu machen. Der mit Schlaglöchern in Fußballgröße übersähte Bürgersteig zog unter seinen Füßen zügig dahin. Er spürte die kalte Nässe des Regens bald schon auf seiner Haut, das alte Leder hielt einfach zu wenig ab, von der Hose ganz zu schweigen. Aber bei dem Wind wäre ein Schirm sowieso vergebens gewesen. Wenigstens hielt es den Pestgestank des nahen Industriegebiets ab.

Aldi in Sicht. Michael beschleunigte seine Schritte, um nicht noch mehr durchnässt zu werden. Im Eingangsbereich des hell erleuchteten Supermarkts standen zwei Türsteher die unerwünschtes Gesindel des Wohnbezirks fernhielten. Er tippte zur Begrüßung mit dem Zeigefinger an seine Stirn und Ümit, der rechte der beiden Schränke, grüßte zurück. Durch ein regelmäßiges Trinkgeld erhielt Michael das Privileg, den Markt auch außerhalb der regulären Öffnungszeiten aufsuchen zu können, wenn zum Beispiel der Whisky zur Neige ging. Oder er vom Filialleiter das nächste Tütchen der hellrosa Pillen kaufte. Der Laden garantierte eben die Grundversorgung der Bevölkerung.

Mit einem süffisanten Lächeln ging Michael durch die Gänge, der Handheld-Computer an seinem Gürtel hatte längst den virtuellen Handshake mit dem Server des Marktes gemacht und blendete ihm auf der Brille Wegweiser zu den Sonderangeboten ein. Er nahm eine Packung Eier aus dem Regal, klickte mit einer Fingerbewegung das eingeblendete »i« an der Seite der Packung an und auf seiner Brille erschienen Informationen zu den Eiern. Noch acht Tage haltbar, Bioeier aus deutscher Produktion. Wer es glaubte. Michael legte den Karton zu seinen restlichen Einkäufen in den Korb und die Zahl in der oberen Ecke seines Blickfeldes erhöhte sich um 4,99 Euro. Vier Flaschen billiger Whisky klirrten im Plastikkorb und sicherten seiner Leber Nachschub für die nächsten Tage. Vier, wenn es gut lief. Weniger, wenn neue Aufträge aus der Redaktion kamen und man ihm keine Ruhe gönnte. Michael tippte auf Letzteres. Aber eines nach dem anderen, jetzt hatte er erst mal den Rest des Tages frei. Und er hatte vor, ihn sich nicht verderben zu lassen.

Er machte sich auf den Weg zur Kasse und umkurvte eine Gruppe Rentner, die wild mit den cyberbehandschuhten Händen gestikulierend die ganze Bandbreite des Kekssortiments in Beschlag nahmen und über die Verträglichkeit von Dinkelsüßigkeiten mit dritten Zähnen debattierten. Die Welt war auch wirklich ein Ort voller Sorgen und Nöte.

Michael ging durch den Kassenscanner, der wie ein übergroßer Torbogen geformt war. Auf seiner Brille wurde die Gesamtsumme von 42,15 Euro eingeblendet mit dem Button »Jetzt bezahlen«. Er bestätigte per Fingerbewegung und konnte sein Konto förmlich seufzen hören. Er war gerade dabei, seine Einkäufe in einer Leinentüte zu verstauen, als seine Brille das Symbol eines blinkenden Telefons aufdringlich in das Blickfeld projizierte. Michael zog den Ohrstöpsel aus der Verankerung am Brillengestell und steckte ihn ins Ohr, aktivierte das Mikro und nahm den Anruf mit einem Schnipsen entgegen, während er den Markt verließ und unter dem Vordach stehenblieb, weil es mittlerweile sintflutartig regnete.

Ein Gesicht aus vergangenen Tagen blinzelte ihn im Videotelefon an.

»Sarah, was verschafft mir die Ehre?«

Die Angesprochene nickte ihm zu, fing ein Lächeln an, brach dann aber schlagartig ab und Michael konnte die Trauer in ihren Augen sehen. Es waren mehr Falten geworden, die Augen lagen tiefer, der Zahn der Zeit hatte am Äußeren der Frau genagt, die er schon seit Ewigkeiten kannte, wie es mit Freunden der Eltern halt so war. Ewig vertraut und wenn man flügge wurde, verlor man sich dann doch etwas aus den Augen. Eine Träne rollte ihre Wange hinunter, ehe sie sie flüchtig wegwischte. Ein Eisklumpen bildete sich in seinem Bauch. Diesem Gefühl konnte er leider meist vertrauen.

»Wer ist gestorben?«

Sarah blinzelte, schluckte dann fest und antwortete: »Woher ... ach, ist auch egal. Professor Winkmeyer.«

Ein weiterer Freund der Familie Zemmler tot, die letzten Monate waren wirklich wie eine Seuche. Erst der Unfall der Müllers, dann der Krebstod seines Vaters. Das Schicksal hatte 2040 zum Anti-Zemmler&Friends-Jahr ausgerufen und das allgegenwärtige Gefühl der Hilflosigkeit verstärkte sich.

»Ich hab es selber erst vor drei Stunden erfahren. Ist wohl heute Nacht passiert. Die Polizei konnte keine direkten Angehörigen finden. Du weißt ja, der Professor war ein Eigenbrötler und nie verheiratet. Meine Nummer stand in seinen privaten Unterlagen, er hatte mich mal vor Ewigkeiten als Bevollmächtigte in Pflegesachen eingetragen.«

Michael nickte, anstatt zu sagen, dass der Prof sich das nach Lage der Dinge ja wohl hätte sparen können. Mit den Jahren hatte er gelernt, dass sein Sinn für zynische Sprüche sich nicht immer mit dem Anstandsgefühl der restlichen Bevölkerung deckte.

Stattdessen fragte er: »Wie ist er gestorben? Herzinfarkt?«

»Das ist ja gerade das Merkwürdige. Keiner will mir irgendetwas sagen!« Die Trauer in Sarahs Augen wurde von Wut überlagert. »Die Polizei blockt alles ab. Diese Diskussion ist so lächerlich. Nur Angehörige erhalten Auskunft. Ach, es gibt keine, wie schade!« Sie holte tief Luft. »Die waren total kurz angebunden und sind jeder Frage ausgewichen. Wollten mir noch nicht mal sagen, welcher Bestatter und so.« Sie hatte den bestimmten Gesichtsausdruck aufgelegt, den Michael aus seinen Kindertagen nur zu gut kannte und mit vermatschtem Kuchenteig und verlorenen Fahrradschlüsseln in Verbindung brachte. »Da ist was faul!«

Michael nickte erneut, während der Regen vom Parkplatz hochspritzte.

Sarah zögerte einen Moment, dann rang sie sich ein Lächeln ab. »Wärst du eventuell so lieb, dort mal vorbeizuschauen? Ich denke, nicht nur ich würde gerne wissen wollen, was passiert ist, oder?«

Nein, Familie Zemmler wohl ebenso. Auch wenn diese auf seiner Seite nur noch aus seiner Mutter bestand. Aber wenigstens ihr wollte er den Gefallen tun. Ganz zu schweigen davon, dass er den alten Prof auch immer gemocht hatte.

»Ist okay, ich kümmer mich drum. Mal sehen, was die Bullen da unter der Decke halten wollen.« Sarah lächelte ihn an und beendete das Gespräch.

Ein Gewitter kündigte sich an, dunkle Wolken ballten sich am Himmel und der Wind fuhr eiskalt über den Parkplatz. Michael stemmte sich gegen das Wetter und ging seinen Weg.

 

*

 

Der Geruch nach Rotwein und Wild lag in der Luft, Bratensoße und Parfüm rundeten das Gemisch ab. Gedämpfte Unterhaltungen aus anderen Sitzecken drangen an Sebastians Ohr, die Atmosphäre war ruhig, edel, teuer.

Er nahm einen Schluck Wein und den letzten Bissen seines exquisiten Wildschwein-Bratens, einer Spezialität des Hauses. Maria ihm gegenüber rümpfte leicht die Nase. Vegetarier! Er warf einen schnellen Blick auf die untere Ecke seines Sichtfeldes, aber sein Handheld-PC projizierte keine neuen Nachrichten auf seine Kontaktlinsen. Maria sah das unnachahmliche Schielen, das Menschen an den Tag legten, wenn sie sich mit ihren HUDs beschäftigten und seufzte.

»Kannst du nicht einmal die Arbeit Arbeit sein lassen, Brüderchen?« Sie nahm einen Schluck Wasser, schaffte es dabei aber, ihren missbilligenden Gesichtsausdruck beizubehalten.

Sebastian zuckte mit den Achseln.

»Du weißt ja, der Kanzler hat manchmal merkwürdige Vorstellungen von der Freizeiteinteilung seiner Untergebenen.«

»Jaja, ich weiß.« Sie nahm das letzte Stück Brot aus dem Bastkorb und ließ es die Reste der Soße auf dem Teller aufsaugen, bevor sie es sich genüsslich in den Mund schob. Das »Hermanns« in Berlin war wirklich die beste Adresse, wenn es um gehobene gutbürgerliche Küche ging. Sogar eine Vegetarierin wurde hier mit Auswahl satt.

»Und, wie läuft die Galerie?«

Maria blickte eine Sekunde länger nach unten als sonst, dann erst schaute sie ihn an. Also wohl nicht so gut.

»Geht schon, geht schon.« Sie zögerte einen Moment und ließ dann die Maske fallen. Traurigkeit lag im Blick seiner fast 65-jährigen Schwester, die in ihrem feinen, rotschwarzen Abendkleid eine gelungene Abwechslung zur stressigen Arbeitswoche darstellte. Schön, dass sie mal wieder den Weg aus NRW nach Berlin gefunden hatte. Trotz der unruhigen Zeiten.

»Um der Wahrheit die seltene Ehre zu geben: Es läuft nicht allzu gut. Letzten Monat nur zwei Bilder. Zwei Bilder!« Maria seufzte und eine Locke ihres mittlerweile angegrauten Haares fiel auf das bisher mit nur wenigen Falten versehene Gesicht, ehe sie sie zurück hinter das Ohr verbannte.

»Ohne Frederick und sein Gehalt könnte ich mir den Luxus der Galerie nicht leisten, weißt du?« Ein Lächeln stahl sich auf ihr Gesicht und Sebastian sah die Wärme in ihren Augen. »Ich bin ihm sehr dankbar, dass er mir meine Spinnereien erlaubt.«

»Das sind keine ›Spinnereien‹, Schwesterchen. Du wirst mit deiner Galerie Erfolg haben, da bin ich mir sicher.«

Sie lächelte Sebastian an.

»Danke.« Sie nahm ihr Glas und sie stießen an. »Auf die erfolgloseste Galeristin in ganz Düsseldorf.« Dann setzte sie hinzu: »Und auf ihren Bruder. Den ersten Kanzleramtsminister, der vorher Wetterforscher war.«

Mit einem verschmitzten Lächeln erwiderte er: »Tsts, das muss ›Chef des Bundeskanzleramtes‹ heißen.«

Sie lachte auf und erneuerte ihren Trinkspruch. »Na dann eben auf den ›ChefBK‹«.

Dann wurde sie etwas ernster. »Wir haben dich vermisst, Brüderchen. Es war schade, dass ich zum Todestag allein am Grab gestanden habe.«

Bilder eines wütenden Mobs, der durch die Straßen zog, schossen durch Sebastians Kopf. Das Auto seiner Eltern, sein Vater, wie er falsch abbog. Sie hatten keine Chance gehabt. Die Nahrungsmittelunruhen von '35 hatten alle in ihrer Heftigkeit überrascht. Das Wetter war schuld, die ganzen Kapriolen der letzten Jahrzehnte hatten für die schlechtesten Ernten seit Aufzeichnungsbeginn gesorgt und selbst in den Großstädten Westeuropas hatten sich die Menschen einschränken müssen. Mittlerweile waren die Probleme etwas entschärft durch rigorose Sparmaßnahmen an anderer Stelle – Entwicklungshilfe war genauso schwer zu vermitteln wie Raumfahrt und Kohlesubventionen, wenn zu Hause gehungert wurde. Aber gut war die Lage immer noch nicht. Das Geld war einfach zu knapp. Die Zukunft ließ grüßen.

Er merkte, wie Maria ihn immer noch anschaute und riss sich aus seinen Gedanken.

»Ja. Entschuldige. Viel zu tun.«

Maria reichte ihre Hand über den Tisch und er ergriff sie.

»Du musst ab und zu auch mal abschalten, Bruderherz. Diese Arbeit frisst dich auf.«

Er nickte. Wie hätte er es ihr auch erklären können? Hinzu kam, dass zu Hause niemand auf ihn wartete, um die große Wohnung mit Leben zu füllen, wenn er aus dem Kanzleramt kam. Die Luft war dünn in seinen Höhen der Macht.

Sebastian schaute wieder nach unten auf den Nachrichtenticker, den die Kontaktlinsen in sein Blickfeld einblendeten. Krawalle in Hamburg wegen der Infrastrukturversäumnisse der letzten Jahre. Russland dreht mal wieder den Gashahn für Westeuropa zu, um Zugeständnisse bei Waffenimporten zu erhalten. Vier Tote bei Überfall auf Supermarkt in ländlicher Region, wegen der nächsten Preiserhöhung bei Grundnahrungsmitteln. Sebastian seufzte leise. Ein verrückter, normaler Tag.

 

Die Verabschiedung hatte lange gedauert und war nicht ohne das Versprechen geendet, Maria und ihre Familie bald mal wieder zu besuchen. Sie hatte wenigstens eine. Mann, Kinder, sogar Enkel. Auf ihn wartete niemand. Schwermütig stopfte er die Hände in die Taschen seines Mantels aus feiner Wolle und ging die paar Schritte zur Parkgarage, während ihm ein Diener aus dem »Hermanns« mit einem Schirm vor dem Regen schützte. Er dankte dem Jungen, gab ein großzügiges Trinkgeld und stieg in seinen Mercedes-Audi-D-8 ein, neuestes Modell natürlich. Für wen hätte er auch sparen sollen?

Der Wagen glitt wie auf Schienen daher und Sebastian reihte sich in den Verkehr ein, der nach Berlin-Mitte fuhr. Gutes Wohnviertel, wenn man das Geld hatte. Nichts für Familien mit Kindern, aber das war ja nicht sein Problem. Er musste nur schnell in der Waschmaschine – wie die Berliner das mittlerweile zigmal renovierte Kanzleramt nannten – sein, wenn es darauf ankam.

Sebastian lehnte sich zurück, das grüne Lämpchen auf dem Armaturenbrett vermeldete volle Synchronisation mit dem Verkehrsleitsystem und der Wagen steuerte sich autonom durch die abendlichen Straßen. Erst auf den kleineren Wegen musste er selbst zum Steuer greifen, hier auf den Hauptstraßen war die Netzabdeckung gut, einer der wenigen Vorteile, in der Hauptstadt zu wohnen. Wenn überhaupt noch etwas Geld für Infrastrukturprojekte übrig war, dann wurde es hier und im Norden investiert. Die Vorbereitungen liefen.

 

Es klopfte an der Tür seiner Eigentumswohnung in bester Citylage. Sebastian ging die paar Schritte vom offenen Wohnzimmer bis zur Eingangstür, vorbei an der Glas- und Stahlästhetik seiner Wohnung. Kühl, edel, zurückhaltend eingerichtet.

Er zog den Bademantel fester zu, atmete tief durch, öffnete. Und da stand sie vor ihm. Feuerrote Haare, Hochsteckfrisur, ein freundliches Lächeln auf dem Gesicht. Melanie trat ein, legte den Mantel ab und warf sich ihm an den Hals. Sebastian vergrub sein Gesicht an ihrem Hals, atmete ihren Duft. Ihren? Ja. Ihren! Sie war jung und schön wie immer.

Sie küssten sich leidenschaftlich, sie entkleidete sich noch im Flur. Sebastian ließ den Bademantel auf den Boden fließen, grub seine nackten Zehen in den weinroten Läufer. Melanie quiekte, als ihre nackten Zehen den kalten Marmor berührten und beeilte sich, zu ihm auf den Teppich zu kommen. Er hob sie hoch, trug sie auf die Couch. Champagner und Erdbeeren standen bereit, eine Sünde angesichts der Lebensmittelsituation. Er würde morgen wieder gute Taten vollbringen, dieser Abend gehörte ihm. Er vergaß alles. Seine Arbeit, Maria, das Projekt, alles wurde von Melanie hinweggefegt. Wie sie den hölzernen Stift aus ihren Haaren zog und diese nun nach unten fielen, sich wie roter Samt auf ihren Schultern ausbreiteten. Ihre festen Brüste wogten im Takt der Küsse. Sie war keinen Tag gealtert seit Dänemark. Er mochte gar nicht an sich heruntersehen, die Zeit hatte es nicht so gut gemeint mit ihm, das stressige Leben und gute Essen erst recht nicht. Fast sechzig. Melanie sah ihm direkt in die Augen, er verlor sich in ihrem Blick. Sie lächelte, setzte mit ihrer gewohnt hellen Stimme ein »Gut siehst du aus, mein Schatz!« hinzu und küsste ihn dann am Hals, wanderte langsam nach unten. Die Welt versank für einige Zeit in Liebkosungen und Zärtlichkeiten. Dann hob er sie hoch, sie quiekte erneut und er trug sie ins Schlafzimmer.

 

Sebastian erwachte. Das Licht des frühen Morgens fiel schräg durch das Fenster des Schlafzimmers auf das große Bett. Die Seidenbettwäsche war kalt und warm zugleich. Der Geruch nach Schlaf und Champagner lag noch in der Luft. Melanie war fort. Wie immer. Sein Konto mehrere tausend Euro ärmer. Wie immer. Die Agentur machte ihre Arbeit so gut, da spielte Geld keine Rolle. Er fühlte sich innerlich ein Stück kälter, nahm wahr, wie jeder Besuch ihn weiter auszehrte, tiefer in den Strudel aus Selbstvorwürfen wegen der Ereignisse in Dänemark zog. Und doch konnte er nicht von Melanie, wie auch immer sie reell eigentlich hieß, lassen. Es war letztlich gleich, für ein paar Stunden kehrte die glücklichste Zeit seines Lebens zurück, auch wenn sie ihn danach tiefer unten zurückließ als vorher. Dieses Spiel konnte nicht ewig gehen, das war dem logischen Teil seiner selbst längst klar. Aber ein anderer Teil forderte Melanie, schrie nach ihr so laut, dass es alles andere übertönte, bis er bei der Agentur anrief und Melanie orderte. Die Abstände wurden immer kürzer. Erst waren es Wochen gewesen, nun nur noch Tage. Das Projekt machte immer schnellere Fortschritte, die Anspannung wuchs, auch in ihm. Und es gab immer noch keinen Menschen in seinem Leben, der sie so gut wegwischte wie Melanie.

Eine einzelne Träne kullerte seine Wange hinunter, perlte auf der Seidenbettwäsche davon. Er schämte sich ihrer nicht. Er war lange genug stark gewesen.

 

*

 

Ein normales Mehrfamilienhaus in einer der südlichen und damit besseren Gegenden von Essen. Saubere Fassaden, aufgeräumte Straßen, volles Verkehrsleitsystem. Hier ließ es sich leben. Michael schüttelte den Kopf. Nur wenige Dutzend Kilometer von seiner Bude entfernt und doch hätte es ein anderer Kontinent sein können. Er schlängelte sich an den zu dieser Mittagszeit üblichen Passanten vorbei, die gerade die Schaufenster der örtlichen Bäckerei beäugten und ging über die wenig befahrene Allee des Wohnviertels. Autos der oberen Mittelklasse standen in den Parkbuchten. Zwei Breitschultern des örtlichen Wachanbieters patrouillierten dazwischen und schenkten ihm mehr als nur einen Blick. Er konnte es ihnen kaum verdenken, sein unrasiertes Gesicht passte ebenso wenig zu dieser Gegend wie seine Ankunft im zwanzig Jahre alten Klappermobil und die einfache, zweckmäßige Kleidung samt weitem Mantel. Er tippte mit seinem Zeigefinger an seine Stirn, woraufhin der größere der beiden ihn schief angrinste und die Muskeln unter der zu engen Uniform spannte. Die Botschaft war klar: »Mach hier Ärger, Bürschchen, und jemand muss deine Teile vom Bürgersteig aufsammeln.« Dabei war er gar nicht hier, um Stress zu machen. Vorerst.

Michael ging noch ein paar Schritte, dann stand er vor der Eingangstür des Mehrfamilienhauses. Nur vier Parteien. Acht Stockwerke und nur vier Familien wohnten hier? Er hatte sich wirklich den falschen Beruf ausgesucht. Michael ging schnell die Klingeln durch, schellte dann wahllos bei der obersten. Ein kurzes »Post!« durch die Gegensprechanlage und der Kamera den Rücken zugewandt, schon stand er im Hausflur. Ein leichter Duft nach Parfüm lag in der Luft, süßlich, nicht zu schwer. Michael ignorierte den Aufzug und ging die drei Stockwerke zu Fuß. Aufzüge waren bessere Todesfallen, da konnten die Techniker ihm erzählen, was sie wollten. Außerdem konnte seinem von Alkohol und Wachdrogen gezeichneten Metabolismus eine Treppe hier und da nur gut tun.

Die Polizei hatte natürlich auch ihm keine Auskunft geben wollen. Aber wenn die Infos nicht zum Reporter kamen, fuhr selbiger eben zum Tatort. Dort ergaben sich meist mehr Möglichkeiten, den Menschen auf den Zahn zu fühlen, als wenn man sich alleine auf die modernen Errungenschaften der Kommunikationstechnik verließ.

Für eine Schrecksekunde verlangsamte Michael seinen Schritt, als er die Tür des Treppenhauses öffnete und den kurzen Zubringerflur betrat, der nur eine einzige Tür am anderen Ende offenbarte: Professor Winkmeyers Tür. Ein Polizist stand vor dem Holzimitat, das bei den Sicherheitsstandards hier aber wahrscheinlich sogar einem kleinen Rammbock standgehalten hätte. Michael straffte sich, atmete durch und ging unter den wachsamen Augen des gut dreißig Jahre alten Polizisten auf diesen zu. Ein Streifenhörnchen, einfacher Schutzpolizist, betraut mit einer langweiligen Aufgabe. Vielleicht ging ja was.

Ohne zu zögern ging Michael den Flur entlang und stand nun vor dem »Türsteher in Uniform«. Der Polizist war unscheinbar: mittleres Alter, rundes ausdrucksloses Gesicht, einige Kilos zu viel, die Arme hinter dem Rücken verschränkt. Und er schaute Michael streng an.

»Halt, Sie haben hier keinen Zutritt!«, befahl Specki barsch.

Michael blieb stehen und lächelte freundlich. »Aber natürlich.« Er taxierte sein Gegenüber, sah das durchscheinende, rotierende »i« auf dessen Brust und klickte kurz an seinem Handheld-Computer am Gürtel herum. Das MySelf-Profil von Dennis Gruber wurde halbtransparent auf Michaels Brille eingeblendet. Ein journalistisch geübter Blick, dann ging er zum Angriff über.

»Hallo Herr Gruber.« Sein Gegenüber versteifte sich, der Polizist schaute ihn misstrauisch an und Michael hob die Hände entwaffnend zur Seite. »Alles in Ordnung, Herr Gruber. Ich möchte nur kurz in diese Wohnung hinein. Die Spurensicherung ist hier doch sicherlich schon fertig, so dass dagegen nichts einzuwenden ist, oder? Ich bin ein Freund des Verstorbenen und möchte nur ein paar persönliche Gegenstände, die ich ihm geliehen hatte, abholen.«

»Wenden Sie sich bitte an das Kriminalkommissariat 3, dort wird man Ihnen die Möglichkeit geben, auf Gegenstände in der Wohnung Ansprüche anzumelden.«

»Ach kommen Sie, Sie wissen doch selbst, wie lange das dauern wird. Bis dahin sind die Pflanzen doch längst verdorrt, die ich ihm zur Pflege während meines Urlaubs überlassen hatte.«

Laut des MySelf-Profils war Gruber ein Hobbygärtner, nicht ohne Grund lautete sein dortiger Spitzname »GruenerDaumen11«.

»Sie wollen nur ein paar Pflanzen abholen?« Die Grübelfalten auf der Stirn des Mannes traten deutlich hervor.

»Wenn ich es Ihnen sage! Ich hol nur eben die grünen Sauerstoffspender und das Pflegeequipment, dann sind Sie mich auch schon wieder los. Keine zehn Minuten!«

»Ich habe eigentlich strikte Anweisung, hier niemanden reinzulassen.« Das unausgesprochene »aber« hing im Raum.

Michael setzte nach, schnappte sich schnell seine Cyberhandschuhe aus dem Mantel, wirbelte ein paar Mal mit den Fingern und auf dem Profil von Herrn Gruber war ein Gutschein eines örtlichen Blumenladens eingegangen. Dreißig gut investierte Euro. Der dickliche Polizist schielte nach unten auf seiner HUD-Brille, dann lächelte er.

»Na gut, unter Blumenfreunden will ich mal nicht so sein. Die von der Kripo haben eh schon alles aufgezeichnet, da können Sie ja kaum was falsch machen. Aber wirklich nur zehn Minuten!«, sagte er und hob beschwörend die Rechte.

Michael schlug ein, verstaute die Cyberhandschuhe und betrat die Wohnung. Gruber verschloss die Tür hinter ihm und fing an, schräg zu pfeifen, was durch die sich schließende Tür glücklicherweise abgeschnitten wurde. Man musste auch für kleine Geschenke dankbar sein.

Als er das Chaos sah, musste er tief durchatmen, um den Schreck aus den Knochen zu bekommen. Wer auch immer hier gewesen war, hatte ganze Arbeit geleistet. Eine gut hundert, vielleicht hundertzwanzig Quadratmeter große Wohnung eröffnete sich, letztlich war es nur ein einziger großer Raum, unterbrochen von Säulen und einer gewaltigen Steintheke, die die halboffene Küche vom Wohn- und Essbereich abtrennte. Im hinteren Teil, nahe des riesigen Fensters, das zum Garten hinaus zeigte, lag die Wendeltreppe, die zur oberen Etage der Wohnung führte, die ebenso groß war. Wenn er sich richtig erinnerte, und sein letzter Besuch beim Prof lag mehr als zehn Jahre zurück, waren oben die Schlafräume und das gewaltige Bad zu finden, in dem man sich fast verlaufen konnte. Aber derzeit hatte er nur einen Blick für die Unordnung. Schubladen waren herausgezogen und über die dunklen Ledersessel ausgeschüttet worden. Ein großer Riss ging durch das Sofa, der frei im Raum stehende Flachbildschirm war umgekippt und lag zersplittert auf dem Boden. Hier hatte jemand etwas gesucht. Oder so tun wollen, als ob. Also kein Schlaganfall oder Herzinfarkt, hier steckte mehr dahinter. Gut, dass er wieder auf sein Bauchgefühl gehört hatte.

Michael ging durch die Wohnung, stülpte sich ein Paar Putzhandschuhe über und stellte wahllos ein paar auf den Fensterbrettern versammelte Mini-Kakteen und einen Eimer neben die Tür, über den er einen alten Lappen legte, um auf ein schnelles Ende seiner Untersuchungen vorbereitet zu sein. Anschließend nahm er die Wohnung mit der Kamera seiner Brille auf, stieg über Berge von Büchern, die aus schwarzen Edelholzregalen herausgekippt worden waren, wandte sich dann dem oberen Stockwerk zu, ging die Wendeltreppe hinauf und blieb vor der Tür zum Schlafzimmer erschrocken stehen. Irgendwo hatte der Todesort ja sein müssen, aber so sehr man sich auch vorbereitete und egal, wie lange er schon Reporter war, derartige Orte rangen ihm immer noch Gefühle ab, die er eigentlich begraben sehen wollte. Offensichtlich war der Prof vor dem Schlafzimmer zusammengebrochen, eine Blutlache war in den feinen, beigen Teppich eingesickert und hatte die Umrisse seines Kopfes verewigt. Der Oberkörper hatte im Schlafzimmer gelegen, die Beine in der geöffneten Tür, Füße Richtung Wendeltreppe. Linkerhand lag das Badezimmer, das den größten Teil der oberen Etage in Beschlag nahm, wie durch die geöffnete Tür zu erkennen war. Rechterhand noch ein kleines Gästeschlafzimmer, das Michaels Wissen nach so gut wie nie benutzt worden war. Der Prof war Single gewesen, weniger aus Überzeugung, sondern mehr aus seinem Habitus als Wissenschaftler im Elfenbeinturm heraus, der mehr Zeit in meteorologische Forschungen als in Partnerbörsen steckte.

Michael ging in die Hocke und sah sich den Blutfleck aus der Nähe an. Eine Lache hatte sich auf dem Teppich ausgebreitet, aber irgendwie war der Fleck vergleichsweise klein. Die Blutung war also nur kurz gewesen. Als Reporter schnappte man ja so einiges auf und wenn er sich richtig erinnerte, deutete das darauf hin, dass der Tod zügig nach Zufügen der blutenden Wunde eingetreten sein musste, wenn das Herz also schnell aussetzte und kein weiteres Blut pumpte. Ihm lief ein Schauer über den Rücken. In was war der Prof hier hineingeraten?

Michael stand auf und machte sich mit den quietschgrünen Putzhandschuhen daran, die Wohnung oben und unten zügig zu durchsuchen. Aber wie vermutet: Beides war weg. Weder der Handheld-Computer, noch der Wohnungsserver – in der Größe einer Buchkiste – waren zu finden. Wer auch immer hier gewesen war, hatte sie mitgenommen. Die Polizei hätte sie hiergelassen und lediglich die Daten überspielt. Standardvorgehensweise, wie er aus einigen Milieureportagen wusste. Sonst hätte die Kripo bald wie in früheren Tagen für die ganzen Computer anbauen müssen, der Datentransfer war leichter und dank Masterpasswort der Regierungsbehörden auch vollständig. Schöne neue Welt.

Aber vielleicht ... Michael ging zur Tür und drückte dort an einer unscheinbaren Stelle auf Knöchelhöhe gegen die Wand. Mit einem hörbaren Klicken löste sich die Verkleidung und glitt in die Wand, das Sicherheitspanel der Wohnung kam zum Vorschein. Volltreffer. Wer auch immer hier gewesen war. Er hatte sich nicht mit dem Sicherheitssystem des Hauses ausgekannt, das neben dem offensichtlichen Hausserver noch ein verstecktes Backup-System alleine für die Sicherheitsfunktionen der Wohnung hatte. Eine Art Lebensversicherung, wenn der Hausserver durch einen Virenangriff oder ähnliches Hopps ging, damit die Wohnung trotzdem weiter geschützt war. Wie gut, dass er erst kürzlich zu diesem Thema hatte recherchieren müssen. Sonst hätte er den kleinen Aufkleber an der Tür, der die installierende Sicherheitsfirma und damit ihr Standard-Versteck für den Securityrechner, verriet, wohl genauso übersehen.

Michael atmete durch. Wollte er wirklich den Datenspeicher mitnehmen? Das Herumstöbern hier konnte man noch unter Neugier verbuchen und mehr als einen bösen Spruch von der Polizei müsste er sich im Falle der Entdeckung wohl kaum anhören. Aber den Datenspeicher mitzunehmen könnte böse enden ... wenn das herauskam, wäre er wegen Unterschlagung von Beweisen oder Schlimmerem dran. Andererseits war das hier ein Rätsel, das mal wieder die Freunde seiner Familie betraf. Das Reporterherz setzte sich durch und mit geübten Handgriffen entnahm er der Anlage den daumennagelgroßen Speicherchip und ließ ihn in seiner Tasche verschwinden. Schnell drückte er das Panel zurück, zog die Handschuhe aus und ließ sie im Eimer verschwinden. Keinen Moment zu früh, denn da klopfte es.

»Sind Sie fertig?«, schallte Grubers Stimme herein, als der Polizist die Tür einen Spaltbreit öffnete.

Michael grinste ihn an, kam aus der Hocke hoch, nahm die letzte Kaktee in die Hand und balancierte alles heraus.

»Hab alle zusammen. Sorry, die letzte hier«, er hielt eine Mini-Kaktee mit rosa Blüten in die Höhe, »war im Bad versteckt.«

Der Polizist und Grünzeugfan lächelte zurück und hielt Michael die Tür auf, der mit einem letzten Wort des Dankes im Treppenhaus verschwand, die Treppen hinunter eilte und machte, dass er im eisigen Sommerwind zum Auto kam.

Natürlich nicht, ohne dass er in seinen Klamotten und mit vier Kakteen in den Armen einige Blicke auf sich zog.

Das Wiesel würde jetzt etwas Arbeit bekommen.

 

*

 

Michael nahm das speckige Glas dankbar entgegen und prostete seinem Gegenüber zu. Der malzig-rauchige Bourbon rann seine Kehle hinunter und wärmte die durchgefrorenen Glieder. Dreckswetter!

Das Wiesel hatte eine eigenartige Vorstellung von Wohnlichkeit. Die Kellerwohnung hatte weder Fenster noch eine Lüftung, entsprechend abgestanden roch es. Aber wenigstens war es warm, wofür der kühlschrankgroße Server sorgte, der neben der Eingangstür der gut sechzig Quadratmeter Kellerwohnung im Bottroper Süden stand. Das Wiesel hatte hier die Rechenpower eines großen Mittelständlers stehen und das ganz für sich alleine. Wer würde auch hier bei ihm einziehen wollen? Jeder freie Quadratmeter war mit Computerbauteilen, Schaltplänen, einer großen Werkbank samt noch rauchendem Lötzinn und nicht jugendfreien Postern an den Wänden vollgestellt. Aber wenigstens hatte er einen ordentlichen Geschmack, was Alkohol anging. Michael nahm einen weiteren Schluck. Nicht schlecht, nicht so ein Billigzeug wie sein Fusel.

Der kleine Mann, der ihm im Bürostuhl gegenübersaß und damit seinem Schreibtisch an der Wand den Rücken zukehrte, grinste über das ganze Gesicht. Es sah fast so aus, als wollte er seine eigenen Ohren verschlingen. Das kantige, schmale Gesicht auf dem dünnen Körper hatte ihm den Spitznamen Wiesel eingebracht. Das leicht linkische Gehabe und die stets dunkle Baumwollkleidung, die wie eine zweite Haut über den dürren Rippen saß, passten ebenfalls ins Bild.

»Schon ein paar Jahre her, Zemmi!« Das Wiesel nahm ebenfalls einen Schluck Bourbon, wenn auch, wie Michael registrierte, aus einem weniger dreckigen Glas.

Michael nickte. »Stimmt. Entschuldige, viel zu tun.«

»Kein Problem!«, sagte das Wiesel abwinkend. Kein Mann der großen Worte.

»Und, wie läuft das Reporterleben? Machst du immer noch so Milieureportagen wie damals mit unserer ›Ein Leben zwischen Bits und Bytes‹?«

»Hab mehr auf politische Berichterstattung umgesattelt. Mehr Schreibtisch und Kom, weniger Hackenarbeit.«

Das Wiesel lachte mit einer für seinen schmalen Körper erstaunlich dunklen Stimme und tippte sich an die Stirn.

»Gute Idee, Zemmi. Bei dem Dreckswetter sollte man nicht häufiger vor die Tür gehen, als notwendig.«

»Manchmal hat es wohl auch Vorteile, kein Fenster zu haben.« Michael grinste und schaute auffällig durch die Wohnung, deren zellenartiger Grundriss Zweifel aufkommen ließ, warum hierfür jemand ernsthaft Miete zahlte. Gerüchteweise gehörte dem Wiesel das kleine Mehrfamilienhaus, in dessen Keller sie gerade waren und zog es trotzdem vor, hier unten zu wohnen. Die bleiche Hautfarbe seines Gegenübers sprach da Bände.

Das Wiesel würdigte seinem Spruch keiner Antwort, trank stattdessen aus und stellte das Glas auf den Schreibtisch, direkt neben ein Paar der modernsten Cyberhandschuhe, die Michael je gesehen hatte. Das neue Sony-Modell. Sollte das nicht erst in zwei Monaten auf den Markt kommen?

Dann verschränkte das Wiesel – wer ihn Oliver nannte, konnte gleich wieder gehen – die Hände und schaute Michael eindringlich an.

»So, nachdem du meine Wohnung beleidigt und meinen Bourbon genossen hast ... womit kann ich dir helfen? Das wird doch kein Höflichkeitsbesuch, habe ich recht?«

Michael griff in die Jackentasche, nahm das Chipetui heraus und reichte es dem Wiesel, der es sich – gierig wie bei jeder Art Tech – sofort schnappte.

»Ein Standard-Speicherchip. Und?«

»Ist aus einer Wohnungsüberwachung. Schau bitte, was drauf ist und ob dran rumgefummelt wurde.«

Das Wiesel pfiff leise durch die Zähne, was Michael einen Schwall säuerlichen Atems bescherte, der dem muffigen Geruch der Wohnung eine neue Note verlieh.

»Überwachung! Privatwohnung?«

Michael nickte.

»Was springt dabei für mich heraus?«

»Mein immerwährender Dank«, sagte Michael und fügte ob der gehobenen Augenbrauen des Wiesels hinzu: »Und du würdest mithelfen, ein Rätsel zu lösen. Eines der blutigeren Sorte. Jemand ist gestorben, alle Datenspeicher in seiner Wohnung sind weg und keiner weiß, warum.«

Er konnte sehen, wie es hinter der hohen Stirn des Wiesels arbeitete. Aber er hatte ihn am Haken. Rätsel hatten es dem Computerfreak angetan, gerade, wenn Tech mit inbegriffen war.

Es dauerte keine zehn Sekunden, dann drehte sich das Wiesel bereits um, legte den Chip in eine Leseeinheit ein, setzte die Brille auf, streifte die Handschuhe über und begann mit fließenden Fingerbewegungen mit der Arbeit. Seine Art, zuzustimmen. Michael mochte Effizienz, die keine Worte verschwendete.

Plötzlich vibrierte sein Handcomputer am Gürtel. Michael nahm die Brille aus der Jackentasche, setzte sie auf und nahm den Anruf entgegen.

Das Bild eines Polizisten wurde in sein Sichtfeld eingeblendet, die Kopfzeile lautete »Polizeidienststelle Ückerweg, Dortmund«. Michael schluckte und versuchte, sich seine Nervosität nicht anmerken zu lassen. Hatten sie das Fehlen des Chips bemerkt? Warum dann eine Dienststelle in Dortmund und nicht in Essen bei der Wohnung des Profs?

»Michael Zemmler?«

»Ja? Bin ich.« Er hörte selbst, wie seine Stimme zitterte.

»Wir haben hier ein Problem und es wäre nett, wenn Sie bitte bei uns vorbeikommen könnten.«

»Dürfte ich fragen, worum es sich handelt?«

Der Polizist bemühte sich noch nicht einmal, ein freundliches Gesicht aufzusetzen.

»Das erörtern wir besser vor Ort. Sagen wir so: Ihre Tochter hat offensichtlich nicht gerade die beste Erziehung genossen.« Der Polizist schob ihm noch einen Link zur Adresse rüber, sein Handheld vibrierte, als der Datenempfang abgeschlossen war, und ohne weitere Verabschiedung beendete der Bulle das Gespräch.

In was war Sandra da diesmal reingeraten?

 

Der Verkehr floss vorbei, die Scheinwerferkolonne fraß sich durch das winterliche Grau-Schwarz des Spätnachmittags, die Fenster waren halb geöffnet, der kalte Fahrtwind hielt ihn wach. Ein schicker Sportwagen überholte ihn auf der linken Spur der A40. Michael nahm das alles nicht zur Kenntnis, fuhr wie auf Autopilot. Sandra drückte sich tief in den Beifahrersitz des uralten Wagens und hatte die Arme trotzig vor der Brust verschränkt. Einer Brust, die Rundungen zeigte, die Michael gefährlich fand. Wann war seine Tochter eine Frau geworden? Und wo war er zu diesem Zeitpunkt gewesen?

Sandra würdigte ihn keines Blickes, ihre rote Lockenpracht war ziemlich durcheinander und auch auf der Jeans und dem seiner Meinung nach viel zu engen Pulli waren ein paar Dreckspuren. Die Augen im leicht verpickelten, aber dennoch hübschen Gesicht einer Jugendlichen waren verquollen. Spuren ihrer Flucht vor der Polizei, die sie letztlich verloren hatte.

Er räusperte sich, stellte das Gedudel des Jugendsenders leiser.

»Also, was ist passiert?«

Sandra explodierte förmlich. »Das hat dir der Scheißbulle doch schon erzählt! Diese dämlichen Wichser!« Sie verschränkte ihre Arme derart fest vor dem jugendlichen Körper, dass sie anfing zu zittern.

Michael hob besänftigend eine Hand. »Ja, das hat er. Der ›Polizist‹. Du bist mit ein paar Freundinnen auf eine Shoppingtour in das Kaiser-Saturn-Center gegangen. Wobei ihr unter ›Shopping‹ wohl etwas anderes versteht als die meisten anderen Bürger.« Er bemühte sich, seine Worte so ruhig wie möglich auszusprechen, auch wenn ein glühender Stein seinen Magen ersetzt hatte.

»Ist ja wieder klar, natürlich glaubst du dem Bullen«, sie spie das letzte Wort nur so aus, »und nicht mir.« Sandra fuhr sich durch die Haare. »Wir wollten wirklich nur shoppen. Aber auf einmal hat Mandy sich mehrere Shirts in die Tasche gestopft und ist durch die Kassensperre gelaufen. Als sie uns dann verfolgt haben, hat sie die Sachen fallenlassen und ich hab sie aufgehoben, damit ich sie zurückgeben kann.«

Michael runzelte die Stirn. Fehler. Sandra sah die Geste. »Ist ja wieder typisch, Dad! Du glaubst mir nicht! Niemand glaubt mir!« Der Weltschmerz einer Teenagerin brach sich in einem Heulkrampf Bahn und die nächsten Minuten fuhr Michael schweigend die Autobahn entlang, während das Ruhrgebiet an ihnen vorüberzog. Von rechts kamen weiter Schluchzgeräusche, die irgendwann abebbten.

Sandra sah ihn von der Seite aus ihren verquollenen Augen an.

»Glaubst du mir wirklich nicht, Dad?«

Er hätte sie am liebsten in den Arm genommen. Oder wenigstens ihre Hand genommen. Aber er fürchtete ihre Reaktion. Eine Teenagerin in der Pubertät war schon schwer. Eine, die dem Vater alles übel nahm, ihn für die Scheidung und alles Miese, was der Familie widerfahren war, verantwortlich machte und den Kontakt auf ein Minimum beschränkte, war aber eine ganz andere Kategorie. Wann hatte er sie verloren? An dem Tag, an dem seine Frau die Ex wurde? Oder schon früher? Als die dreckigen Scheidungsgeschichten liefen, bei denen er immer den Kürzeren gezogen hatte? Die Ex verdiente besser, hatte mehr Zeit für das Kind und einen geordneteren Umgang. Was nicht schwer war, denn seine Sozialkontakte waren jobbedingt nicht die Besten.

Michael schaute kurz zu Sandra hinüber und konzentrierte sich dann vorgeblich wieder auf die Straße. Dann zuckte er mit den Schultern.

»Ich weiß es nicht, Schatz.« Er schüttelte den Kopf. »Ich weiß es einfach nicht. Du hast derart viel Mist in den letzten Monaten gebaut. Aus der Schule abgehauen, einen Lehrer geschlagen, die Geschichte mit der Spritztour mit dem Wagen, den du gar nicht hättest fahren dürfen. Und noch so einiges mehr. Es würde einfach ins Bild passen.«

»Typisch. Du denkst, dass immer die anderen Recht haben und ich nie!« Sie verschränkte erneut ihre Arme und ließ die Haare tief ins Gesicht fallen. Er kannte diese Geste. Egal was er jetzt sagte, es würde alles nur schlimmer machen. Also fuhr er weiter, die Minuten verstrichen. Irgendwann kam die Abfahrt, das schöne Neubaugebiet, die Seitenstraße mit dem kleinen Reihenhaus. Das Haus der Ex. Früher mal ihr gemeinsamer Traum. Jetzt zahlte er nur noch für etwas mit, was er selbst gar nicht mehr bewohnte. Die deutsche Rechtsprechung und er würden nie wieder Freunde werden.

Das Auto hielt, die Scheinwerfer erloschen vor dem weißen Holzzaun, der den winzigen Vorgarten von der Seitenstraße trennte.

Sandras Haltung lockerte sich etwas, sie drehte sich zu ihm. In dem Moment summte sein Kom, Sandra sah in schneller Folge zu dem brummenden Ding am Gürtel und ihm. Das Anrufersymbol des Wiesels wurde auf die Brille projiziert. Er ging dran.

»Komm vorbei, ich hab da was!« Ohne ein weiteres Wort legte das Wiesel wieder auf. Michael drehte sich zu Sandra, doch die stieg bereits kopfschüttelnd aus, nahm ihren Rucksack von der Rückbank und ging einfach. Keine Verabschiedung, kein Wort des Dankes, dass er sie so schnell bei der Polizei abgeholt hatte, weil ihre Mutter arbeiten war. Nichts. Er sah nur noch ihren schlanken Körper – Gott, wann war sie so erwachsen geworden – der im Haus verschwand. Er wollte ihr etwas hinterherrufen. Irgendetwas, was half. Irgendetwas, was die Situation verbesserte. Es fiel ihm nichts ein. Die Haustür schloss sich.

 An den Fenstern der Nachbarhäuser wurden Gardinen zur Seite geschoben. Leute glotzten auf die Straße, passten auf, dass nichts Schlimmes in ihrer genormten, kleinen Reihenhauswelt passierte. Der letzte Hort der Bürgerlichkeit in einer Welt, die eigentlich nur noch Oben und Unten kannte und die Mitte ausradiert hatte.

Michael sank zurück in den Fahrersitz und fuhr sich über das Gesicht.

»Wirklich toll gemacht, Zemmler«, murmelte er vor sich hin, wendete und fuhr die Straße wieder zurück bis zur Autobahnauffahrt. »Du hast schon Geiselnehmer während eines Polizeischusswechsels interviewt, aber findest nicht die richtigen Worte für deine Tochter. Reife Leistung.«

Darin, sich selbst fertig zu machen, war er einsame Klasse. Jeder hatte ein Hobby.

 

Zurück beim Wiesel kam ihm die Enge der vollgestellten Kellerwohnung noch bedrückender, die Luft noch muffiger vor. Die Wände krochen ihm geradewegs entgegen.

Er konzentrierte sich auf das technische Geschwafel seines Gegenübers, der ihm den Rücken zuwandte und auf diverse Zeilen mit unverständlichen Codes auf seinem Bildschirm zeigte, den er freundlicherweise zur Brille hinzugeschaltet hatte, damit selbst ein Tech-Anfänger (von ihm liebevoll ›Noob‹ genannt) alles mitbekam. Und jeder war für ihn ein Noob.

Michael hob in einer Geste der Aufgabe die Arme.

»Okay, Wiesel, du hast es mal wieder geschafft. Ich versteh kein Wort. Also, nochmal für völlige Idioten wie mich, was ist los?«

Das Wiesel drehte sich mit einem Siegesgrinsen um und lachte. Es klang, als ob der dürre Kerl einen Kontrabass verschluckt hätte. Wie Gott eine derart tiefe Stimme in einen solch schmalen Körper bekommen hatte, war ihm immer noch ein Rätsel.

»Na gut, dann die Noob-Version: Du hast Glück und Pech in einem.«

Als das Wiesel keine Anstalten machte, weiterzusprechen, fuhr ihn Michael an: »Hör mal, Wiesel, mein Tag war schon scheiße genug. Jetzt lass dir nicht jedes Wort einzeln aus der Hakennase ziehen!«

Pikiert drehte sich der Techniker um und zeigte erneut auf ein paar Zeilen des Codes auf dem Bildschirm.

»Gut, dann zuerst das Pech: Hier hat jemand dran rumgespielt. Ein Profi. Alle Überwachungsaufzeichnungen seit heute 03:30 Uhr nachts sind gelöscht. Und zwar gut. Keine Chance, die wiederherzustellen.«

Michael seufzte und fuhr sich über die Glatze.

Das Wiesel hob beschwichtigend die Hände. »Moment, Zemmi, ich hab doch gesagt, du hast auch Glück.« Der dürre Mann fuchtelte mit den Cyberhandschuhen, als wollte er einen Schwarm Hornissen vertreiben und auf dem Bildschirm erschien eine Kameraaufzeichnung. Der Professor, wie er an seinem Schreibtisch saß, ein paar Papiere ordnete – ja, wirklich die ausgedruckte Variante, oldschool sozusagen – dann seine Handschuhe anzog und Computerarbeiten ausführte. Es stand zwar ein Monitor auf dem Tisch – einer der kleineren Sorte – aber der Prof mit seinen schlohweißen Haaren und dem viel zu weiten Morgenmantel – hatte nur Augen für seine Brille.

Das Wiesel stoppte die Aufzeichnung, machte mit den Fingern schneidende Bewegungen und blendete so auf dem Bildschirm nur einen kleinen Ausschnitt des Videos ein: Den Monitor auf dem Tisch. Dann zoomte er heran, das Bild wurde pixelig, bis es sich nach ein paar Dirigentenhieben des Wiesels fast glasklar wurde.

»Siehst du es?«

Michael starrte auf den Bildschirm und hob dann entschuldigend die Arme, wobei er fast ein zerfleddertes Kartenspiel aus einem Hängeregal fegte. Dreckswohnung!

»Wusste ich es doch«, lachte das Wiesel und drehte sich um. »Das Logo dort oben, die beiden Hände, die eine Schale bilden und die Einsen und Nullen, die darin liegen, das ist das Logo eines kleineren Online-Backupservices, ISA Limited.«

»Und?« Michael kam sich mittlerweile wie ein Erstklässler vor der Einschulung vor.

»Und das heißt, Zemmi, dass unser Prof die Datensicherung offensichtlich für eine gute Idee hielt. Er hat wahrscheinlich Online-Kopien seiner Daten dort aufbewahrt, für den Fall, dass seine eigene Hardware mal so richtig das Zeitliche segnet. Wobei er dabei wohl eher an den Klassiker eines Brandes, als an sein eigenes Ableben gedacht haben wird. Ich kann dir also nicht mit Kameraaufnahmen eines Mordes dienen, aber vielleicht erfährst du, woran der Kerl vor seinem Ableben gearbeitet hat.«

»Ok, damit kommen wir der Sache näher!« Michael stand auf, entlockte seinem Rücken ein hässliches Knacken und lief ein paar Schritte hin und her. Mehr war in der vollgestellten Bude eh nicht möglich.

»Dann besorg mir die Daten von dort!«

Das Wiesel machte einen Gesichtsausdruck, als hätte ihn Michael zum spontanen Analsex aufgefordert.

»Bist du wahnsinnig? Die haben einen exzellenten Ruf in der Branche! Und sind richtig teuer, die werden die beste Abwehrsoftware haben, die man für Geld kaufen kann. Die Sicherheit der bei ihnen gelagerten Daten ist schließlich das Geschäftsmodell!«

Michael schlug dem Wiesel auf die Schulter und spürte nur Haut und Knochen unter dem schwarzen Shirt.

»Ach komm, du schaffst das schon!«

Der Techfreak rieb sich die Schulter und warf ihm dann einen taxierenden Blick zu.

»Okay, ich probiers. Aber dafür wirst du etwas springen lassen müssen. Einfach nur Neugier reicht da nicht. Da werde ich Spezialtools kaufen müssen und die sind teuer. Und ungefährlich ist das Ganze auch nicht. Wenn ich dabei erwischt werde, atme ich für zig Jahre gesiebte Luft!«

Michael seufzte. War klar. Er überwies dem Wiesel einen Tausender. Womit er so gut wie pleite war.

Das Gesicht des Bit-und-Byte-Schubsers hellte sich etwas auf.

»Okay, damit kann ich anfangen. Die genaue Abrechnung machen wir dann nachher.«

Das Seufzen war diesmal noch lauter. Er konnte das Wehklagen seines Kontos bereits hören.

»Ach übrigens,« schob das Wiesel nach, »ich hab hier noch was für dich.« Damit spulte er zu einer anderen Stelle des Videos. Der Professor ging gerade nach oben, verschwand aus dem Erfassungsbereich der Kamera, die das Wohnzimmer erfasste. Dann brach das Video ab. Das Wiesel spulte zu der letzten Sekunde, bevor das Bild verschwand. Ein leeres Wohnzimmer. Diesmal aber ließ er sich nicht jeden Punkt einzeln entlocken, sondern zeigte direkt auf einen hässlichen Kunstdruck an der Wand, direkt gegenüber der von der Kamera nicht erfassten Eingangstür. Warum auch immer jemand die Überwachung derart angeordnet hatte. Dann zoomte er auf das Bild, fror die Sequenz ein. Diesmal konnte sogar Michael es sehen. Eine Spiegelung in der Scheibe, hinter der der Kunstdruck steckte. Ein menschlicher Umriss, der durch die Eingangstür trat. Aber reichlich undeutlich.

Das Wiesel griff unter seinen Schreibtisch, räumte irgendwelchen Elektroschrott beiseite und hielt dann ein Blatt in der Hand.

»Ich hab getan, was ich konnte. Vergrößert, poliert, alles drüberlaufen lassen, was ich hab, mehr ging nicht.«

Dasselbe Bild wie auf dem Monitor, aber die Kontraste waren deutlich besser. Den Menschen, der gerade durch die Eingangstür in die Wohnung des Profs kam, konnte man leider nicht erkennen, das Gesicht war genau im Schatten. Aber dafür ein Stück des Halses, der aus der zweckmäßigen, dunklen Straßenkleidung herausschaute. Und dort war ein Umriss. Michael hielt sich das Blatt mittlerweile derart dicht vor die Augen, dass sie tränten.

»Mach dir nichts draus, ich musste auch diesen Abschnitt erst nochmals vergrößern und polieren, bevor ich was erkannt hab.« Damit griff er erneut in das Wirrwar unter dem Tisch und zog ein weiteres Blatt heraus.

»Hast du nicht gerade gesagt ...?« Michael seufzte. »Beim nächsten Mal fang bitte gleich mit den Ergebnissen an. Die Herleitung mag für einen Hacker wie dich interessant sein ...« Er ließ den Satz im Raum ausklingen. Was bei der »Größe« der Wohnung schnell ging.

Ein beleidigtes Schnauben, dann drückte ihm das Wiesel ohne ein weiteres Wort den zweiten Ausdruck in die Hand.

Nur der Hals, zigmal vergrößert. Das musste man dem Wiesel lassen: Für die »Qualität« des Ausgangsmaterials hatte er hier wirklich ein Wunder vollbracht. Ein Tattoo lugte gerade noch unter dem Pulli hervor. Ein Adler von der Seite, im Sturzflug, und eine Art Kompassnadel, die hinter ihm abgebildet war.

»Hast du es schon identifizieren können?«

Das Wiesel schüttelte herrisch den Kopf und spielte beleidigte Leberwurst.

»Dann mach dich da gleich mal dran. Und bevor du fragst: Ja, ich bezahle dich!« Wenn er jetzt noch gewusst hätte, wovon, wäre ihm wohler gewesen. Aber das musste das Wiesel nicht wissen.

 

*

 

Sebastian rutschte auf seinem Stuhl umher, die Besprechung dauerte bereits Stunden und sein Rücken meldete sich. Er war halt kein junger Mann mehr. Der Kanzler am Ende des Tisches schaute von seinem Datenpad auf und musterte die Runde der Minister. Viele Stühle waren leer geblieben, es gab zu viel zu tun und nicht alle waren im Lande. Sebastian sah die dunklen Ringe unter den Augen des Kanzlers, der die Krawatte längst weggelegt hatte und mit den Falten in seinem maßgeschneiderten Hemd einfach nur fertig aussah.

Der Kanzler sah alle nacheinander an. Innenminister Becker unterdrückte sichtlich ein Gähnen, mit ihm wollte Sebastian derzeit wirklich nicht tauschen. Auch die Forschungsministerin sah aus wie durch den Wolf gedreht, ihre Kurzhaarfrisur glich einem Mopp, der auf ein teures Kostüm gepflanzt war. Nur die Fünfte im Raum, Verteidigungsministerin Bencik, wirkte wie aus dem Ei gepellt in ihrem Hosenanzug, die langen Haare zu einem strengen Zopf gebunden, die Haut makellos und erfrischt, als ob sie gerade erst aus dem Urlaub kam. Sebastian musste an die Gerüchte zurückdenken, die über die Gänge der Waschmaschine getragen wurden und von einem neuen Liebhaber der Ministerin munkelten. Er gönnte es ihr, der Job war so hart, dass persönliches Glück leider viel zu selten war. Er schenkte Dara ein kurzes Lächeln und sie zwinkerte ihm zu. Als Kanzleramtsminister war das Verteidigungsministerium eigentlich nicht unbedingt die erste Priorität, aber die Zeiten hatten sich geändert. Man musste die Maschine ölen wo es ging und außerdem mochte er die bisweilen strenge, aber im Grunde ihres Herzens treusorgende Frau, auch wenn sie ihm mit ihrer unbändigen Energie mitunter auf die Nerven ging. Aber genau solche Leute brauchte es in diesen Kreisen. Wie er in diese Runde hineinpasste, war ihm nicht erst heute ein Rätsel. Es war einfach so gekommen, dass er in die Riege aufgestiegen war und letztlich zum richtigen Zeitpunkt da gewesen war, als es drauf ankam. Und da er lange Jahre parteilos gewesen war, waren die Skandale der 30er unbeschadet an ihm vorbeigezogen, das kam ihm immer noch zugute.

»Ich brauche wohl nicht zu betonen, welche Wichtigkeit das Projekt hat, meine Lieben!« Der Kanzler schaffte es, absolute Entschlossenheit in seine müden Züge zu brennen.

Alle nickten.

Abdul Mohamad, seines Zeichens erster arabischstämmiger Kanzler der BRD, wandte sich an den Innenminister und Becker straffte sich. »Sind wir im Zeitplan?«

Becker lachte einmal kurz auf. »Nein, natürlich nicht. Genauso wenig wie alle anderen Länder, bei denen wir eingeweiht sind. Das war auch nicht anders zu erwarten.« Er hob entschuldigend die Arme, was den Eindruck der Leere im mit fünf Leuten völlig unterbesetzten Konferenzsaal des Kanzleramts noch verstärkte. »So ein Projekt gab es noch nie.«

»Und wird es auch nie wieder geben«, fügte der Kanzler bitter hinzu und sein Akzent brach hervor. Wie immer, wenn er unter Stress stand. Also fast ständig.

Der Kanzler stand auf, ging zum Fenster und schaute in den Berliner Abend hinaus. Seine kantige Statur sah neben der Bronzebüste von Altkanzler Rösler, die direkt neben ihm stand, fast historisch aus. Sebastian war froh, unter ihm arbeiten zu dürfen, eine solche Chance bekam man selten, wenn er sich auch ruhigere Zeiten gewünscht hätte. Wie wahrscheinlich jeder Vorgänger in seinem Amt vor ihm.

»Wir dürfen nicht nachlassen! Ich erwarte von allen hier, dass Ihre Ministerien absolut Hand in Hand arbeiten. Der Zeitplan muss eingehalten werden.« Der Kanzler seufzte. »Wir haben ihn nicht gemacht, müssen ihn aber trotzdem erfüllen, denn er ist nicht zu ändern.«

Forschungsministerin Heider sprach für alle, als sie antwortete: »Das wissen wir, Kanzler. Wir geben alles, keine Sorge, hier macht keiner sein Ding alleine. Versprochen!«

Der Kanzler nickte nur, draußen zogen Regenwolken vorbei und die ersten Tropfen perlten an den Scheiben ab.

»Gut, das wäre es mit der Tagesordnung. Übermorgen dann Kom-Konferenz wie besprochen um dreizehn Uhr. Und machen Sie Ihren Staatssekretären Dampf, dass die jeweiligen Unterprojekte absolute Priorität haben.«

Der Kanzler drehte sich um, ging zurück zum Tisch und stützte sich auf der dunklen Steinplatte ab. Der durchtrainierte Körper des Mittvierzigers war unter dem Hemd zu erkennen und machte seinen Auftritt noch deutlicher. »Derjenige, der seinen Leuten mehr als nur ihr einzelnes Puzzlestück mitteilt, wird sich dafür verantworten müssen. Und ich meine nicht vor Gericht!« Seine Worte hallten im Raum nach und in den Gesichtern der Anwesenden stand absolute Entschlossenheit. Sie kannten die Konsequenzen des Versagens. Das Projekt durfte nicht scheitern. Es wäre ihr Untergang. Persönliches Wohlbefinden oder Zögern waren da Luxus, den sie sich nicht leisten konnten.

Die Anwesenden verließen nacheinander den Raum, bis nur Abdul Mohamad und Sebastian übrig waren. Auf ein Winken des Kanzlers hin schloss ein Wachmann die Tür wieder. Von außen.

Nur das Wärmeknacken der Heizung war zu hören. Der Kanzler ließ sich in den Stuhl am Ende der Konferenz-Tafel fallen und sah auf einmal wie der müdeste Mensch der Welt aus. Die Tränensäcke im Gesicht des ersten Mannes im Staat waren deutlich zu sehen und die bei Arabern üblichen dunkelbraunen Augen schafften es kaum, unter den halbgeschlossenen Lidern hervorzuschauen.

»Es ist erledigt worden, habe ich gehört?«, fragte der mächtigste Mann der BRD, ohne Sebastian anzuschauen.

Er setzte sich neben den Kanzler.

»Ja.«

Minuten der Stille.

»Wie weit sind wir gesunken, Sebastian?«

Er straffte sich, der Kanzler schaute weiterhin zusammengesunken auf die Tischoberfläche.

»Es war notwendig, Abdul!«

»Dann sind wir zusammen zu Mördern geworden.« Der Kanzler schaute auf und Sebastian sah die Trauer in seinen Augen.

»Warum in meiner Amtszeit? Warum der erste Mordbefehl seit so vielen Jahren? Und dann noch ein alter Mann!«

Sebastian schüttelte den Kopf. »Der Professor war dabei, das Puzzle zusammenzusetzen. Er wäre darauf gekommen und hätte es verraten. Und du weißt, was dann passiert wäre!«

Abdul Mohamad nickte.

»Anarchie. Jeder hätte der erste an Bord sein wollen.«

»Die Opfer wären in die Tausende gegangen. Nach den vorsichtigsten Schätzungen. Und von einem Einhalten des Zeitplans hätten wir uns ebenfalls völlig verabschieden können.«

Der Kanzler stand auf und ging wieder zum Fenster. Sebastian trat neben ihn. Der Reichstag lag zu ihrer Linken, die wenigen Passanten, die bei elf Grad und Nieselwetter noch draußen waren, hasteten ameisengleich unter ihnen vorbei. Die Neonlampen Berlins erhellten den Himmel und ließen sie wie die Großstadt erscheinen, die sie so gerne sein wollte. Bis am Morgen das Tageslicht kam und das Elend des Alltäglichen offenbar machte.

»Gut, dann musste es eben sein. Ich musste so entscheiden. Welche Wahl hatte ich denn auch?«, sagte der Kanzler mehr zu sich, dann drehte er sich zu Sebastian und schaute ihm in die Augen.

»Aber sag dem Kommandeur der Spezialkräfte, dass ich die Verwüstung, die die Polizei auf den Plan hat treten lassen, nicht billige! Es sollte wie ein Unfall aussehen! Stattdessen nun Mordermittlungen!«

»Die wir im Keim ersticken werden, Abdul!«

»Ja, aber es war unnötig!« Abdul verschränkte die Arme hinter dem Rücken und schaute stur geradeaus.

Sebastian kannte das. Der Kanzler zog sich an einem Detail hoch, gab ihm eine Wichtigkeit, die es eigentlich nicht hatte. Sie hatten ihre Möglichkeiten, der Polizei zu verstehen zu geben, dass die Ermittlungen eingestellt werden sollten. Unauffällig, ohne Spuren zu hinterlassen. Das wusste auch der Kanzler. Aber in Zeiten wie diesen musste jeder mal Dampf ablassen, selbst ein Staatsmann wie Abdul Mohamad. Seine Wahl war ein Zeichen gewesen, dass die Integration migrationsstämmiger Bürger endlich funktionierte. Oder, dass die »Deutschen« längst in der Unterzahl waren. Je nach Sichtweise. Jedenfalls konnte er sich keinen besseren Mann in der Waschmaschine vorstellen. Abdul tat, was getan werden musste. Er lenkte, traf Entscheidungen, gab seinen Leuten aber genug Handlungsspielraum, dass jeder sich entfalten konnte. Er lockerte Zügel wo es möglich war, konnte sie aber auch anziehen, wenn einer die unsichtbaren Linien übertrat, die der Politik so eigen waren, dass es für Sebastian immer noch einem Minenfeld glich, das man täglich mit Schwimmflossen an den Füßen überqueren musste.

Sebastian nickte und der Kanzler beruhigte sich wieder etwas. Sie standen eine Weile schweigend nebeneinander und sahen dem Regen zu, der an die riesigen Fenster der Waschmaschine tropfte.

»Der Verfassungsschutz macht sich ernste Sorgen über den steigenden Sozialunmut in der Bevölkerung. Wir können uns zum jetzigen Zeitpunkt keine inneren Unruhen leisten.«

Der Kanzler nickte.

»Was schlägst du vor? Brot und Spiele? Fußball-WM jedes Jahr?«

Sebastian schmunzelte. Abdul war für solche Bemerkungen berühmt.

»Nein, ein neues Sozialprogramm zur Verbesserung der Volksgesundheit. Kostenlose Checks für alle Kinder. Alle Erwachsenen unter 30 können sich freiwillig von Kopf bis Fuß überprüfen und nötigenfalls behandeln lassen, ohne jeden Zuschuss. Durchgeführt zusammen mit der Zentralkrankenkasse, damit die sich nicht geharnischt fühlen.«

Der Kanzler seufzte und wirkte in diesem Moment um Jahre gealtert. Selbst der graue Maßanzug saß irgendwie lockerer.

»Die Kosten?«

»Vorsichtige Schätzung: Zehn Milliarden.«

»Also mindestens das Doppelte.«

Sebastian konnte ein kurzes Lachen kaum unterdrücken und auch der Kanzler stimmte ein. Dann wurden sie wieder ernst. Sebastian schaute seinen Chef an und sagte eindringlich: »Es würde die Menschen von den Demos in die Wartezimmer bringen. Das Volk würde mal wieder an etwas anderes denken als an das Wetter und die Nahrungsengpässe. Wir hätten auf Monate hinaus ein neues Thema. Das Thema! Und gegen die Verbesserung der Volksgesundheit kann auch die Opposition kaum was einwenden.« Er schlug sich mit der offenen Hand in die andere. »Für nur ein paar Milliarden mehr könnten wir zusätzliche Anreize setzen, mitzumachen. Ich denke da an hundert Euro bar auf die Hand für jeden, der zur Untersuchung geht. Alle ALG-Zwo'ler würden sofort hingehen.«

Der Kanzler nickte. »Und wir hätten eine gesundere Bevölkerung für den Moment, wenn es losgeht.« Er legte Sebastian die Hand auf die Schulter. »Aber wir müssen realistisch bleiben. Wenn es losgeht, sind die Dreißigjährigen bereits zu alt. Mit den bekannten Ausnahmen. Fahrt es auf zwanzig runter!«

Sebastian überschlug die Zahlen im Kopf.

»Macht auch von den Kosten her Sinn. Wobei der Verfassungsschutz besonderes Gewaltpotential in der Bevölkerungsgruppe der Zwanzig- bis Fünfundzwanzigjährigen festgestellt haben will. Also die ohne Ausbildung, Perspektive etcetera.«

»Gut, dann bis Fünfundzwanzig.«

»Okay, ich sag dem Sozialministerium Bescheid, dass der Entwurf bereits morgen ins Kabinett geht.«

Der Kanzler runzelte die Stirn. »Der ist schon fertig?«

Sebastian zögerte kurz, schluckte schwer. »Ich hatte mir erlaubt, Entsprechendes vorbereiten zu lassen.«

»Mit Alter Dreißig?«

»Fünfundzwanzig.«

Der Kanzler schaute verdutzt, dann schlug er Sebastian mit einem schallenden Lachen auf die Schulter. Die Spannung löste sich und Sebastian stimmte ein.

»Und deshalb bist du mein Mann!«

Sebastian lächelte. Er mochte noch nicht an die Arbeit denken, die am nächsten Tag auf ihn warten würde. Jetzt war es Zeit, einen kleinen politischen Sieg zu feiern.

 

*

 

Michael atmete schwer und versuchte, den Schmerz aus seinen Beinen zu verbannen. Die harte Oberfläche des Klodeckels unter seinem Allerwertesten drückte in das Fleisch, aber er musste sich auf das Zucken seiner Beine konzentrieren, die wie wildgewordene Tentakel durch die enge Klokabine zuckten. Er schloss die Augen. Seine Armmuskeln zitterten vor Anstrengung, als er sich erneut mit aller Kraft auf die Oberschenkel stützte und versuchte, die Beine unten zu halten. Vergeblich, die Muskeln gehorchten ihm nicht mehr. Das rechte Bein schnellte erneut vor, traf auf das morsche Holz der Kabine und ein lautes Krachen hallte durch den Toilettenraum der Bundespressekonferenz. Nebenan wurde sehr schnell eine Kabine geöffnet und jemand verließ das Klo. Besser so. Michael wagte es, die Augen wieder zu öffnen. Puh, die Tür hatte gehalten. Das Zucken seiner Beine ließ nach, die Muskeln brannten wie Feuer und die zahlreichen blauen Flecken an den Schienbeinen pochten in einem Tempo, als ob sie einem Technoclub alle Ehre machen wollten. Vom ausgelaugten Gefühl in seinen Oberarmen ganz zu schweigen.

Michael seufzte, versuchte, die Schmerzen wegzuatmen, riss Toilettenpapier ab und wischte sich über die schweißverzierte Glatze. Zitternd kam er hoch, das Papier landete in der Schüssel und seine Hand griff wie von selbst unter den vergleichsweise ansehnlichen Mantel – eine schwarze, lange Wollausfertigung, die er nur für Anlässe wie die Bundespressekonferenz herausholte – und der Flachmann kam zum Vorschein. Ein schneller Ruck am Verschluss, körperwarmes Metall an den Lippen, dann floss auch schon der Billigwhisky die Kehle hinunter und die Schmerzen wurden dumpfer, das Restzittern der Beine ließ nach. Was würde ihn wohl zuerst töten? Ein neuerlicher Anfall wegen der Wachdrogen oder ein Leberkollaps? Michael grinste schief, als er die Kabine öffnete, was einen alten Mann am Waschbecken irritiert zu ihm blicken ließ.

»Na, auch erfolgreich gewesen?«, fragte Michael und klatschte sich, ohne eine Antwort abzuwarten, einen Schwall kaltes Wasser ins Gesicht, griff sich Papierhandtücher und verließ den Raum. Draußen wartete die Meute. Die Pressekonferenz sollte in ein paar Minuten losgehen, aber kaum einer der Journalisten saß bereits im Raum, die meisten standen wie er nun im Flur. Tratschten, blickten starr in die Ferne und fuchtelten mit ihren Cyberhandschuhen herum oder tranken schnell noch einen Kaffee, der hier glücklicherweise kostenlos war. Michael ging ebenfalls zum Automaten, zog sich einen heißen Schwarzen und ging in den Raum der Bundespressekonferenz, zig Stuhlreihen ließen den Raum noch größer wirken und der Bundesadler an der Rückwand gab dem Ganzen einen erhabenen Eindruck. Es musste ein gutes Gefühl sein, an dem langgezogenen Tisch zu sitzen, der oben auf dem Podest stand, direkt unter dem Adler.

Jenny aus der Redaktion nickte ihm aus der dritten Reihe zu und klopfte auf den freien Platz neben sich. Welch ein Engel!

Er setzte sich neben sie.

»Was machst du denn hier?«, wollte sie wissen und spielte mit einer Strähne ihres blonden Haares. »Hat dich der Chef zu meiner Unterstützung geschickt?«

»So ähnlich.« Michael nahm einen Schluck Kaffee und hob anerkennend eine Augenbraue. Um Längen besser als das schwarz gefärbte Wasser in der Redaktion. Oder das lausige Imitat während der Bahnfahrt. Jetzt hatte man schon einen Express-ICE nach Berlin eingeführt mit gerade mal zwei Fahrtstunden vom Ruhrpott aus und das Bord-Café war immer noch so mies, wie zu früheren Zeiten.

»Der Chef ist der Meinung, mir würde eine ordentliche Portion Basisjournalismus mal wieder ganz gut tun.« Er lächelte schief und Jenny grinste.

»Na komm, ganz so schlimm ist es doch auch nicht! Stell dir vor, nicht ich würde hier neben dir sitzen, sondern der fette Tony aus der Politikredaktion.«

Michael unterdrückte ein Schaudern, als sein Unterbewusstsein den Geruch nach altem Schweiß hochspülte, den Tony beständig ausströmte. Niemand wollte mit dem Kerl zusammenarbeiten. Aber wenigstens ersparte er sich damit Einzelsitzungen mit dem Chef.

Michael hob feixend den Daumen, schüttete den Rest des Kaffees die Kehle runter und stellte den leeren Pappbecher unter den Stuhl. Keinen Moment zu früh, denn nun ertönte ein durchdringender Gong und es kam Bewegung in die Angelegenheit. Von draußen strömten annähernd hundert Kollegen in den Raum und nahmen ihre Plätze ein. Die Erfahrenen vorn, die Jungspunde hinten, ganz getreu der informellen Hackordnung.

Michael zog seine Handschuhe über und sah, dass Jenny es ihm gleichtat. Eine moderne Pressekonferenz glich einem Häkelkurs von Omas auf Speed, es wurde herumgefuchtelt, als ob man den Leibhaftigen austreiben wollte. Dafür war wenigstens das ewige Laptop-Geklacker verschwunden, das noch vor wenigen Jahren stetige Hintergrundmusik derartiger Events gewesen war.

Eine Tür an der Seite öffnete sich und vier wichtig aussehende Personen und ein paar Bodyguards kamen langsamen Schrittes heraus. Während die menschgewordenen Schränke sich an den Türen platzierten, steuerten die vier das Podest an. Ein dicklicher Mittfünfziger setzte sich in die Mitte. Der Kanzleramtsminister persönlich. Es musste also wichtig sein. Die beiden jungen Hüpfer in ihren Businesskostümen, die sich daneben setzten, kannte er zwar nicht, tippte aber auf Abteilungsleiterinnen. Nett. Ein unscheinbarer Mann mit der fliehenden Stirn eines Bürokraten und einem schlecht sitzenden Anzug komplettierte das Quartett. Glatzi setzte sich nach ganz außen und wirkte überaus nervös. Also keiner aus der Berliner Politmaschinerie. Irgendwoher kannte er den Mann, den er auf etwas über vierzig einschätzte, aber er kam nicht drauf.

Kanzleramtsminister Born räusperte sich und das Getuschel im Raum hörte schlagartig auf.

»Vielen Dank für Ihr kurzfristiges Erscheinen und entschuldigen Sie, dass die Einladungen erst heute Morgen herausgingen.«

Sebastian dachte nach. Ohne die Bundespressekonferenz würde er jetzt um 14 Uhr sicherlich leicht zugesoffen in seiner Bude hocken und auf Nachricht vom Wiesel warten. Oder sich mit seiner Ex streiten. Oder der Tochter. Alles in allem kein großer Verlust.

»Das Bundeskabinett hat heute eine Maßnahme zur Verbesserung der Volksgesundheit beschlossen und nach entsprechenden Beratungen mit allen Fraktionsvorsitzenden, die heute Mittag stattgefunden haben, wird das Paket noch in dieser Woche durch den Bundestag gehen, mit Wirksamkeit zum nächsten Monatsersten.«

Michael horchte auf. Was legten die denn da für ein Tempo an den Tag? Innerhalb eines Tages beschlossen, nach einer Woche durchgewunken und nach zweien schon wirksam? Das klang rekordverdächtig.

»Ich würde ihnen nun gerne die Details erläutern, danach wird Herr Graf von der Zentralkrankenkasse noch ein paar Ergänzungen haben und anschließend stehen wir ihnen für Fragen zur Verfügung. An dieser Stelle ein besonderer Dank an die Zentralkrankenkasse, dass sie uns bei diesem Vorhaben unterstützt und uns mit ihrem stellvertretenden Vorsitzenden, Herrn Graf, einen Fachmann zur Verfügung gestellt hat.« Glatzi nickte den Anwesenden zu. Ah, daher kannte er das Gesicht. Und war bereits wieder dabei, es zu vergessen. Früher hatte man zu solchen Typen »Frühstücksdirektor« gesagt, heute hießen sie stellvertretende Vorsitzende. Anderer Name, selbe Masche: Gesicht präsentieren, lächeln, Fresse halten.

Einer der wichtigsten Männer im Staate griff zu einem Handheld-Computer und auf den Brillen aller Anwesenden wurde der Dialog eingeblendet, ob sie den Datenempfang bestätigen wollten. Und ob. Die unausweichliche PowerPoint-Präsentation nahm ihren Gang, aber im Gegensatz zu sonstigen Sessions hatte Michael nicht das Gefühl, sich nach wenigen Minuten bereits im geistigen Tiefschlaf zu befinden. Blatt um Blatt wurde eingeblendet, die Journalisten rings um ihn bewegten ihre Hände in fließenden Bewegungen , um Notizen zu erfassen oder einzelne Seiten herauszupicken. Michael war da oldschool. Erstmals zuhören und mitlesen, danach Fragen stellen. Und die Präsentation hatte es in sich. Die Regierung nahm mitten in der allgemeinen Wirtschafts- und Klimakrise richtig Geld in die Hand. Richtig Geld! Die Experten schätzten die Kosten auf circa acht Milliarden Euro, mit einer Toleranz von bis zu fünf Milliarden Euro, wenn alle Bürger mitmachten. Was nicht so völlig unwahrscheinlich war. Jeder Bundesbürger, der unter fünfundzwanzig war, konnte sich auf Staatskosten durchchecken lassen, ohne jede Eigenbeteiligung. Wenn was gefunden wurde, lief es über die normale Krankenversicherung. Und ein Goodie war auch noch dabei: Der Bürger erhielt allein für den Gang zur Vorsorgeuntersuchung sogar noch hundert Euro bar auf die Hand. Michael konnte sich das Blitzen in den Augen der Medizin- und Konsumindustrie schon vorstellen. Das Geld würde direkt wieder in der Wirtschaft landen und wenn es nur dafür war, mal endlich wieder den Kühlschrank aufzufüllen, trotz der aufgrund der Klimakrise extrem verteuerten Grundnahrungsmittel.

Der Kanzleramtsminister hob ein paar Stellen hervor, insbesondere, dass die Regierung sich um die Prävention kümmern wollte, damit zukünftige Generationen nicht so hohe Gesundheitskosten bei den dann Alten zu schultern hatte. Michael runzelte belustigt die Stirn. Welch Weitsicht. Mal schauen, welche Journalistenkollegen den Dreck einfach so fraßen oder ob sich wenigstens einer traute, diesen Quatsch zu hinterfragen. Politiker dachten nie weiter als bis zur nächsten Wahl. Einer seiner Schätzungen zufolge musste in einer geheimen Zeremonie jeder neugewählte Politiker einen Timer implantiert bekommen, der ihn in immer kürzeren Abständen auf die Zeit bis zur nächsten Wahl hinwies. Lächerlich. Die Maßnahme an sich war ja nett und bestimmt auch gesundheitlich sinnvoll. Ein voller Medizincheck konnte diverse Krankheiten im Frühstadium erkennen und sie behandelbar machen. Aber das Ganze unter der Überschrift »Einsparungen in ein paar Jahrzehnten« zu verkaufen, war so glaubwürdig wie ein NPD-Wahlkampfauftritt in einer Moschee.

Die Präsentation endete und Glatzis Auftritt begann. Die Schweißperlen tanzten bereits auf der hohen Stirn, bevor er auch nur zu Sprechen anfing. Das konnte ja lustig werden. Und das wurde es. Obwohl der Vertreter der Zentralkrankenkasse nur die organisatorischen Details verkünden sollte, brauchte er doppelt so lang wie der Kanzleramtsminister, und sein schlauester Satz war, dass die Kasse in Kürze alle Details zusammengefasst online stellen würde. Michael ließ seinen Blick über das Podium gleiten. Sowohl die Damen als auch der Minister sahen extrem gelangweilt aus und wenn ihn nicht alles täuschte, schaute der Staatsmann immer wieder in die Ferne und die Augen zuckten hin und her. Sicherlich die neuesten Cyber-Kontaktlinsen. Männer wie Herr Born trugen keine der für die Normalbevölkerung gedachten Cyber-Brillen. Konzentriert sah er jedenfalls nicht aus. Oder wenigstens nicht bezüglich Glatzis Vortrag. Michael schmunzelte und Jenny sah ihn gespielt missbilligend an, bevor sie weiter mit ihren Fingern Notizen verfasste.

Dann war die Tortur beendet, die letzte PowerPoint-Folie eingeblendet, der letzte nichtssagende Satz erzählt.

Der Minister schaute in die Runde. »Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Wir kommen nun zur Fragerunde.« Er schaute in das Rund.

Hinter Michael allgemeines Geraschel, als sich zig Hände hoben.

»Ja, die Dame im grünen Kostüm?«, bat der Minister.

»Sandra Vernetzen, Berliner Kurier. Warum ist die Maßnahme auf Personen bis 25 Jahre beschränkt?«

Der Minister knipste sein freundlichstes Lächeln an und erwiderte: »Weil die Regierung absolut überzeugt von den diversen Präventionsprogrammen der Zentralkrankenkasse ist.« Er nickte Glatzi zu, der unsicher zurücknickte. »Doch diese Programme haben sich bisher vor allem auf die Risikogruppen, sprich, die Älteren konzentriert. Wir möchten mit dem neuen Programm zur Verbesserung der Volksgesundheit vor allem die ansprechen, die noch keine Gebrechen haben, damit wir gemeinsam mit der ZKK dafür sorgen, dass sie erst gar keine bekommen. Das hebt nicht nur die Lebensqualität des Einzelnen, es sichert auch die Produktivität der Gesamtbevölkerung und spart zukünftigen Generationen viel Geld bei der Bekämpfung von Krankheiten der dann älter gewordenen Menschen.« Er schaute erwartungsvoll in die Runde. »Weitere Fragen?«

Wie von selbst zuckte Michaels Arm empor und der Minister schaute zu ihm.

»Der Mann im schwarzen Mantel hier vorn.«

Michael wusste gar nicht, was ihn dazu getrieben hatte, aber die Worte sprudelten nur aus ihm heraus: »Herr Minister Born, welch Sinneswandel hat die Regierung dazu getrieben, nun einmal an die Kosten für zukünftige Generationen zu denken? Oder anders gefragt, was ist der wirkliche Grund für das Volksgesundheitsprogramm?«

Neben ihm sog Jenny scharf die Luft ein und von einer Sekunde auf die andere hätte man im Raum eine Stecknadel fallen hören können.

Der Minister beugte sich nach vorne und taxierte Michael. Die Adern an seiner Schläfe pumpten und die Gesichtsfarbe war deutlich rötlicher als noch vor ein paar Sekunden.

»Ich weiß ja nicht, welchen Leitfaden zum täglichen Zynismus sie verschlungen haben, Herr ...«

»Zemmler. Michael Zemmler. Vom ›Morgen‹«.

»Ach ja, der ›Morgen‹. Offensichtlich hat man sich dort mal wieder daran erinnert, dass investigativer Journalismus dieses Blatt mal groß gemacht hat. Vor ein paar Jahrzehnten.« Er schüttelte den Kopf. »Aber um zu Ihrer Frage zurückzukommen, Herr Zemmler«, er legte mehr Nachdruck in den Namen, als Michael Recht war, »die Bundesregierung hat sich stets um eine ausgeglichene Generationengerechtigkeit gesorgt und wird dies auch weiterhin tun. Uns irgendetwas anderes unterstellen zu wollen, als dass wir uns um die Gesundheit der Jungen kümmern, ist absurd.«

Michael sah rot. »Genauso absurd, wie dass dieses Programm zeitlich auffällig nah zu den Berichten über eine neue Teuerungswelle im Einzelhandel gestartet wird? Und dem Eingeständnis Ihres Kollegen aus dem Landwirtschafts- und Verbraucherschutzministerium im Interview mit der ›Hamburger Post‹, dass die Lebensmittelpreise klimabedingt in den nächsten Jahren auch weiterhin immer teurer werden und die Regierung keine Mittel und Wege sieht, der Bevölkerung dauerhaft bezahlbare Nahrungsmittel zu sichern?«

Der Minister rutschte in seinem Stuhl nach vorne, ganz nah an die Tischkante und krallte sich geradezu daran fest.

»Selbst einem Schmierenschreiberling wie Ihnen müsste bekannt sein, dass mein werter Kollege hier falsch verstanden worden ist. Das von Ihnen genannte Blatt hat bereits eine entsprechende Richtigstellung publiziert!«

»Natürlich, Herr Minister. Und jetzt wollen Sie uns hier auch noch das Märchen von der Freiwilligkeit einer solchen Sprachregelung erzählen? Das glauben Sie doch selbst nicht!«

»Was ich hier glaube oder nicht, Herr Zemmler, ist immer noch meine Sache. Und ja, ich glaube sehr wohl, dass mein Amtskollege hier nicht richtig zitiert worden ist.«

»In einem Interview, dessen 1:1-Aufzeichnung mit genau diesen Sätzen sich jeder Findige aus dem Netz herunterladen kann?«

Damit hatte er die Grenze überschritten. Auf ein Nicken des Ministers hin, der sich auf eine Geste der Dame neben ihm wieder weiter zurücklehnte und den Blutdruck unter Kontrolle brachte, näherte sich einer der Bodyguards, kam die Reihe entlang und stellte sich direkt neben Michael.

»Sie werden draußen verlangt!«

Soviel Kreativität hätte er dem Schrank gar nicht zugetraut. Einfach nur wie ein Gorilla zu brüllen und auf die Brust zu trommeln, war wohl aus der Mode gekommen.

 

Michael nahm einen kräftigen Schluck aus seinem Flachmann, zog die Jacke zu und stieg aus dem Auto aus. Der eisig kalte Wind des frühen Abends pfiff ihm nur so um die Ohren und führte dazu, dass alle Passanten herumliefen, als ob sie Centstücke auf dem Boden suchen würden. Dass man damit gleichzeitig seine Nachbarn nicht ansehen musste und es somit weniger Grund für Streit gab, war ein angenehmer Nebeneffekt.

Michael steuerte vom Parkplatz aus den Eingang des Mehrfamilienhauses an, als ihm ein Mann im schwarzen Anzug samt passendem Wollmantel auffiel, der etwas in einen der Briefkästen an der Außenseite des Gebäudes steckte. Und wenn ihn nicht alles täuschte, war es sein Briefkasten gewesen. Wie ein Postbote sah der nicht aus!

Michael beschleunigte seine Schritte, lief zügig über die Straße, schickte einem hupenden Mercedes noch den Mittelfinger hinterher, wich einem großen Haufen Hundekot aus und stellte sich dem Mann mitten in den Weg, der gerade Anstalten machte, zu gehen. Natürlich nahm die Brillenkamera alles auf. Berufsstandard.

Tippte sich der Kerl doch tatsächlich freundlich lächelnd an die Stirn. Was glaubte der schlanke Mann, wo sie hier waren? In Köln? Düsseldorf? München? Junge, das hier war Dortmund und zwar eine der mieseren Ecken, was schon etwas heißen sollte. Immerhin wohnte er hier.

»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte der Mann und lächelte Michael an. Sein Lächeln offenbarte eine Reihe blitzend-weißer Zähne, alle akkurat in Reih und Glied. Der Kerl passte hier so gut hin wie eine Polizeistreife aus Fleisch und Blut. Gar nicht.

»Sie bringen mir Post?«

Michael sah das Lächeln leicht abebben, bevor es wieder vollends aufblitzte.

»Ah, Herr Zemmler. Entschuldigen Sie bitte diese Form der Zustellung, aber Sie waren leider nicht persönlich erreichbar.«

Michael schnaubte. Welch Wunder. Die »Suspendierung auf unbestimmte Zeit, bei vollen Bezügen« hatte ihn fünf Minuten nach dem Verlassen der Bundespressekonferenz erreicht. Kein Wunder, dass er die Kom-Funktion des Handhelds auf dem Rückweg von Berlin nach Dortmund ausgeschaltet hatte. Manchmal war die Welt einfach ein zu lausiger Ort, um sie live zu erleben. Wenigstens hatten sie ihm die Bezüge belassen. Auch wenn er nicht ernsthaft glaubte, aus diesem Tief so leicht herauszukommen, wie zu früheren Gelegenheiten. Er hatte es übertrieben, den Kanzleramtsminister einen Lügner genannt. Zugegebenermaßen indirekt, aber das kümmerte niemanden. Erst recht nicht seinen Chefredakteur. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie ihn vollends kalt stellen würden und er sich einen neuen Job suchen dürfte.

»Sorry, viel zu tun gehabt.«

Der Mann nickte und schaffte es dabei, gleichzeitig freundlich und unnahbar zu wirken.

»Wenn Sie mich dann entschuldigen würden?«

Der Mann machte einen Schritt zur Seite, aber Michael packte ihn am Arm.

»Was haben Sie da in meinen Briefkasten geworfen?«

Das Lächeln erstarb. »Lassen Sie mich auf der Stelle los! Oder wollen Sie sich auch einen Angriff auf einen Gerichtsvollzieher ins Stammbuch schreiben lassen?«

Michael nahm den Arm herunter.

»Gerichtsvollzieher?«

»Ich sagte ja: Schauen Sie in den Briefkasten.« Damit machte der Mann einen zögerlichen Schritt zur Seite. Als er merkte, dass Michael ihn nicht stoppen würde, nickte er nochmal und ging dann zügigen Schrittes davon.

Michael holte mit zitternden Fingern den Schlüsselbund aus dem Mantel, öffnete den Briefkasten und entnahm ihm den blauen Briefumschlag. Ein echter Papierumschlag. Er konnte sich gar nicht mehr erinnern, wann er das letzte Mal echte Post bekommen hatte. Ohne den Kerl gesehen zu haben, hätte er gar nicht in den Postkasten geschaut. Wer tat das auch noch? Heutzutage, im Zeitalter der Kom-Mails?

Michael raste, immer drei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hoch, warf, kaum angekommen im winzigen Appartement, seine Jacke aufs Bett und riss das Papier auf. Briefkopf des Amtsgerichts Dortmund. Eine einstweilige Verfügung. Er überflog den Text, ließ sich in den schweren Ohrensessel fallen, griff wie automatisiert neben sich, führte die Whiskyflasche zum Mund und ließ das rauchige Gesöff die Kehle hinunterlaufen. Seine Ex hatte ihm den Umgang mit Sandra verboten. »Gefährdung des Kindeswohls«. Gründe? »Alkohol, Arbeitslosigkeit, Drogen«. Seine Ex hatte das volle Programm gefahren. Woher auch immer sie jetzt schon vom Job wusste.

Er vergrub den Kopf in den Händen und stierte auf den Boden. Verhandlung in zwei Wochen, das Biest hatte das alleinige Sorgerecht beantragt, bis dahin durfte er Sandra noch nicht einmal anrufen.

Der Abend verlor sich im Boden einer Whiskyflasche.

 

Irgendetwas passte nicht. Ein Brummen, das sich langsam steigerte, dann abebbte, nur um von vorne anzufangen. Michael kämpfte sich aus den Tiefen des Schlafs empor und öffnete eines der verklebten Augen, nur um festzustellen, dass er es im Vollsuff doch tatsächlich noch aufs Bett geschafft hatte. Okay, er hatte in den Klamotten geschlafen und sein Nacken fühlte sich an wie ein Metzgerhackbrett, aber man musste Gott auch für Kleinigkeiten dankbar sein.

Michael drehte sich stöhnend zur Seite und schnappte sich den Handheld-Computer vom Nachttisch – eine etwas euphemistische Beschreibung für den kleinen Campingtisch mit abgesägten Beinen – und drückte auf den grünen Knopf.

Etwas verzerrt kam die Stimme des Wiesels: »Moin Zemmi. Kein Bild?«

Michaels Antwort klang arg nach dem steinzeitlichen »Ughh«, aber er machte keine Anstalten, sich aufzusetzen. Dafür vertraute er seinem Körper nun wirklich nicht genug nach einer solchen Nacht. Er kannte den Bastard schon zu lange.

»Ah, eine schwere Nacht gehabt. Okay, dann halt ohne Brillenverbindung. Vielleicht hab ich was, was deine Lebensgeister wieder etwas weckt.«

»Hmm?«, grunzte Michael und erntete dafür ein dunkles Lachen aus dem Kom.

»Ich hab was über das Tattoo.«

»Aha.« Michael wischte sich über das Gesicht und entfernte einen Speichelfaden.

»Meine Güte, sind wir gesprächig heute Morgen! Aber gut, bevor du wieder damit ankommst, man müsste mir alles einzeln aus der Nase ziehen: Ich kann das Tattoo zwar immer noch nicht zuordnen, dafür hab ich es dank diverser Techmagie auf ein paar Überwachungsvideos diverser Bauten gefunden, allerdings in einem völlig anderen Zusammenhang. Ein paar Typen mit dem gleichen Körperschmuck bewachen Gebäude, und zwar nicht irgendwelche. Derzeit hab ich hier zwei Werften, ein Stahlwerk, einen Chiphersteller und einen Produzenten für Nahrungsmittelkonzentrate.«

Michael setzte sich langsam auf und hielt sich augenblicklich am metallenen Bettrahmen fest. Die Welt hatte beschlossen, einmal kurz Achterbahn zu fahren und er wollte seinen Mageninhalt ungern nochmal sehen, er wusste ja, was drin war. Whisky und Toastbrot, das Abendessen für Verlierer.

»Was davon in der Nähe?«, brummelte er.

»Klar, alles schon gecheckt. Was du dir am besten angucken könntest, ist Bäckerle, der Konzentrathersteller. Ist ein spezialisierter Mittelständler, also – bis auf die Tattoo-Heinis – die leichteste Aufgabe.«

»Bäckerle in Bottrop?«

»Ja. Kennst du die?«

»Manchmal treff selbst ich ein Scheunentor. Kenn da wen. Das schaff ich.«

»Na perfekt. Dann mach ich mich mal wieder an deine restlichen Wünsche, bisher widersteht das Online-Backup des Profs meinem Drängen, aber ich bleib dran. Vielleicht find ich auch noch mehr über das Tattoo raus. Ich meld mich!«

Mit diesen Worten unterbrach das Wiesel die Verbindung. Michael schälte sich aus seinen Klamotten und watschelte langsam ins Bad.

Als er sein Ebenbild im Spiegel des fensterlosen Mini-Bads sah, grunzte er.

»Ich kenn dich zwar nicht, aber ich rasier dich trotzdem.«

 

Was eine Dusche doch für Wunder vollbringen konnte. Gut, zugestanden: Sie war von einer Rasur, neuen Klamotten, ordentlich Deo und schlussendlich einem Kaffee begleitet worden, der unter die Genfer Konvention fiel, aber er fühlte sich wieder als Mensch. Mit Kopfschmerzen, einem Nacken wie ein Steinblock und regelmäßig rumorendem Magen, aber immerhin. Die Wachmacher hatte er wohlweislich weggelassen, denn so sehr er sich auch frisch und ausgeruht fühlen wollte, das Down danach hätte ihn auf die Bretter geschickt. Das leichte Zittern seiner Gliedmaßen schob er auf den Kaffee, für Entzug war die letzte Dosis noch nicht lange genug her. Sowohl vom Alk, als auch den Pillen.

Das Ruhrgebiet zog gemächlich an den Fenstern seines altersschwachen Wagens vorbei, trostlose Industriegebiete wechselten sich mit noch trostloseren Wohnbezirken ab, während er die A43 hinunterfuhr, stets auf dem rechten Streifen, mehr als 100 schaffte seine Klapperkarre eh nicht, die nur von Panik vor dem nächsten TÜV am Leben gehalten wurde.

Er hatte sich in halbwegs vernünftige Klamotten geschmissen, die jedenfalls einem oberflächlichen Augenschein Genüge tun würden. Seine größere Hoffnung war, dass Mandy ihn wirklich auf die Besucherliste hatte setzen lassen. Er kannte das Mädel von früher, sie arbeitete als Sekretärin des zweiten Prokuristen von Bäckerle. Aber das war nicht immer so gewesen. Zu einer dunkleren Zeit im Leben der kleinen Süßen mit der braunen Lockenmähne war sie in gänzlich anderer Gesellschaft unterwegs gewesen und hatte ihr Geld in der Horizontalen (oder allen anderen Stellungen) verdient, um ihren kleinen Sohn ernähren zu können. Die übliche Story: Ausbildung, Mann gefunden, Arbeit für ihn aufgegeben, schwanger geworden, sitzengelassen, arbeitslos, durchs soziale Netz gefallen und dann auf dem Strich gelandet. Er konnte sich noch gut daran erinnern, wie er die Frau mit der großen Oberweite – was bei ihren ein Meter fünfzig Körpergröße etwas merkwürdig aussah – kennengelernt hatte: Milieustudie für den »Morgen« und die Frau mit dem merkwürdigen Feuer in den Augen war ihm sofort aufgefallen. Ein Interview, ein paar Kaffee und die Vermittlung eines Vorstellungsgesprächs bei einem Zeitarbeitsladen, der ihm noch was schuldete, und sie waren Freunde geworden. Nicht die Sorte Freund, die sich ständig gegenseitig auf dem Laufenden hielt. Aber er hatte lose an ihrem Leben teilgehabt, miterlebt, wie Joshua immer größer geworden war und ihr zu dem Job bei Bäckerle gratuliert, wo sie nach diversen Zeitarbeitseinsätzen kleben geblieben war. Und nun fuhr er zu ihr. Offiziell stand er einfach nur auf der Besucherliste, würde mit ihr in der werkseigenen Kantine zu Mittag essen, etwas plaudern und dann wieder abhauen. Dass Mandy dann nicht so genau hinschauen würde, dass er wirklich ging, war ein kleiner Freundschaftsdienst, mit dem sie sich so weit aus dem Fenster lehnte, wie sie es vor sich und ihrer Loyalität zum Arbeitgeber vertreten konnte. Sie vertraute ihm. Ein immer noch merkwürdiges Gefühl. Hatte noch nicht mal wissen wollen, was er eigentlich vorhatte.

Michael strich sich müde über die Glatze. Sein Unterbewusstsein fragte ihn schon seit Stunden, warum er sich den ganzen Ärger eigentlich antat. Warum ließ er die Story nicht einfach auf sich beruhen, vergrub sich in der Bude, schrieb ein paar unausweichliche Bewerbungen oder versuchte, sich beim Chefredakteur wieder einzuschleimen. Also das, was die meisten anderen an seiner Stelle getan hätten. Stattdessen fuhr er zu einem Betrieb, um dort herumzuschnüffeln. Nur wegen eines Tattoos. Der Stich in seinen Eingeweiden fügte ein »das eines Mörders« hinzu und er ballte die Faust. Er wollte verdammt sein, wenn er nach den ganzen Schicksalsschlägen der Familie Zemmler nicht sein Bestes tat, um den Mord am Prof so gut es ging aufzuklären. Wer Freunde der Zemmler umbrachte, vergrub sich besser tief, Michaels Schaufel war ausdauernd.

 

Der Kantinenkaffee war so mies, wie er aussah und als er gequält hochblickte, konnte er das belustigte Blitzen in Mandys Augen nur zu gut sehen.

»Na komm, ganz so schlimm ist er doch auch nicht!« Vom Gefühl her überragte Mandy kaum die Tischkante des Kantinenmöbels, aber das war natürlich Quatsch. Selbst 1,50 Meter waren dafür hoch genug, aber etwas komisch sah es immer mal wieder aus, wenn die kleine Dralle neben einem stand. Selbst mit Mitte 30 hatte ihr Körper immer noch etwas ungemein Anziehendes. Anders konnte es sich Michael nicht erklären, dass er sich auf einen Kantinenkaffee nach dem ebenfalls miserablen Essen eingelassen hatte. Aber da saß er nun, vor sich einen Pott dampfenden schwarzen Gebräus, das krampfhaft versuchte, nach Kaffee zu schmecken.

Michael sparte sich eine Antwort, spülte den letzten Rest todesmutig hinunter und bereute es, als der Magen daraufhin rebellisch grummelte. Ruhe da unten! 

Mandy lachte laut auf, woraufhin einige der anderen Anwesenden zu ihnen herüber sahen. Doch nach Sekundenbruchteilen ging das Hintergrundrauschen aus Tellergeklapper und dem Geschwätz von gut zwanzig Leuten einfach weiter.

»Tja, das Essen hier war die letzten Jahre besser. Aber unter dem neuen Besitzer ist es im letzten Jahr stetig bergab gegangen. Nicht nur in der Kantine.«

Michael hob eine Augenbraue. »Neuer Besitzer?«

Mandy nickte, was eine besonders lange Locke ihres braunen Haares ins Wippen brachte.

»Ja. Vor gut zwölf Monaten. Von einem Tag auf den anderen.« Sie nahm einen Schluck Cappuccino, der ähnlich vertrauenswürdig aussah wie der Kaffee. Ohne mit der Wimper zu zucken. Starke Frau. »Wir haben es erst erfahren, als alles durch war. Die neuen Besitzer lassen sich aber so gut wie nie blicken, ist eine Investmentgesellschaft aus Berlin namens ›Delphin Capital‹. Und wenn mal einer von denen hier ist, dann jedes Mal ein anderer. Und Fragen beantworten die auch so gut wie nie. Aber die Auswirkungen merkt man hier überall. An jeder Ecke wird gespart. Forschung und Entwicklung? Dicht gemacht. Marketing? Personal halbiert.« Sie rümpfte die Nase. »Das ganze Geld fließt nur noch in die Produktion. Zig neue Maschinen, direkt hier hinterm Haupthaus wurde eine neue Halle im Eiltempo hochgezogen.« Sie beugte sich verschwörerisch nach vorne. »Die haben die Kapazitäten verdreifacht. Verdreifacht! Dabei ist der Markt kein Stück gewachsen. Wir produzieren massenhaft auf Halde, wissen fast nicht mehr, wohin damit. Aber neue Käufer? Fehlanzeige. Und das Schlimme ist, wir wissen alle nicht, warum. Klar, die in der Produktion sind glücklich. Fette Überstunden, zig neue Leute, alles super. Aber hier oben in der Verwaltung wird gespart, als ob es kein Morgen mehr gäbe.«

Michael nickte. »Da hast du Recht, klingt wirklich merkwürdig.« Ob das mit den tätowierten Securitys zusammenhing, die das Wiesel gefunden hatte? Bisher hatte er keines der Tattoos bei den allgegenwärtigen Sicherheitsleuten mit den gelben Sicherheitsausweisen entdecken können, aber sie sahen alle eine Spur zu professionell aus, zu durchtrainiert, zu glatt, um einfach nur die angeheuerten Mietbullen eines Mittelständlers zu sein.

»Sag ich doch!« Mandy schnaubte verärgert auf und spülte den Rest des Getränks hinunter.

»Und dass wir weniger absetzen als früher, weiß ich sicher. Alle Berichte dazu laufen über meinen Tisch, ich bereite die Zahlen jeden Morgen für meinen Chef auf. Aber ist ja auch kein Wunder: Fast ohne Marketing? Seit über einem Jahr kein neues Produkt? Wer aus der Gastronomie soll dann auch hier kaufen? Aber wir produzieren, als ob wir Marktführer wären. Was wir nach Stückzahlen auch sind, aber was soll der Quatsch?«

Zwei Männer in Arbeitsklamotten setzten sich an den Tisch neben sie und Mandy dämpfte ihre Stimme.

»Aber wir sind flüssig. Das ist ja das Komische! Delphin pumpt jeden Monat Unsummen hier rein. Ohne die wären wir schon lange weg vom Fenster bei dieser komischen neuen Strategie.«

Michael legte seine Hand besänftigend auf ihre, sie blickte hoch und lächelte, bevor sie den Kopf schüttelte.

»Aber was mach ich mir hier einen Kopf? Bisher ist der Lohn immer pünktlich gekommen. Und mehr braucht mich offiziell ja auch nicht zu interessieren.«

Die nächste Viertelstunde verging mit Smalltalk rund um die Auswüchse jugendlichen Leichtsinns ihres Sohnes, der sie immer wieder in den mütterlichen Wahnsinn trieb. Dann nickte ihm Mandy zu.

»So, ich muss dann mal wieder. Meine Pause ist vor fünf Minuten zu Ende gewesen.« Sie kicherte, stand auf und räumte das Tablett weg. Michael tat es ihr gleich. Dann umarmte sie ihn kurz zum Abschied, was ihn fast dazu zwang, in die Knie zu gehen.

»Mach es gut. Und grüß Sandra von mir.« Michael nahm den Hieb in den Magen wie ein Mann und quälte sich ein Lächeln ab. Woher hätte sie es auch wissen sollen?

»Du weißt ja, wo es raus geht.« Sie zwinkerte ihm zu, aber er sah Unsicherheit in ihrem Gesicht aufflackern. Würde sie die Aktion abblasen und ihn doch nicht hier allein herumstreichen lassen? Dann straffte sich ihre Gestalt, sie drehte sich um und ging ohne ein weiteres Wort. Sie hatte ihre Entscheidung getroffen und sein Besucherausweis war ganztägig gültig, dafür hatte sie gesorgt. Also war er jetzt auf sich alleine gestellt.

Michael ging Richtung Ausgang der Kantine, die im ersten Untergeschoss des Verwaltungsgebäudes – einem siebenstöckigen Glas- und Stahlmonstrum aus den nuller Jahren – untergebracht war. Wenige Schritte vor der Tür sah er eine Ausweiskarte auf einem Tablett liegen. Er ging in die Hocke, band sich die Schnürsenkel neu und beim Aufstehen verschwand die Karte, die mit einem Klecks Tomatensoße dekoriert war, in seiner Manteltasche. Es war eine blaue Karte gewesen. Also jemand aus der Verwaltung. Er betrat den Gang, der von der Kantine zur Treppe führte. Mandy hatte eine blaue gehabt, die Arbeiter am Nebentisch rote und die Securitys trugen gelbes Plastik an ihren unscheinbaren Klamotten, die so deutlich »Ich will nicht als Sicherheitsmann auffallen« herausschrien, dass es schon wieder auffällig war. Michael musterte den Wachmann neben der Treppe, der immer wieder über die Leute schaute, die nun zur Mittagszeit in die Kantine strömten. Auch der sah zu drahtig aus, um einfach nur von einer der üblichen Sicherheitsfirmen aus der Gegend zu sein. Sein Blick war absolut fokussiert, trotz der langweiligen Aufgabe. Michael lief es kalt den Rücken hinunter. War der Mörder auch so ein Typ gewesen? Leider trugen alle Securitys Pullover mit einem kleinen Rollkragen, der genau dort die Haut bedeckte, wo das Tattoo sein musste. Er hätte gerne gewusst, ob nur die Typen, die das Wiesel auf den nächtlichen Überwachungsvideos gesehen hatte, zu der Tattoo-Truppe gehörten, oder auch das gemeine Wachpersonal hier im Inneren. Sein Bauchgefühl tippte auf Letzteres.

Er hielt den Kopf unten und ging die Treppe langsam hoch. Auf dem Treppenabsatz beeilte er sich, seinen grünen Besucherausweis gegen die blaue Karte auszutauschen. Glücklicherweise ging Bäckerle mit der Zeit. Alle Informationen waren direkt auf einem Chip in der einfarbigen Karte gespeichert. Kein sichtbares Foto, kein Name, einfach nur die Farbe zierte die Plastikkarte in der Größe früherer EC-Karten. Manchmal musste man auch einfach mal Glück haben. Ein Foto oder ein Name hätte alles zunichte gemacht. So konnte das Wiesel gleich seinen Tanz mit den Einsen und Nullen vollführen.

Michael gelangte in die unscheinbare Lobby des Verwaltungsgebäudes. Das fahle Licht des Herbstmorgens fiel durch die große Glasfront, nur um den Besucher noch mehr auf einige abgrundtief hässliche Bronzeskulpturen in der Eingangshalle hinzuweisen. Eines konnte Michael mit Sicherheit sagen: Das Management von Bäckerle hatte kein Kunstverständnis. Oder er nicht. Alternativ sie beide. Der Wachmann, der neben einer älteren Empfangsdame hinter dem Steintresen saß, schaute ihn kurz an, aber als Michael einfach freundlich lächelte, widmete sich der Mann wieder seinem Bildschirm. Wenn die letzten Zahlen richtig waren, arbeiteten fast tausend Leute für Bäckerle, da fiel einer mehr oder weniger kaum auf. Michael steuerte das Männerklo an, das sich neben der Eingangsfront befand. Die Tür schwang hinter ihm ins Schloss. Keiner da. Er wagte es, durchzuatmen, ging in die Knie, schaute unter die drei Kabinen. Wirklich keiner. Zügig ging er in die hinterste, verschloss die Tür und setzte sich, bemüht, das Pochen seines Herzens wieder etwas unter Kontrolle zu bekommen. Dann aktivierte er den Handheld-Computer und seine Brille und wählte Wiesels Nummer.

Ein halbtransparentes Fenster wurde in sein Blickfeld projiziert. Erneut zierte ein Lächeln das schmale Gesicht des Wiesels, als ob er seine eigenen Ohren verschlucken wollte.

»Na, Zemmi, hat alles geklappt?«

»Sogar etwas besser, ich hab eine Zugangskarte für die Verwaltungsebene ergattern können.«

Das Wiesel nickte anerkennend. »Das wird es schneller gehen lassen. Lies sie ein!«

Michael hielt die Karte vor den Scanner des Handheld-Computers und der Chip im Karteninneren schüttelte brav die Hand mit seinem Kom.

»Ok, ich hab die Daten empfangen. Lass mich eben machen.« Jetzt kam das kritische Zeitfenster. Die alten Daten der Karte wurden vom Wiesel editiert, während er sie vom Netz nahm. Die Minuten verstrichen und Michaels Nervosität stieg. Mit jedem Moment, in dem die blaue Karte vom Schirm verschwunden war, hielt er dem Sicherheitssystem damit quasi ein dickes »Hier ist ein Eindringling«-Schild unter die Nase. Nach gerade einmal zwei Minuten erwachte das eingefrorene Bild des Wiesels wieder zum Leben und der grotesk dünne Mann tippte sich wie ein Cowboy an die Stirn.

»Hat geklappt, Partner!«

»So schnell?«

»Ja, da du schon eine passende Karte besorgt hattest. Meine Schätzung von zehn Minuten beruhte darauf, dass ich deine Besucherkarte erst hätte umwandeln müssen. Vom unpassenden Farbschemata ganz zu schweigen. Kannst die Klebefolie also in der Tasche lassen.« Das Wiesel lachte dröhnend und Michael regelte unbewusst die Lautstärke des Koms herunter.

»Tja, da hab ich zur Abwechslung mal was richtig gemacht.«

»Wenn dich jemand fragt, bist du Michael Gordowski und für einen Monat von einer externen Beratungsfirma hierher geschickt worden, um eine neue PR-Strategie mit zu entwerfen. Gut, was? Ich hab extra was genommen, wo du als Journalist echt mitreden könntest. Wenigstens halbwegs. Und der Vorname stimmt, wodurch du dich eigentlich immer angesprochen fühlen solltest.«

Michaels Nervosität ließ etwas nach und er gestattete sich einen kurzen Lacher.

»Du guckst zu viele Agentenfilme, Wiesel.«

Der Angesprochene grinste breit und fuhr fort: »Bis das System den Schwindel merkt, hast du Zeit.«

»Irgendwelche Schätzungen?«

»Stunde, vielleicht anderthalb.«

»Das sollte reichen.« Michael holte tief Luft. »Danke, Mann!«

»Ich setz es auf die Rechnung, Partner!«

Michael wollte gerade auflegen, da kam ihm ein Einfall.

»Warte, Wiesel. Wo du jetzt gerade eh nichts zu tun hast,« – er überhörte das belustigte Schnauben – »forsch doch mal bitte nach ›Delphin Capital‹ und wer dahinter steckt. Die haben hier den Laden übernommen und mein Bauchgefühl sagt mir, dass da was nicht koscher ist. Passt zu gut mit den Tattoo-Typen überein.«

»Ok, ich kümmer mich drum.«

»Danke und Ende.« Damit beendete er die Verbindung, ließ seine grüne Besucherkarte im Klo verschwinden, spülte, steckte die blaue Karte zurück an den Kragen des Mantels und verließ die Toilette. Sobald der Besucherausweis durch die Kanalisation das Firmengelände verlassen hatte, würde sie automatisch deaktiviert und Michael war offiziell nicht mehr auf dem Gelände. Das Unternehmen verzeichnete laut Mandy ständig irgendwelche Besucherkarten, die nicht zurückgegeben wurden und deaktivierte daher standardmäßig alle, die länger als ein paar Minuten nicht mehr auf dem Gelände registriert wurden. Für die Kerle vor den Schirmen war er nun weg. Perfekt.

In der Lobby wandte er sich nach rechts, ging schnurstracks zum Fahrstuhl. Ein paar weitere Bäckerle-Angestellte gesellten sich zu ihm, unterhielten sich hinter ihm über das neueste Nahrungskonzentrat – wohl irgendeine extrem haltbare Mischung mit gewöhnungsbedürftigem Geschmack – und Michael atmete durch, als der Aufzug nach quälend langen Sekunden endlich kam. Er stieg ein, drückte auf die Sechs – laut Mandy war dort unter anderem das Archiv samt Terminalzugriff zu finden – und nachdem die anderen Besucher auf Ebene Drei ausgestiegen waren, kam er nur Sekunden später auf Level Sechs an.

Und blieb ruckartig stehen. Das sollte Verwaltung und Archiv sein? Wo Michael eine verwinkelte Ebene voller kleiner Büros und einem Aktenschrankmarathon erwartet hatte, hatte Ebene Sechs schlicht und ergreifend bis auf die von Boden bis Decke reichende Fensterumrandung und ein paar Säulen keinerlei Wände. Vielmehr fühlte er sich in einen amerikanischen Film versetzt, der in einem dieser namenlosen Büros mit den zig Boxen spielte. Ebene Sechs war genau das. Trennwände unterteilten das Stockwerk in gut hundert Büroboxen, ein Chefbüro oder Ähnliches war nirgendwo zu sehen. Oder ein Archiv. Da sah er die Schilder, die von der Decke herabhingen und die Büroboxen in vier Lager teilten: HR (also Personal), Verwaltung, PR/Marketing und ganz hinten links wurden vier der Schachteln als »Archiv« ausgewiesen. Michael nahm sich ein Herz, atmete durch, versuchte seinen Herzschlag wieder vom Kolibri-Niveau herunterzubekommen und ging die langen Reihen entlang. Nur gut die Hälfte der Boxen war besetzt, der Rest war entweder aktuell leer oder anscheinend überhaupt nicht in Benutzung. Vor allem der Bereich PR/Marketing war kaum besetzt. In den circa zwanzig Boxen verloren sich gerade einmal fünf Angestellte, die heillos überfordert mehrere Telefone gleichzeitig jonglierten und dem Nervenzusammenbruch nah aussahen.

Michael hielt sich links und ging vor der imposanten Fensterfront, durch die man auf den Hof blicken konnte, zu den Archiv-Büroboxen. Er brauchte freien Terminalzugriff und wenn Mandy dieses Detail richtig aufgeschnappt hatte, hatten die im Archiv Zugang zu fast allen Unternehmensbereichen. Eine Schwachstelle, die er auszunutzen gedachte. Draußen auf dem Hof erhoben sich vor dem mittäglich-bedeckten Himmel drei große Fertigungshallen, eine davon im Rohbaustatus, die anderen beiden fertig und in voller Betriebsamkeit. Gabelstapler fuhren im Minutentakt hinein und heraus, jeweils voll beladen. Ein Vorarbeiter gab herrische Befehle, als ein Laster mit angelieferten Grundsubstanzen nicht schnell genug ausgeladen wurde. Mandy hatte Recht, die Produktion lief wirklich auf Hochtouren. Und das fast komplett auf Halde? Er musste herausfinden, was die Tattoo-Heinis hier bewachten! Wo war der Prof hier bloß hineingeraten?

Michael lächelte einer Büro-Mieze zu, die gerade gelangweilt vom einzig besetzten Bildschirm in der Archiv-Abteilung hochschaute und sich ebenfalls ein Lächeln abrang. Was für eine Ehre. Bis auf Miss HappyDay waren die anderen drei Boxen leer, die Archiv-Boxen sahen mehr wie ein kleiner Geschwüransatz als wie eine wirkliche Abteilung auf Ebene Sechs aus. Michael entschied sich für den ganz linken Arbeitsplatz. Auch wenn er dann mit dem Rücken zum Treppenhaus und zum Fahrstuhl saß. Neben die Stimmungskanone konnte er sich kaum setzen, die Mitteltrennwände hatten den Namen nicht verdient und selbst Mandy hätte darüber hinweg schauen können. In seinem Rücken hatte er nun die zehn Personal-Heinis, und deren angeregte Unterhaltung über die Fußballergebnisse der letzten Woche würde sie hoffentlich davon abhalten, über den Gang auf seinen Bildschirm zu schauen.

Michael setzte sich in die Box, der Bürostuhl knarzte empört auf. Offensichtlich war er der erste Besucher seit Langem. Zügig zog er die blaue Karte von der Jacke, wedelte vor dem in den Tisch eingebauten Scanner, und das schuhschachtelgroße Terminal neben dem großen Bildschirm erwachte zum Leben. Ein paar Sicherheitschecks liefen automatisiert ab und Michael bemühte sich, nicht zu auffällig mit dem Stuhl zu wippen. Dann verschwanden die Sicherheitsroutinen und die Archiv-Eingabemaske wurde eingeblendet. Gute Arbeit, Wiesel! 

Michael überlegte. Was sollte er als erstes abfragen? In seinen bisherigen Überlegungen und durchgespielten Plänen war er stets geschnappt worden, bevor er vor dem Archiv-Terminal saß. Seine Gedanken raste. Dann streifte er sich kurzentschlossen die beiden neben dem Terminal achtlos hingeworfenen Cyberhandschuhe über und machte sich an die Arbeit. Er wühlte sich durch die Untermenüs und nahm sich den Bereich »Firmensicherheit« zuerst vor. Eine weitere Sicherheitsmaske erschien und dieses Mal reichte offensichtlich seine blaue Karte nicht automatisch aus, denn die Eingabeaufforderung für das Passwort blinkte in stoischer Ruhe vor sich hin. Michael unterdrückte einen Fluch. Er überlegte kurz, das Wiesel aufzuschalten, entschied sich dann aber dagegen. Wenn dabei etwas schief lief, wären sie sofort aufgeflogen und eventuell das Wiesel gleich mit. Kurzentschlossen machte er mit den Fingern eine wegwerfende Geste und das Sicherheitsmenü wurde ausgeblendet. Stattdessen zeigte er auf den mit »Produktion« beschrifteten Eintrag in Form eines Würfels, der daraufhin in den Vordergrund rückte und sich vor ihm entfaltete. Ah, da konnte er ansetzen: Produktions-Historie. Er wählte den Eintrag aus, verfeinerte die Eingaben und ließ sich die Produktionslisten in zusammengefasster Form präsentieren. Interessant. Seit zwölf Monaten war die Fertigung, wie Mandy berichtet hatte, nur so emporgeschossen. Aber nicht nur das, auch die Schwerpunkte hatten sich verlagert. Produzierte Bäckerle früher noch hauptsächlich Fertigpulver für die Großgastronomie, hatte sich dies deutlich gewandelt. Seit einem Jahr waren Nahrungskonzentrate angesagt, die Fertigsachen für die Großkunden nahmen gerade mal noch zehn Prozent der Gesamtkapazität ein. Michael zog den Eintrag der Nahrungskonzentrate nach vorne, entfaltete ihn und ging in die Details. Suppenpulver mit Haltbarkeitsdatum in fünfzig Jahren. Vitamingeboostete Getränkekonzentrate, die genug Kalorien enthielten, um einen durchtrainierten Kämpfer durch den Tag zu bringen. Fertiggericht X-44, eine nach Produktionsbeschreibung grüne Pampe, die nur mit Wasser aufgegossen und erhitzt werden musste, und laut Entwickler »annehmbare geschmackliche Eigenschaften und hervorragende Nährwerte bei wie gewünscht sechzigjähriger Haltbarkeit« aufwies. Für was produzierten die hier? Einen Atomkrieg?

Michael verzweigte in die Lagerbuchhaltung und hielt überrascht inne. Hatte Mandy nicht berichtet, die Lager würden überquellen? Stattdessen wurde die aktuelle Lagerausnutzung mit gerade einmal fünf Prozent angegeben! Er versank in den Details, ließ sich Tabellen und Planungsschemata auf Langfristplanung anzeigen, alles, auf das das Archiv-Terminal Zugriff hatte. Der Programmierer, der diese EDV-Architektur aufgebaut hatte, hatte glücklicherweise wohl nie davon gehört, dass man keine »Super-Zugriffe« erlauben sollte. Jedenfalls nicht von vergleichsweise leicht zugänglichen Terminals. Wenn jetzt noch die Sicherheitsberichte einsehbar gewesen wären ... aber egal. Das hier war auch so schon interessant. Bäckerle hatte angebaut, und zwar nicht in direkter Nachbarschaft. Ja, die lokalen Lager hier vor Ort quollen fast über, aber die zahlreichen LKW, die auch jetzt gerade auf dem Hof beladen wurden, fuhren zu einem weiteren Lager im Norden, nahe Hamburg. Die Kapazität musste gewaltig sein. Seit fast zwölf Monaten wurde so gut wie alles in diese Lager gekarrt, nur gut zehn Prozent der Produktion wurden verkauft, und dennoch waren die Hamburger Hallen nur zu einem Zwanzigstel gefüllt. Betriebswirtschaftlicher Selbstmord. Aber es wurde fröhlich weiter produziert.

Michael zögerte einen Moment und ließ die Hände sinken. Was als nächstes? Die Sicherheit fiel aus. Die Produktionslisten hatte er. Er fuhr sich über das Gesicht, spürte die Falten, die die letzten Tage gegraben hatten. Er hatte da eine Vermutung. Keine, die vom gesunden Menschenverstand ausging, sondern vom unbeschreiblichen Bauchgefühl eines Journalisten mit zig Jahren Berufserfahrung. Wer auch immer hinter der Veränderung der Produktion steckte, hatte auch die Sicherheitsmaßnahmen mit den Tattoo-Jungs verbrochen. Michael sprach sich selber Mut zu, dann knöpfte er sich die Unternehmenskommunikation vor. Der Würfel flog ihm nur so entgegen, als er ihn mit den Fingern des Cyberhandschuhs fast aufspießte und zu sich zog. Auf dem Bildschirm entfaltete sich der Würfel und präsentierte seinen Inhalt. In die persönlichen Mailboxen kam er natürlich nicht, aber vielleicht ... ja, da waren sie, die archivierten Konferenznotizen der Vorstandsetage. Viele Unternehmen bewahrten diese an sich meist schon nach wenigen Wochen hoffnungslos veralteten Schriftstücke auf, damit sie als Gedächtnisstützen dienen konnten. Ob für eine Unternehmerbiografie, wo sich ein alter Sack selbst auf die Schulter klopfen wollte, dass ihm vor zig Jahren die entscheidende Idee gekommen war, oder um sich in einem Schadenersatzprozess rausreden zu können. Oh, da war ja jemand fleißig gewesen, die archivierten Dateien gingen über zehn Jahre zurück und umfassten mehrere tausend Einzelblätter. Seine Hände schoben sich vor, fügten die Dateien zu einem Paket zusammen, öffneten einen Außenkanal und er schickte sie zusammen mit den Produktionslisten und den anderen Fundstücken an eine Mailbox, die das Wiesel extra dafür eingerichtet hatte.

»Versand abgeschlossen«, blinkte Sekunden später auf dem Bildschirm, da räusperte sich plötzlich jemand hinter ihm. Michael fuhr herum, nur um auf eine durchtrainierte Männerbrust zu blicken und einen gelben Ausweis, der gut sichtbar am dunkelblauen Pulli befestigt war. Direkt neben dem Sicherheitsmann stand ein zweiter, leicht versetzt dahinter, als ob sie einen bewaffneten Autofahrer festnehmen wollten. Das Herz rutschte ihm in die Hose, er war so vertieft in die Dateien gewesen, dass er gar nicht auf die Umgebung geachtet hatte. Anfängerfehler!

»Herr Gordowski?«, fragte der vordere Wachmann ausgenommen höflich.

Michael nickte.

»Bitte legen Sie die Handschuhe weg und folgen uns ohne großes Theater.« Keine Regung in den kantigen Zügen.

Michael nickte benommen, zog die Handschuhe aus und stand zitternd vom Stuhl auf. Der zweite Security schaute kurz nach hinten zu den Fahrstühlen. Durch die Kopfbewegung wurde der Rollkragenpulli leicht nach unten gezogen und ein Adler im Sturzflug tauchte am Halsansatz auf. Das Tattoo! Blut schoss Michael in den Kopf, zog ihm die Beine weg, er taumelte. Ein starker Arm griff ihm unter die Achseln, der Wachmann war derart groß, dass er sich dafür bücken musste. Die Instinkte übernahmen die Kontrolle, Michael sprang just in dem Moment hoch, als der Mann die Bewegung vollendet hatte. Sein Schädel prallte knirschend auf die Nase des Wachmanns, der aufschrie, den Griff lockerte und reflexartig zum Gesicht griff.

Michael rannte los, hinter ihm gellte ein »Stehenbleiben« vom zweiten Security zu ihm herüber. Michael flog durch die Gänge, sah erschreckte Gesichter links und rechts, er rannte, stürzte über das Kabel eines Kopierers, rappelte sich wieder auf, rannte weiter. Büroboxen flogen an ihm vorbei, immer wieder bog er hektisch ab, hinter sich die stampfenden Schritte des Security. Ein Schrei hinter ihm, der Wachmann war auf irgendetwas ausgerutscht und der Länge nach hingeschlagen. Michael wandte den Kopf. Wo war der andere? Michael blickte sich panisch um. Ein Hüne mit blutender Nase stand direkt vor dem Eingang zum Treppenhaus, neben dem Aufzug. Scheiße! Glühende Kohlen hatten seinen Magen ersetzt, die Instinkte hatten völlig die Kontrolle.

Michael rannte zur entgegengesetzten Seite des riesigen Raumes, direkt auf die Fensterfront zu. Panik flutete sein Hirn. Sechster Stock! Der sichere Tod. Wenn er überhaupt durch das Glas kam. Im Laufen schnappte er sich einen kleinen Hocker, der neben einer Bürobox stand, schwang das Metallgestell und warf es, als er nur noch wenige Meter von der deckenhohen Fensterfront entfernt war. Metall traf auf Sicherheitsglas, prallte ab und hinterließ eine gesprungene Scheibe. Michael sprang mit der Schulter voraus, die Glasscheibe löste sich aus der Halterung, ohne zu splittern – dem Erfinder des Sicherheitsglases sei Dank – und Michael schrie, als er in die Tiefe fiel. Der Fall dauerte nur Sekunden, über ihm schaute der Security aus dem Loch, wo gerade noch das Fenster gewesen war und dann kam der Aufprall. Die Luft wurde ihm aus den Lungen gepresst und die Welt drehte sich. Ein merkwürdiges Geräusch wie aus einer Papierpresse, dann Stille. Michael wagte es, die Augen zu öffnen. Über ihm war ein grünlich bedeckter Mittagshimmel. Keine Knochen knackten, sein Rücken fühlte sich wie die Hölle auf Erden, aber sonst war er unverletzt. Ein Wunder? Was war das neben und über ihm. Pappe? Michael versuchte, sich auf die Beine zu kämpfen, bekam keinen Fuß auf die Erde, strampelte sich auf allen Vieren aus in was auch immer er da reingefallen war. Asphalt kam in Sicht und Michael fiel von der Palette herunter, neben ihm landete ein blauer Karton in der Größe einer Müslipackung, von dem ihm der Schriftzug X-44 entgegenprangte. Er war auf einer Lieferung gelandet. Das erklärte das grünliche Pulver, das überall auf dem Asphalt verstreut war und, wie er jetzt bemerkte, auch ihn von oben bis unten bedeckte. Michael dankte dem Herrn und rannte los, so schnell es das fortwährende Stechen im Rücken zuließ. Der Parkplatz kam in Sicht, hinter ihm schallten die ersten Rufe über das Gelände, er möge doch bitte stehenbleiben. Klar doch. Er grabbelte in seiner Hosentasche, zog den Autopieper heraus, seine altersschwache Karre blinkte, als er endlich den Knopf gefunden hatte und Michael schlängelte sich zwischen den anderen geparkten Wagen hindurch, warf sich auf den Fahrersitz, ließ den Motor an und setzte mit quietschenden Reifen rückwärts. Dann trat er das Pedal voll durch, der Wagen schoss vor, er schaltete unentwegt und mit fast siebzig raste Michael auf das Wachhäuschen zu. Und die daneben befindliche Schranken. Ein Wachmann stürzte aus dem Wachhaus, riss seine Pistole hoch. Michael duckte sich instinktiv, trat weiter voll durch. Die Plastikschranke krachte gegen die Frontscheibe und ließ die Scheibe in einer Explosion aus kleinsten Sicherheitsglasteilchen zerfallen. Plastik zerbrach krachend. Dann war er durch, hinter ihm ertönten Schüsse und er hörte die Einschläge in Kofferraumhöhe, während der Fahrtwind ihm die Tränen ins Gesicht trieb. Gefühlte Sekunden später war er schon auf der Autobahnauffahrt und als er sich im – aus unfassbaren Gründen noch heilen – rechten Rückspiegel vergewissert hatte, dass ihm niemand folgte, verlangsamte er das Tempo von »völlig durchgeknallt« auf »übertrieben«. Er hatte wieder einmal keine Ahnung, wie es weitergehen sollte. Dann setzte der Regen ein. Wie wichtig man in solchen Momenten doch Selbstverständlichkeiten wie eine Frontscheibe bei Tempo 130 und Regen finden konnte.

 

*

 

Sebastian saß auf dem Bett und schaute ihr zu, wie sie sich langsam am Fußende stehend entkleidete. Melanie. Sein Traum von einer Frau. Das schwarze Oberteil aus Seide – ein Geschenk – fiel langsam und offenbarte, was er schon gesehen hatte, als sie vor einer halben Stunde die Wohnung betreten hatte: Sie trug keinen BH. Wofür auch, bei ihren festen Apfelbrüsten. Die Brustwarzen waren aufgerichtet, auch sie freute sich über das Wiedersehen. Langsam fuhr ihre Linke von ihren Haaren abwärts, über die Wange, die Brust herunter, umzog den Bauchnabel, um dann am Knopf ihrer engen Stoffhose zu enden und diese langsam aufzuknöpfen. Sie drehte sich, offenbarte ihren lieblichen Rücken, streifte die Hose langsam ab, zeigte einen weinroten String, bückte sich und ihr fester Po strahlte ihn nur so an. Die Decke über seinem nackten Körper hob sich ein weiteres Stück empor. Melanie drehte sich um, legte unschuldig ihren Zeigefinger auf die Lippen und blinzelte ihm zu. Da wurde sie plötzlich teilweise durch ein halbtransparentes Fenster verdeckt, das sich auf seine Kontaktlinsen einblendete und einen eingehenden Anruf zeigte. Das Adler-Logo des Kanzleramts. Sebastian hob enttäuscht die Hand. Melanie nickte stumm, hauchte ihm einen Kuss zu, verschwand aus dem Zimmer und schloss die Tür des geräumigen Schlafzimmers hinter sich. Sie kannte solche Szenen leider nur zu gut. Sebastian seufzte, nahm die Cyberhandschuhe vom schwarz lackierten Nachttisch aus Holz und streifte sie über. Wenn der Kanzler anrief, gab es fast immer etwas zu notieren. Mit einem Fingerschnippen nahm er den Anruf entgegen, das eingeblendete Fenster wurde größer bis es den gesamten Sichtbereich ausfüllte, verlor die Transparenz und Sebastian übermannte für einen Sekundenbruchteil das Gefühl, falsch angezogen zu sein, da er fast dem Kanzler gegenüber stand. Dann schüttelte er den Kopf über einen derart kindischen Gedanken. Es war zwar fast, als ob man sich gegenüber stand, aber es war immer noch virtuell. Mit einem Winken schaltete er sein 3D-Icon an, so dass Abdul nur ein animiertes Gegenüber sah, ein gesellschaftlich anerkanntes Zeichen dafür, dass der Anrufpartner gerade nicht in vorzeigbarer Verfassung war. Die Decke sank herab, die Entspannung war dahin.

Einen Sekundenbruchteil, nachdem das Vorhängeschloss-Symbol für eine abhörsichere Leitung eingeblendet wurde, erschien das dunkelhäutige Gesicht von Abdul Mohamad und die sonst fast greifbare Müdigkeit in den Zügen des Kanzlers war einem viel gefährlicheren Ausdruck gewichen: Zorn. Sebastian neigte den Kopf.

»Guten Abend, Abdul.«

»Sebastian.« Die Stimme des mächtigsten Mannes der BRD war schneidend und Sebastian setzte sich unwillkürlich auf.

»Es gab ein Problem in einem der Zulieferbetriebe für Exodus.«

»Die Werften?«, war Sebastians erste Vermutung.

»Nein, Nahrungskonzentrate. Bäckerle.« Sebastian brauchte nicht nachzudenken, alle Details zu einem der wichtigsten Zulieferer ihres Projekts kamen ihm sofort in den Sinn, als ob eine Datei geöffnet worden war. Vergessen konnte er so gut wie nie etwas, im Positiven wie im Negativen.

»Ok, also Bottrop.«

Der Kanzler nickte anerkennend und der Zorn wich für einen kurzen Moment.

»Was wissen wir?«, wollte Sebastian wissen.

Statt einer Antwort schob ihm der Kanzler mit einer Handbewegung ein Dateipaket zu, das Sebastian sofort annahm und nach Sekunden heruntergeladen war. Mit geübten Bewegungen öffnete er es. Ein Bericht der lokalen Sicherheitsmannschaft. Und ein Video. Er zog das Video zu sich heran und es öffnete sich in einem separaten Fenster. Die Außensicht von Bäckerle. Ein klappriges Auto fuhr auf den Parkplatz, am Rande der Kameraerfassung. Ein Mann stieg aus und ging auf den Eingang zu, die Türen öffneten sich und die Kamera schaltete auf das Foyer um. Sebastian stoppte das Video, spulte eine Sekunde zurück und zoomte mit einer auseinanderziehenden Bewegung seiner Finger heran.

»Zemmler!«, spie er aus.

Der Kanzler runzelte die Stirn.

»Du kennst den Schnüffler?«

Sebastian nickte, überflog den Bericht und unterdrückte nur mühsam einen Fluch. Einige Daten waren gesendet worden und die Techniker waren gerade dabei zu sichten, ob dem Schmierfinken ein Volltreffer gelungen war.

»Michael Zemmler, Journalist beim ›Morgen‹. Hat mir letztens auf der BPK eine Szene gemacht. Habe mich mit einem Anruf einer meiner Abteilungsleiter bei seinem Chefredakteur bedankt, daher kenne ich den Namen.«

Abdul nickte und legte den Kopf leicht zur Seite.

»Und nun, Sebastian? Wie werden wir der Situation Herr?«

»Möglicherweise ist der Geist aus der Flasche. Aber wir sollten dennoch probieren, den Stöpsel wieder reinzudrücken.«

Der Kanzler nickte nachdenklich, um dann innezuhalten. »Du meinst, wie bei diesem Professor?«

Sebastian verzog keine Miene, als er mit einem knappen »Ja« antwortete.

»Wie viele müssen noch über die Klinge springen, werter Freund?«

»Abdul, glaub bitte nicht, dass mir Derartiges Freude machen würde. Aber willst du ihn verhaften lassen? Damit er dann vor Gericht die ganze Story auspackt, die er oder einer seiner Helfer aus den Dateien zusammengesponnen hat. Willst du die Massenpanik verantworten, die unweigerlich folgen würde?«

Der Kanzler erschauderte sichtlich, bevor er den Kopf schüttelte.

»Wie willst du herausfinden, ob er die Dateien noch hat? Er könnte sie längst an zig Hintermänner weitergegeben haben?«

Sebastian zögerte einen Moment. »Ich habe da Mittel und Wege. Erfahrene Kräfte.«

»Will ich die Details wissen?«

Sebastian schüttelte den Kopf und der Kanzler sah ihn hart an.

»Wenn das schiefgeht ... wenn dieser Zemmler deinen Häschern entkommt und herauskommt, dass wir Bundesbürger ermorden und foltern lassen ...«.

Sebastian beendete den Satz: »Ist das alleine auf meinem Mist gewachsen und du weißt von nichts.« Er sah sein Gegenüber einen Moment an und absolute Entschlossenheit ergriff ihn. »Du weißt, dass ich dich niemals in den Abgrund reißen würde, den wir schon lange gemeinsam geöffnet haben. Und weißt du warum?« Ohne eine Antwort des Kanzlers abzuwarten, fuhr er fort: »Weil es das Richtige war und ist. Jedes Mal. Und wir keinen dieser Befehle leichtfertig gegeben haben. Stattdessen haben wir uns selbst gemartert, Auswege gesucht, aber manchmal gibt es keine. Das Wohl Vieler ...«.

»... wiegt schwerer als das Wohl Einzelner«, beendete Abdul den Satz und nickte. »Gut, dann ist es entschieden.« Ohne eine Verabschiedung abzuwarten, beendete der Kanzler die Verbindung.

Sebastian blieb einen Moment liegen, dann streifte er die Handschuhe ab und rief Melanie wieder ins Zimmer. Er musste ins Amt fahren und Instruktionen an Männer geben, deren Arbeit mit anzusehen die meisten Menschen nicht mehr ruhig schlafen lassen würden. Aber vorher musste er etwas Druck ablassen. Er bedauerte, dass er nur Zeit für einen Quicke hatte, aber Melanie würde dafür Verständnis haben. Wie für alles.

 

*

 

Ein einfaches Hinterzimmer einer türkischen Begegnungsstätte. Ein runder, großer Tisch, sechs bequeme Stühle, ein paar Poster von türkischen Sängern an den rissigen Wänden. Der altersschwache Kühlschrank brummte unentwegt und ein paar Pappkisten in der Ecke versuchten gar nicht erst zu verbergen, dass sie Schmuggelzigaretten enthielten. Das berüchtigte Poker-Hinterzimmer, von dem Aldi-Ümit immer mal wieder erzählt hatte. Und er, Michael, saß nun hier und hatte keine Ahnung, wie es weitergehen sollte. Seine Sporttasche, in die er fluchtartig alles reingeworfen hatte, was in seiner Wohnung nicht niet- und nagelfest war, lag in der Ecke. Er ging nicht davon aus, sobald in sein Appartement zurückkehren zu können. Wenn überhaupt jemals.

Die Tür ging auf und Michael konnte sich nur knapp davon abhalten, von seinem Stuhl aufzuspringen, da schob sich auch schon Ümits kantiges Gesicht ins Blickfeld und Musik kam durch den Spalt. Neben diversen Gerüchen einer großen Gesellschaft, die vorne gerade den 18. Geburtstag des Sohnes eines wichtigen Türken feierte. Damit war er sicher, hier traute sich so schnell kein Polizist rein.

Ohne ein Wort zu sagen warf ihm Ümit ein kleines Päckchen zu, das über den Tisch schlitterte und direkt vor ihm liegen blieb. Michael nickte dankbar und Ümit grinste, bevor er sich wieder nach vorne zur Feier begab. Kein Mann großer Worte.

Gierig griff er nach dem Packpapier und zerriss es ohne Mühe. Ein Gefrierbeutel kam zum Vorschein mit gut zwanzig kleinen Seligmachern, die ihn hellrosa anfunkelten. Ohne zu warten zerriss er das Plastik, steckte sich eine der Pillen in den Mund und schluckte sie runter. Er lehnte sich zurück, wartete auf das altvertraute Kribbeln. Dann kam es, mit aller Macht. Sein Körper erzitterte, Botenstoffe durchfluteten alle Zellen, er fühlte sich frisch, ausgeruht, voller Tatendrang. Endlich! Seit Stunden schrie sein Geist nach den hellrosa Versprechungen von allwährender Kraft. Und nun hatte er sie endlich bekommen! Gut, sein letztes Geld war dafür draufgegangen, aber wenn ihn nicht alles täuschte, würde sein Konto eh in Kürze gesperrt sein, wenn die Polizei rausbekam, wer bei Bäckerle für die Aktion gesorgt hatte. Und dass sie auf ihn kamen, war eine glasklare Angelegenheit. Es gab sicherlich Videoaufnahmen, aber in jedem Fall ausreichend Fingerabdrücke und auch die ein oder andere DNA-Spur, beispielsweise in den Cyberhandschuhen am Archiv-Terminal. Damit hatten sie ihn. Er hatte schon zu so vielen Gelegenheiten seine DNA und Fingerabdrücke registrieren lassen müssen – erst letztens beim Zugang zur Bundespressekonferenz – dass sie ihn in jedem Fall finden würden. Das war nur eine Sache von Stunden. Wenn er Glück hatte, von einem Tag. Was würde dann folgen? Verhaftung, Tattoo-Männer, der Tod, da machte er sich keine Illusionen. Traurigkeit wollte in ihm aufbranden, aber die rosa Helligkeit drängte sie zurück, durchflutete ihn mit Tatendrang und ließ keine andere Emotion außer purem Willen zu.

Da vibrierte es an seinem Gürtel, Michael griff hektisch zu seiner Brille in der Jacke, fluchte, als sie ihm aus der Hand auf den Boden fiel und setzte sie dann zitternd auf. Das Icon des Wiesels.

»Hey, alter Zemmler! Ich hab hier was für dich.« Dann stockte das Wiesel und die schmalen Gesichtszüge drückten Verwunderung aus. »Mann, wie siehst du denn aus?« Michael ließ das Handkom in seiner Hand sinken und er verschwand damit für das Wiesel aus der Kameraerfassung, der dies mit einem »Gut, dann nicht« und einem Seufzer abtat.

»Komm zur Sache, Wiesel, was hast du?«

»Ist ja gut, ist ja gut, Alter. Aber mal ehrlich, du siehst wirklich mies aus. Schlaf dich mal wieder aus!« Als Michael keine Reaktion zeigte, fuhr das Wiesel achselzuckend fort. »Gut, ist dein Körper, den du da ruinierst. Also: Ich bin die Daten von Bäckerle durchgegangen, die du mir freundlicherweise geschickt hast.« Michael ergänzte im Geist »und einen dicken Vorschuss kurz darauf«, wie hätte er sonst das Wiesel auch ans Arbeiten bekommen. Aber wie gesagt, sein Konto würde eh bald dicht sein, da kam es auch nicht mehr drauf an. Und das Wiesel wusste, wie er das Geld waschen musste, um in Sicherheit zu sein.

»Und rate mal, was ich gefunden habe!«

Michael zuckte mit den Achseln, dann fiel ihm ein, dass er ja nicht mehr zu sehen war und ergänzte: »Keinen Schimmer. Und mach's nicht so spannend!«

»Also gut. Bäckerle ist nicht von einem Fremdunternehmen übernommen worden, sondern vom Staat. Hinter dem Investor, den du mir genannt hast, steckt das BBK. Das ›Bundesamt Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe‹. Das war über die Notizen und Produktionspläne gut nachvollziehbar.«

Michael wog den Kopf hin und her und sein Geist schwamm den zu schnellen, hellrosa Bewegungen leicht hinterher. »Und wofür produzieren die die ganzen Konzentrate? Steht ein Weltkrieg bevor?« Michael kicherte unpassenderweise und das Wiesel runzelte die Stirn. Die Pillen waren wirklich heftig diesmal. Wo hatte Ümits Chef die denn wieder her?

»Nein, sorry, nichts gefunden. Es gibt ein paar Hinweise darauf, dass das BBK was plant, aber was genau, war in den Notizen nicht festgehalten. Diese Unterredungen müssen ohne Aufzeichnungen auf höchster Ebene stattgefunden haben.«

Michael stand auf. »Also ab zum BBK.«

»Spinnst du?«, blaffte ihn das Wiesel an. »Jetzt auch noch ein Bundesamt? Ohne mich, da hacke ich mich nicht rein. Ich wollte ganz gerne in Freiheit bleiben.«

Michael hob beschwichtigend die Hände und tippte sich an die Schläfe. »Brauchst du auch nicht. Ab und an kann sogar ich mich an ein paar Fakten erinnern. Zum Beispiel, dass unsere Redaktion dort einen Interviewtermin hat wegen dem Trouble an den Nordseedeichen vor drei Monaten. Und wenn mich mein Zemmler-Gehirn nicht im Stich lässt, ist das morgen früh.«

»Dir ist aber schon klar, dass du nach der Bäckerle-Geschichte lieber tief fliegen solltest?«

»Jepp, alles roger.«

Das Wiesel nickte und legte auf.

Nichts war roger.

 

Jenny war nicht gerade begeistert von seinem Vorschlag gewesen, hatte aber die Namen der Kollegen rausgerückt, die am nächsten Morgen in Bonn aufschlagen sollten, um mit dem Oberabteilungsleiter Horczek das besagte Interview zu führen. Aber die wichtigste Information war gewesen, dass im Morgen noch niemand von seiner Suspendierung wusste. Gut, Jenny jetzt schon, aber sie würde still halten. Er hatte ihr nur versprechen müssen, keine Dummheit zu begehen. Michael lachte kurz auf, als er die Autobahn in Richtung der ehemaligen Bundeshauptstadt befuhr, während in der Ferne der Morgen dämmerte. Er war noch nie gut darin gewesen, Versprechen zu halten.

Das leichte Muskelzittern machte das Fahren nicht leichter, aber er wollte die nächste hellrosa Leichtigkeit erst kurz vor Bonn einschmeißen, so viele hatte er nicht mehr. Er musste durchhalten.

Die Landschaft flog nur so vorbei, der Scheinwerfer fraß sich durch den Nieselregen und erhellte die Fahrbahn mehr schlecht als recht. Wenig los. Umso besser, er musste auf die Tube drücken. Die paar Stunden Schlaf im Pokerzimmer waren mehr schlecht als recht gewesen. Die Pillen hatten ihren Tribut gefordert, so dass er eine Stunde länger geschlafen hatte, als vorgesehen. Also steckte er nun in ungewaschenen, zerknitterten Klamotten und seine im Dämmermorgen durchgeführte Toilette hatte aus einem Zahnpflegekaugummi und einer großen Dosis Deo unter die Arme und über die Klamotten bestanden. In diesem Aufzug ins Bundesamt hereinzukommen, würde spannend werden.

Ein unterbewusster Blick in den Rückspiegel und er erschrak darüber, wie er wirklich aussah. Wrack kam der Sache recht nahe. Fahrig strich er sich über das Gesicht und spürte das Brennen seiner Augen. Nach dieser Angelegenheit war ein Urlaub fällig. Michael lachte trocken auf. Wem machte er hier etwas vor? Als er sich entschieden hatte, Richtung Bonn zu fahren, war klar gewesen, dass er das hier nicht sauber würde beenden können. Gefängnis. Tod. Egal was, sein Leben war vorbei. Warum setzte er dann nicht den Blinker, fuhr von der Bahn und schlug sich ins Ausland durch? Vielleicht konnte er nach Südamerika fliehen, irgendein nettes Land mit einer deutschen Exilantengemeinde und Nichtauslieferungsabkommen. Er schüttelte den Kopf. Die Entscheidung, Ernst zu machen, hatte er nie bewusst getroffen, es war einfach so gekommen. Hatte er sein Unterbewusstsein bei der Bäckerle-Geschichte noch mit dem Verweis auf journalistische Dreckwühlarbeit beruhigen können, war das hier ein anderes Kaliber. Er war drauf und dran, sich in ein Bundesamt einzuschleichen. Während die Polizei nach ihm suchte. Und durchtrainierte Männer mit einem bestimmten Tattoo. Ein erneutes Lachen entrann seiner Kehle und trug sich dreckig im Wageninneren fort, während sein Gefährt altersschwach vor sich hin röhrte. Michael schaute erneut in den Rückspiegel, sah die unregelmäßigen Stoppeln auf dem sonst säuberlich geschorenen Kopf. Sollte er umdrehen? Nein, irgendetwas ließ ihn weiterfahren, direkt in den Untergang. Was war es? Dass sie ihm derart massiv ans Bein gepinkelt hatten? Der Mord? Die Entlassung beim »Morgen«? Alles zusammen? Letztlich war es auch egal, sein Unterbewusstsein hatte schon lange vor seinen bewussten Gedanken für ihn entschieden. Der Kapitän blieb auf der Brücke des untergehenden Schiffes. Er trat das Gaspedal noch weiter durch und der Motor jaulte beleidigt auf. Hoffentlich hielt die neue Karre bis Bonn durch. Der Händler hatte wegen der fehlenden Frontscheibe seines alten Wagens zwar komisch geguckt, ihn aber letztlich doch in Zahlung genommen. Dafür hatte er eine noch schlechtere Klapperkiste bekommen. Was für ein Deal. Das neue Gefährt machte noch schlimmere Geräusche als das alte. Hoffentlich hielt es bis zum BBK durch. Danach würde es egal sein. Da hatte er ein sehr bestimmtes Gefühl in der Magengegend.

Während er diabolische 140 Sachen aus dem altersschwachen Wagen herausprügelte, blockierte sein Auto permanent die linke Spur und das Kind in seinem Inneren freute sich über die Lichthupe des Audis hinter ihm. Er war bereit, auch kleine Freuden zu akzeptieren.

Die erste Bonner Ausfahrt kam in Sicht, er blieb links. Da öffnete sich ein Fenster in seinem Blickfeld. Sein Handheld empfing einen Anruf von der Dringlichkeitsliste, der direkt ohne Rückfrage angenommen wurde.

Sandras Kom-Adresse blinkte auf. Sandra? Um die Uhrzeit? Sechs Uhr früh? Dann kam seine Ex ins Blickfeld, ihre feuerroten Haare waren trotz der Kurzhaarfrisur zerzaust und die Falten hatten in den letzten Jahren zugenommen, sonst sah sie noch ganz passabel aus.

»Meggy?«, fragte er verwundert.

Hätte der Teufel persönlich angerufen, sein Gesicht hätte kaum mehr Zorn ausdrücken können. Wobei, es war an der Grenze zu purem Hass. Oder bereits darüber hinaus.

»Michael, du Arschloch!«

»Auch schön, dich zu hören.« Er fuhr auf die rechte Spur und verringerte das Tempo, das Gespräch konnte interessant werden. Ein Brummifahrer hinter ihm stieg erst auf die Bremse, dann auf die Hupe und Michael reckte seinen Mittelfinger zum Rückspiegel hoch. Blinker waren was für Anfänger.

»Wo hast du uns hier wieder reingeritten? Lässt du uns noch nicht mal jetzt in Ruhe?«

Michael runzelte die Stirn. »Was willst du von mir, Meg?«

»Die Polizei war gerade hier. Die Polizei. In unserem Wohnzimmer! Ich dachte, diese Zeit hätten wir hinter uns gelassen.«

»Wegen Sandra?«

Ihr Gesicht wurde genauso rot wie ihre Haare. »Untersteh dich! Sie hat nichts damit zu tun. Nein, sie waren wegen dir hier. Wollten wissen, wo du bist, ob wir wissen, mit wem du Kontakt hast.«

Michael fühlte sich wie in Watte gepackt. Die Bullen waren schneller dran, als er gehofft hatte. Mist!

»Was hast du ihnen erzählt?«

»Nichts!«, spie sie ihm entgegen. »Was sollte ich auch? Ich weiß nichts mehr von dir, und das ist auch gut so!«

Der Stich in seinem Herzen war stumpf geworden mit der Zeit. Die Zeit heilte keine Wunden, sie machte nur die Waffen der Gegner schartig.

»Ergebensten Dank. Haben sie gesagt, was sie wollten?«

»Du sollst in einen Mordfall verstrickt sein. Und einen Einbruch.«

Ach, jetzt wollten sie ihm den Prof auch noch anhängen. Passte ins Bild.

Meg schaute kurz weg und wischte sich eine Zornesträne aus dem Gesicht.

»Stimmt etwas davon?«

»Nein, man will mir was anhängen.«

»Natürlich, dich trifft keine Schuld!«

Daher mochte er diese Diskussionen so, es war sowieso völlig egal, was er sagte.

»Was ist mit Sandra? Wurde sie auch befragt?«

»Was denkst du denn?«, spuckte ihm seine Ex entgegen. »Natürlich!« Dann holte sie tief Luft. »Und sie hat dich natürlich verteidigt, dabei einen Polizisten beleidigt und darf sich jetzt auf eine Anzeige wegen Beleidigung freuen. Besten Dank auch!«

Michael schüttelte den Kopf.

»Gib sie mir bitte, ich möchte es ihr erklären.«

»Das hättest du wohl gerne! Hast du die einstweilige Verfügung nicht erhalten? Du darfst keinen Kontakt mit ihr haben! Du bist kein guter Umgang für sie.«

Zorn, Trauer, Wut schossen durch die Watte, die ihn umhüllte und er wollte gerade etwas antworten, als seine Ex nur noch ein »Und halt dich daran, sonst verrate ich ihnen deine neue Nummer. Wenn das stimmt, was sie im Fernsehen sagen, kann man dich damit gut orten!« hinterher schleuderte und die Verbindung beendete.

Die nächsten Augenblicke saß Michael ganz starr da, das einzige Geräusch kam vom altersschwachen Motor und dem zu dicht auffahrenden LKW hinter ihm. Fast hätte er die Ausfahrt verpasst, zog im letzten Moment rüber, und erntete ein neuerliches Hupkonzert. Wie auf Autopilot folgte er den Anweisungen der billigen Navi-Software, die den Weg auf seine Brille einblendete und steuerte den Wagen in Richtung des Bundesamtes. Job weg, die Verhaftung und folgender Tod ganz nah und jetzt hatte die Obrigkeit den letzten Faden zwischen ihm und seiner Tochter zerschnitten. Die Endgültigkeit der Überlegungen traf ihn erneut wie ein Schlag. Sein Leben war vorbei. Wenn er Glück hatte, dann nur das, was er bisher gekannt hatte. Wenn nicht, dann auch der Teil mit dem Atmen und Leben. Wobei ihm das im Moment fast noch erstrebenswerter erschien.

 

Michael duckte sich unter seinem schwarzen Schirm und hastete unter stetigem Geprassel des stärker gewordenen Regens zum Eingang des »Bundesamt Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe«, wie es in goldener Schrift über der zweiflügeligen Eingangstür stand. Der ganze Bau, gut zehn Stockwerke Gestalt gewordene Architektenmüdigkeit in weißer Fassade, silbergrauem Metall und Glas, strahlte das Bewusstsein einer Behörde aus. Langeweile und Amtsmentalität durchströmten die Luft so deutlich, dass selbst der Regen langsamer zu fallen schien. Wahrscheinlich fehlte irgendeine Genehmigung für eine höhere Fall-Geschwindigkeit.

Michael verschwand unter dem Glas-Vordach und ließ den Regen zurück. Auf der Eingangstür prangte der Bundesadler und hinter der rechten Schwinge konnte er schon die Anmeldung erahnen, vor der ein Trupp Reporter stand. Haarscharf. Das Telefonat hatte ihn wertvolle Minuten gekostet und die wenigen Meter von der Autobahnabfahrt bis zum BBK war glücklicherweise keine Polizeistreife unterwegs gewesen. Die hundert Sachen innerorts wären ihm wahrscheinlich krumm genommen worden.

Unbewusst griff er zu seiner Brille, rückte sie nochmal gerade. Ein paar Klicks am Handheld-PC und die Brille zeichnete dank Kamera und Mikro alles auf, was er sah und hörte.

Michael schüttelte schnell den Schirm aus, streifte mit der flachen Hand über seine Kleidung – als ob das etwas an seiner miserablen Erscheinung geändert hätte – holte tief Luft und betrat das BBK. Der Geruch nach Kaffee und Kopiergeräten umfing ihn und die Frau an der Rezeption schenkte ihm einen misstrauischen Blick, der schnell verschwand, als das Dreiergrüppchen vom ›Morgen‹ ihn begrüßte.

»Du hier?«, wollte Rob Gabriel von der Politikredaktion wissen und er sah in seinem schlanken Maßanzug wie ein Gegenentwurf zu Michael aus.

Michael nickte. »Der Boss wollte, dass ich mich euch anschließe.« Er äffte den Tonfall des Cholerikers nach. »Lernen Sie endlich mal wieder vernünftigen Journalismus, sie Schmierenschreiberling. Am besten schauen sie Rob mal über die Schulter, der macht das vernünftig!« Die erfundenen Worte zeigten Wirkung und der Lackaffe ließ ein Grinsen auf seinem makellosen Gesicht erscheinen, bevor er Michael jovial auf die Schulter klopfte und sich affektiert über die Haare an der Schläfe fuhr. Waren angeklatschte schwarze Haare immer noch in Mode?

»Nimm es nicht zu schwer, so ist er nun mal. Ich freu mich, dass du da bist.«

Mit seiner Eitelkeit konnte man Rob immer leicht packen. An sich ein fähiger Mann, dem aber das eigene Image zu wichtig war und auf kurz oder lang entweder beim Fernsehen landete oder als bereits verglühter Stern in der Gosse. Mal schauen.

Der Fotograf war ein freier Mitarbeiter und Michael kaum bekannt. Den Namen hatte er direkt nach der kurzen Begrüßung schon wieder vergessen. Der dritte im Bunde stellte sich als Jonathan vor und Michael konnte sich dunkel an den jungen, pickeligen Mann erinnern, der immer wieder bei Rob in der Politikredaktion herumsprintete. Vom Kopierer zur Kaffeemaschine und zurück. Ein Volontär, aber wenigstens geputzt und gestriegelt im schwarzen C&A-Anzug. Wie er ehrfürchtig zu Rob hochschaute, lag wohl nicht nur an den zehn Zentimetern Unterschied zum hochgewachsenen Redakteur. Hier hatte jemand ein Vorbild gefunden. Es hatte auch etwas Positives, bald aus der bekannten Welt scheiden zu müssen.

Die Empfangsdame schaute zu Rob. »Herr Oberabteilungsleiter Horczek wird in wenigen Minuten für Sie da sein.« Der Redakteur schenkte ihr sein strahlendes Lächeln und Michael musste die Augen schließen, um von den schneeweißen Beißerchen nicht geblendet zu werden.

»Besten Dank.«

Michael nickte Rob zu.

»Sobald wir drin sind, seile ich mich ab. Der Chef will, dass ich mit irgendeinem Experten namens Müller aus dem Katastrophenschutz ein Kurz-Interview mache. Soll als Kastentext in deine Reportage integriert werden.«

Rob lächelte gekünstelt freundlich.

»Aber klar. Du weißt ja, jeder noch so kleine Text ist wichtig für das große Ganze.«

Lackaffe.

Die Minuten vergingen. Schniegel&Striegel scherzte mit dem Volontär über irgendein neues Restaurant in der Nähe des Büros mit angeblich unfähigem Personal, der Freie spielte an seiner Kamera herum und Michael vermied es einfach nur, allzu aufmerksam auf die Kamera zu schauen, die von der Decke auf sie herunter blickte. Wie sich die Aufmerksamkeiten doch verschoben, wenn man gejagt wurde.

 

Hinter der Anmeldung öffnete sich eine gläserne Schiebetür und ein voluminöser Endfünfziger im aschgrauen Anzug und wohl frisierten, schwarzen Haaren trat hindurch. Michael schenkte der Gebäudeaufteilung erst jetzt Aufmerksamkeit und wischte seine düsteren Gedanken beiseite. Hinter der Glastür erstreckte sich kleines Labyrinth aus nichtssagenden Bürogebäude-Gängen und man kam auf der Linken direkt zu den Aufzügen und dem Treppenhaus. Wer auch immer ins Gebäude wollte, musste an der Anmeldung vorbei. Knoten-Konstruktion. Leicht zu überwachen. Waren die etwa paranoid hier? Auf jeden Fall wurde die Spur keinen Deut kälter. Im Gegenteil.

Der Mann trat auf Toni zu, gab ihm die Hand, während den anderen Anwesenden nur ein Nicken geschenkt wurde.

»Freut mich, Sie zu sehen, Herr Gabriel.«

»Ganz meinerseits, Herr Oberabteilungsleiter Horczek.«

»Aber, aber. Horczek genügt völlig. Wir sind hier flache Hierarchien gewohnt, die Aufgabenbezeichnung können sie gerne weglassen«, sagte der Mann wichtigtuerisch und zeigte mit ausladender Geste zur Glastür.

»Dann lassen Sie uns mal. Meine Sekretärin hat schon Kaffee und Gebäck bereitgestellt. Ich hoffe, es ist ausreichend. Wir haben hier nicht so häufig Besucher, von Journalisten ganz zu schweigen.«

Rob setzte sich ohne Erwiderung in Bewegung und folgte Horczek durch die Glastür, die anderen folgten im Schlepptau. Michael hielt sich ganz hinten und als die Truppe scherzend über die geringe Entfernung von nur einer Etage zum Konferenzraum ins Treppenhaus verschwand, ließ er sich zurückfallen, rief einen Aufzug und trat mit lautem Herzklopfen ein. So, die war er erst mal los. Ob die Geschichte mit dem kleinen Begleit-Interview hielt, war natürlich die Frage. Sobald sich Horczek bei Rob erkundigen würde, wo der schlecht angezogene Mitarbeiter geblieben sei, war die Show dahin. Der wusste genau, dass bis auf ihn im Augenblick niemand Interviews geben würde, ohne dass er davon wusste. Ärmelschoner-Mentalität. Aber es würde ihm etwas Zeit verschaffen. Und vor allem die Möglichkeit, sich frei zu bewegen, solange er nicht an zugangsbeschränkte Bereiche geriet.

Die Etagen waren im Aufzug freundlicherweise beschriftet. Er ging die zehn Metallplättchen zügig durch. Nein, es waren neun. Der oberste Knopf war nicht beschriftet. Wie von Geisterhand geführt, drückte er diesen Knopf. Wenn in einem Amt eine ganze Etage nicht deklariert wurde, roch das nach Geheimnistuerei. Außerdem wusste er nicht, wo er sonst hätte anfangen sollen. Planen war was für Weicheier. Spontane Menschen starben die interessanteren Tode.

Der Aufzug fuhr flüsterleise in die Höhe und mit einem leisen Klingeln öffnete sich die Tür und gab den Blick auf einen weiteren nichtssagenden, in beige-weiß gehaltenen Flur frei, der sich sowohl in die Tiefe des Gebäudes, als auch nach links und rechts erstreckte. Wo sollte er nun hin? Es war keinerlei Beschriftung zu sehen, dafür aber wenigstens auch keine Menschen.

Er drehte sich auf dem dezent hellgrünen Teppich hin und her. Dann blieb er stehen. Hätte der Gang dort geradeaus, direkt gegenüber vom Aufzug, nicht viel tiefer gehen müssen? Wenn er das Gebäude von unten noch richtig in Erinnerung hatte, ging es noch locker zwanzig Meter tiefer als diese einzige und letzte Tür am Ende des Zentralganges glauben machen wollte. Der Raum dahinter musste so groß wie die Wohnung des Profs sein! Michael straffte seine Gestalt und ging den Flur zügig hinunter, um dann wie angewurzelt stehen zu bleiben. Mist! Augenblicklich drehte er sich wieder um, aber hinter ihm sagte eine freundliche Stimme recht laut »Ich habe Sie hier noch nie gesehen. Bitte kommen Sie mal einen Moment her.«

Er hatte den Wachmann übersehen, der neben der Tür stand, halb verdeckt von einer Palme. Michael fluchte innerlich, folgte aber mit wackligen Schritten der Weisung. Der junge Mann lächelte ihn freundlich an, Michaels Blick glitt sofort zu seinem Hals, aber über der dunkelblauen Security-Weste war kein Tattoo zu sehen. Es war einfach nur ein normal gebauter Mann mit kurzem Stoppelschnitt, der seine Arbeit machte. Der Elektroschocker am Gürtel und die Handschellen direkt daneben machten ihn ihm aber trotzdem nicht sympathisch.

Michael war nur noch ein paar Schritte entfernt und der Wachmann musterte ihn immer intensiver, Falten legten sich auf seine Stirn, als er den schlecht gekleideten Besucher näher in Augenschein nahm. Gleich war alles aus. Michael machte den letzten Schritt auf den Kerl zu, dann gaben seine Knie nach und er wäre zu Boden gefallen, hätten ihn nicht starke Arme unter den Achseln gepackt.

»Alles in Ordnung? Soll ich einen Arzt rufen?«

Michael spannte die Beine an und sprang mit den Schultern vorwärts ab. Sie stürzten in einem Knäuel gegen die Wand und gingen laut zu Boden. Ein Hieb auf seinen Rücken trieb ihm die Luft aus den Lungen, Michael schlug wild um sich, landete dem Schmerzenslaut zufolge einen Glückstreffer und plötzlich kniete er über dem Wachmann und hielt dessen Elektroschockgerät in der Hand. Seine Instinkte führten erneut Regie, als er ohne nachzudenken die Waffe auf den Oberschenkel des Mannes presste und abdrückte. Michael hörte die Zähne splittern, als der Security von einem starken Krampf gepeinigt den Kiefer hart zusammenschlug. Er hielt den Knopf der Waffe so fest, dass es weh tat, der Strom floss immer weiter, bis die unkontrollierten Geräusche aus der Kehle des Mannes verstummten.

Dann lag der Körper ganz still und Michael erlaubte es sich, weiterzuatmen. Sein Rücken schmerzte, die Lunge rasselte, er musste einen Schlag in die Seite abbekommen haben, jedenfalls waren seine Rippen dieser Meinung. Ächzend kam er hoch und blickte sich hektisch um. Da! Die Herrentoilette auf halber Ganghöhe. Er bückte sich, unterdrückte ein schmerzerfülltes Stöhnen und griff dem Wachmann unter die Achseln, schleifte ihn im Rückwärtsgang hinter sich her. Vor der Herrentoilette hielt er ein Ohr an die Tür. Keine Geräusche. Er steckte den E-Schocker in die Hosentasche, nahm sich ein Herz und öffnete die Tür. Leer. In irgendeinem früheren Leben musste er mal was richtig gemacht haben.

 Zwei Kabinen, zwei Pissoirs, ein Waschbecken. Zügig zog er den Wachmann zur hinteren Kabine, öffnete die Tür und zog und zerrte so lange, bis er zum einen völlig außer Atem war und zum anderen der Security-Mann »aufrecht« saß. Wie ein Schluck Wasser in der Kurve. Vorsichtig lehnte er den Mann an den Spülkasten und machte sich daran, die Taschen der Weste und der Hose zu durchsuchen. Eine Zugangskarte wurde zügig eingesteckt, der Handheld-PC vom Gürtel gesellte sich dazu. Brille und Kopfhörer versenkte er im Nachbarklo, zog dann die Tür der Kabine zu und drehte mithilfe einer Plastikkarte das Schloss, so dass die Tür geschlossen blieb. Zügig ging er zum Waschbecken und wusch sich die zitternden Hände, eingebildete Blutstropfen verschwanden unter dem Schwall kalten Wassers. Ein schneller Blick in den Spiegel. Er sah genauso scheiße aus wie vor dem Kampf.

 

Ein schneller Blick nach links und rechts, der Gang war immer noch frei. Aus einem Nebenzimmer hörte man lautes Gelächter und der Aufzug machte sich gerade auf den Weg nach unten. Schnell ging Michael die paar Schritte bis zur großen Tür, die der Security-Mann gerade noch bewacht hatte. Mit zittrigen Fingern holte er die Zugangskarte aus der Tasche und hielt sie vor den Wandscanner, der daraufhin mit einem hörbaren Klicken das Schloss entriegelte. Michael atmete nochmal durch, lauschte und als er keine Geräusche von der anderen Seite hörte, trat er zügig hindurch und schloss sie hinter sich. Und blieb stehen. Die Kinnlade klappte herunter. Ein Museum? Der Raum war nicht unterteilt, er bestand lediglich aus einer großen offenen Fläche. Überall standen Glasvitrinen, es musste ein gutes Dutzend sein. Und ein Schreibtisch am Kopfende, direkt vor einer großen Glasfront. Na toll, wieder riesige Fenster. Erinnerungen an den Sprung aus dem Bäckerle-Gebäude kamen hoch, aber Michael verdrängte sie.

Er griff zu seiner Brille und kontrollierte die Aufzeichnungsqualität. Beste Video- und Audiodaten flossen beständig in seinen Handheld. Er würde in jedem Fall der Nachwelt etwas hinterlassen, so oder so.

Zögerlich ging er zur ersten Vitrine. Das Modell eines U-Bootes war dort ausgestellt und der Designer hatte tolle Arbeit geleistet. Obwohl es nur etwa einen Meter groß war, konnte man alle Details erkennen. Wobei ... der Maßstab konnte nie im Leben stimmen. Michael starrte auf die Legende, griff zu seinem Handheld, berechnete die »Original«-Maße des U-Boots und schüttelte erst ungläubig den Kopf, dann setzte er seine Brille auf, loggte sich ins Netz ein und rief Wikipedia auf. Wenn die Zahlen stimmten, war das hier das Modell des größten jemals gebauten oder noch zu bauenden U-Bootes der Geschichte. Es war dreimal so groß wie die sowjetische Typhoon-Klasse, dabei aber flacher, breiter. Es sah eher aus wie ein Ball, aus dem man die Luft herausgelassen hatte und der nun etwas zu flach herumlag. »Exodus I« stand auf der Metallplakette. Michael ging zum nächsten Schaukasten. Immer wieder warf er nervöse Blicke über die Schulter, zurück zur Tür, aber noch war er ungestört. Die Zeit musste er ausnutzen.

Ein weiteres U-Boot, nur deutlich kleiner. Er nahm direkt den Handheld-PC zu Hilfe, rechnete die Maße aus. Dieses hier hatte die Abmessungen eines Schulbusses. »KST I (Kurzstreckentransporter)« war hier auf dem Schild zu lesen. Die Spitze des Bootes zierte eine Konstruktion, die mit der Andock-Gangway an einem Flughafen zu vergleichen war. Ziehharmonika-gleich war sie vorne angebracht und wenn Michael nicht alles täuschte, war es eine flexible Schleuse. Da war doch ... richtig, er ging die fünf Schritte zurück zur »Exodus I«. Die Schleuse des kleinen Bootes passte genau auf die insgesamt sechs Seitenschleusen des Pfannkuchens. Hauptboot. Beiboot. Was kam als nächstes? Er ging die weiteren Schaukästen ab. Eine hydroponische Anlage zur Algen- und Pilzzucht. Dasselbe nochmal mit Bottich-Fleisch. Ein Modell von mehreren großen Bottichen, die mit »CO2-Abbau« beschriftet waren. Heiliger Technikgott! War das ein ...? Hinter der letzten Vitrine stand ein Block in der Größe zweier nebeneinandergestellter Tischtennisplatten. Die schwarze Oberfläche glänzte wie Marmor und goldene Linien durchzogen sie engmaschig. In der letzten Ausgabe des ›Morgen‹ hatte Steffen aus der Technik-Redaktion ein Interview mit dem Erfinder des »Holomats« geführt. Dieses Wunderwerk der Technik war noch im Prototypenstadium und sollte erst in mehreren Jahren marktreif sein! Michael trat an die Platte, rief über den am Fußende befindlichen Touchscreen die Benutzeroberfläche auf und starrte auf eine Fehlermeldung, dass das Betriebssystem abgestürzt sei und ob man neu starten wolle. Und ob! Die Sekunden verstrichen, während das System hochfuhr und immer wieder blitzten Michaels Blicke hoch zur Tür. Sollte er sie verriegeln? Nein, das würde wahrscheinlich zu lange dauern. Außerdem: Womit? Bis auf den Schreibtisch und ein paar Steh-Terminals an beiden Wänden war hier nichts, was dazu geeignet wäre. Der Tisch war zu schwer und die Terminals mit den Sitzhockern davor waren wahrscheinlich im Boden verankert.

Das leise Piepen des Holosystems rief ihn zurück aus seinen Überlegungen und er sah auf den darin eingelassenen Touchscreen. Das System war hochgefahren und fragte, ob eine der letzten Dateien aufgerufen oder eine neue eingespielt werden sollte. Er überflog die Liste der letzten fünf benutzten Anzeigen.

»Ablaufsimulation Exodus (Ministerpräsentation), final« lautete der oberste Dateiname. Er öffnete sie und ein leises Surren ertönte aus dem schwarzen Block. Dann fuhr die schwarze, steingleiche Oberfläche nach oben und Glasscheiben folgten aus den Seitenteilen der Box. Sekunden später hatte er ein großes, aquariumgleiches Gebilde vor sich stehen und ein feiner Wassernebel wurde aus den innerhalb der goldenen Linien versteckten Düsen versprüht, sowohl aus der Decke als auch dem Boden. Nach Sekunden war das Innere der Glas- und Steinbox von einem undurchdringlichen Nebel erfüllt. Dann steigerte sich das Surren und die Laser übernahmen ihren Teil der Arbeit: Wenn Steffen es ihm richtig erklärt hatte, war die Laserpalette in der Unterseite der Oberplatte eingearbeitet und arbeitete mit einer Schnelligkeit, wie kein Modell vorher. Der Effekt war beeindruckend. Verschiedenfarbige Laser begannen ihr Werk und projizierten ihr Hologramm in die Tröpfchen. Ungläubig schüttelte Michael den Kopf. Eine Kuppelstadt erwachte grobaufgelöst im Nebel zum Leben. Die kantige Darstellungsweise und die wenigen Farben zeigten, dass das System alles andere als marktreif war, aber sicherlich ideal, wenn man Präsentationen brauchte, die wirkten. 3D war einfach greifbarer, selbst für so verbohrte Bürokratenhirne wie hier im BBK.

Er musterte die Simulation. Vier Kuppelgebilde waren wie ein Kleeblatt auf einem felsigen Untergrund erbaut und eine Kolonne an ... Flugzeugen ... nein, U-Booten gleich der »Exodus I« steuerte direkt darauf zu. Im Größenvergleich mit den Kuppeln war selbst das riesige Schiff winzig. Wie groß war diese Anlage? Michael überschlug ein paar Zahlen und ihm stockte der Atem. Das war Platz genug für eine Stadtbevölkerung! Er tippte auf dem Touchscreen herum und nach einem kurzen Stocken der Software richteten sich die Laser neu aus und die Szenerie verblasste, nur um nach wenigen Sekundenbruchteilen durch eine neue ersetzt zu werden: Die Kuppelanlage flog heran, drehte sich langsam um die eigene Achse. Michael sah die drüben im Modell aufgebaute Algenzuchtanlage am Schnittpunkt der beiden unteren Kuppeln. Und dort drüben war ein Pylon-Arm angebaut, an dem nun die Exodus-Schiffe festmachten. Eine Zahl poppte über der darunter gelegenen Kuppel auf: 1.000 Bewohner eingetroffen. Das zweite Schiff dockte an, die Zahl sprang um weitere eintausend Menschen in die Höhe. Zehn Schiffe hielten sich noch in der Kolonne auf, die sich langsam der Kuppelanlage näherte.

Michael schüttelte erneut den Kopf. Eine riesige Unterwasseranlage, U-Boote, Algenzuchtbottiche. Da passten die Nahrungskonzentrate von Bäckerle natürlich gut ins Bild. Bis alle Anlagen liefen, wollte man auf der sicheren Seite sein und die Bevölkerung risikolos ernähren können. Die Zahlen schwirrten nur so in seinem Kopf. Was das alles kosten mochte? Aber die wichtigste Frage war doch: Warum? Niemand entwickelte einen solch detaillierten und wenigstens in Teilen, wie bei Bäckerle, bereits ausgefüllten Plan, wenn er ihn nicht auch einsetzen wollte. Bei den Kosten war das wohl keine freiwillige Entscheidung. Aber warum Hunderttausende auf den Meeresboden umsiedeln?

Der Prof. Ein Meteorologe. Das Wetter? Hatte es etwas mit dem Wetter zu tun? Oder waren die in Relation viel zu niedrigen Temperaturen der letzten Jahre nur ein Begleiteffekt einer ganz anderen Katastrophe, die der Prof durch Zufall entdeckt hatte, quasi mit dem Wetter als Kollateralschaden?

Die Anlage meldete, dass die Präsentation beendet sei und Michael wollte gerade die nächste Datei öffnen, als das Betriebssystem des Prototypen abstürzte und sich selbst herunterfuhr. Das Surren erklang erneut, als das »Aquarium« zurück in die Box fuhr. Das Geräusch endete gerade rechtzeitig, als Michael Schritte an der Tür hörte. Panisch blickte er nach links und rechts, dann hastete er zur entgegengesetzten Seite, hinter die größte der Vitrinen und zog seinen Kopf ein. Keinen Moment zu früh. Die Tür öffnete sich, zeitgleich war das »Aquarium« wieder im Block verschwunden, und dem Geräusch nach betrat eine einzelne Person den Raum, die zum Schreibtisch ging und daran Platz nahm. Michael lugte um seine Vitrine herum und sah gegen das Dämmerlicht einen älteren Mann, der in einer der Schubladen etwas suchte, dann ein Paar Cyberhandschuhe und eine Brille herausholte und sie anlegte. Michael lag der Name auf der Zunge. Glücklicherweise hatte er seine Brille noch auf. Das Herz schlug ihm bis zum Hals, aber er wagte es, an den Gürtel zum Handheld-PC zu greifen und auf die Webseite des BBK zuzugreifen. Adam Wolf. Der Leiter des BBK. Klar, wer sollte auch sonst dieses opulente Büro besitzen. Er erinnerte sich dunkel an den Behördenleiter, angeblich ein enger Vertrauter von Innenminister Becker und des Kanzlers. Was nur logisch war. Während die Öffentlichkeit dem BBK kaum Aufmerksamkeit schenkte, musste es bei den aktuellen Plänen eine Schlüsselrolle einnehmen. Man nahm also eine Katastrophe an, die den Exodus der deutschen Bevölkerung nötig machte und zwar in die Meere. Man bereitete sich vor, überführte Schlüsselbetriebe in staatliche Hand unter Leitung des BBK – beziehungsweise wohl eher dem Innenministerium mit dem BBK als ausführendes Organ – und machte mithilfe der Tattoo-Jungs alle mundtot, die der Sache im Wege standen. Michael fuhr es kalt den Rücken hinunter, am liebsten hätte er aufgeschrien, wäre zum Behördenleiter Wolf hinüber gerannt und hätte ihn geschüttelt, was hier vor sich ginge. Welche Katastrophe genau ins Haus stünde. Und wann? Aber seine Knie hatten sich in Pudding verwandelt, die Tragweite der Erkenntnisse lähmte ihn.

Der Behördenleiter stand auf, legte das Jackett seines feinen, schwarzen Anzugs über die Rückenlehne und lockerte die rote Krawatte, die genau abgestimmt zum weißen Hemd war, auch wenn dieses über dem erkennbaren Bauch deutlich spannte. Der etwa Sechzigjährige zog ein Stofftaschentuch hervor und tupfte sich über die schweißbedeckte Stirn.

»Ja, Meier? Schicken Sie bitte jemanden hoch, der nach meiner Wache sucht. Sie ist nicht auf ihrem Platz, obwohl ich eindeutige Anweisung gegeben habe, dass die Tür zu bewachen ist. Erst recht, wo diese verdammten Reporter hier im Haus sind.« Ein kurzes Schweigen, dann: »Ja, ich weiß, dass ich den Interviews zugestimmt hatte. Aber das war, bevor wir den neuen Fahrplan bekommen haben. Ach, ist jetzt auch egal, schicken Sie einfach jemanden hoch. Danke!«

Wolf setzte sich wieder und klickte auf seinem Handheldgerät in der umständlichen Art und Weise eines alten Mannes herum. Der Generation, die mit der absoluten Mobilität dieser Elektronik nicht groß geworden war und von den Jüngeren abfällig »digitale Zuwanderer« genannt wurde.

»Ja, ich möchte bitte Minister Becker sprechen. Wolf hier ... ja, ich warte.«

Der Behördenleiter stand wieder auf, ging zum Holosystem hinüber und startete es, schaute auf den Bildschirm, schüttelte lachend den Kopf und startete das System neu. Michael nutzte einen passenden Moment, um eine Vitrine weiter in Richtung des Schreibtisches zu rücken, von wo aus er einen besseren Blick auf das »Aquarium« hatte, das nun langsam aus der Box hochfuhr.

»Ja, Herr Becker? Wolf hier aus dem BBK. Ich wollte Ihnen den Tagesreport geben.« Wolf nickte, brummte ein paarmal zustimmend und lief dabei um das Holosystem herum.

»Ja, Herr Minister, das sehe ich genauso. Die Angelegenheit mit Bäckerle ist nicht zufriedenstellend, wird aber durch Ihre erfahrenen Leute sicherlich bald behoben sein. Wir stimmen in der Analyse wohl überein, dass dieser Journalist keine größere Bedrohung ist als damals der Professor.« Wolf stoppte seinen Rundgang kurz. »Nein, Herr Minister, ich habe nicht vergessen, dass ich davon eigentlich nichts wissen dürfte.« Er holte Luft. »Ja. Gut. Ich werde die Angelegenheit des Professors nie wieder erwähnen, verstanden.« Michaels Magen krampfte sich zu Tennisballgröße zusammen. Am liebsten hätte er dem Kerl jetzt eine reingehauen. »Angelegenheit«? Mord!

»Gerne. Alle Projekte sind im Ihnen bekannten Zeitplan. Der württembergische Zulieferer hat die bei Bäckerle durch den Zwischenfall verursachten Ausfälle kompensieren können. Und ja, die Tiefenbauroboter Eins und Zwei machen gute Fortschritte und sind zu einem Fünftel fertiggestellt. Allein die Kuppelteile machen weiterhin Probleme, also hier keine positiven Neuigkeiten gegenüber dem letzten Statusupdate.« Wolf hielt wieder inne und tippte auf dem Touchscreen des Holosystems herum, während er einem unsichtbaren Gesprächspartner zunickte.
»Ja, Herr Minister, hier sind sich alle Eingeweihten der Wichtigkeit der Zusammenstellung aller Teilprojekte im Klaren. Auch die Kuppelteile werden rechtzeitig fertig. Aber ich möchte um Verständnis für unsere Ingenieure bitten: Eine solche Aufgabe hat noch keiner von ihnen je gestellt bekommen. Und da wir sie nur mit einem Bruchteil der Gesamtfakten versorgen können – wofür ich vollstes Verständnis habe – kommen manchmal auch Lösungsansätze heraus, die aus Gründen anderer Projekte nicht verwirklichbar sind, und wir müssen sie ohne nähere Erläuterung zurück ans Reißbrett schicken. Dass das die Moral nicht gerade hebt, können Sie sich vorstellen.« Er nickte erneut. »Ja, Herr Minister, ich werde dies mit Horczek noch heute besprechen. Dafür lässt sich sicherlich eine Lösung finden. Wenn ich mir eine Gegenfrage erlauben darf. Gibt es bereits neue meteorologische Daten, die Einfluss auf den Zeitplan hätten? Ich hege ja immer noch die wahrscheinlich leider unberechtigte Hoffnung, dass wir mehr als die bisher veranschlagten dreißig bis vierzig Jahre haben.« Wolf fuhr sich über den kahlen Schädel. »Ja, ich verstehe. Natürlich muss das neue Meteorologenteam nach dem unerfreulichen Ausfall des Professors sich erst in die Materie einarbeiten. Ja, es ist sicher besser, dass dies diesmal in abgeschlossenen Verhältnissen stattfindet, wo kein Kontakt zur Außenwelt ohne unsere Kontrolle erfolgen kann. Ja, Herr Minister, ich bin da Ihrer Ansicht, man muss aus Fehlern lernen.«

Fehlern! Der Prof hatte also reden wollen, was ihm zum Verhängnis geworden war.

»Also müssen wir weiterhin davon ausgehen, dass der Exodus in spätestens vierzig Jahren beginnen muss, wenn wir der Eiszeit entgehen wollen?« Der Behördenleiter stieß ein fast flehentliches Lachen aus. »Ja, Herr Minister, das glaube ich ebenfalls. Schätzungen werden eher immer schlimmer als besser, da haben Sie recht. Ich werde gemeinsam mit den anderen versuchen, nochmal fünf Jahre Puffer herauszuholen. Ja, ich rufe Sie dann morgen mit ersten Details an.«

Damit war das Gespräch wohl beendet, denn Wolf nahm die Ohrstecker heraus, legte die Brille auf den Schreibtisch, ließ sich in den schweren Sessel fallen und drehte sich mit ihm so, dass er in den trüben Morgen hinausblicken konnte.

»Eine globale Eiszeit. Tja, wenigstens brauche ich mir darüber keine Sorgen zu machen. Zu alt ist zu alt«, murmelte er vor sich hin. Dann schlug sich der Bürokrat mit der Faust in die Handinnenfläche. »Und für Tim und Julia werde ich einen Platz auf dem ersten Schiff klarmachen, koste es, was es wolle. Wenigstens studieren beide praktische Sachen, man wird sie brauchen.« Er seufzte. »Man wird so viele brauchen und so wenige mitnehmen können. Ich will mir gar nicht ausmalen ...« Wolf schüttelte hart den Kopf und Michael konnte am Hochrutschen der Gestalt im Sessel sehen, dass der Behördenleiter sich straffte. »Genug düstere Gedanken für heute, Wolf, auf an die Arbeit.« Der alte Mann griff hinter sich, setzte Brille und Ohrstecker wieder auf und begann ein hausinternes Gespräch mit einer seiner Abteilungsleiterinnen. Glücklicherweise, ohne sich dabei umzudrehen. Michael zögerte, aber es war ihm längst klar. Er musste hier heraus. Und zwar jetzt. Der Beamte mochte noch stundenlang arbeiten, irgendwann würden Untergebene hier hereinkommen und dann war seine Entdeckung nur eine Frage der Zeit. Michaels Gedanken sausten hin und her. Eine Eiszeit! Er musste weg hier, die Öffentlichkeit hatte ein Recht darauf zu erfahren, was die Regierung plante. Sie waren nicht ohne Grund eine Demokratie. Das Volk musste wissen, worauf es sich einließ und das konnte es nur mit ausreichend Informationen, egal wie abgestumpft die Volksseele in den Jahrzehnten auch geworden war. Bilder von Plünderungen und Straßenkämpfen um die Plätze in den Schiffen schossen ihm durch den Kopf. Würden die Menschen begreifen, dass die Verteilung erst in einigen Jahrzehnten vorgenommen wurde? Er konnte es sich kaum vorstellen, aber über die ethisch-moralischen Implikationen seiner Enthüllungen konnte er später nachdenken. Jetzt musste er erst mal hier weg. Michael lugte hinter seiner Vitrine hervor, der Behördenleiter saß weiterhin mit dem Rücken zu ihm, die Entfernung war so groß, dass er bei einem schnellen Sprint die Tür hinter sich zugezogen hätte, bevor Wolf aufgesprungen wäre. Und dass er längst auf irgendeinem Kamerabild verewigt war, war auch völlig klar. Da könnte Wolf ruhig Michaels Glatze von hinten bewundern. Aber erst mal leise versuchen, rennen konnte er dann immer noch.

Michael schlich bis zur letzten Vitrine auf seiner Seite, während Wolf weiter telefonierte und eine Sitzung für heute Mittag mit allen Leitern anberaumte. Michael hielt die Tür starr im Blick, spannte sich und schlich über die letzten paar Meter Teppich. Plötzlich hörte er hinter sich das Geräusch eines sich drehenden, schweren Sessels, gefolgt von einem erschrockenen »Was zum ...?«. Michael hielt sich nicht lange mit einer Vorstellungsrunde auf, sondern schoss vorwärts, riss die Tür auf und jemanden um, verlor dabei selbst die Balance und stürzte der Länge nach auf den Boden. Panisch rappelte er sich auf, aber eine starke Hand umfasste seinen Knöchel und ließ ihn erneut stürzen. Michael rollte sich zur Seite ab und trat wie eine auf dem Rücken liegende Schildkröte um sich. Ein Wachmann hielt ihn fest. Äußerlich konnte er fast ein Klon des Betäubten von vorhin sein, nur die längeren und diesmal blonden Haare unterschieden sie. Der Security lächelte ihn fies an, hielt ihn trotz seiner Tritte wie eine Schraubzwinge fest und griff mit der anderen Hand an seinen Gürtel. Michael reagierte, schnappte den Elektroschocker aus der Jackentasche, hielt sie dem Wachmann an den Arm und drückte ab. Der Kerl klappte sofort zusammen wie ein Taschenmesser und blieb zuckend auf dem Boden liegen. Michael wollte es nicht auf einen weiteren Schocker ankommen lassen – wer wusste schon, wie viele Ladungen ein solches Gerät überhaupt enthielt – und rannte zum Treppenhaus, riss die Glastür auf und flog die Stufen nur so hinunter. Mehrmals geriet er ins Stolpern und prallte mit diversen Körperteilen gegen die weiß gestrichenen Wände des Treppenhauses und kam nach Atem ringend und mit schmerzenden Schultern im Erdgeschoss an. Rob! Der Redakteur stand gerade im Foyer und verabschiedete sich mitsamt seinen beiden Beppis von Horczek. Er konnte nicht stehenbleiben! Michael drückte die Tür auf und, ohne seinen Schritt zu verlangsamen, stürzte er an den verdutzt dreinschauenden Leuten in der Eingangshalle vorbei. Die Empfangsdame rief ihm noch etwas hinterher, was sehr nach »Moment mal!« klang, dann war er draußen und die eiskalte Morgenluft empfing ihn.

Er rannte los, quer über den Parkplatz. Plötzlich schepperte hinter ihm die Tür des BBK auf und weitere schwere Schritte gesellten sich zu seinen. »Sofort stehenbleiben oder wir schießen!«, gellte es hinter ihm über den Parkplatz. Aber natürlich!

Michael griff im Laufen in die Jackentasche, holte den Autoschlüssel hervor und warf sich geradezu auf den Fahrersitz des altersschwachen Gefährts. Mit heulendem Motor setzte er zurück, schaltete und gab Gas. Der Wagen schoss vorwärts, auf die Ausfahrt des Parkplatzes zu. Dort stand ein Mann im unscheinbaren schwarzen Anzug mit weißem Hemd mit dazu völlig unpassend schweren Halbstiefeln, mitten auf der Straße. Quer hinter ihm blockierte ein schräg gestellter Wagen den Weg. Der Mann sah Michaels Fahrzeug auf sich zukommen, griff unter das Jackett und Michael sah mit aufgerissenen Augen, wie eine kleine Maschinenpistole zum Vorschein kam und auf ihn angelegt wurde. Nur Sekundenbruchteile vergingen, bevor er das Gaspedal bis zum Anschlag durchdrückte und sich zur Seite warf, seine Instinkte hatten die Kontrolle übernommen. Schüsse durchlöcherten die Frontscheibe, mal wieder, und ließen sie in einem Regen aus Glassplittern auf ihn niedergehen. Dann kam der Aufprall. Erst der Körper, dann mit einem lauten Krachen das andere Fahrzeug. Aufgrund der Geschwindigkeit prallte Michaels Wagen zur Seite weg. Die Welt drehte sich, ebenso wie das Auto, bevor er mit einem ohrenbetäubenden Geräusch gegen irgendetwas prallte und stehenblieb. Michael rappelte sich auf, seine Beine waren wie Gummi, aber er schaffte es, durch das Loch, wo früher die Frontscheibe gewesen war, zu blicken. Der Anzugträger lag auf der Straße, die Gliedmaßen standen in ungesunden Winkeln ab, Blut überall. Die Schnauze des Wagens sah nach der Kollision alles andere als gut aus, aber der Motor stotterte weiter vor sich hin, trotz der Kollision mit einem Laternenpfahl, der glücklicherweise schlau gewesen war und nachgegeben hatte, wodurch er nur die gesamte rechte Seite des Wagens zerstört hatte und wahrscheinlich jedes Metallstück der Karosserie verzogen hatte. Aber das Auto fuhr noch. Hoffte Michael jedenfalls, als er den Rückwärtsgang einlegte und zitternd auf das Gaspedal drückte. Mit einem lauten Jaulen setzte sich das Gefährt in Bewegung, der Laternenpfahl schabte über das Dach, dann gab er das Fahrzeug mit einem Ruck frei. Michael wendete, wobei die Lenkung alles andere als genau reagierte und gab Gas. Er passierte den Kerl am Boden und dabei konnte er einen genaueren Blick auf den Anzugträger werfen. Durchtrainiert, jung, drahtig. Da überraschte das Tattoo am nun freigelegten Hals auch nicht wirklich. Michael schüttelte den Kopf, ließ das aber schnell wieder sein, als die Welt daraufhin bedenklich kippte und konzentrierte sich lieber darauf, das Lenkrad so festzuhalten, als ob sein Leben davon abhinge. Was von der Realität wahrscheinlich nicht allzu weit entfernt war. Ächzend schob sich der Wagen vorwärts, Michael beschleunigte auf halsbrecherische dreißig Stundenkilometer, aber bereits bei dieser Geschwindigkeit war das Fahrzeug kaum zu halten und er musste schnell einsehen, dass eine Flucht hiermit unmöglich war. Eine große Kreuzung kam in Sicht, just in diesem Moment heulten in der Entfernung Sirenen los. Es konnte nur Minuten dauern, bis auch die Wachen des BBK in ihren Fahrzeugen die Verfolgung aufnehmen würden. Oder überließ man das der Polizei und sicherte stattdessen das Gebäude? Michael seufzte, was sein Brustkorb mit einer Welle aus Schmerzen beantwortete und er stöhnte auf. Geprellte Rippen? Ohne sich selbst einer genaueren Analyse zu unterziehen, hielt er auf die am Morgen wenig befahrene Kreuzung zu, nahm die grüne Ampel dankbar mit und bog rechts ab.

Ein neuer Wagen! Der nächste. Nichts anderes zählte jetzt, wenn er seine Erkenntnisse sichern wollte. Er musste hier weg! Aber woher nehmen? Die Brille war glücklicherweise heil geblieben und Michael verringerte die Fahrt noch weiter. Wieder ein Hupkonzert hinter ihm, einige Fahrer fühlten sich zu waghalsigen Überholmanövern gezwungen. Er fummelte zitternd an seinem Handheld-PC herum und auf die Brille wurde ein überlagerndes Display eingeblendet, gesponsert von den Gelben Seiten. Mit einem Klick auf »Autoverleih« blendete sich ein Pfeil in sein Sichtfeld, der ihn in Richtung des nächstgelegenen Gewerbegebiets führte. Der Wagen ächzte unter seinem Allerwertesten den Rhythmus des nahenden Todes und die Sirenen kamen immer näher. Michael setzte alles auf eine Karte, drückte das Gaspedal durch, wollte der drohenden Verhaftung in jedem Fall entkommen und der Wagen beschleunigte wieder. Das Zittern der Achsen steigerte sich zu einem unkontrollierbaren Wippen, Michael wollte – da der Pfeil dorthinzeigte – links in das Gewerbegebiet abbiegen, als irgendetwas laut knallte, der Wagen endgültig seiner Kontrolle entglitt und mit vierzig frontal gegen ein Mehrfamilienhaus prallte. Michael sah nur noch Sterne, seine Brust hatte sich in Flammen verwandelt, alles drehte sich. Mit einem Schmerzensschrei richtete er sich auf, wollte die Fahrertür öffnen, aber diese hatte sich völlig verzogen. Er krabbelte durch das Loch, dass die zerfetzte Windschutzscheibe hinterlassen hatte und ließ sich auf den vom Nieselregen durchnässten Asphalt fallen. Eine neuerliche Schmerzwelle kam mit ihrem guten Bekannten namens Übelkeit und Michael würgte, rappelte sich auf und stolperte vorwärts. Die Brilleneinblendung war von einem deutlichen Riss auf dem Glas beeinträchtigt, aber der große gelbe Pfeil war noch halbwegs erkennbar. Michael lief weiter in das Gewerbegebiet hinein, Autos fuhren an ihm vorbei, keines blieb stehen. Eine Gruppe Arbeiter in Blaumännern kam ihm scherzend entgegen, bei seinem Anblick blieben sie abrupt stehen, gingen zur Seite. Michael eilte so schnell es ging an ihnen vorbei, wobei seine Brustprellung echtes Rennen unmöglich machte. Da fiel sein Blick auf die Entfernungsanzeige unter dem Pfeil. Eineinhalb Kilometer? In seinem Zustand hätten es auch Lichtjahre sein können, erst recht, da die Sirenen mittlerweile so laut waren, dass es nur eine Frage von Momenten war, bis die Polizei – oder eine schlimmere Organisation – das Wrack seines Wagens erreicht haben würde.

Er blickte sich panisch um, seine Instinkte schrien ihm zu, er solle sich verstecken. Eine betriebsame Großwäscherei, ein Cateringunternehmen mit dutzenden Lieferwagen vor der Tür und stetigem Rein und Raus. Und eine Lagerhalle, die unbeleuchtet im Dämmerlicht des Morgens dalag, nur zwei abgestellte Kastenwagen vor der Tür verrieten dank ihrer Aufschrift, dass es sich um eine Miet-Lagerhalle handelte. Also wenig Personal, und um diese Uhrzeit war sicherlich kaum etwas los. Das war so gut, wie es im Moment sein konnte. Michael stolperte wieder los, die Blaumänner schauten ihm ungläubig hinterher und trollten sich dann. Der Eingang kam immer näher, plötzlich hörte er hinter sich quietschende Reifen und über einen Lautsprecher gellte ein »Stehenbleiben, Zemmler!« über die Straße. Michael warf einen hektischen Blick über die Schulter. Zwei schwarze Limousinen, der Beifahrer der rechten lehnte sich aus dem Fenster und hielt ein Megafon in der Hand. Schwarzer Anzug, weißes Hemd. Michael stolperte, fing sich gerade noch rechtzeitig an der hüfthohen Mauer des Lagerhaus-Parkplatzes ab, stieg umständlich darüber, wobei seine Rippen neuerliche Schmerzwellen durch den Körper sandten und rannte so schnell es ging zur Eingangstür des Lagerhauses, die glücklicherweise einen Spalt offenstand. Er eilte in das Halbdunkel und das Lagerhaus verschluckte ihn.

 

Die Plastikplane über ihm beschlug von seinem schnellen Atem und die Palette Maschinenteile, hinter der er lag, sonderte einen Geruch von schwerem Öl ab. Von überall in der Halle waren die Schritte von Männern mit Kampfstiefeln zu hören. Über ihm auf dem Laufsteg. In der Entfernung bei den einzigen Türen. Die Falle war zugeschnappt. Die Ruhe, die ihn erfasst hatte, verwunderte ihn aufs Neue. Davon hatte er gehört. Soldaten überkam diese Ruhe mitten in der Schlacht, wenn sie einfach akzeptierten, dass das hier ihr letzter Tag auf Erden war. Kleinigkeiten wie Schmerzen wurden in den Hintergrund geschoben, man konzentrierte sich auf das Hier und Jetzt und machte einfach seinen Job. Und er war nun mal Journalist. Michael zog den Handheld-PC vom Gürtel und wählte das Wiesel an, das nur Sekunden später auf der von einem Riss überzogenen Brille eingeblendet wurde. Der Kopfhörer im Ohr rauschte etwas, hatte wohl beim Unfall etwas abbekommen, aber für seine Zwecke würde es reichen.

»Zemmi! Ich wollte dich eh grad anrufen. Ich hab den Online-Backupservice des Profs geknackt. Zig meteorologische Daten und eine Zusammenfassung, die irgendetwas von einer nahenden Eiszeit faselt. Hatte der einen am Rad?«

Michael unterbrach ihn wirsch und flüsterte: »Sei ruhig, Wiesel. Mach jetzt genau das, was ich dir sage, ich hab keine Zeit für Erklärungen. Ich übermittele dir jetzt ein Datenpaket. Bitte bestätige mir den Empfang.« Damit griff er zum Touchscreen des Handheld-PC und schob dem Wiesel alle Daten herüber, die er hatte. Die Kamera- und Mikro-Aufzeichnungen des BBK-Leiter-Gesprächs waren am wertvollsten, das war klar, und daher sendete er sie zuerst.

»Bestätige Erhalt«, sagte das Wiesel knapp.

»Perfekt. Jetzt verbreite diese Daten zusammen mit denen des Profs und denen aus der Bäckerle-Geschichte so breit, wie du es nur kannst. Polit-Blogs, Foren, Nachrichtenagenturen, Greenpeace, alles was du finden kannst.« Er drückte weiter auf seinem Touchscreen herum. »Hier hast du das Login zu meinem Bank-Account. Nimm dir, was du haben willst und gib den Rest meiner Tochter, du weißt ja, wo sie wohnt.«

Das Wiesel nickte stumm und sah Michael traurig an.

»So schlimm?«

Michael lachte fast auf und konnte es im letzten Augenblick unterdrücken.

»Schlimmer.« Er hielt einen Moment inne. »Sag Sandra, dass sie für mich immer das Wichtigste auf Erden war.«

»Mach ich.«

»Und Wiesel: Tauch unter, wenn du die Daten weggeschickt hast. Die Mächte hier verfügen über derartige Möglichkeiten, die finden selbst dich.«

Er sah, wie der Hacker erst protestieren wollte, aber dann nickte der schmale Kopf nur einmal.

»Hast Recht.«

»Sorry, dass ich dich mit hereingezogen habe. Aber das hier ist zu wichtig.«

Das Wiesel zuckte mit den Achseln, brachte dann aber ein Lächeln zustande, hob den Daumen und unterbrach die Verbindung.

Genug der Worte. Michael übermittelte die Daten noch ein letztes Mal. Das Postfach des ›Morgen‹. Ein letzter Test, ob die Leute dort noch echte Redakteure waren oder schon längst im PR-Massaker ihre Seelen verloren hatten.

Draußen fuhren weitere Fahrzeuge vor und weitere Häscher betraten die Halle.

Michael zog den Elektroschocker aus der Jackentasche, legte den Handheld-PC auf den Boden und drückte so lange ab, bis die Batterie leer war. Schwarzer Rauch kräuselte aus dem kleinen Computer hoch. Dann erhob er sich langsam und streifte laut knitternd die Plastikplane ab. Wegen des Rauchs musste er husten. Rufe über ihm von den Laufstegen. Knallende Schritte. Michael trat mit letzter Kraft so lange auf dem Handheld-PC herum, bis er in Einzelteilen auf dem Boden verstreut lag. Er wollte nicht »verhört« werden. Darum atmete er ein letztes Mal tief durch, ignorierte die Schmerzen in seinem Brustkorb, steckte den Elektroschocker halb in den Ärmel, so dass das Ende einer Pistole gleich herausschaute und trat hinter seiner Deckung hervor. Sechs Anzugträger standen ihm gegenüber, ungezählte weitere hinter und über ihm. Er stürmte auf die vor ihm los, hob den Arm hoch.

»Waffe!«, rief irgendjemand. Dann husteten die Mini-Maschinenpistolen im schallgedämpften Rhythmus. Die Zeit verlangsamte sich. Michaels Beine sackten weg. Er spürte keine Schmerzen, sah ungläubig an sich herunter und erblickte noch im Fallen die roten Löcher in seiner Brust und merkte, dass ein großer Blutschwall aus seiner Kehle hervorschoss. Dann schlug er auf dem Hallenboden auf. Lichtkegel kreuzten sich über ihm, Fleisch wurde unwichtig, sein Geist ging in der Helligkeit auf. Sandra.

 

*

 

Die Wohnungstür schloss sich, ein von zarter Frauenstimme gehauchtes »Es war immer schön mit dir« verklang in der Wohnung. Sebastian lächelte, blickte auf seine Spiegelung in der Glasplatte des Wohnzimmertischs. Die Sektgläser ausgetrunken, die Feier des Siegs über den Journalisten. Natürlich mit Melanie, mit wem sollte er sonst anstoßen? Dann vor zehn Minuten der Anruf. Abdul. Datensätze tauchten überall im Netz auf. Weltweit. Meteorologische Daten des Profs, ein abgehörtes Gespräch zwischen dem Leiter des BBK und dem Innenminister, wo offen die Rede von der drohenden Eiszeit und dem Exodus war. Sie waren erledigt, das war allen Beteiligten bewusst. Es würde Untersuchungsausschüsse geben, die Morde kamen ans Tageslicht und dann würde niemand mehr danach fragen, ob sie gerechtfertigt gewesen waren, um das Überleben des Volkes in Gänze überhaupt erst zu ermöglichen. Nein, man würde das Gesicht einer Demokratie wahren, der schlechtesten Regierungsform in Zeiten wie diesen. Untersuchungsausschüsse, Gerichtsverfahren, ellenlange Artikel in diversen Medien. Dann würden die Verteilungskämpfe folgen. Ein Volk von achtzig Millionen und wenn alles absolut glatt und alle Vorbereitungen nach Plan liefen – wonach es im Moment wirklich nicht aussah – nur für höchstens eine Million Menschen Siedlungsplätze in den Unterwasserkuppeln. Einer von Achtzig würde eine Chance bekommen, falls durch die Verteilungskämpfe bis dahin nicht längst ein paar Millionen drauf gegangen waren. Alle anderen hätten nur noch Monate oder wenn es hochkam Jahre auf der von meterdicken Eisschichten überzogenen Erde vor sich. Eine Million gerettet. Vielleicht. Und das waren viele. Die ersten Pläne – Weltraumevakuierung – waren von wenigen zehntausend ausgegangen. Die Meereskuppeln waren der beste Plan, der in der gegebenen Zeit realisierbar war. Dennoch: nur 1,25 Prozent der Deutschen würden überleben. Wenn alles glatt ging. Wenn nicht, noch weniger. Wer da glaubte, dass es keine Verteilungskämpfe gäbe, hatte aus den Nahrungsmittelunruhen nichts gelernt. Daher war die Geheimhaltung notwendig gewesen. Irgendwann wäre sie gefallen, aber erst zu einem von ihnen bestimmten Zeitpunkt, wenn die Spezialtruppen der Bundeswehr – die natürlich zu den Exodus-Privilegierten gehörten, um sich ihrer Loyalität zu versichern – alles gesichert hätten und allen anderen bewaffneten Einheiten die Waffen entzogen worden wären. Der Plan war so gut gewesen, wie die Umstände es erlaubt hatten. Und nun war alles dahin. Die Daten – unzweifelhaft von Zemmler und seinen Mitverschwörern – würden für die Katastrophe sorgen.

Sebastian strich sich über die Falten im Gesicht, blickte in seine müden Augen in der Spiegelung. Hunderttausende würden in den nächsten Monaten sterben. Im unausweichlichen Chaos, das nun kommen würde. Danke, Zemmler. Danke.

Er sah auf die Sektgläser. Melanies Lippenstift glänzte hellrosa am Glasrand. Ein Lächeln schlich sich auf sein Gesicht. Wenigstens sie würde überleben, dafür hatte er gesorgt. Und bis dahin würde sie ein gutes Leben haben. Alle Konten waren leergeräumt, alle Werte veräußert, die Gewinne auf ihre Konten umgelenkt. Danach würde sie untertauchen müssen, um den unausweichlichen Nachforschungen zu entgehen. Aber mit dem Geld, fast drei Millionen, sollte das möglich sein. Und ihre neue Identität stand auf der Liste derer, die einen Exodus-Platz sicher hatten, auch wenn sie dann eigentlich zu alt sein würde, aber noch hatte er den Einfluss, dies zu ermöglichen.

Er ließ sich in das gemütliche Sofapolster sinken, schaute noch einmal durch das große Fenster hinaus in den Berliner Abend. Kamen dort hinten schon die Polizeiwagen und Kamerateams, um ihn so zu behandeln, wie die Demokratie das mit Mördern machte? Gleich welche Beweggründe sie auch gehabt hatten? Abdul hatte sich von ihm verabschiedet mit einer Endgültigkeit, dass ihnen beiden klar war, was sie tun würden. Untersuchungsausschüsse und Gerichtsverfahren vor einem Siegerjustiz-Tribunal waren nicht ihr Ding. Er lachte hart auf. Was war das für ein Höllenritt gewesen in den letzten Jahren. Er war fast ein bisschen froh, dass es vorbei war. Er würde gleich bei Melanie sein, die seit einer gefühlten Ewigkeit auf ihn wartete. Und Melanie würde weiterleben. Beide. Eine. Wie auch immer.

Sebastian nahm die schlanke, silberne Pistole vom Glastisch, füllte den Mund mit Wasser aus einem bereitstehenden Glas und schob den Lauf in den Mund. Viel Spaß beim Saubermachen. Der Daumen drückte den Abzug durch. Er hörte noch nicht mal mehr den Knall.