20. Dezember 2014

 

Die braune Brühe schwappte hin und her, unappetitlich durchzogen von gelb-weißen Schlieren. Der flüssige Mist sah unendlich tief aus. Regina schauderte. Und nahm einen Schluck vom Automatenkaffee.

»Ich muss unbedingt meine eigene Kaffeemaschine mitbringen«, murmelte sie zum wiederholten Male. Aber besser der hier als gar kein Kaffee. Anders war das hier nicht auszuhalten. Ohne Koffein ging gar nichts.

Regina gähnte betont laut. Aber niemand meckerte, obwohl es erst Vormittag und der Arbeitstag noch lang war.

Sie streckte die Hand unter den Schreibtisch und strubbelte Bobo über den Kopf.

»Wer soll uns hier unten auch stören, kleiner Mann? Unendliche Enge und Langeweile in alle Richtungen.«

Bobo hob kurz den Kopf, schaute sie fragend an, um dann in ein ausgiebiges Kratzen seiner Ohren mit der Hinterpfote überzugehen. Sie warf ihm ein Leckerli unter den Tisch und hörte das zufriedene Schmatzen der kleinen Promenadenmischung, die es sich in einem alten Laptop-Karton gemütlich gemacht hatte. Ein Hund in der Systemadministration eines Unternehmens. So etwas war auch nur hier möglich, hier, wo sie nie gestört wurde und die einzige Anforderung des Arbeitstages war, diesen möglichst stressarm rumzukriegen. Glücklicherweise hatte vor ein paar Monaten ein Fehler dutzende Bestellungen des Versandhändlers gefressen. Sonst würde der Chef wohl nochmal überlegen, ob man als kleiner Mittelständler wirklich einen eigenen Systemadministrator brauchte. War eine Heidenarbeit gewesen. Aber welchen »Fehler« programmierte sie dem System das nächste Mal ein? Nochmal derselbe ging schlecht. Naja, in ein paar Monaten musste sie mal schauen. Bis dahin war ihr zwar langweiliger, aber gut bezahlter Job gesichert.

Sie stand auf und legte Papier im Drucker nach. Nach wenigen Schritten war sie schon angekommen. Ihr »Büro« glich mehr einem Bunker aus dem letzten Krieg als einem Arbeitsplatz. Blanke Betonwände, nostalgisch »schöne« Metallregale und ein Kellerfenster, das gerade genug Luft herein ließ, dass sich die Druckerausdünstungen verziehen konnten. Vorsichtig umschlängelte sie die Computerkartons auf dem Fußboden. Eigentlich hätte sie mehr als genug Zeit fürs Aufräumen gehabt. Aber so verzweifelt war sie nun auch nicht. Regina kicherte in sich hinein und bahnte sich ihren Weg zurück zum Schreibtisch, wo sie sich in den altersschwachen Sessel plumpsen ließ. Da klingelte das Telefon. Genervtes Augenrollen, Headset einklinken. Ein schneller Blick auf das Display offenbarte einen hausinternen Anruf.

»Seifer. Administration.«

»Ich hab hier ein Problem«, kam die piepsige Stimme von Mandy aus der Personalabteilung. Was man bei zwei Teilzeitis so als Abteilung bezeichnete.

Regina seufzte. »Ja, was denn?«

»Das Mailprogramm sagt, ich hätte zu viele Mails oder Anhänge gespeichert. Mein Speicherplatz sei voll.« Mandy klang fast ein wenig entrüstet.

Regina zog ungläubig eine Augenbraue nach oben.

»Jeder hier hat 2,5 Gigabyte Mailspeicherplatz. Und die reichen nicht?«

Ein kurzes Zögern auf der anderen Seite. »Nein, ich krieg doch so viele Fotos von meiner Tochter geschickt. Ich muss doch sehen, wie mein Enkel aufwächst. Wissen Sie, ich seh den doch so selten. Einmal, da ...«

Regina fuhr dazwischen: »Ja, ich weiß, Frau Brauer. Das haben Sie mir schon erzählt. Bestimmt.« Sie atmete durch. »Dann drucken Sie sich doch die Bilder aus, die Sie behalten wollen und löschen die Mails danach.«

»Die Mails löschen? Aber wenn die Bilder mal verblassen?« Mandys Tonfall klang nach Weltuntergang.

»Und wenn Sie sich diese nach Hause auf ihren privaten Computer schicken und dann hier löschen? Insbesondere, da private Mailnutzung eh nicht gestattet ist!« Dass so ein Hinweis gerade von ihr kommen musste ...

»Aber ... ich habe gar keine private Mailadresse, ich lasse mir immer alles hierher schicken.«

»Einen Computer zu Hause haben Sie doch sicherlich, oder?«

»Ja.«

»Dann speichern Sie die Fotos auf einem USB-Stick und nehmen ihn mit nach Hause. Dann löschen Sie hier die Fotos!«

»Aber dann ist doch mein privater Computer bestimmt voll!«

Regina griff nach ihrer Maus und klickte im System herum.

»So, Problem erledigt. Sie haben jetzt 2,5 Gigabyte freien Mailspeicherplatz.«

»Oh, toll! Also hab ich jetzt doppelt so viel wie vorher?«

»Nein. Nur wieder freien Speicherplatz. Ich stimme Ihnen zu: Fotos kosten einfach unglaublich viel Speicherplatz. Erinnerungen werden eh überschätzt.« Ein kurzer Moment Stille folgte. Regina kostete ihn aus und legte auf. Sie meinte fast den Schrei der Sachbearbeiterin zu hören. Was bei zwei Etagen Höhenunterschied kaum möglich war.

Sie schnappte sich ein Klebezettelchen und klebte es auf ihre To-Do-Liste für den nächsten Tag. »Mails von Mandy wiederherstellen.« Wenigstens einen Tag wollte sie die dumme, alte Kuh schwitzen lassen. Private Mails am Arbeitsplatz ... tststs ... das war ihre Domäne, die anderen sollten doch wohl bitteschön arbeiten.

 

Regina schnaufte laut durch. Achte Etage und ein kaputter Aufzug. Mal wieder. Aber was erwartete sie auch von diesem miesen Mietbunker im Essener Norden?! Das alles zu ihren 1,50 Meter Körpergröße und gut fünfzehn Kilo Übergewicht hinzugezählt und sie konnte dem Schicksal nur zu seinem Händchen beglückwünschen. Regina stellte den Einkaufskorb vor ihrer Wohnungstür auf den Boden und Bobo sprang zufrieden bellend heraus, schüttelte sich den Regen aus dem Fell und schaute erwartungsvoll zu ihr hoch. Sie erkämpfte sich ein Lächeln zwischen zwei japsenden Atemzügen, schloss auf und Bobo jagte herein, natürlich direkt zum Futternapf. Da waren sie sich einfach zu ähnlich. Deshalb hatte sie den kleinen Klops auch so gern. Möglichst wenig Aufwand bei maximaler Futterausbeute.

Eine Stunde später lag Regina satt und träge auf der durchgelegenen Couch vor dem Fernseher. Talkshow, zapp. Musikvideo, zapp. Pokern. Sie überlegte kurz, legte die Fernbedienung zur Seite und griff erneut in die Tüte Chips Oriental. Irgendwie musste sie ihre Kilos ja auch halten. Schwere Arbeit. Sie nahm eine Handvoll. Befriedigende Art der Bewegung. Bobo hatte sich zu ihren Füßen hingelegt und sägte einen halben Wald ab.

Das Pokerspiel lief im Hintergrund. Was machte sie hier auf der Couch? Wieso fühlte sich ihr Leben so unendlich leer an? Gut, sie hatte nicht allzu viele Freunde. Aber die, die sie hatte, waren dafür enge Gefährten. Auch wenn sie sie hauptsächlich über das Internet kennengelernt hatte und persönliche Treffen selten waren. Aber waren virtuelle Freundschaften denn schlechter als reale? War Sorgenteilen etwas anderes, wenn man sie jemandem mailte anstatt sie ihm direkt zu sagen?

Regina schüttelte den Kopf, aber die düsteren Gedanken verschwanden nicht so leicht. Wie schon seit Monaten, eher sogar Jahren. Sie war mit ihren 22 Jahren noch jung. Direkt nach dem Abi hatte sie eine Ausbildung zur Systemadministratorin gemacht und sofort die Stelle beim Müller Versand bekommen. Aber den wirklichen Sinn ihres Lebens hatte sie noch nicht gefunden. Regina schaute zur Wand herüber, an der einige Urkunden hingen. Aus ihrer Zeit beim Schachclub Essen. Sie war eine vernünftige Strategin. Aber beim Schach waren nur Voll-Nerds, Menschen, die nun wirklich in ihrer eigenen Welt lebten. Da hatte sie sich nicht wohl gefühlt, auch wenn sie gut gewesen war. In einem Regal neben den Urkunden stand der Ordner mit den BWL-Unterlagen. Fernstudium. Angefangen, aber nie wirklich durchgezogen. Sie war nicht der Studientyp. Und gerade mal gut 1.000 Euro Studiengebühren waren für diese Erkenntnis doch wirklich ein Schnäppchen, oder nicht?! Sie lachte kurz auf.

 

Bläuliches Licht erfüllte das Appartement. Regina saß im Schneidersitz auf der Couch, ihr Laptop wärmte wie so oft die Oberschenkel. Doch sie schenkte dem keine Beachtung, da sie zu sehr in ihrem Element war. Fast unkörperlich rasten ihre Finger über die Tastatur, das Netz lag »Däumli« zu Füßen, ihrem Online-Pseudonym seit so vielen Jahren. Behände klickte sie sich durch mehrere Browserfenster des Laptops. Sie war noch unschlüssig, was heute Abend ihr Ziel sein sollte. Das Hacken hatte sie vor ein paar Jahren als Zeitvertreib angefangen, und merkte dann, dass sie dafür eine echte Begabung hatte. Eine, die sie über die einsamen Stunden am Abend rettete. Wenn wieder mal keiner ihrer paar Freunde Zeit hatte. Und auch kein Mann an ihrer Seite war. Was angesichts der vergangenen Jahre auch eine echte Ausnahmesituation gewesen wäre. Sie schnaubte kurz auf, dann klickte sie auf das Singleportal ihrer Wahl. Ihr Profil musste mal wieder upgedatet werden, aber das konnte sie auch von der Arbeit aus machen. Heute wollte sie auf die Jagd gehen. Nach Informationen, die eigentlich nicht für sie bestimmt waren. Ein paar Mausklicks später lag die Anmeldeseite vor ihr. Sie öffnete ein weiteres Fenster und ließ »Hellhound«, die von ihr geschriebene Hackingsoftware auf das Singlenetzwerk los. Datenströme zogen grün auf schwarz an ihrem Auge vorbei. Bobo schnaubte neben ihr und drehte sich zur anderen Seite. Sie griff hier und dort ein, veränderte Variablen, startete Brute-Force-Angriffe, koordinierte Abfragen und sorgte dafür, dass sie ihre Spuren verwischte. Stasi 2.0 zum Dank musste man sich ja darum 2014 einige Gedanken machen, selbst als fast legaler Computerprofi. Sie verdankten es dem Anschlag auf den Reichstag im letzten Sommer, dass Anti-Terror-Gesetze in Kraft getreten waren, die ihre früheren Ausgaben wie Papiertiger wirken ließen. »Login acquired« blinkte es vor ihr auf. Zufrieden kraulte sie Bobo hinterm Ohr, was diesen nur zu einem müden Seufzer animierte. Faul durch und durch. Mein Schatz. 

 

Sie loggte sich mit dem von ihr aufgespürten Admin-Zugang in das Singleportal ein und griff auf die Datenbank zu. Wollen wir doch mal sehen, bei welchem Mann in meiner Nähe die Angaben im Profil zur Realität passen. Name an Name scrollte an ihr vorbei. Bankverbindungen, biographische Angaben, Querverweise zu privaten Webseiten. Regina schmiss ein weiteres Programm an, sie hatte es »Dating-Snoop« getauft. Die Software saugte sich die offiziellen Angaben der Aspiranten, führte parallel Google-Abfragen durch und verglich sie mit den Angaben, die die Männer bei ihrer Anmeldung im Singleportal gemacht hatten. Dort, in der Anmeldemaske, wo sie ihre Vorlieben angeben mussten, um ein passendes Weib präsentiert zu bekommen. Wo die wenigsten logen, denn das ergab wenig Sinn, dafür war der Anbieter hier einfach zu teuer.

Eine halbe Stunde später lagen zehn Ausdrucke vor ihr auf dem leicht zugemüllten Wohnzimmertisch. Sie gehörten zu drei Männern, die auf ihr Suchprofil passten. Genauer, als es jede »offizielle« Single-Suchmaschine gekonnt hätte. Wenn der dazugehörige Hack nicht so illegal wäre, hätte sie die Ergebnisse gut vermarkten können. Regina grinste und nahm einen Schluck Cola. Aber dann wäre es auch nur halb so aufregend. Wenigstens etwas Adrenalinträchtiges in ihrem Leben.

 

Regina schlurfte in die kleine Wohnküche ihres Appartements, zwei leere Chipstüten in der Hand. Sie trat gegen den Mülleimer und der aufspringende Deckel offenbarte einen überfüllten Eimer. Der Müll musste mal wieder runter. Sie stopfte die Tüten irgendwie hinein. Ein weiterer Kick, der Deckel flog zu. Morgen.

Ein leises Klingeln vom Beistelltisch. Eine Chatnachricht auf ihrem Laptop. Nach wenigen Schritten durch ihre kleine Wohnung war sie schon da, viel Fläche brauchte sie nun wirklich nicht. Das gesparte Geld steckte sie lieber in neue technische Spielereien. Wie ihren Laptop, der sie zu Kunststücken befähigte, bei denen der Staatsmacht angst und bange werden würde. Wer wollte denn da quasseln? Die Chat-Blume von Susanne leuchtete auf. Aha, also mal wieder Beziehungsstress mit Kevin? Oder schwere Shopping-Entscheidungen, die sie ihrer langjährigen Freundin erleichtern sollte? Sie schwang sich den Laptop auf die Knie und setzte sich im Schneidersitz auf die Couch, während im Hintergrund ein hässlicher Pokerspieler mit viel zu großer Sonnenbrille einen Flush hinlegte.

»Hiho, Süße. Was läuft bei dir?«

Regina grinste. Also nur Labern.

»Soylent Grün ist Menschenfleisch! *g* Grün, total grün hier. Und bei dir?«

Die Folgenachricht erschien binnen Sekunden auf dem Schirm.

»Auch. Sogar Kevin gibt Ruhe. Kein Wunder, ist ja auch mit seiner Klasse auf Klassenfahrt. Der Oberlehrer. Und bei dir? Auf der Arbeit viel zu tun?«

»Der war gut. Nein, wie immer nix los. Ich langweile mich zu Tode. Und bin irgendwie depri.«

»Och, Kleine. Warum?«

»Dasselbe wie letztes Mal. Also wie immer. Ich weiß einfach nicht, was ich mit meinem Leben anfangen soll. Soll das hier alles sein? Langweilige Arbeit, keine Geldsorgen, aber nix wirklich zu tun. Und jetzt komm mir nicht wieder mit ›Such dir ein Hobby‹, das hab ich schon ein paar Mal probiert. Und nur Date an Date kann es auch nicht wirklich sein.«

Ein kurzes Zögern. »Hör mal, ich bin deine Freundin. Und so gut vorbereitet wie du geht keiner zum Rendezvous, das weiß ich. Aber zum einen hab ich dir schon hundertmal gesagt, dass man es mit dem Infos sammeln auch übertreiben kann, auch Überraschungen sind schön. Und zum anderen: Wenn du nur die Hälfte der Datensammel-Zeit im Fitnessstudio verbringen würdest, hätten deine Dates möglicherweise mehr Erfolg.« 

Regina schaute an sich runter und zuckte mit den Achseln. »Ja, ich bin keine Pamela Anderson. Schon klar. Aber war da nicht mal was mit inneren Werten und so?« 

»Trotzdem. Erster Eindruck und so. Aber ich will dich nicht ärgern. Anderes Thema: Deine Langeweile. Hast du denn irgendwas, woran dein Herz hängt? Politik? Umweltschutz? Tierschutz? Irgendwas, wo du dich engagieren könntest? Sowas frisst viel Zeit, ist sinnvoll. Und man lernt quasi nebenbei nette Jungs kennen.«

Reginas Blick strich durchs Zimmer und blieb an der Kiste mit ihren Jugendklamotten hängen, die sie aus nostalgischen Gründen nicht wegwarf. Und aus Faulheit nicht in den Schrank einordnete. Sie sah die Cordhose mit dem Sonnenblumenaufnäher fast vor sich.

»War früher mal bei der Jugend von Greenpeace.«

»Und warum nicht dabei geblieben?«

»Das übliche: Jungs, wenig Zeit durch Abi und Ausbildung. Etc.«

Gut zwanzig Sekunden Pause. Dann tauchte ein Link im Chatfenster auf.

»Die Greenpeace-Gruppe in deinem Stadtteil. Sitzung ist immer dienstags. Geh doch morgen mal hin.«

Regina lachte auf. Das tat gut.

»Dein Google-Fu ist stark, junger Padawan.«

»;-)«

»Ich überlegs mir.«

»Tue das. Dann geh ich mal so langsam ins Bett, muss morgen früh raus.«

»Tschö mit ö.« Susannes Chat-Blume erlosch. Regina legte den Laptop beiseite. Greenpeace. Sie seufzte. Nun gut, dann mal wieder auf zu den Ökos. Aber wenn irgendeiner der Müslifresser sich über ihren ökologisch inkorrekten Technikwahn beschwerte, würde sie ihre Erinnerungen an die Karate-Zeit ausgraben. Noch so ein Hobby, das sie ausprobiert und zu den Akten gelegt hatte. Aber zu einem herzhaften Tritt in die Eier reichte es immer noch.

 

*

 

Sebastian stapfte missmutig durch den feinen Nieselregen, der seit Tagen über Berlin niederging. Die Einkaufsstraße zu seiner Rechten, bahnte er sich den Weg durch die Massen an Weihnachtseinkäufern. Verrückt, am zwanzigsten Dezember noch Einkäufe zu machen. Noch dazu an einem Freitag. Zu diesem Zeitpunkt sollte man bereits alles erledigt haben. So wie er: Gut geplant, bereits Ende November mit allen Einkäufen für die Familie und Freunde durch. Er öffnete im Gehen seinen Anorak. Macht der Gewohnheit, überhaupt einen anzuziehen. Bei 18 Grad nicht wirklich notwendig. Verrücktes Wetter. Die Schneewahrscheinlichkeit für die Feiertage lag bei null Prozent. In Norwegen. Der Rest von Europa hätte noch darunter gelegen, wenn dies mathematisch möglich gewesen wäre. Die warmen Monate gingen weiter. Was ihm Angst machte. Und Arbeit brachte.

»Eine kleine Spende?« Ein dicker Mann im Weihnachtsmannoutfit hielt Sebastian eine dem Scheppern nach prallvolle Klingeldose unter die Nase. Der Fahne nach zu urteilen, hatte der »liebe Onkel« schon mehr als einen Glühwein getrunken, um die stupide Arbeit etwas erträglicher zu machen. Sebastian kramte in seiner Tasche, holte ein Zwei-Euro-Stück hervor. Dann hielt er inne. »Wofür sind die Spenden?«

Der Weihnachtsmann schaute ihn an, als ob er von einem anderen Planeten kommen würde. Auch zu Weihnachten hatte er nichts zu verschenken.

»Tierheime, Kindergärten, such es dir aus, Mann.«

Sebastian steckte die Hand zurück in die Tasche und ging zügigen Schrittes weiter.

»Arschloch«, klang es ihm laut hinterher.

Sebastian zuckte mit den Schultern. Man konnte keinem trauen. Erst recht nicht diesen Spendensammlern. Wenn er einer Organisation etwas Gutes tun wollte, dann nur für Forschung. Darin lag die Zukunft. Tiere waren Ablenkung. Und um Kindergärten kümmerten sich die Kollegen vom Familienministerium ganz gut. Die brauchten nix nach der Bildungsoffensive 2013. Natürlich kurz vor der Wahl lanciert. Sebastian lachte auf. Das Politikspiel hatte sogar ihn, den angestellten Meteorologie-Forscher vom »Bundesministerium für Bildung und Forschung« eingefangen. Auch wenn er sich immer noch dagegen sträubte, Gefallen nur gegen Retouren zu tun und immer über die Schulter zu schauen, wer gerade zuhörte.

Ein schneller Blick auf die Uhr. Mist, er hatte über den Stadtbummel in der Diskussionspause die Zeit vergessen. Hektisch schaute er sich um. Natürlich. Die Straße war brechend voll. Aber kein Taxi in Sicht. Sebastian seufzte auf, machte den Mantel wieder zu und eilte schnellen Schrittes zurück zum provisorischen Ausweichgebäude des Bundestags.

 

Die Gummisohlen seiner Anzugsschuhe quietschten unbarmherzig laut auf dem edlen Steinboden des Foyers. Köpfe drehten sich zu ihm um, Sebastian duckte sich unwillkürlich. Hektisch schaute er sich um, bemühte sich, Dr. Roberts zu entdecken. Um ihm auszuweichen. Plötzlich, von der Seite: »Herr Born. Wie sehen Sie denn aus?«

Sebastian ließ alle Hoffnung fahren und drehte sich um. Regen tropfte aus seiner Kleidung auf den Boden, auf den letzten Metern hatte natürlich auch noch sein Schirm versagt. Scheiß Hauptstadtwind. Was für ein Tag.

Sebastian senkte demütig den Kopf. »Entschuldigen Sie die Verspätung, Dr. Roberts.«

Seinem Gegenüber entfuhr ein lautes Lachen, das sogar im vollbesetzten Foyer gut zu hören war. Dieselben Köpfe wie vorhin drehten sich zu ihnen um. Impertinent!

»Welche Verspätung, Herr Born?« Dann schlug sich der alte Mann mit gespieltem Erstaunen vor die kahle Stirn. »Ach ja, ist ja ihre erste Konferenz. Hören Sie. Wenn hier jemand sagt »Eine halbe Stunde Pause«, dann können Sie das locker verdoppeln. Politiker und freie Buffets. Nichts bringt Zeitpläne mehr durcheinander.«

Da musste selbst Sebastian schmunzeln, spürte dann aber den tadelnden Blick seines Vorgesetzten. »Ich habe Sie nicht wegen der zeitlichen Lage angesprochen, sondern wegen Ihrer Kleidung. Sie tropfen hier gerade den Boden voll. Und Sie wollen gleich einen Vortrag halten? Guter Gott. Gehen Sie sich bitte frisch machen. Und trocken, wenn es geht.«

Sebastian nickte, ballte die Faust in der Jackentasche und ging schnellen Schrittes zur Treppe, die hoch zum Garderobenbereich und zu den Toiletten führte

»Und kommen Sie gleich pünktlich«, schallte es ihm noch hinterher.

Unglaublich, wie dieser Mann so die Massen überschreien konnte. Und kein bisschen peinlich. Jedenfalls nicht für ihn. Sebastian kochte innerlich. Knibbelte an seinen Daumen herum, genoss den kurzen, spitzen Schmerz, als die Haut riss. Warum hatte er nicht auf die Zeit geachtet? Und einen vernünftigen Schirm mitgenommen?

 

Zehn Minuten Gehampel unter dem Handfön und ungezählte Papierhandtücher später fühlte sich Sebastian wieder halbwegs wie ein Mensch. Äußerlich wirkte er unauffällig wie eh und je. Die meisten anderen übersehen Menschen wie ihn: Durchschnittlich groß, durchschnittliche fünf Kilo zu viel auf den deutschen Rippen, kurze, nichtssagende Frisur, randlose Brille. Der Durchschnittstyp in der U-Bahn, der Mieter von nebenan. Aber heute war er jemand, der etwas zu sagen hatte. Das war mehr, als der Durchschnitt wagen würde. Und er hatte den Mumm. Endlich. »Du hast es drauf. Du wirst sie überzeugen. Du kannst das!«, murmelte er vor sich hin, als er die Toilette verließ. Die einschlägigen Psycho-Kolumnen mochten mit ihren »Sprich mit dir«-Tipps vielleicht sogar Recht haben. Er fühlte sich wirklich etwas selbstsicherer. Nicht, dass das sonst seine große Stärke gewesen wäre.

 

Er eilte die Treppe hinunter, sah gerade noch, wie die letzten Gäste zurück in den Saal gingen. Wenigstens kam er jetzt pünktlich. Er bog vor der Einlasstür links ab, ging den Gang schnell hinunter, zückte vor der Security des Bundestags seinen Ausweis und wurde in den hinteren Bereich vorgelassen. Hier sah alles improvisiert aus. Kisten stapelten sich, kleine Büros waren besetzt mit drei oder mehr Beamten der Verwaltung. Überall lungerten Sicherheitsleute herum. Das Kongresszentrum war vor gut sechs Monaten über Nacht zum provisorischen Bundestag geworden. Durch eine Nacht des Feuers, des deutschen Dschihad. Sebastian schüttelte den Kopf und verdrängte die Gedanken, die ihm wie so vielen Deutschen auch nach Monaten noch fest im Kopf saßen. Der Glaube an die eigene Unverwundbarkeit. Weggebombt. Und er lief mit quietschenden Schuhen in einem als edles Kongresszentrum erbauten Gebäude herum und war drauf und dran, eine Rede zu halten. Nein, nicht eine Rede. Die Rede. Die Rede seines Lebens.

Dort hinten. Die Seitentür zur Bühne. Frau Debrischek blickte sich schon hilfesuchend um. Sebastian hob die Hand und winkte ihr zu. Die Protokollbeauftragte bedachte ihn mit einem Blick des Todes. Er war fast zu spät. »Aber nur fast«, murmelte er, schloss die Hand fester um seine Notizen und ging zügig zu ihr hin. Selbst durch die geschlossene Tür konnte er die Stimme seines Vorgesetzten hören, der ihn gerade auf der Bühne ankündigte. Der Kloß in seinem Hals wurde größer. Der Blick der sofortigen Vernichtung von der Seite half da auch nicht wirklich. »Machen Sie so einen Scheiß nie wieder mit mir!«, zischte ihm Frau Debrischek von der Seite zu, als sie die Tür öffnete und Sebastian in den Bereich hinter der Bühne schubste. Wie unter Trance stieg er die Treppe zur Bühne hinauf. Dort, wo sonst der Bundestagspräsident mit seinen Vizes saß und das Parlament leitete. Seine Beine fühlten sich an wie Blei. Mit gerade einmal Anfang dreißig eine Rede vor einer UN-Konferenz halten. Er musste verrückt sein. Sein Vorgesetzter kam ihm entgegen, lächelte und klopfte ihm auf die Schulter.

Ohne dass er sich erinnern konnte, weitergelaufen zu sein, stand er schon auf der Bühne. Vor dem Podest. Neben ihm der Teleprompter, vor ihm seine zerknitterten Unterlagen. Für den Notfall. Und vor ihm dreihundert Gäste aus aller Welt, die ihn ansahen. Und sich auf einen weiteren, geistreichen, langweiligen Vortrag freuten. Wie es bei einer UN-Konferenz üblich war. Damit man sich am Ende bedeutungsschwer die Hand schütteln konnte. Und eine Folgekonferenz vereinbarte.

 

Sebastian nickte unsicher in die Runde, konzentrierte sich dann auf den Teleprompter und startete ihn durch einen Druck auf das entsprechende Fußpedal.

»Wir haben versagt.« Er ließ die Worte nachklingen. Die ersten Köpfe wandten sich nach oben, gelangweilte Nebengespräche verstummten. »Wir haben auf der ganzen Linie versagt.« Er trat vom Pult zurück und lief die Bühne auf und ab, vergaß den Teleprompter, vergaß das Drumherum. Nur er und die Zuhörer existierten.

»Wir hätten handeln können. Vor Jahrzehnten, als die ersten Forschungsergebnisse zur globalen Erwärmung auf unseren Tischen lagen. Und wir sie beiseitegelegt haben, da es dafür noch keine Forschungsbudgets gab, die man durch eine nett klingende, aber wohlweislich hirnlose Beantragung hätte schröpfen können.« Er strich sich unterbewusst die Kleidung glatt.

»Und dann haben wir erneut versagt. Als endlich die Mittel da waren, vor wenigen Jahren erst. Versagt darin, uns abzusprechen. Jeder forschte lieber für sich allein. Klar, die globale Erwärmung im nationalen Alleingang zu stoppen, verheißt ja auch mehr Ruhm. Und seien wir ehrlich: Vor allem mehr Geld.« Protestierendes Gemurmel aus dem Saal. Sebastian redete darüber hinweg.

»Lieber bauen wir mit Milliardenmitteln ›gemeinsam‹ den großen Teilchenbeschleuniger oder schicken ein paar Auserwählte ins All, als uns darum zu kümmern, dass unsere nächste Generation die Niederlande nicht nur als nettes Ausflugsgebiet fürs Wochenende kennt. Zum Abenteuertauchen in den Ruinen der untergegangenen Städte.« Einzelnes Gekicher und laute Zwischenrufe in einer kehligen Sprache. »Wenn es überhaupt eine Plattform gibt, die gemeinsame Forschungen zum Stopp der globalen Erwärmung schultern könnte, dann doch Hier und Heute die UN. Wir sind die Forscher. Es ist unsere Aufgabe, zusammen zu arbeiten und unsere nationalen Geldgeber davon zu überzeugen, in den gemeinsamen UN-Forschungsfonds einzuzahlen, damit alle etwas von den Früchten der Arbeit haben. Und sie schneller erreicht werden. Unpopulär sagen Sie? Eine sichere Methode, bei der nächsten Beförderung übergangen zu werden? Ja. Möglicherweise. Aber auch gleichzeitig die einzige, damit wir uns auch morgen noch im Spiegel ins Gesicht schauen können.«

Sebastian bemühte sich krampfhaft, sein Zittern zu unterdrücken. Erst jetzt merkte er, wie nassgeschwitzt er war. Aber es hatte gesagt werden müssen. Ungläubige Blicke aus dem Publikum, immer mehr Zuhörer verstanden, was er gesagt hatte. Die Simultanübersetzer waren nicht zu beneiden, der Text entsprach nicht gerade der vorher eingereichten Rede.

Er wandte sich ein letztes Mal an die Teilnehmer, hob flehentlich die Hände: »Lassen Sie uns diese Chance heute nicht vergeuden. Lassen Sie uns konkrete Projekte gemeinsam auf den Weg bringen. Gemeinsam, damit auch die nächsten Generationen noch auf einer Erde leben können, die mehr ist als eine Schreckensvision. Die bewohnbar geblieben ist. Ja, es wird Milliarden über Milliarden erfordern. Wir müssen den Verkehr umkrempeln. Die Industrie. Unsere Lebensgewohnheiten. Aber dies ist ohne Alternative. Denn sonst gibt es bald keine Gewohnheiten mehr, an denen man festhalten kann. Gewohnheiten sterben, wenn das Wetter unsere Welt täglich tiefer ins Chaos reißt.«

 

Sebastian wartete nicht auf Applaus oder fliegende Tomaten. Er machte kehrt und ging die Treppe hinunter, hinter die Bühne. Einzelne Klatschgeräusche, vor allem aber vielstimmiges Murmeln begleitete ihn. Und es erwartete ihn der Anblick seines Vorgesetzten, dessen Kopf hochrot angelaufen war.

»Born!« Er spie den Namen aus wie einen Fluch. »Was haben Sie da gerade verzapft? Das ist nicht die Rede, die Sie halten sollten.«

»Und dadurch kein Stück weniger wahr«. Sebastian ging einfach an seinem Chef vorbei, der hörbar nach Luft schnappte und zog die Tür zum Gang hinter sich zu. Ungläubige Blicke auf dem Flur. Also auch hier hatten sie seine Rede verfolgt.

Langsam ging er den Weg zum Foyer hinunter, dann flaute das Adrenalin ab. Und ihm wurde speiübel. Danach erinnerte er sich nur noch daran, wie sein Kopf dumpf auf dem schweren Teppich aufschlug.

 

*

 

Eine nichtssagende Seitengasse in der Innenstadt. Schlüsseldienst, Friseur, Asialädchen. Die Straßenlaterne war hier das einzige, was etwas Leben in die Straße brachte. Niemand auf den Straßen, kein Wunder bei dem Wetter. Regina hatte die Kapuze tief in die Stirn gezogen, um dem fiesen, warmen Nieselregen der Vorweihnachtszeit zu entkommen. Unter dem Wintermantel schwitzte sie, da sie ihn aus Gewohnheit angezogen hatte.

Wo war Hausnummer 33? Ah, neben dem kleinen Asialädchen. Das unscheinbare Schaufenster mit den Sonnenblumen. Klischeehafter ging es wohl kaum. Erinnerte sie direkt an ihre Jugenderfahrungen mit Greenpeace. Idealistische Zeit. Und völlig wirkungslos. Sie blieb stehen. Sollte sie wirklich wieder mit dieser Organisation etwas anfangen? Sie atmete tief durch. Machte einen Schritt zurück. Ballte die Faust in der Tasche. Und drückte auf die Klingel.

Es dauerte einen Moment, dann wurde der Laden erleuchtet. Eine ältere Frau im ökologisch korrekten Grobleinenoutfit kam an die Tür und lächelte fragend durch die Glasscheibe der Tür. Dann zuckte sie mit den Achseln und öffnete die Tür.

»Ja?«

»Ist heute keine Sitzung der Ortsgruppe?«

»Oh, ein neues Gesicht.« Greenpeace-in-persona machte den Weg frei, legte wie selbstverständlich den Arm um Regina und geleitete sie durch das Dritte-Welt-Lädchen in das Hinterzimmer. Die Perlenkette sandte helle Töne durch den erstaunlich großen Raum. Ein gutes Dutzend Weltverbesserer saßen auf human hergestellten Rattanstühlen, natürlich im demokratisch korrekten Stuhlkreis. Das konnte ja lustig werden. Die Runde wurde komplettiert durch einen kleinen Tisch an der Seite mit einer Mini-Stereo-Anlage, Reissnacks und stillem Wasser. Sphärische Musik bemühte sich, den Raum zu erfassen, scheiterte aber bereits an den Billig-Lautsprechern aus dem Baumarkt und quäkte vor sich hin. Der Geruch nach grünem Tee und Minzplätzchen lag in der Luft.

Regina nickte in die Runde, nahm sich einen Stuhl und reihte sich in den Stuhlkreis ein. Ein rundlicher Mittvierziger im dunkelbraunen Anzug mit hellgelber Krawatte stand auf und ging er zu Regina, schüttelte ihr die Hand. »Wir kennen uns noch nicht. Ich bin David, Leiter der Ortsgruppe. Und du bist?«

»Regina. Wollte mal wieder reinschnuppern, meine letzte GP-Sitzung ist allerdings schon ein paar Jahre her.«

»Um die Welt zu retten, ist es nie zu spät«, sagte David, lachte mit dunkler Stimme und schüttelte sich ein paar Schuppen von der Schulter. Dann setzte er sich auf einen der Stühle und eröffnete die Sitzung.

»Es freut mich, mal wieder ein neues Gesicht begrüßen zu dürfen. Und nochmal einen Dank an alle, die ihr an diesem herrlich-verregneten Tag euren Weg zu unserer Wochenrunde gefunden habt. Thema heute, wie ich ja über unseren Newsletter schon bekannt gemacht hatte, ist der sechsstreifige Ausbau der A42, der vom Landesbauministerium vor gut zwei Wochen bekannt gegeben wurde.«

Echt? Hatte sie offensichtlich verpasst. Gut, etwas mehr Staus in der Bauphase, aber danach käme sie wenigstens schneller zur Arbeit.

»Ich brauche euch allen wohl nicht zu sagen, was mit dem herrlichen Wäldchen an der Strecke passieren soll.« Im Stil eines schlechten Komikers ahmte David eine Kettensäge nach. Als er auch noch brummte wie der dazugehörige Motor, wünschte sich Regina einen Schirm, der sie vor dem Speichelregen beschützt hätte.

»Da müssen wir etwas tun.« Die Begrüßungsdame war aufgestanden und ballte die Faust.

Zustimmendes Gemurmel.

»Unterschriftenaktion in der Innenstadt? Vorbereitete Mails an die Landtagsabgeordneten?«, warf eine Studentin im viel zu weiten Norwegerpulli in die Runde.

»Klingt gut«, meinte David.

»Wie finanziert sich der Ausbau?«

Die Köpfe drehten sich zu Regina.

David schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung. Ich denke mal Landesmittel. Ist das deiner Meinung nach wichtig?«

Regina verdrehte innerlich die Augen.

»Absolut! Das klingt nicht gerade nach Portokasse, sondern eher danach, dass die Landesregierung etwas aus dem Berliner Topf dazubekommt. Vielleicht etwas aus den Maßnahmen zur Ankurbelung der Wirtschaft, die nach dem Börsenvollcrash ins Leben gerufen wurden. Macht sich sicherlich gut, wenn man den Haushaltsausschuss des Bundestages mal mit ein paar Details belästigt, dass für Arbeitsplätze hier ein ganzer Wald sterben muss.«

Anerkennendes Nicken aus der Runde.

Ein Klingeln aus dem Verkaufsraum unterbrach die Runde und kurz darauf kam ein Mann in das Hinterzimmer. Regina schluckte. Nicht irgendein Mann. Der Mann. Wasser perlte von den lockigen, schulterlangen Haaren und dem kantig-markanten Gesicht. Die Züge wirkten wie gemeißelt, die Augen wach und eisblau. Eine Jeansjacke wanderte auf einen freien Stuhl. Enger, heller Pulli, ebenso körperbetonte Jeanshose. Regina nahm zügig einen Schluck Wasser. Der musste wirklich nichts verbergen. Ein muskulöser Körper zeichnete sich unter der Kleidung ab. Und ein Knackarsch. Sie grinste in sich hinein und musterte ihn genüsslich.

»Ah, Benjamin. Schön, dass du noch kommen konntest.« Eine Spur Ironie in der Stimme des Redeführers.

Der Neuankömmling nickte kurz in die Runde. Eine gewisse Abfälligkeit gegenüber David konnte er dabei kaum verbergen. Interessant.

»Und? Wie retten wir heute die Welt?« Benjamin ließ sich auf seinem Stuhl nieder.

»Die Welt ist erst nächste Woche dran.« Die letzten Worte zog David gekünstelt lang. Hier konnte sich wer wirklich nicht leiden. »Diesmal kümmern wir uns um den Ausbau der Autobahn, dem ein Wald zum Opfer fallen soll. Und Regina hatte gerade einen interessanten Ansatz offenbart.« David nickte ihr zu. Regina spürte, wie ihre Wangen erröteten, als Adonis zu ihr herüberschaute und sie nach einem kurzen, musternden Blick anlächelte.

Und dann sprach er sie auch noch direkt an!

»Was ist denn dein Plan?«

»Ich ... ich meine ... wir sollten bei den Finanzen ansetzen. Beim Geld, ja«, stotterte sie. Innerliche Ohrfeige, ihr wurde heiß und kalt. Mach dich nicht lächerlich! Du bist kein kicherndes Schulmädchen mehr!

»Ich würde vorschlagen herauszufinden, mit welchen Mitteln der Ausbau finanziert wird und die dazugehörigen Haushaltsausschüsse mit ein paar dreckigen Details über den abzuholzenden Wald zu konfrontieren.«

Ben wog den Kopf hin und her, seine nassen Locken schwangen im Takt mit. Regina lief ein Schauer den Nacken hinunter. Warum hatte sie den nicht schon früher kennengelernt?

»Könnte funktionieren. Ist mir aber noch zu lasch.«

»Zu lasch?«, platzte es aus ihr heraus. »Immer noch besser als Flugblätter verteilen oder für den Weltfrieden beten.« Ihre Stimme bebte.

Ben runzelte belustigt die Stirn.

»Na wenigstens bin ich hier nicht der Einzige, der mal etwas Pep in die Diskussionen bringt.« Er schnappte sich einen Keks vom Tisch und schob ihn sich genüsslich in den Mund.

»Ben, bitte!«, wies ihn der Ortsgruppenleiter empört zurecht. »Wir ziehen hier alle an einem Strang.«

»Tun wir das wirklich?« Ben erhob sich betont langsam.

»Meine Kumpels und ich haben mit unseren direkten Aktionen tausendmal mehr Erfolg als ihr mit euren Unterschriftenaktionen in der Innenstadt.«

»Dafür stehen wir aber auch nicht ständig mit einem Bein im Gefängnis«, murmelte die Ladenbesitzerin so laut, dass es alle hören konnten.

Ben stand auf, drehte sich zu ihr um. Für einen Moment sah es so aus, als ob er ihr eine runterhauen wollte. Die Frau duckte sich unwillkürlich weg.

Doch Ben entspannte sich von einem Moment auf den anderen und fing lauthals an zu lachen.

»Oh Mann, jetzt weiß ich wieder, warum ich mich hier ewig nicht mehr hab blicken lassen. Lächerlich.« Er lachte erneut auf. »Ihr seid so unglaublich lächerlich.« Eine schwunghafte Geste in die Runde. »Meint ihr wirklich, ihr würdet irgendetwas bewegen? Nein. Oh nein. Ihr habt es euch bloß so gemütlich gemacht im Konsumtempel Deutschland, dass ihr keine Lust habt, irgendetwas zu riskieren. Erbärmlich.«

Mit diesen Worten drehte er sich um, schnappte sich seine immer noch nasse Jacke vom Stuhl und ging zum Ausgang. Er hatte ihn fast erreicht, da drehte er sich noch einmal um. Über das empörte Gemurmel hinweg sah er Regina direkt an und streckte seine Hand aus.

»Willst du wirklich etwas bewegen? Oder hier bei der Müslifraktion Unterschriftenzettel vorbereiten?«

 

*

 

Schmerzen. Ein Wummern im Schädel. Irgendetwas Kühles auf seiner Stirn. Hochgelegte Beine. Sebastian öffnete langsam die Augen. Ein ihm unbekannter Raum. Ein Büro. Schwerer Schreibtisch, Aktenschränke. Schäbiger Teppich. Und eine junge Frau auf einem Stuhl, die ihn belustigt ansah. Ihre spöttisch hochgezogenen Augenbrauen harmonierten gut mit ihrem feuerroten, langen Haar über dem schwarzen Business-Kostüm.

»Starker Auftritt, Herr Born. Etwas zu theatralisch für meinen Geschmack und es hätte genauer ausformuliert sein können, insbesondere weniger umgangssprachlich, um auch in den Elfenbeintürmen gehört zu werden. Aber nichtsdestotrotz eindrucksvoll.« Sie stand auf, kam langsam auf ihn zu, füllte sein Blickfeld aus. Unbewusst glitten seine Augen über ihren vom Kostüm dezent betonten Körper. Netter Anblick. Sie schien es gemerkt zu haben und lachte auf.

»Naja, so schlecht kann es Ihnen offenbar gar nicht gehen.«

»Ich ... ich wollte nur«, haspelte er, was sie noch weiter belustigte.

»Lassen Sie es gut sein. In Ihrem Zustand verzeihe ich Ihnen fast alles.«

»Wo bin ich? Und wer sind Sie?« Er richtete sich langsam auf, was die Schmerzen hinter der Stirn rapide verschlimmerte und ihm ein Stöhnen entlockte.

»Im Büro eines Bundestagsabgeordneten. Nachdem Sie umgekippt sind, wollte ich Sie ungern auf dem Boden liegen lassen. Auch wenn Sie es nach Meinung einiger Konferenzteilnehmer verdient gehabt hätten. Mindestens.« Sie zog eine Visitenkarte aus der Hosentasche und gab sie ihm in die Hand. Ihre Finger berührten seine Handinnenfläche. Warme, weiche Haut. Als sie sich zu ihm bückte, wehte etwas Luft zu ihm. Ihre. Der Duft nach Kirschen, süßlich, ohne schwer zu sein.

»Mein Name und die Kontaktdaten stehen hier drauf. Tun Sie mir bitte einen Gefallen, sobald es Ihnen wieder besser geht. Rufen Sie mich an.«

Hoffnung stieg in ihm auf, um sofort wieder zunichte gemacht zu werden.

»Ich bin interessiert an Ihren Forschungsergebnissen, die Sie zu dieser Rede animiert haben. Und nicht nur ich.«

Sie ging zur Tür, schaute noch einmal über die Schulter.

»Warten Sie nicht zu lange mit Ihrem Anruf.«

Und ging.

Sebastian ließ sich wieder auf das Sofa sinken, machte die Augen zu. Eine seltsame Ruhe hatte ihn erfasst. Er hatte seine Rede gehalten. Die seine Karriere beendet haben dürfte, wenn er sich nicht täuschte. Ein gewisser Stolz kam in ihm hoch. Er hatte zwar noch keine Ahnung, was er jetzt tun sollte. Aber er hatte das Richtige getan. Sebastian machte sich keine falschen Illusionen. Seine Worte würden keine allzu große Wirkung entfalten. Es war eine nette Anekdote für die Konferenzteilnehmer, nicht mehr. Aber etwas hatte sie bewirkt: Er konnte sich selbst wieder ins Gesicht sehen. Das erste Mal nach langer Zeit, in der er an seinen Möglichkeiten im Forschungsministerium fast verzweifelt war, war er mit sich selbst im Reinen. Und arbeitslos.

 

Die Tasse Glühwein in der Hand spendete Wärme. Sinnlos bei zwanzig Grad im Schatten. Aber in der Adventszeit war das Getränk in seiner Familie immer nette Tradition gewesen. Eine Möglichkeit, sich gesellschaftlich anerkannt einen hinter die Binde zu kippen und albern zu kichern. Sogar für seine sonst nur zu ernste Mutter. Sebastian schüttelte den Kopf, vertrieb die Gedanken. Und klappte den Laptop auf. Eine Dachterrassensitzung im Winter. T-Shirt. Glühwein. Verrückte Welt. Er stöpselte das Kabel des Headsets ein, rief die Dateien mit seinen Forschungsergebnissen auf und tätigte den Anruf, vor dem er sich nun seit zwei Tagen beharrlich drückte. Es klingelte. Ein Montagnachmittag. Vorweihnachtstag. Nichtsdestotrotz hatten die Entlassungspapiere noch am selben Morgen in seinem Briefkasten gelegen. Man hatte sich eines Boten bedient, um sicherzugehen, dass er die »guten Nachrichten« noch rechtzeitig vor der Bescherung erhielt. Seine langen Jahre der harten Arbeit im Ministerium hatten nicht gereicht, seine Rede zu egalisieren. Er war raus. Was ihm diesen Anruf erleichterte. Die Schiffe am Strand brannten. Nun konnte er auch in den unbekannten Dschungel hineinmarschieren.

»Ja.« Ihre samtweiche, undeutbare Stimme.

»Born.«

»Ach, Herr Born. Schön von Ihnen zu hören. Endlich.«

Sebastian lächelte.

»Hätte ich am Wochenende anrufen sollen? Kurz vor Weihnachten?«

»Ich hatte darauf gehofft, ja. Und, sind die Papiere schon angekommen?«

»Woher...?«

»Ich bitte Sie, Herr Born. Beleidigen Sie nicht meine Intelligenz. Oder meine Kontakte.«

Er nahm die Visitenkarte vom Terrassentisch. Melanie Griesinger. Eine Nummer. Eine nichtssagende Emailadresse. Kein Titel, keine Berufsbezeichnung. Eine schlichte, bei ihren Worten aber eher beeindruckende Geste.

»Gut, hätten wir das also auch geklärt. Also, wie kann ich der unbekannten Schönheit helfen?«

Sie lachte. Ein angenehmes Geräusch.

»Ein echter Charmeur der alten Schule. Gefällt mir. Seien Sie nur nicht so kess zu meinem Boss.«

»Ihr Boss? Ich dachte, Sie seien Ihre eigene Chefin.«

»So in der Art. Dennoch habe auch ich eine Hand, die mich füttert. Es kommen harte Zeiten auf uns zu, Herr Born. Da sollte man sich seinen Futterspender warm halten.«

»Weiß Ihr Chef, wie Sie über ihn reden?«

»Alles andere würde mich verwundern. Aber lassen Sie uns zur Sache kommen. Sie haben mit Ihrer Rede Aufsehen erregt. Bei den richtigen Leuten. Wenn Ihre Forschungsergebnisse jetzt noch aussagekräftig sind und Ihre Expertise untermauern, hätte ich einen Job für Sie.«

Unterbewusst wischte sich Sebastian die feucht gewordenen Hände an der Hose ab.

»Für wen würde ich dann arbeiten?«

»Tststs, immer einen Schritt nach dem anderen. Versorgen Sie mich erst mal mit Ihren Dateien. Dann sehen wir weiter.«

»Ich kenne Sie doch gar nicht. Warum sollte ich Ihnen das anvertrauen, woran ich Jahre gearbeitet habe?«

Eine kurze Pause in der Leitung.

»Offensichtlich ist meine Anfrage nicht nur ein Test Ihres professionellen Könnens, Herr Born. Sondern auch Ihrer Menschenkenntnis. Es ist Ihre Entscheidung. Meine Mailadresse haben Sie ja. Ich erwarte Ihre Dateien. Andernfalls werde ich das ebenfalls akzeptieren und Sie nicht erneut kontaktieren. Es ist Ihre Entscheidung.« Dann legte Sie ohne jede Verabschiedung auf.

Sebastian nahm einen Schluck seines nun nur noch lauwarmen Glühweins. Er hatte noch nicht genug getrunken, um ohne Nachzudenken auf den Senden-Knopf zu drücken. Er kannte die Frau nicht, wusste nicht, ob seine Forschungsergebnisse bei ihr in guten Händen waren.

»Sei kein Idiot«, murmelte er vor sich hin. Er war arbeitslos, hatte seinen Ruf in der Szene für Jahre verbrannt. Und seine Dateien waren kaum zu missbrauchen. Wetterforschungen, Klimavoraussagen. Nichts für aufrüstungswillige Dritte-Welt-Diktatoren. Er ließ seinen Blick über das Umland schweifen, von der Dachterrasse seiner Eigentumswohnung hatte man einen netten Blick über sein Berliner Wohnviertel. Nicht die beste, aber auch nicht die schlechteste Lage. Er musste Arbeit haben, um die Wohnung abbezahlen zu können. Aber er wollte sich nichts vormachen. Mehr als das Geld reizte ihn, herauszufinden, für wen er bei Frau Giesinger arbeiten könnte. Und das Wiedersehen mit ihr. Er lächelte, nahm einen weiteren Schluck, zögerte einen Moment. Dann sendete er die Dateien.

 

Der Duft nach Kaffee und Kuchen lag in der Luft, untermalt von leiser Jazz-Musik und dem vielstimmigen Gemurmel der Starbucks-Besucher. Sebastian nahm einen kräftigen Schluck seines Kaffees – nein, er korrigierte sich, seines »Grande Tall Latte Irgendwas mit Vanille« – und genoss, wie die warme Flüssigkeit seine Kehle hinunterrann.

»Kaum zu glauben, oder?« Seine Mutter sah ihn erwartungsfroh an und Sebastian bemühte sich, schnell zu nicken. Mist, nicht aufgepasst.

Sie lächelte ihm zu, beugte sich über den kleinen Couchtisch, der zwischen ihren Ledersesseln stand und streichelte ihm über die Wange. Sebastian musste sich bemühen, die Hand nicht wegzustoßen. Nicht in der Öffentlichkeit!

»Was hast du eigentlich mit deinen Haaren gemacht? Du hattest doch so schöne Locken, wenn du sie halblang trägst. Ist kurz jetzt angesagt im Ministerium?«

Sebastian schüttelte den Kopf. Die »Frisur«, wenn man die paar Millimeter mit der Maschine geschnitten so überhaupt nennen wollte, war wirklich gewöhnungsbedürftig. Aber sein Ding. »Nein, ist morgens einfach nur schneller.« Ein weiterer Schluck Kaffee gesellte sich zu seinen Brüdern und Schwestern im Magen. »Du weißt ja.«

»Jaja, du hast keine Lust auf lange Bad-Sessions wie deine Schwester. Wann hast du eigentlich das letzte Mal mit ihr telefoniert?« Seine Mutter zögerte einen Moment und ein Ausdruck der Sorge schlich sich auf ihr bereits von einigen Altersfalten gezeichnetes Anfang-Sechziger-Gesicht. Wenigstens hatte sie die Haare heute vernünftig und nicht wieder diesen Topfschnitt mit »angesagten« lila Strähnen wie beim letzten Mal, als sie zusammengesessen hatten. Wie lang war das her? Ein halbes Jahr? Immer noch zu kurz. Nur in seinen wirklich guten Momenten konnte er sie an den Füßen haben. Ihre überfürsorgliche Art, ihre überschwängliche Freude über Kleinigkeiten. Sebastian krampfte sich ein Lächeln zurecht, das selbst ihm künstlich vorkam.

»Letzte Woche, Mum.« Was sogar der Wahrheit entsprach. Mit Marie konnte man deutlich vernünftiger als mit Mutter sprechen. Beide hatten sich früh von den Eltern emotional abgenabelt. Bei dem ständigen Kleinkrieg im Elternhaus war das die einzige Methode gewesen, nicht allzu emotional vernarbt durchs Leben zu gehen. Dennoch hatte er manchmal das Gefühl, dies nicht vollständig genug getan zu haben. Oder zu spät. Manche Wunden brauchten lange, um zu verheilen.

»Letzte Woche«, wiederholte er und seine Mutter beugte sich vor und tätschelte sein Knie.

»Das ist schön. Ihr müsst Kontakt halten. Auch wenn es jetzt ein paar Kilometer sind, nach ihrem Umzug nach München!«

»Ja, Mum, keine Sorge.« Wie kam er bloß aus der Angelegenheit halbwegs zügig raus? Was hatte ihn geritten, diesem Kaffeeplausch zuzustimmen? Ach ja, die unausgesprochene Androhung, ihm sonst täglich mit Emails oder Anrufen auf dem Anrufbeantworter ein schlechtes Gewissen einzujagen. Sebastian unterdrückte ein Seufzen und wischte sich die schwitzigen Handinnenflächen an der Jeans ab.

»Und wie läuft es auf der Arbeit?«

Sebastian hielt sich am Pappbecher fest und genoss die Hitze, die sich scharf in seine Haut brannte. Er zögerte den Moment des Abstellens hinaus, immer weiter und stellte den Becher erst weg, als seine Hände zu zittern begannen. Er sog den Schmerz auf, leitete ihn in sein Innerstes, hielt sich daran fest. Sein treuester Begleiter. Der, der ihm half, klar zu denken in bestimmten Momenten.

»Mach dir keine Sorgen. Läuft.« Dass er arbeitslos war, hatte er ihr natürlich nicht erzählt. Auf ihr Mitgefühl konnte er verzichten.

Das Klingeln eines altmodischen Telefons. Er sah den Apparat aus den Fünfzigern des letzten Jahrhunderts beinahe vor sich und musste grinsen. Nichts passte weniger zu einem modernen Handy, darum hatte er den Ton gewählt. Zügig zog er das Mobiltelefon aus der Hemdtasche und nahm den Anruf an, was ihm einen missbilligenden Blick seiner Mutter einbrachte.

»Born.«

»Griesinger hier, Herr Born. Schön, dass ich Sie erreiche.«

Sebastian lächelte erneut. Der Tag endete vielleicht doch nicht so beschissen, wie er bisher gelaufen war.

»Für Sie jederzeit.«

Ein freundliches Lachen auf der anderen Seite der Leitung schickte ein warmes Kribbeln in Sebastians Magen.

»Immer noch ein Charmeur. Ich mag Menschen, die sich vom Schicksal nicht entmutigen lassen. Wussten Sie, dass auf lange Sicht das Karma alles ausgleicht?«

Nun war es an Sebastian, ein Lachen durch den Äther zu schicken, auch wenn es vielleicht etwas zynischer ausfiel, als gewünscht.

»Ist dem so?«

»Auf jeden Fall. Ich werde es Ihnen beweisen. Hätten Sie heute Abend Zeit für ein Treffen? Nur ein Wort der Warnung vorab. Es wird ein Gespräch über Ihre Forschungen. Wenn auch bei einem Glas Wein.«

Da musste er nicht lange überlegen.

»Jederzeit gern, Frau Griesinger. Jederzeit gern.«

»Wunderbar.« Ehrliche Freude lag in ihrer Stimme. »Dann sagen wir heute Abend um acht bei Ramayana, einem kleinen Inder in der Berghofstraße. Einverstanden?«

»Wie ich bereits sagte: Für Sie jederzeit gern.«

»Das fasse ich als ein Ja auf. Bis dann«, sagte sie und legte auf.

Sebastian lächelte, steckte das Handy voller Genugtuung weg und verabschiedete sich knapp bei seiner Mutter, der er im Gegenzug versprechen musste, sich nächste Woche zu melden. Ein kleines Opfer für einen zügigen Abgang.

Als er vor die Tür des Starbucks trat und die warme Mittagsluft der Berliner Innenstadt ihn umgab, atmete er durch. Der Tag schickte sich ja doch noch an, angenehm zu werden.

 

*

 

Sie rannten durch die Nacht. Sirenen hinter ihnen. Sirenen unterm Sternenhimmel in einer warmen Winternacht. Regina lief so schnell es ging hinter Ben her, aber ihr Hüftspeck ließ seine Geschwindigkeit einfach nicht zu.

Plötzlich blieb Adonis stehen und zog sie abrupt in eine Seitengasse. Der Geruch nach verwesendem Müll lag in der Luft, quoll geradezu aus den drei herumstehenden Müllcontainern. Werbeflyer für einen Chinaimbiss pflasterten den Boden. Essen musste man ja selbst hier im Industriegebiet. Er drückte sie an die Wand, Regina wagte kaum zu atmen. Seine Haut so nah, sein Herzschlag so deutlich spürbar. Dann jagten zwei Polizeiwagen an der Gasse vorbei, das Blaulicht zuckte kurz hinein, dann verschwand es wieder. Und mit ihm die Bedrohung, die sie gejagt hatte. Ihr Herz schlug bis zum Hals, sie lehnte den Kopf an Bens Brust. Der lachte und wuschelte ihr durchs Haar. Er lachte. In dieser Situation. War es so alltäglich für ihn geworden, bei Unternehmen einzubrechen, die die Umwelt verschmutzten? Oder war es nur seine Art, mit dem Adrenalin umzugehen? Sie schaute zu ihm hoch, das Licht einer fernen Straßenlaterne brach sich in seinen eisblauen Augen. Er zog sie näher an sich und küsste sie. Der Moment dauerte ewig und doch nur ein paar Sekunden. Wie gern hätte sie ihn verlängert, doch da zog er sie schon weiter, weg vom Ort des Geschehens, hinein in die Nacht. Sie hatten noch einiges vor.

 

Ben streichelte ihr sanft über den Kopf, spielte mit ihren fingerkurzen, roten Haaren herum, die am Hinterkopf hochgegelt waren. Er mochte ihre neue Frisur – kurz war in – hatte sie getröstet, nachdem sie mit Tränen in den Augen vom Friseur nach Hause gekommen war. Nach Hause. Wie schön sich das anfühlte, das über seine Wohnung sagen zu können. Sie ließ sich vollends fallen, schmiegte sich noch enger an seinen nackten Körper unter der Bettdecke, ließ das wohlig-warme Gefühl nach dem Sex durch ihren ganzen Körper ziehen.

Er drückte ihr einen Kuss auf die Stirn, was ihr einen Schauer über den Rücken jagte.

»Was habe ich bloß früher ohne dich gemacht?«, fragte er mit angenehm tiefer, müder Stimme.

»Auf jeden Fall nicht so viele Computerverbrechen begangen!«, spöttelte sie, was ihr einen sanften Knuff in die Rippen einbrachte.

»Hey, dafür war ich schon bei mehr unfreiwilligen Eigentumsrelokalisierungen dabei, als du je erleben willst.«

»Und hast jeweils Kopf und Kragen riskiert. Dabei hast du so einen schönen Kopf.« Sie zog sich höher und küsste ihn spielerisch auf die Nase.

Er lachte auf und für eine Zeit kuschelten sie sich einfach nur aneinander und ließen die Nacht Nacht sein.

»Es stimmt. Es war gefährlicher. Aber manchmal ist es notwendig.«

Sie sah den Lichtern der vorbeifahrenden Autos zu, die durch die halb heruntergelassenen Jalousien ins Zimmer schienen. Der gleichförmige Rhythmus ließ sie fast wegdämmern.

»Wir ergänzen uns. Zusammen sind wir unschlagbar. Bei der Verteidigung der Umwelt. Und auch so.« Mit diesen Worten rollte sie sich vollends bei ihm ein und nur wenige Minuten später war sie in der Traumwelt. Wo er natürlich auf sie wartete. Sie lebte ihren Traum.

 

Gelangweilt scrollte sie durch das Dokument, das ihr das Qualitätsmanagement gerade geschickt hatte. Die Bosse hielten es für eine gute Idee, ein »abteilungsübergreifendes Projektmanagement« einzuführen und nun wollten sie ihre Meinung dazu hören. Aber sollte sie wirklich »Bullshit« schreiben? Kam irgendwie unprofessionell rüber. Regina schob die Tastatur mit einem Seufzen von sich und nahm einen weiteren Schluck Kaffee. Ihre achte Tasse. In zwei Stunden. Koffein hatte einfach seine Wirkung verloren. Aber anders war der Laden hier nicht auszuhalten. Die stellten sich an, als ob sie einen Multimillionen-Konzern und keinen Mittelständler mit 200 Angestellten leiten würden. Und überhaupt, was machte sie hier? Mit rotgeränderten Augen schaute sie zur Wanduhr hinüber. Noch drei Stunden bis Feierabend. Was Ben jetzt wohl machte? Sicherlich etwas Spannenderes als Dokumente zu lesen und »Projekt-Milestones« zu bearbeiten. Leider hatte sie keine Überstunden mehr zum Abfeiern. Waren alle für die letzten Tage mit Ben draufgegangen. Sollte sie vielleicht...?

Kurzentschlossen stand Regina auf, schnappte ihren Mantel aus der Ecke und verließ ihr Büro. Schnell eine Etage höher. Jetzt nicht lachen! Sie setzte ihren bemitleidenswertesten Gesichtsausdruck auf, steckte ihre Nase ins Sekretariat des Chefs. Ah, perfekt, die treusorgende Seele der Firma, Else, war heute da. Die alte Frau mit der Hochsteckfrisur packte schnell das Nagelset weg, als Regina die Tür öffnete, entspannte sich aber sofort wieder, als sie sah, wer ihr da einen Besuch abstattete.

»Kindchen, du siehst gar nicht gut aus!« Ehrliche Anteilnahme schwang in ihrer Stimme mit.

Regina übertünchte den aufkommenden Selbstzweifel mit malader Stimme: »Ja, mir ist total schlecht. Hab mich grad schon übergeben. Sicherlich der Magen-Darm-Virus, der hier überall grassiert.«

»Dann mal schnell nach Hause, meine Liebe. Ruhe, Bananen und Zwieback! Ich sag Bescheid, dass du gegangen bist.«

Regina quälte sich ein Lächeln ab.

»Danke, Else, Sie sind die Beste!«

Die Sekretärin strahlte mit ihrem sauberen Schreibtisch um die Wette.

Schnellen Schrittes verließ die Administratorin das Gebäude, stieg in ihr Auto, kramte ihr Handy aus der Tasche und schickte eine SMS.

»Bin in zwanzig Minuten zu Hause.«

Sie ließ den Wagen an, ihr Blick fiel auf sich selbst in der spiegelnden Frontscheibe. War das wirklich sie? So entschlossen, gerade, aufrecht. Jemand, der aussah, als ob er wüsste, was er will.

Ein Griff zum Handy.

»Bereit, die Welt zu retten!«

Ben würde wohl kaum nur herumsitzen wollen. Und sie auch nicht. Die Fahrt verging wie im Flug.

 

*

 

Eine Melange unterschiedlichster Gerüche schlug ihm entgegen, als Sebastian überpünktlich das indische Restaurant betrat. Es lag idyllisch in einer kleinen Seitengasse in einem Wohngebiet. Gegenüber ein fast winziger Park mitsamt Kinderspielplatz und ausreichenden Parkgelegenheiten vor der Tür. Zusammen mit dem multikulturellen Sprachenmischmasch aus den geöffneten Fenstern der Wohnhäuser – bei den Temperaturen derzeit kein Wunder – passte der Inder hier perfekt hin. Als er die ersten Schritte in das mit gedämpftem Licht ausgeleuchtete Innere machte, fühlte er sich gleich wohl. Neben den Gerüchen war es vor allem die geringe Anzahl an Tischen, die eine fast familiäre Atmosphäre aufkommen ließ. Und ein lächelnder Kellner war auch schon auf dem Weg, ein kleiner Inder mit schwarzer Hose und weißem Hemd. Also quasi ein Archetyp seiner selbst. Sebastian lächelte. Der Abend konnte wirklich noch etwas werden.

»Willkommen im Ramayana. Tisch für eine Person?« Indischer Singsang.

Sebastian schüttelte den Kopf. »Nein, danke. Ich bin verabredet. Die Dame wird auf ›Griesinger‹ reserviert haben.«

Der Inder lächelte in einem fort weiter. »Aber natürlich. Wenn Sie mir bitte folgen wollen?« Der Kellner drehte sich um und strafte den Begriff »folgen« Lügen, als er nur wenige Schritte später schon auf eine Sitznische deutete. Kein Wunder. Wenn er nur zehn Schritte weitergelaufen wäre, hätte er sich schon mit einer Kettensäge durch die hölzerne Bar des wirklich winzigen Etablissements sägen müssen, um voranzukommen.

»Frau Griesinger hat übrigens vorhin angerufen. Wir sollen Ihnen ausrichten, sie komme ein paar Minuten später.« Der indische Akzent unterlegte die Worte wohlklingend. Sebastian nickte, woraufhin der Kellner hinter der Bar verschwand.

Sebastian ließ den Blick schweifen. Teppiche mit gestickten Tigermotiven an den Wänden, bronzene Skulpturen von freundlich lächelnden Gottheiten – oder was auch immer die Fantasiefiguren darstellen sollten – in Nischen an den Wänden. Er zählte zehn Tische. So ein kleines Restaurant konnte nur als Familienbetrieb gutgehen, sonst würden die Lohnkosten alles auffressen. Er schüttelte den Kopf. Hör endlich auf zu analysieren und genieß den Abend.

Bis auf einen älteren Mann, der in eine Zeitung vertieft war, vor sich einen leergegessenen Teller und eine volle Tasse eines dampfenden Getränks und den Kellner hinter der Bar war der Raum leer. Aus der Küchendurchreiche hinter der Theke hörte man es klappern, die übrige Geräuschkulisse wurde durch leise, orientalische Musik ohne Gesang gebildet. Sebastian entspannte sich, nur um kurz darauf das Geräusch der Türschelle hinter sich zu hören. Weiche Schritte, ein leichter süßlicher Geruch nach Kirschen und Sommer, dann stand Frau Griesinger auch schon neben ihm, woraufhin er sich erhob und ihr lächelnd die Hand schüttelte.

»Entschuldigen Sie die Verspätung. Wurde Ihnen mein Anruf ausgerichtet? Die Ausfallstraße war heute wieder die Hölle.«

Er bemühte sich, nicht auf die Uhr zu sehen, auch wenn er sicher war, dass sie Punkt acht durch die Tür gekommen war. Noch ein Mensch, der »exakt pünktlich« eigentlich schon als »zu spät« einstufte. Das Lächeln grub sich noch tiefer in sein Gesicht.

»Ich bitte Sie, ich habe zu danken, dass ich Sie schon so bald wiedersehen darf.«

Ein kurzes, keckes Lachen. Dann setzte sie sich ihm gegenüber.

»Ich kann mich nur wiederholen: Sie sind durch und durch ein Charmeur.«

Wärme breitete sich in Sebastians Magengegend aus. Ihre feuerroten Haare hatte sie zu einer netten Hochsteckfrisur geformt, die angenehm mit ihrem schwarzen Blazer über dem Hosenanzug harmonierten. Etwas förmlich für ein Essen, aber es stand ihr. Manche Menschen sahen in Business-Kleidung einfach am besten aus. Und mit ihrer niedlichen Stupsnase im zierlichen Gesicht nahm sie dem seriösen Outfit die Schärfe.

Dann stand der Kellner auch schon neben ihnen und reichte die Karte, die Frau Griesinger merkwürdigerweise direkt zurückgab.

»Nicht nötig, Apu. Ich nehme wie immer das Menü B3.«

Sebastian hob eine Augenbraue und schloss die Karte ebenfalls.

»Empfehlenswert?«, fragte er in Richtung der Dame.

»Absolut.«

Daraufhin gab er ebenfalls die Karte zurück.

»Dann nehme ich das Gleiche.«

Der Inder grinste. »Eine gute Wahl, die Dame, der Herr.«

Als der Kellner ging, um die ebenfalls bestellten Getränke zu machen, fragte Sebastian: »Auf was habe ich mich da eigentlich gerade eingelassen?«

»Oh, nur auf ein höllisch scharfes Ofengericht mit Hühnchen, Kartoffeln und Gemüse. Davor etwas indisches Fladenbrot und nachher gebackene Mango mit Honig und Sesam.« Ihr Gesicht zeigte, dass ihr die Situation Spaß machte.

»Scharf?«

»Indisch scharf. Also: Ja. Aber nicht sehr lange, wenn Sie Fladenbrot dazu essen.«

Wie aus dem Nichts tauchte der Kellner wieder neben ihnen auf und brachte das jeweils bestellte Mineralwasser.

Frau Griesinger hob ihr Glas an.

»Auch wenn das nicht ganz stilecht ist, mit Wasser anzustoßen, so möchte ich doch sagen, dass ich mich auf diesen Abend sehr gefreut habe.«

Die Wärme in Sebastians Bauchgegend zeigte sich in einem seligen Lächeln.

»Vielen Dank. Ich ebenfalls.«

Der Abend begann.

 

»Das ist nicht ihr Ernst«, fragte Frau Griesinger mit gespielter Empörung und wedelte mit ihrem Zeigefinger vor Sebastians Gesicht herum.

»Mein vollster! Er hatte meinen Witz derart lustig gefunden, dass er sich beim Lachen an der Milch verschluckt hat und die Reste auf die frisch ausgedruckten Forschungsunterlagen ausgehustet hat. Den Blick des wissenschaftlichen Leiters können Sie sich sicherlich vorstellen.« Er grinste.

»Was müssen Sie ihm auch mitten in einem Experiment einen Witz erzählen?«

Sebastian grinste weiter und zuckte mit den Achseln.

Frau Griesinger nahm einen Schluck ihres Weins, auf den sie nach dem Wasser gewechselt war.

Dann zwinkerte sie ihm zu. »Also gut, dann wollen wir mal. Ich habe Sie – neben Ihrem Charme – ja auch eingeladen, um über Ihre Forschungen zu sprechen.«

Seine Mundwinkel waren wohl etwas zu schnell nach unten gerutscht, denn sie hob überrascht die Augenbrauen. »Das hatte ich Ihnen am Telefon doch gesagt, oder nicht?«

Sebastian beeilte sich, ein »Natürlich!« zu entgegnen und das Lächeln auf sein Gesicht zurück zu bringen, aber es wollte ihm nicht wirklich gelingen. Er war derart in der perfekten Atmosphäre des Abends aufgegangen, dass er den Charakter des Treffens im Geiste in Richtung eines Rendezvous verändert hatte. Sie offensichtlich nicht.

Frau Griesinger zögerte einen Moment, dann erschien ein schelmisches Lächeln in ihrem Gesicht.

»Machen wir einen Deal! Sie lassen mich an ihren wissenschaftlichen Gedanken teilhaben, dafür gehen wir zum Du über.« Sie nahm einen Schluck Wein und schaute ihn fragend an. »Einverstanden?«

Nun war es an Sebastian, das Lächeln zu erwidern und das warme Gefühl in der Magengegend verstärkte sich erneut und es kam nicht nur vom schweren Rotwein.

»Sehr gerne. Sebastian.«

»Melanie.«

Sie hoben ihre Gläser und stießen an.

Nach einem kurzen Moment des Schweigens holte Melanie übertrieben deutlich Luft.

»Also.« Sie zog das Wort in die Länge. »In deinen Unterlagen behauptest du, dass der Klimawandel zwar vom Menschen gemacht, aber auch von diesem aufhaltbar ist. Glaubst du wirklich, dass er ›aufgehalten‹ werden kann? Nicht nur ›verlangsamt‹ wie die meisten Wissenschaftler glauben? Also das 2-Grad-Ziel durch die üblichen Programme, wie bessere Filter in den Fabriken, sparsamere PKW und so weiter?«

Sebastian nickte und war in seinem Element.

»Ja, absolut. Meine Forschungen haben gezeigt, dass diverse Einflussfaktoren – die ich ja auch in den Unterlagen genannt habe – dazu genutzt werden könnten, eine Gegenbewegung in der klimatischen Entwicklungsrichtung auszuformen. Oder, um es simpler auszudrücken: Der Erwärmung eine Abkühlung gleicher Intensität entgegenzusetzen, damit beide sich aufheben und der Status Quo gewahrt wird.« Er blickte hinter sich zur Tür, durch die Scheibe auf die Straße, wo zu dieser Zeit die Passanten nur leicht bekleidet schlenderten. »Oder, wenn es nach mir geht, das Wetter von vor zehn Jahren zurückgebracht wird. Wer nicht völlig blind ist, wird zugeben müssen, dass es in den letzten Jahren unentwegt zu warm war. Und die Daten zeigen, dass das erst der Anfang ist. Wenn nicht schleunigst gehandelt wird, ist es bald zu spät und die Erwärmung hat einen kritischen Moment erreicht, so dass so viel Eis an den Polkappen geschmolzen ist, dass wir zumindest diesen Punkt nicht mehr aufhalten können. Dabei ist es mir gleich, ob das auf der Basis meiner Empfehlungen oder der von anderen Wissenschaftlern passiert, die wie ich nicht nur die Hände in den Schoss legen und ›Empfehlungen‹ aussprechen wollen.« Sebastian grinste. »Wobei ich einen Aktionsplan auf der Basis meiner Daten natürlich vorziehen würde.«

Die Lachfalten in Melanies Gesicht vertieften sich.

»Natürlich.« Dann setzte sie hinzu: »Man merkt, dass diese Idee dein Ding ist. Mit welchem Nachdruck du von deinen Vorstellungen sprichst, ehrt dich. Ein Wissenschaftler mit Herz. Und Verstand. Die Fächerkombination aus Biologie und Meteorologie hebt dich eh aus der Masse ab. Jemand, der ebenso Ahnung vom Wetter hat als auch davon, was dies letztlich für alle lebenden Wesen bedeutet. Respekt!«

Das Blut schoss in Sebastians Wangen.

»Was wäre deiner Meinung nach denn der nächste, notwendige Schritt?«

Ohne zu zögern antwortete Sebastian voller Überzeugung: »Eine weltweite Forschungsallianz, die sich abseits der populären Empfehlungen ganz einer schnellen Lösung verschreibt. Egal, wie abstrus diese auf den ersten Blick auch lauten mag oder welche Mittel sie erfordert. Denn eines muss klar sein. Die Kosten dieser Forschungen können gar nicht so hoch sein wie die wirtschaftlichen Einbußen, die alle Länder erleiden werden, wenn es zur Klimakatastrophe kommt. Und das ist ein Fakt, keine Möglichkeit.«

Merkwürdigerweise schaute Melanie plötzlich zur Seite und Sebastian fiel auf, dass der alte Mann immer noch da saß, mittlerweile mit der x-ten Tasse Kaffee und nun ohne Zeitung. Und dann nickte sie dem Gast auch noch zu, der sich darauf erhob und die paar Schritte zu ihrem Tisch herüberkam.

Altersfurchen in einem gebräunten Endsechziger-Gesicht, schlohweiße Haare, zum Zopf gebunden, was ihm einen verwegenen Ausdruck verlieh, konterkariert von einem nichtssagenden schwarzen Anzug mitsamt weißem Hemd, komplettiert durch einfache schwarze Lederschuhe. Der erste Eindruck war der eines Mannes, der sich im Alter nicht entscheiden konnte, ob er Altersgediegenheit oder den dritten Frühling ausstrahlen wollte. Dann lächelte der Mann und sein strahlend weißes Gebiss lieferte sich einen bizarren Farbwettstreit mit der unnatürlich gebräunten Haut.

»Ja?« Sebastian weigerte sich aufzustehen und schaute den Ankömmling von der Sitzbank aus an. Sein Herz machte einen irrationalen Satz, als der sich auch noch bückte, um Melanie einen Begrüßungskuss auf die Wange zu hauchen. Dann wandte sich der Alte ihm zu.

»Gestatten, Weihhausen. Alfred Weihhausen«, stellte er sich mit einer Bassstimme vor, die einem Soulsänger zur Ehre gereicht hätte. Die Hautfarbe hatte er jedenfalls, wenn auch deutlich künstlicher.

Sebastians Manieren griffen und er stand auf, schüttelte seinem Gegenüber die Hand.

»Sebastian Born.« Dann setzte er hinzu: »Darf ich fragen, warum Sie sich zu unserem Essen gesellen?«

»Sie dürfen, Herr Born, Sie dürfen.« Weihhausen zog sich einen Stuhl vom Nachbartisch herüber und setzte sich mitten in den Gang, an den Kopf des Nischentisches.

»Was würden Sie sagen, wenn ich Ihnen die Möglichkeit verschaffen könnte, all das zu verwirklichen, wovon Sie Frau Griesinger heute Abend so euphorisch berichtet haben?«

Sebastian legte unwillkürlich den Kopf leicht schief, wie er es immer tat, wenn er etwas Unglaubwürdiges präsentiert bekam.

»Natürlich. Sicher.« Die Ironie tropfte förmlich auf den Tisch.

Weihhausen lachte laut auf.

»Na wenigstens sind Sie ehrlich. Und unter uns, ich würde mir auch nicht einfach so glauben.« Dann wurde er schlagartig ernst, seine Augen verengten sich. »Aber lassen Sie mich eines klarstellen. Ich meine das absolut ernst. Todernst.«

Sebastian schluckte und schaute zu Melanie herüber, die sich mit einem undeutbaren Gesichtsausdruck zurückgelehnt hatte und ihm zunickte. Er war am Zug, es war allein sein Spiel.

»Okay, dann erzählen Sie mir mal so viele Details, dass ich Ihnen überhaupt Glauben schenken kann.«

Sein Gegenüber runzelte die Stirn, entschloss sich dann aber doch, zu sprechen. »Also. Als Vorgesetzter von Frau Griesinger spreche ich für ein internationales Forschungskonsortium, das unter der Flagge der UN nach Mitteln und Wegen forscht, die globale Erwärmung aufzuhalten.«

Sebastian konnte nicht anders, er schlug mit der Hand auf den Tisch und sein lautes Lachen übertönte jegliche andere Geräusche im Restaurant.

»Die UN?« Er hielt sich den Bauch vor Lachen. »Dieser Bürokratenverein, der selbst über die Farbe der Büroklammern Einstimmigkeit erzielen muss?«

»Nun, drücken wir es so aus, Herr Born. Es gibt nicht ›die UN‹. Es gibt verschiedene Ländercliquen, die mal mehr, mal weniger gut zusammenarbeiten. Und eine sehr einflussreiche Länderclique hat sich entschieden, Nägel mit Köpfen zu machen.«

Sebastian beugte sich nach vorne. »Und die Finanzierung?«

Es blitzte voller Freude in den Augen des alten Mannes. »Ist gesichert. Glauben Sie mir, die UN hat schwarze Kassen, die ausreichend gefüllt sind, um ein derartiges Projekt durchzuziehen.«

»Über welche Anlagen verfügen Sie?«

»Wir sind gerade dabei, die erste gemeinsame Anlage fertigzustellen. Wir haben uns absichtlich dafür entschieden, eine neue, ganz nach den Wünschen der Forscher aus dem Boden zu stampfen, anstatt auf bestehenden Strukturen aufzusetzen. Wir versammeln nur die Besten und die Engagiertesten.« Er machte eine kurze Pause. »Daher möchten wir auch Sie an Bord haben.«

Sebastian lehnte sich zurück, es arbeitete hinter der Stirn. Das klang zu gut, um wahr zu sein. Wenn man einen Forscher fragte, was bei Forschungsmöglichkeiten sein feuchtester Traum wäre, würde er nicht viel anders klingen. Unbegrenzte Mittel, internationale Experten, neuestes Equipment in einer Anlage, die neu entworfen wurde – perfekt. Zu perfekt.

Er wandte sich Melanie zu.

»Ganz ehrlich? Ich möchte euch glauben. Absolut. Es wäre mir eine Ehre, bei einem solchen Projekt mitmachen zu dürfen. Aber es klingt alles zu gut, zu glatt. Ich kann das nicht wirklich glauben.«

Weihhausen nickte.

»Ihr gutes Recht, Herr Born, Ihr gutes Recht. Aber bei allem Respekt vor Ihrem Sachverstand in Ihrem Fachgebiet – mit Politik und insbesondere den Möglichkeiten der UN kennen Sie sich wohl kaum so gut aus wie ich. Und ich sage Ihnen, das von mir Skizzierte ist nicht nur möglich, es wird gerade Realität.«

Ein paar Sekunden verstrichen, in denen keiner etwas sagte. Das Brodeln einer Espressomaschine im Hintergrund dominierte die Szenerie.

Dann beugte sich Weihhausen vor. »Gut, ich mache Ihnen einen Vorschlag. Begleiten Sie mich zu unserer neuen Forschungsanlage und schauen Sie sich dort unser Projekt live vor Ort an. Wenn Sie dann dazustoßen wollen, würden wir uns ... würde ich mich sehr darüber freuen. Und wenn nicht, müssen Sie mir nur versprechen, diese Unterhaltung hier und alle späteren Informationen geheim zu halten.« Eine gebräunte Hand streckte sich Sebastian entgegen. »Also? Nehmen Sie diesen Deal an?«

 

Sebastian fummelte unwillkürlich an dem großen, schweren Kopfhörer herum, der seine Ohren vor dem Hubschrauberlärm schützen sollte. Unter ihnen zog ein dänisches Waldgebiet dahin und in der Ferne kam eine Kleinstadt in Sicht. Melanie neben ihm drehte sich zu ihm und zeigte durch das Seitenfenster auf die Häuseransammlung.

»Skagen. Nur ein paar tausend Menschen wohnen dort. Aber man hat von hier gute Verkehrsanbindungen, insbesondere per Schiff. Und hier wird wohl keiner eine solche Anlage suchen, daher haben wir uns für diesen Ort entschieden.« Ihre Worte kamen aus den Kopfhörern, ohne wären sie sicherlich schon lange taub.

Sebastian nickte und konzentrierte sich wieder auf die Landschaft. Die UN hatte ihm kaum Zeit zum Packen gegeben, alles musste wahnsinnig schnell gehen. Eine Verschwiegenheitserklärung mit ruinöser Vertragsstrafe hatte er noch im Restaurant unterzeichnen müssen. Dann war er schnell nach Hause gefahren, um Klamotten einzusammeln und jemanden für die ungewisse Zeit zu finden, der mal nach der Wohnung sah. Die Zeit war wie im Flug vergangen. Sebastian atmete durch. Jetzt, diese Momente im Hubschrauber waren das erste Mal in den letzten zwei Tagen, dass er wieder durchatmen konnte. Er schaute hinunter auf die ruhig daliegenden Wälder, die wie ein dunkelgrüner Teppich das Land bedeckten, nur hier und da unterbrochen von Landstraßen. In der Ferne sah man das Meer und die schroffen Felsküsten, die mehr an Cornwall als an Dänemark erinnerten. Ihre Maschine gewann noch etwas an Höhe und Skagen, das gerade unter ihnen vorbeizog, wurde immer kleiner. Hinter der Stadt ließ ihr schweigsamer Pilot den Hubschrauber wieder sinken und sie flogen immer weiter Richtung Meer. Sebastian beugte sich vor und schaute an der Schulter des Piloten vorbei auf die Instrumente. Richtung Nordwest. Er zog seinen PDA heraus, blendete eine Karte des Gebiets ein und schaute, was ungefähr ihr Ziel sein konnte. Ein gespielt empörtes »tsts« aus seinem Kopfhörer unterbrach seine Gedanken. Melanie konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen.

»Mr. Holmes, wenn Sie gestatten.« Mit diesen Worten nahm sie seinen digitalen Assistenten und kringelte etwas auf der Karte ein, bevor sie ihm das Gerät zurückgab. Ein roter Punkt war auf der Karte erschienen. Lag das nicht im Meer? Er zoomte heran und die Satellitenbilder flogen auf dem kleinen Display näher. Nein, es war eine Felsenspitze, direkt an der Küste.

Melanie tippte ihm auf die Schulter und zeigte nach vorne.

Sebastian steckte das Gerät weg und errötete leicht. Er war in die Analyse der Situation vertieft gewesen, dabei hätte es schon gereicht, aus dem Fenster zu schauen. Vor ihnen kam das Meer immer näher, die Wälder waren Dünen und freien Grasflächen gewichen. Und da vorne lag die Felsenspitze. Ganz in natura, nicht nur auf dem Display. Die Felsenküste sah hier aus, als ob sie ein Stück in das Meer hineingewachsen wäre, nur um sich mit einem Hügel wie ein thronender König vor das Land zu setzen. Der Hügel stach deutlich aus der Szenerie heraus, aber jetzt, wo der Pilot die Maschine tiefer fliegen ließ, kamen mehr Details in Sicht. Absperrungen, Zäune, Wachen, ein großer Parkplatz direkt vor dem Hügel, zu dem eine Auffahrt von der Küste aus hinauf führte.

»Bitte einen kleinen Rundflug«, funkte Melanie dem Piloten, der bestätigend den Daumen emporreckte.

Die Maschine kippte nach links weg und Sebastians Magen machte einen Satz. Die Felsen kamen immer näher und seine Hand verkrampfte sich im Sitzpolster, dann schoss der Hubschrauber über die Küste hinweg und es ging bestimmt zwanzig, wenn nicht dreißig Meter dahinter abwärts, bevor der Strand anfing. Der Felsenabbruch sah wirklich eindrucksvoll aus. Der Pilot zog den Hubschrauber tiefer bis sie nur noch gut zehn Meter über der Wasseroberfläche waren, dann flog er die große Felsnase entlang, hinaus aufs Meer. Dann wendete er und was Sebastian nun sah, verschlug ihm die Sprache. Betonröhren, die vom Meer aus in die Felsnase hineinführten, auf der sich der Hügel erhob.

Er zeigte nach vorne und wollte gerade etwas sagen, da kam Melanie ihm zuvor.

»Ein ehemaliger Nazi-U-Boot-Bunker, der im Krieg begonnen, aber nie fertiggestellt wurde. Ideal für unsere Zwecke. Wir haben ihn in den letzten Monaten von Grund auf ausgebaut.«

Ein U-Boot-Bunker? Sebastians Magen grummelte. Klang reichlich martialisch für eine UN-Forschungsmission.

Aber schon wieder kam Melanie ihm zuvor und legte ihre Hand beruhigend auf seinen Oberschenkel, was ihm einen wohligen Schauer über den Rücken laufen ließ.

»Keine Sorge. Schau es dir von innen an.« Sie lachte. »Keine Hakenkreuze, kein Indiana Jones, keine magische Truhe.«

Das Lachen vertrieb sein Unwohlsein wenigstens halbwegs. Jedenfalls so lange, bis der Pilot den Hubschrauber steil in die Höhe über die Felsnase samt Hügel hinwegzog, und die Maschine dann schnell wie ein Expressaufzug in die Tiefe sacken ließ, direkt auf einen betonierten Landeplatz zu, der neben dem Parkplatz hinter den Einzäunungen lag. Als er im dritten Versuch den Gurt immer noch nicht aufbekam, kam ihm schließlich Melanie lächelnd zur Hilfe.

»Dein erster Flug?«

»Jedenfalls mit so einem Piloten ... und dieser Aussicht.«

Melanie lachte erneut und knuffte ihn in die Seite.

»Keine Sorge, wird schon schiefgehen.«

Genau das befürchtete er.

 

Sie schlenderten Seite an Seite durch den riesigen Komplex und Sebastian kam aus dem Staunen gar nicht mehr heraus. Eine solche Anlage! Solche Möglichkeiten! Sein Gepäck hatte ihm irgendein Assistent noch am Eingang abgenommen – nach einem obligatorischen Sicherheitscheck bei einem grimmigen Sicherheitsoffizier – und dann waren die schweren Stahltüren hinter ihnen ins Schloss gefallen und sie hatten in einem Betonflur gestanden. Grau wohin man sah, die alten Wände waren überhaupt nicht mehr zu sehen, überall neue Einheitsfarbe auf altem Untergrund. Ein paar Pfeile an den Wänden zeigten zu den wichtigsten Einrichtungen, kalte Neonröhren erhellten diese Minen von Moria.

Melanie zog an seinem Ärmel und er schaute vom Aufbauplan der Basis an der Wand hoch, der seine Aufmerksamkeit gefangen gehalten hatte. Wenn der Maßstab nur halbwegs passte, konnten hier hunderte Menschen völlig isoliert leben und forschen und hätten immer noch genug Platz für einen Fußballplatz gehabt. Er atmete zischend aus und bei seinem Gesichtsausdruck musste Melanie lachen.

»Ja, so habe ich beim ersten Mal auch reagiert. Vor allem, wenn man bedenkt, unter welchen Bedingungen wir alle sonst so arbeiten müssen, oder? Die Wohnbereiche sind noch im Ausbau. Bis da alle wohnen können, dauert es noch eine Weile, der Rest der Anlage ist schon einen Schritt weiter.«

Sie hakte sich wieder bei ihm ein und es ging dutzende Gänge entlang. Etwas trostlos und ohne Plan war der Komplex ein einziges Labyrinth. Aber trotz seiner emotionslosen Kälte war er wegen seiner planerischen Durchdrungenheit eindrucksvoll.

Eine Gruppe in weißen Kitteln kam ihnen entgegen. Eine Asiatin diskutierte energisch auf Englisch über irgendeinen »Wirkungsfaktor der neuen Versuchsreihe« mit einem offensichtlich indischen oder pakistanischen Mann und ein hellhäutiger, älterer Mann hörte aufmerksam zu.

Sebastian nickte. Weihhausen hatte mit seiner Ankündigung »die besten Forscher, gleich welcher Herkunft« Recht gehabt.

Dann standen sie vor einer weiteren, massiven Stahltür und Melanie wedelte mit ihrem Sicherheitspass vor einem Scanner an der Seite. Ohne einen Ton zogen sich die Schotts in die Wand zurück und nun klappte Sebastians Kiefer endgültig nach unten. Eine riesige Halle kam zum Vorschein und ohne auf seine Begleiterin zu warten, ging er ein paar Schritte hinein. Die Decke erhob sich zig Meter über ihnen. Wie hoch war das? Zwanzig Meter? Mehr? Im Schätzen war er noch nie sonderlich gut gewesen. Eine Metallbalustrade zog sich auf halber Höhe über die Szenerie und formte mitsamt einigen Plattformen eine Metalllandschaft in luftiger Höhe, die jedem Science-Fiction-Film zur Ehre gereicht hätte. Aber der Bodenlevel war nicht weniger eindrucksvoll. Überall standen Kisten und Fässer wohlgeordnet in Arealen aufgeteilt, frischer Beton hob sich hellgrau von seinem älteren Pendant dort ab, wo früher wohl ein tiefes Becken gewesen war.

Melanie hatte zu ihm aufgeschlossen.

»Ein aufgegossenes Einlauf- und Wartungsbecken für U-Boote. Wir sind hier im Kern der Anlage angekommen, dem Herzstück. Wir sind leider noch nicht ganz fertig, daher stehen noch überall die Kisten herum, das dritte Labor wird erst in Kürze aufgebaut.«

»Das dritte?«

Sie nickte und zeigte nach links. Dort erhob sich eine Stahl- und Glaskonstruktion bis zur Decke empor und bildete dutzende Laborwürfel, die wie in einem großen Vier-gewinnt-Gitter angeordnet waren. Auf der riesigen Glasfront spiegelten sich die Deckenstrahler. Dahinter wuselten dutzende Wissenschaftler in den obligatorischen weißen Kitteln umher, wurden von kleinen Plattformaufzügen zwischen den Laborebenen transportiert oder forschten an diversen Anlagen in ihren Glas-Würfeln.

»Ein weiteres Labor, wenn auch etwas kleiner, befindet sich im Abschnitt Gamma.« Sie zeigte zum Schott zurück, aus dem sie gekommen waren. »Alpha«, zeigte auf den Hauptraum, »Beta«, und nickte nach vorne, zu einem weiteren Schott auf der gegenüberliegenden Seite. »Gamma, bisher halb fertig, und der noch nicht ausgebaute Bereich Theta«.

Sie legte ihre Hand auf seine Schulter.

»Dann stell ich dich jetzt mal ein paar Leuten vor und danach zeig ich dir dein Appartement.«

 

*

 

»Multichem, der Großkonzern? Meinst du nicht, damit gehst du zu weit? Größenwahnsinnig geworden?«, ereiferte sich Regina und ließ sich zurück auf das Sofa in seiner Wohnung fallen.

Er schaute sie belustigt an, ging zum Kühlschrank und holte sich ein Bier.

»Willst du auch eins?«, sagte er und hielt ihr eine kalte Flasche entgegen. »Wenig weihnachtlich, aber kühler als draußen in jedem Fall.«

»Nein, danke. Ich will vielmehr eine Antwort! Warum Multichem, warum willst du dich jetzt mit den großen Fischen anlegen?«

Er öffnete die Flasche, nahm einen tiefen Schluck und setzte sich in den Sessel ihr gegenüber.

»Weil die kleinen allein auf Dauer nicht ausreichen. Wenn wir wirklich etwas ändern wollen, reicht es nicht nur, lokalen Umweltverpestern ans Bein zu pinkeln. Nein, dann müssen wir den Großen eine Lektion erteilen, dass wir alle auf derselben Erde leben.«

Wie er sich aufregte. Er sah dabei so herrlich süß aus, wie sich seine Wangen auf den gemeißelten Zügen röteten.

»Wieder mal einbrechen? Anlagen sabotieren, so wie vorgestern? Oder die Aktenschränke voll Wasser laufen lassen und Grassamen drauf geben so wie gestern? Oder sind diesmal deine Freunde dran, die den Fuhrpark auseinandernehmen, wie du mal erzählt hast? Die haben Security und sind nicht völlig verblödet. Dafür landest du im Knast!« Sie krallte sich ein Kissen, stopfte es sich vor den Bauch, knüllte es zusammen.

Einen kurzen Moment sah es so aus, als ob er explodieren würde. Dann atmete Ben tief durch, leerte die Flasche auf einen Zug und warf ihr den Mantel zu.

Sie schaute ihn fragend an.

»Komm, lass uns eine Runde gehen.«

Sie traten vor die Tür, hakten sich ein und schlenderten die Straße hinunter. Der Verkehr rollte neben ihnen, »malerisch« oder »ruhig« wohnte Ben mit seiner Wohnung in Hauptverkehrslage nahe Innenstadt nun wirklich nicht. »Aber dafür zentral« hatte er ihr geantwortet, als sie auf die Abgasbelastung hingewiesen hatte. Ein Küsschen und das Thema war erledigt gewesen, man musste nicht alles ausdiskutieren. Sie gingen schweigend die Straße hinunter. Einige Fußgänger hasteten, erledigten die letzten Weihnachtseinkäufe wenige Tage vor dem Fest. Sie hingegen schlenderten. Ließen den Kopf zur Ruhe kommen, genossen das Beisammensein. Selbst wenn bei dieser Wärme kein echtes Weihnachtsgefühl aufkommen wollte.

Nachdem sie ein Weilchen gegangen waren, hockten sie sich auf eine Bank in der Innenstadt, sahen dem Treiben zu und Ben besorgte bei einer bekannten »Kaffeerösterei mit angeschlossenem Shop« zwei Kaffee und belgische Waffeln.

Kaum waren die letzten Krümel verspeist, drehte er sich zu ihr, strich ihr über die Haare.

»Es muss einfach sein, Reggi. Meine Freunde und ich, wir wollen einfach mal einen der Großen erledigen, ihm so richtig seine dreckige Tour vermasseln.«

Regina seufzte.

»Und? Was habt ihr vor?«

Ben zuckte mit den Achseln.

»Keine Ahnung. Ich treffe mich morgen mit den Jungs. Bis dahin soll ich mir was überlegt haben.« Er nahm einen weiteren Schluck Kaffee. »Warum eigentlich immer ich?«

Sie küsste ihn auf die Wange. »Weil sie dir vertrauen. Weil alle dir vertrauen, wenn sie dich kennen. Du bist einfach die geborene Führernatur.«

Er lachte laut auf, was ihnen einige merkwürdige Blicke von Passanten einbrachte, was Ben nur nochmal lachen ließ.

»Na, vielen Dank auch.« Dann wurde er wieder ernster. »Ich will eigentlich keinen direkten Einbruch riskieren. Aber Multichem hat es einfach verdient. Unterzeichnen erst mit großem Brimborium die Konzernerklärungen von Rom und machen dann immer noch keinen Deut mehr gegen ihren Schadstoffausstoß.

Regina sah den Fußgängern zu und einem Fahrer eines Lieferwagens, der verzweifelt versuchte, viel zu schwere Paletten von Zeitungen und Zeitschriften allein abzuladen. Presse. Medien. Sie drehte sich zu ihm.

»Ist nicht dieser komische Herr Müller deren Vorstandsvorsitzender? Der sich so gerne in der Zeitung sieht?«

»Ja, wieso?«

Sie grinste ihn an. »Oh, ich glaube, ich habe da eine Idee.«

 

»Und du meinst, das funktioniert?« Er schaute ihr über die Schulter, wie sie den Laptop malträtierte. Bobo raste zwischen ihren Füßen umher, sprang Ben wild an und verlangte Aufmerksamkeit. Davon hatte sie ihm in der letzten Woche leider viel zu wenig zukommen lassen und nicht mehr als das Notwendigste getan. Ben war über sie und ihr wohlgeordnetes, langweiliges Leben gekommen wie ein Orkan. Gott, wie schmalzig. Aber wahr.

Sie scheuchte ihn in die Küche und ließ Ben das Abendessen für Bobo zusammenstellen.

»Mach du dich da nützlich, ich löse jetzt dein Problem.«

Klappernd wurden nacheinander die Schränke durchstöbert, während Regina im Wohnzimmer weiter hackte.

»Unter der Spüle«, rief sie hinüber und vertiefte sich dann wieder in ihre »Arbeit«. Eigentlich war es mehr Spaß als das.

Ein paar Minuten später hörte man einen schmatzenden Hund und Ben hockte sich neben sie auf das Sofa.

»Du hast meine Frage vorhin gar nicht beantwortet. Warum sollte dein Plan klappen?«

Sie stupste ihn auf die Nase.

»Weil Multichem geizig ist.« Sie drehte den Laptop zu ihm, die Homepage des Chemieriesens war eingeblendet. »Siehst du dieses Logo hier unten am Seitenende? Open Page.«

»Und?«

»Open-Source-Software. Wahrscheinlich von ihrer IT-Abteilung abgewandelt, aber den Kern haben sie von diesem Open-Source-Toolkit übernommen, das zur Homepage-Erstellung samt CMS und so gedacht ist. Und sie waren so nett, den fest eingebauten Link auf die Openpage-Webseite drin zu lassen.« Sie schmunzelte.

»Aha.« Er zuckte mit den Achseln. »Verstehe kein Wort.«

»Nicht ganz deine Baustelle, ich weiß, mein Schatz.«

Sie klickte auf ein anderes Browserfenster.

»Rübezahls Freunde?«, las er vor.

»Ja, ich weiß, bescheuerter Name. Irgendein Insider-Gag von vor meiner Zeit. Ist ein sehr aktives Hackerforum. Wenn du schon immer wissen wolltest, warum deine Lieblingssoftware in immer kürzeren Abständen einen Sicherheitspatch braucht, hier ist die Antwort.« Sie klickte sich durch das Forum und lachte dann triumphierend auf. »Und hier ist genau das, was ich gesucht habe. Es ist eine weitere Sicherheitslücke in Openpage aufgetaucht. Und das Update, um diese zu schließen, kommt erst nächste Woche raus, wie meine Hackerfreunde hier zu berichten wissen.« Ein paar Klicks später hatte sie sich alle Infos gezogen und surfte zur Homepage der Open-Source-Software.

»Und was willst du nun beim Hersteller von Openpage?«

»Hersteller ist hier nicht ganz richtig, mein furchtloser Adonis. Open-Source wird grundsätzlich von allen mit programmiert, die daran Spaß haben. Jeder kann mitmachen. Und damit das möglich ist, muss der Quellcode der Software natürlich auch frei einsehbar sein.« Sie führte ihre Maus auf einen Downloadlink. »Probier das mal bei Microsoft.«

»Und damit hast du nun...?«, fing er an.

»Und damit habe ich nun sowohl den Code der Software als auch eine Lücke, wie man sich in eine von ihr erzeugte Homepage hinein hackt«, schloss sie den Satz ab.

Sie ging in die Küche, nahm sich einen Prosecco aus dem Kühlschrank und ließ das Fläschchen sanft, aber eiskalt auf seinem Nacken nieder, was zu einem protestierenden Aufschrei führte. Sie umklammerte ihn von hinten und er warf sie auf das Sofa und sie küssten sich mit der Intensität frisch Verliebter.

»Und was will meine Cyberschurkin nun mit all diesen Angaben machen?«, fragte er und schaute ihr tief in die Augen.

»Jetzt, mein Lieblings-Einbrecher, sorgen wir dafür, dass Versprechen auch eingehalten werden.

 

»Es ist in den Nachrichten«, rief Ben begeistert aus dem Wohnzimmer und Regina beeilte sich, aus dem Bad zu kommen.

»Meine Freunde haben grad schon angerufen und gratuliert. Aber sie wüssten gern, wie wir das im Alleingang geschafft haben.«

Regina eilte zu ihm. Auf einem Nachrichtensender liefen die stündlichen Zusammenfassungen des Tagesgeschehens.

»Multichem verkündet als erstes Unternehmen Deutschlands, konkrete Bauaufträge zur Umrüstung ihrer Chemieanlagen erteilt zu haben, um das Rom-Abkommen einzuhalten. Mit diesem Schritt überraschte der Branchenführer selbst Eingeweihte, aber die zuerst im Internet veröffentlichte Pressemitteilung des Unternehmens lässt keinen Zweifel zu. Die Kosten werden von Experten auf mehrere hundert Millionen Euro geschätzt, dem allerdings Einsparungen durch umweltfreundlichere Fertigungen samt weniger Ausschuss und natürlich auch ein Imagegewinn beim Endkunden entgegenstehen. Selbige Experten gehen davon aus, dass die Konkurrenz nun bald folgen wird. Noch vor kurzem galt das Konzernabkommen von Rom als Totgeburt, als Lippenbekenntnis, dem in der Realität keiner folgen würde. Mit diesem Schritt hat Multichem nun aber Ernst gemacht und sich als Pionier der Umwelt gezeigt.« Die Sprecherin leitete auf ihren Kollegen der Sportabteilung über. Der Prinz war zurück bei den Bayern, nach seiner Bankdrückerzeit in Köln.

»Jetzt kriegen die dafür sogar noch gute Publicity«, spöttelte Ben und knuffte sie in die Seite.

Regina lachte mit gespielter Empörung auf. »Hey, mach's doch besser.«

Dann küsste sie ihn.

»Kann uns doch völlig egal sein. Eine solche Ankündigung können die niemals wieder zurücknehmen, das wäre ein PR-Gau ohnegleichen. Und wenn sie dank uns jetzt ein paar Lorbeeren dafür bekommen, sollen sie doch. Der Umwelt hilft es!«

 

Regen prasselte auf das Vordach des Cafés und ging als kleiner Wasserfall über die überlaufende Regenrinne hinunter. Es gab schönere Ausblicke, wenn man aus einem Café auf eine Innenstadt blickte, aber keinen in Bens Gruppe schien es im Moment zu stören. Sie waren siegestrunken, wie sie in ihrer Runde saßen, tranken und lachten. Regina kuschelte sich an Bens Seite und ließ die ewigen Heldengeschichten mehr über sich ergehen, als dass sie sie genießen konnte. Sie hatte sie in den letzten Wochen zu oft gehört. Weihnachten war wie im Flug vorbei gegangen und auch die Silvesterfeier kam ihr im Nachhinein fast unwirklich vor. Sie hatten wahrlich auf den Um-Welt-Frieden angestoßen, was für ein Nonsens. Aber es war Bens Idee gewesen und damit natürlich in Ordnung. Er und seine Kumpane, eine merkwürdige Truppe, die nun erneut beieinander saß, wenige Tage nachdem das neue Jahr gemeinsam begangen worden war. Schar, der dicke Deutsch-Türke, kaute wie üblich möglichst laut Kaugummi. Kevin bemühte sich nach Kräften, sich keinen achten Kaffee innerhalb einer Stunde zu bestellen. Dem Zittern seines spindeldürren Körpers, um den die Kleidung geradezu schlotterte, nach zu urteilen, verlor er diesen Kampf. Und ihr direkt gegenüber saß das letzte Mitglied von Bens Weltenretter-Truppe: Mike, der »echteste« Öko der Truppe, samt Biolatschen, grobem Leinenpulli über dem Durchschnittskörper und ständig schlauen Sprüchen über Mutter Natur. Kein Wunder, als Langzeit-SoWi-Student hatte er ja genug Zeit, sich diese auszudenken. 

Wie passte sie überhaupt in diese Runde? Sie wusste es immer noch nicht so recht, aber es war nur wichtig, bei Ben zu sein. Nach der Multichem-Geschichte hatte sie in seinen Augen deutlich an Respekt gewonnen, war zu seinem kongenialen Partner geworden. Obwohl ihre Beziehung gerade mal wenige Wochen dauerte, waren sie ihrer Meinung nach schon auf einer höheren Stufe als der reinen Verliebtheit, es war eine echte Partnerschaft geworden.

Kevin winkte mit seinen dünnen Ärmchen nach der Bedienung, er hatte gegen den Koffein-Höllenhund in seinem Inneren verloren. Die Runde schloss sich unter Spottrufen gegenüber ihrem Junkielein der Bestellrunde an und wenige Minuten später ließen sich alle Kaffee und Kuchen schmecken. 

Nur wenige Menschen hasteten im Regen an dem Café vorbei, die Aussicht war überschaubar, umso lauter war es zur Nachmittagszeit im Café selbst. Dadurch erklärte sich die Lautstärke, die Mike mal wieder an den Tag legte.

»Das letzte Jahr war echt erfolgreich! Genauso müssen wir weitermachen. Noch so ein paar Dinger wie mit Multichem und wir können echt was bewegen!«

»Richtig«, pflichtete ihm Ischar bei und schob sich ein weiteres Stück Schwarzwälder Kirsch in den Mund. Auch beleibte Menschen mussten bei Kräften bleiben. »Womit wollen wir denn weitermachen?«

Ben grinste in die Runde und hob wie triumphierend Reggis Hand in die Höhe, der daraufhin das Blut in die Wangen schoss.

»Ihr wollt heiraten?«, mutmaßte Kevin.

»Quatsch, du alte Torfnase. Zuviel Holland-Spezial geraucht? Nein, Reggi hat mich auf eine klasse Idee gebracht. Wir machen einen kombinierten Hack-Bruch. Wir gehen bei einem Verschmutzer rein, verwüsten die Büros, um zu zeigen, dass wir auch Manpower haben und Reggi legt deren Webseite lahm. Dann machen wir ihnen ein Angebot, das sie nicht ablehnen können: Mit der Verschmutzung aufhören oder sie können ihre Seite jede Woche neu programmieren.«

»Und an wen hattest du gedacht?« Ischar stürzte den Rest seines Kaffees hinunter.

Ben beugte sich verschwörerisch vor. »NexGen.«

Kevin guckte ihn ungläubig an, kramte in seiner Tasche und holte seine Handheld-Spielekonsole hervor, auf der groß das NexGen-Logo prangte.

»Den Hersteller der ersten deutschen Mobilspielkonsole?«

»Genau den.« Ben zog das letzte Club-Magazin von Greenpeace aus der Tasche und legte es auf den Tisch. »Unsere Müsli-Freunde haben hier mal genau untersucht, wieviel Dreck bei der Herstellung einer NexGen 3000 erzeugt wird. Und was noch wichtiger ist. Wieviel davon durch kleinere Umrüstungen im Fertigungsprozess eingespart werden könnte.

Regina schüttelte den Kopf. Ihr wurde flau im Magen.

»Hey, Jungs, macht keinen Scheiß. Das wäre ein derart heftiger Hack ... bin mir kaum sicher, dass ich das überhaupt hinbekomme.«

Ben drückte ihr einen Kuss auf die Stirn.

»Muss ja auch nicht sofort sein. Du guckst dir die Seite die Tage mal an und sagst uns, wie lange du zur Vorbereitung brauchen würdest. Wir müssen den Bruch ja auch erst noch vorbereiten, in so eine Fertigungsanlage spazieren wir ja auch nicht über Nacht einfach mal so rein.«

»Trotzdem bin ich mir nicht sicher, dass das was wird.« In den letzten Wochen hatte sie an einigen Aktionen von Bens Aktivistenzelle teilgenommen, aber das hier war rein hackingtechnisch auf jeden Fall die größte Nummer. Wie stellten sich die Jungs das vor?

»Männer, hört mal zu. Ich weiß, ihr habt von meiner Art der PC-Magie keine große Ahnung, aber das hier wäre eine Art Meisterstück. Für einen Vollprofi, der das hauptberuflich macht.«

Mike zwinkerte ihr zu. »Du hast in der letzten Zeit derart viel möglich gemacht, woran wir früher gescheitert wären, du schaffst das. Hör auf Ben. Wenn er sagt: Guck erst mal und bereite vor, dann mach das. Er kennt dich besser als wir alle. Wenn er meint, du schaffst das, vertrauen wir ihm.«

Ben deutete eine Verneigung zu seinem Freund an.

»Zuviel der Ehre, du alter Dauerstudent. Dennoch danke.«

Ischar legte einen Zehner auf den Tisch.

»So, Leute, ich muss. Hab gleich noch 'ne Verabredung.«

Ben lachte. »Mit einer Tiefkühlpizza?«

Der Angesprochene drehte sich um.

»Wenn du wüsstest...«. Der Dicke grüßte nochmal in die Runde und ging.

Irgendwie sah er etwas zittrig aus, befand Regina. Sie würde ihm morgen beim nächsten Treffen seine Lieblingskekse mitbringen, damit war Ischar immer wieder auf die Beine zu kriegen. Selbst die Bisse des Wachhundes letzte Woche hatte sie damit »kuriert«.

 

»Ok, da Ischar weg musste, würde ich sagen, wir lassen das Thema dann für heute auch gut sein. Alles Wichtige ist ja auch erst mal geklärt.« Ben legte bei diesen Worten den Arm um Regina, die sich an ihn kuschelte.

Mike lächelte. »Manchmal seid ihr so schmalzig, es ist kaum auszuhalten.« Er hob seine Cappuccino-Tasse. »Aber ich gönne es euch.«

Regina grinste zurück.

Die Runde leerte langsam Getränke und Teller, schwatzte noch ein bisschen über Gott und die Welt und wandte sich dann zum Gehen.

Mike trat als Erster ins Freie, klappte den Kragen seines groben Wollmantels hoch und verharrte unter dem Vordach. Ben folgte, Regina im Arm. Kevin kam natürlich als letztes, mit derart zittrigen Händen war es auch schwer, einen Reißverschluss zu schließen. Der Regen prasselte nur so herab, die Innenstadt war so gut wie leer. Nur wenige Passanten waren unterwegs und wenn, dann wie Schildkröten verborgen unter tief gehaltenen Schirmen. Die Gruppe ging gemeinsam noch ein paar Meter, eilte von Vordach zu Vordach. Plötzlich blieb Ben stehen, mitten in der Fußgängerzone, ohne ersichtlichen Grund. Alle stoppten.

»Was?«, entfuhr es Mike.

»Bullen«, kam es aus Bens Mund, der zu einer Fünf-Mann-Gruppe hinüber nickte, die betont unauffällig ein paar Meter entfernt ein Schaufenster betrachtete. Wie praktisch, dass die Scheibe genau so spiegelte, dass sie sie dabei im Blick hatten. Hitze wallte in Regina empor, ihr wurde speiübel.

»Trennung«, sagte Ben lediglich, die anderen nickten, als ob es das Üblichste auf der Welt war, wenn man von Zivilpolizisten verfolgt wurde.

Die Gruppe teilte sich auf. Mike und Kevin gingen alleine, Ben und sie blieben zusammen. Alle in unterschiedliche Richtungen.

Zügigen Schrittes führte Ben sie tiefer in die Fußgängerzone. Regina wollte am liebsten rennen, aber Schatzi hielt sie am Arm und zwang sie, ruhig zu gehen. Immer wieder blieben sie stehen, überprüften nun selbst über Schaufenster, Schminkspiegelchen und Spiegelungen auf Handydisplays, ob sie verfolgt wurden. Dem war leider so. Zwei der Männer in Zivil waren an ihnen drangeblieben, von den anderen keine Spur.

Ben zog sie näher an sich, zeigte betont deutlich auf die Auslage des Kaufhauses, unter dessen großes Vordach sie sich stellten. Regina konnte die Polizisten hinter ihnen förmlich spüren, wie sie auf der anderen Straßenseite Posten bezogen.

»Wo sollen wir hin?« Regina hatte Tränen in den Augen.

»Beruhige dich. Wir schaffen das.« Er nahm sich die Zeit, ihr über das Gesicht zu streicheln. »Wir gehen jetzt zur U-Bahn-Station, und wenn wir unten auf dem Bahnsteig sind, rennen wir zur anderen Seite wieder hoch und hängen sie im Porschecenter ab.«

Das Porschecenter, eine langgezogene städtische Einkaufspassage. Konnte funktionieren.

Sie schlenderten weiter die Straße hinunter und Regina hoffte inständig, dass die Polizisten nicht plötzlich Ernst machten und sie zu einer Hetzjagd zwangen. Regina schluckte und krallte ihre Hände in Bens Ärmel.

Die gut fünfhundert Meter bis zum U-Bahn-Eingang kamen ihr vor wie Kilometer, die Zeit zog sich wie Gummi. Sie spürte den Regen im Gesicht deutlicher als jedes Gefühl zuvor, die ganze Szenerie kam ihr unwirklich vor. Der Laptop in ihrem Rucksack wog Tonnen, jedes Computerverbrechen der letzten Wochen hatte hundert Kilo hinzugefügt.

Da! Die Treppe, die unter die Essener Innenstadt führte, kam in Sicht. Es war die Rückseite der Passage, von hier aus erreichte man zahlreiche Linien. Oder man konnte schnell unten durchlaufen und in der Mitte der verzweigten Passage wieder an die Oberfläche kommen.

Als Ben den ersten Fuß auf die Treppe setzte, zog er an ihrem Ärmel.

»Los!« Sie rannten.

Hinter ihnen ertönte der Ruf »Stehenbleiben«, aber merkwürdigerweise folgten sie diesem Befehl nicht, sondern beschleunigten ihre Schritte. Ein älteres Ehepaar wich ihnen erschrocken auf der Treppe aus, dann waren sie auch schon auf dem Bahnsteig angekommen. Ein langer Schlauch eröffnete sich vor ihnen, an dessen entferntem Ende die rettende Treppe bereits zu sehen war.

Mülleimer, Süßigkeitenautomaten, Sitzbänke, alles flog nur so an ihnen vorbei. Das Herz schlug Regina bis zum Hals, sie spürte nur zu deutlich jedes Kilo zu viel. Ben rannte neben ihr, wäre ohne sie schneller gewesen, aber er hielt sich bemerkbar zurück. Hoffentlich bereute er das später nicht. Ben blickte während des Laufens zurück.

»Nur noch einer hinter uns.«

»Und der andere?«, keuchte Regina.

Ein schnelles Kopfschütteln war die Antwort.

Die Treppe kam immer näher.

»Weg!«, schrie Ben einer Gruppe Kinder zu, die auf der Treppe herumlungerten. Keiner machte Anstalten, sich zu bewegen.

Regina fluchte und umkurvte die Halbstarken, was zu belustigten Rufen führte. Pisser!

Sie hetzten die letzten Stufen hinauf, der Polizist hinter ihnen war etwas zurückgefallen. Sie konnten es schaffen!

Regina rannte vor, am Treppengeländer vorbei nach links, wollte in die Passage hinein. Plötzlich riss sie jemand an ihrem Rucksack zu Boden. Sterne schwirrten vor ihren Augen. Ein Knie auf ihrem Rücken, sie hörte Handschellen klicken. Dann schrie Ben, das Gewicht verschwand plötzlich von ihrem Rücken.

Regina drehte sich auf die Seite und versuchte, sich aufzurappeln, aber die Arme versagten und sie sackte wieder auf den kalten Steinboden der Passage. Aus dem Augenwinkel musste sie mit ansehen, wie zwei Gestalten miteinander rangen. Ben rollte sich plötzlich in den Körper des deutlich größeren Zivilbullen hinein und warf ihn über die Schulter die Treppe hinunter. Laute Schmerzensschreie, mehrfach hässliches Knacken, dann polterten auf einmal zwei Personen die Steinstufen hinab. Der andere Polizist hatte wohl zwischenzeitlich aufgeholt und dämpfte nun den Aufprall seines Kollegen. Schemenhaft sah sie, dass ihr Rucksack mit die Treppe hinuntergeflogen war. Sie musste ihn holen. Stöhnend rappelte sie sich auf, da zog sie Ben in die Höhe.

»Der Rucksack!« Sie deutete die Treppe hinunter.

»Spinnst du? Wir müssen weg!«

Regina wollte noch einen Schritt in Richtung der Stufen machen, aber die unnachgiebige Kraft, mit der sie Ben in die andere Richtung zog, ließ ihr keine Wahl. Mit einer Mischung aus Rennen, Humpeln und Vorwärtsstürzen brachten sie einige hundert Meter Raum zwischen sich und die Passage, liefen eine Treppe hinunter, die sie von der Fußgängerzone hinunter auf das Essener Straßenniveau brachte und schnappten sich das erstbeste Taxi. Der Fahrer wollte angesichts ihres zerzausten Aussehens erst protestieren, aber ein Fünfziger überzeugte ihn, lieber mit Ihnen auf den Rücksitzen Gas zu geben als ohne sie.

 

*

 

»Jetzt entspann dich erstmal! Ihr schafft das schon!« Melanie knuffte Sebastian sanft in die Rippen und er mühte sich ein Lächeln ab. Sie hatte gut reden, war sie ja letztlich »nur« für die Verwaltung der Forschungsprojekte zuständig. »Projektmanagerin«. Nette Bezeichnung für eine Strippenzieherin. Er schaute zu ihr herüber, wie sie sich tiefer in die Decke kuschelte, die sie sich über die Schultern gelegt hatte. Die Meeresbrise umspielte ihr Gesicht. Eine überaus hübsche Strippenzieherin.

Sebastian brach das Brot, das auf der Picknick-Decke lag und reichte ihr ein Stück.

Sie lächelte ihn an. »So ist es richtig. Essen hält Leib und Seele zusammen und lenkt etwas ab.« Melanie deutete nach vorne. »Wenn es die tolle Aussicht nicht schon schafft.«

Sebastian atmete die salzig-kalte Meeresluft tief ein und ließ den Blick schweifen.

»Da hast du recht, wirklich nett hier oben!« Er durfte nur nicht hinunterschauen. Oben auf dem Hügel zu sitzen, war nicht minder abenteuerlich, als es klang. Allein der Aufstieg war aller Ehren wert gewesen. Normalerweise kraxelte keiner auf eben jenem Hügel herum, unter dem der Bunker gelegen war. Wenn er hinter sich schaute, sah er auf den Parkplatz, wo sie der Hubschrauber abgesetzt hatte. War das wirklich schon so viele Tage her?

Sebastian schüttelte den Kopf, vertrieb die mürrischen Gedanken, die sich nach den etlichen Fehlschlägen bei den Forschungsprojekten seiner bemächtigt hatten und tunkte stattdessen ein Stück Baguette in den Frischkäse, schmeckte das würzig-leichte Aroma und seufzte. Ja, so konnte man es sich gut gehen lassen.

Melanie zu seiner Rechten ließ es sich ebenfalls gut gehen und so genossen sie die folgenden Minuten in aller Ruhe ihr Essen, ließen sich vom zwar kalten, aber angenehmen Wind umwehen und schauten auf das Meer hinaus. Möwen zogen ab und an über sie hinweg und in der rückwärtigen Ferne konnte man den erhellten Himmel über Skagen sehen. »Lichtverschmutzung«, wie sie es in der Forschung nannten. Ach, nicht schon wieder diese Gedanken an ihre Forschungen! Warum konnte sein Hirn nicht einfach mal das Maul halten und einfach nur genießen? Missmutig legte er das Brot beiseite.

Melanie schaute ihn an, der Wind hob ihre feuerroten Haare an und ließ sie um ihr zierliches Gesicht tanzen.

»Du kannst immer noch nicht abschalten, oder?«, fragte sie überflüssigerweise, aber Sebastian hätte ihr jede noch so dumme Bemerkung verziehen. Sie hatte ihn längst in ihren Bann gezogen. Ob er sich Hoffnungen machen durfte? Immerhin hatte sie das Picknick vorgeschlagen. Oder wollte sie nur, dass er gut »funktionierte« und seine Arbeit zügiger erledigte, als wenn er im stillen Kämmerlein seinem Frust immer mehr in sich hineinfraß?

»Nein, nicht wirklich.« Er sah das enttäuschte Aufblitzen in ihren Augen und beeilte sich, hinzuzusetzen: »Dennoch war es eine tolle Idee!« Zügig nahm er das Weinglas und hielt es ihr zum Anstoßen hin. Melanie schaute ihn an und das Lächeln kam zurück, ihre Gläser klirrten sachte aneinander.

»Schalt einfach mal ab. Das wird schon noch. Du bist erst seit wenigen Tagen im Team, so wie alle anderen auch. Bis alle vernünftig miteinander arbeiten und es auch Ergebnisse gibt, wird noch einige Zeit ins Land gehen. Das ist hier allen bewusst.«

»Ja, aber das ist es nicht. Jeder Ansatz, gleich welcher, ist bisher bereits im Ansatz zunichte gemacht worden durch Einwände von irgendjemandem im Team. Keine Sorge, alle waren berechtigt, aber hier traut sich keiner, mal quer zu denken, und auch mal einen etwas weniger erfolgsversprechenden Weg zu versuchen.« Er holte tief Luft. »Hat man uns denn nicht dafür hier versammelt? Um auch mal etwas abseits der bereits ausgetretenen Pfade zu forschen? Nur mit der reinen Lehre werden wir nie Ergebnisse erzielen!« Er stürzte den Wein hinunter, der sich warm in seinem Magen sammelte und fing unwillkürlich wieder damit an, an seinen Daumen zu knibbeln, bis die altvertrauten Schmerzen in seinen Geist stachen und er schuldbewusst die Hände faltete. Mit diesen affigen Kindereien hatte er schon lange aufhören wollen, aber sein Unterbewusstsein brachte ihn immer wieder dazu. Der Schmerz hatte ihm immer geholfen, klar zu denken. So dumm es auch war.

»Ihr findet schon einen Weg.« Melanie beugte sich zu ihm herüber, strich durch seine kurzen Haare und tippte ihm unvermittelt auf die Stirn. »Da ist ein so schlauer Geist hinter, ihr beide schafft das schon!«

Ohne nachzudenken, legte er seinen Arm um sie, zog sie zu sich heran. Ihre Lippen trafen sich, der Kuss dauerte nur eine Sekunde, dann löste sie sich von ihm, um ihm mit geröteten Wangen ins Gesicht zu schauen. Sein Herz rutschte abwärts, aber dann lächelte sie. »Ich hatte schon gedacht, du kommst gar nicht mehr aus deinem Schneckenhaus.« Mit diesen Worten beugte sie sich vor und nun war sie es, die den Kuss begann. Die Zeit verlor an Bedeutung, ihre Zungen umspielten einander, Melanies Hände glitten unter seine Decke, sie zog ihn zu sich, dann lag er auch schon halb auf ihr. Er küsste ihren warmen, weichen Hals und spürte sie unter seinen Zärtlichkeiten erschauern. Ihre Hände umfassten sanft seinen Kopf, sie zog ihn wieder zu sich.

»In mein Zimmer. Sofort!«, hauchte sie ihm ins Ohr. Die Picknickdecke blieb zurück, als sie eilig den Abstieg zum Parkplatz begannen. Ein Windstoß erfasste sie, man hörte die Gläser klirren und ein Picknickkorb polterte an ihnen vorbei in die Tiefe und schlug dumpf auf dem Parkplatz auf. Melanie konnte nicht mehr aufhören zu lachen.

 

Sebastian streichelte sanft über Melanies Kopf, der auf seiner Brust ruhte. Ihr Atem ging ruhig, müde und matt. Er hingegen war wach, konnte nicht schlafen, konnte sein Glück kaum fassen. Den Körper dieser Frau zu spüren, die sich an ihn schmiegte. Schlank, gut gebaut und dabei sowohl mit Intellekt wie auch »Charakter« im ureigensten Sinne gesegnet. Das war mehr, als er jemals an Glück erfahren hatte. Er kringelte eine Haarsträhne von ihr auf den Zeigefinger, bis sie wie ein roter Ring die Haut umfasste, dabei atmete Melanie warm auf seine Brust. Der Sex war richtig gut gewesen, kein schnelles Rein-Raus, mehr ein sorgsames Erforschen des Gegenübers, vorsichtig, aber nicht zurückhaltend. Er lachte leise auf. Nein, zurückhaltend war sie überhaupt nicht gewesen. Sie hatte wie selbstverständlich den aktiven Part übernommen und ihn geführt. Sebastian seufzte. Wie lange hatte er schon nach einer solchen Frau gesucht. Er musste sich eingestehen, dass es vielleicht auch die Gedanken an sie gewesen waren, die ihn in den letzten Tagen abgelenkt hatten. Es waren bei weitem nicht nur die Kleinkariertheiten im Team, wie er ihr erzählt hatte, die bisher erfolgreiche Ansätze Mangelware sein ließen. Nein, es war auch ein Mangel an Ideen an sich, da konnte er sich auch nicht wirklich ausnehmen.

Melanie streckte sich unversehens und ihr Arm streichelte über seinen, wie er sich eingestehen musste, etwas zu umfangreichen Bauch. Nicht wirklich dick, aber von schlank auch gut fünf Kilo entfernt. Durchschnitt eben. Umso weniger verstand er, wie ihre Wahl auf ihn gefallen war. Dann schlug seine Herzensdame die Augen auf, räkelte sich, wobei eine Strähne auf ihre süßen Brüste fiel und dort liegen blieb. Sofort setzte das Kribbeln in seinen Lenden wieder ein. Melanie schmunzelte ihn an, als die Decke sich leicht hob.

»Na, du hast aber einen gesunden Appetit.« Dann gab sie ihm einen innigen Kuss. »Aber entschuldige, mir knurrt derart der Magen, dass ich Angst hätte, sonst dich aufzufressen.« Sie quiekte leicht auf, als ihre nackten Füße den eiskalten Betonboden berührten und beeilte sich, im Bad zu verschwinden. Sebastian sah ihr verträumt hinterher, konnte seinen Blick nicht von ihr wenden. Ihr Apfelpo, die festen Brüste, die schlanke Taille, garniert mit ihrem feuerroten, langen Haar, ein zierliches Gesicht umrahmend. Er sank zurück auf das Kissen und absolutes Glück wärmte ihn von innen.

Dann hörte das Rauschen des Wasserhahns auf und Melanie steckte ihren Kopf durch den Türrahmen.

»Kommst du mit, was essen?«

Sein Magen knurrte zustimmend. Und ob er das würde.

 

Melanie nickte dem Küchenhelfer zu, der gerade das 24-Stunden-Buffet wieder auffüllte und setzte sich dann mit einem reichhaltig gefüllten Tablett zu Sebastian an den Tisch in der Messe. Das Essen war erstklassig, die UN wusste, dass zufriedener Geist besser forschte. Umso anachronistischer waren die überaus harten Bänke und Tische, die aus einem alten US-Marine-Film geklaut zu sein schienen. Obwohl, wenn man es anders sah: So blieben die Forscher nicht zu lange sitzen, sondern gingen zügig wieder an die Arbeit. Sebastian konnte ein Schmunzeln nicht unterdrücken. Oder sie gehen miteinander ins Bett. 

Melanie sah seine gehobenen Mundwinkel und schaute ihn fragend an.

»Ach, nichts«, wehrte er ab und stopfte sich, statt eine längere Antwort zu geben, einen Löffel Müsli in den Mund. Eigentlich die völlig falsche Uhrzeit für Müsli, aber die Forscher hatten völlig freie Hand, zu welcher Uhrzeit sie aktiv sein wollten. Daher war das 24-Stunden-Buffet auch genau das: Frühstück, Mittagessen und Abendessen in einem. Man bekam alles, was das Herz begehrte und die Küche sorgte dafür, dass die Auswahl, gleich zu welcher Zeit, reichhaltig war. Daran konnte man sich gewöhnen.

»Und, wann gehst du wieder an die Reagenzgläser?«, wollte Melanie wissen und biss herzhaft in ihren Hamburger.

Sebastian zuckte mit den Achseln.

»Di Matteo, Heiderlein und Izniv wollten so gegen drei wieder anfangen. Werde mich dann wohl dazugesellen.«

Melanie nickte und schaute auf die Uhr an der Wand der Messe. »Ach, gut, dann haben wir ja noch zwei Stündchen. Wobei ...«, sie legte den Kopf leicht schief und Sebastian konnte das mittlerweile als ihre Geste des Nachdenkens einordnen, »eigentlich könnte ich jetzt gleich besser wieder in mein Büro verschwinden. Um diese Zeit erreicht man in New York die Leute am Besten und ich muss noch ein paar Gespräche mit den UN-Eierköppen dort führen.«

Sie stopfte den letzten Bissen ihres Hamburgers in ihren süßen Mund und wischte mit der Serviette darüber. »Und, sehen wir uns nach deiner Schicht?«

Sebastian konnte sich das Grinsen nicht verkneifen. »Glaubst du wirklich, du wirst mich jetzt noch so leicht los?«

Sie schüttelte mit gespieltem Ernst den Kopf. »Aber Herr Born. Glauben Sie wirklich, ich hatte mehr als eine Befriedigung der ureigensten Triebe im Sinn?« Dann stand sie auf, ging zu ihm und küsste ihn sanft. »Es war sehr schön. Ich freue mich darüber. Über uns.«, flüsterte sie ihm ins Ohr und ging zur Tür. Bildete er sich das nur ein, oder wackelte sie etwas mehr mit dem Po, als notwendig. Als sie sich umdrehte und ihm zuzwinkerte, musste er lachen. Sie spielte mit ihm und er stellte sich nur zu gerne zur Verfügung.

Als sie aus der Tür war, vertilgte er ebenfalls sein Müsli, spülte mit etwas O-Saft nach und ging in sein Quartier zurück. Mit etwas Glück konnte er noch fast zwei Stündchen pennen, bevor sich die anderen Forscher aus seiner Gruppe wieder treffen wollten. Die Müdigkeit schwemmte durch seine Glieder. Er hatte diese Nacht nicht wirklich geschlafen. Und bereute keine Minute davon.

 

»Stimmen Sie da zu, Herr Kollege?«

Sebastian schreckte hoch und sah, dass die anderen Leute aus seinem Team erwartungsvoll zu ihm sahen. Blut schoss ihm in die Wangen. Er war gedanklich gerade völlig woanders gewesen. Sanfte Haut, fordernde Berührungen, absolutes Glück für einen Sekundenbruchteil.

Sebastian schüttelte den Kopf. »Entschuldigen Sie bitte, ich habe den letzten Teil nicht mitbekommen.«

Der untersetzte Italiener Di Matteo lachte auf, ging um den Labortisch, der reich gefüllt war mit Reagenzgläsern unterschiedlichsten Inhalts, und schlug Sebastian freundlich auf die Schulter, wobei sein drittes Kinn im Takt mit seinem zweiten wabbelte.

»Keine Sorge, es war nichts Wichtiges. Sie sehen eh sehr müde aus.«

»Nichts Wichtiges?«, ereiferte sich Frau Heiderlein, der ihr weißer Kittel viel zu groß war. Kein Wunder, bei fast bulimischen Körpermaßen war selbst eine Wurstpelle zu weit. Dazu noch die strohig-blonden Haare und das kantige Mittfünfziger-Gesicht und Sebastian konnte nur zu gut verstehen, dass hinter ihrem Rücken diverse Bezeichnungen die Runde machten. Mit der aktuellen, »Hungerhaken«, war sie noch gut bedient. Ihr Mangel an Humor tat ein Übriges. Aber sie war eine brillante Chemikerin, daher hatte er sich diesem Team angeschlossen. Die Führung ließ den Forschern alle Freiheiten, sich zusammenzuschließen oder allein zu forschen, jeder wie er mochte. Es waren einfach zu viele Freigeister unter einem verdammt dicken Dach versammelt, jeder Zwang wäre da kontraproduktiv gewesen. Wenigstens war der ewig kalauernde Izniv, der die meist schweinischen Witze mit seinem russischen Akzent nicht wirklich besser machte, heute nicht mit von der Partie. Sonst hätte sich Sebastian längst die Kugel gegeben.

»Ach, lassen Sie es doch gut sein, meine Beste!«, beschwichtigte Di Matteo und schob sich einen weiteren Schokoriegel in den Mund, nur um ausgerechnet Hungerhaken auch einen anzubieten, die ihn anschaute, als ob er ihr vorgeschlagen hätte, sich augenblicklich auszuziehen und es mit ihm auf dem Boden des gläsernen Labors zu treiben.

Sebastian grinste, versteckte es schnell hinter der Hand und ließ es in ein Gähnen übergehen, als Heiderlein auch ihm einen bösen Blick zuwarf.

»Also, wo waren wir stehengeblieben?« Sebastian ging zum nächsten der reichhaltig im Raum verteilten Terminals hinüber, zog sich einen Hocker heran und rief das Berechnungsprogramm auf, an dem sie gemeinsam arbeiteten. Das Klima war derart kompliziert, dass eine Berechnung verschiedener Einflussfaktoren ohne Computer völlig unmöglich war. Und zudem basierte das Modell auf seinen Entwürfen, was ihn etwas stolz machte.

Der Italiener walzte von hinten heran und trotz der Größe des Labors, dem gläsernen Kasten in der Haupthalle der Anlage, fühlte sich Sebastian beengt.

»Unsere werte Kollegin hier hatte gerade eingeworfen, dass Ihr Modell bisher die Auswirkungen der Meeresströmungen auf das Klima nicht ausreichend berücksichtigen würde.«

Sebastian drehte sich auf dem Hocker um und erschrak fast. Heiderlein war nahezu lautlos direkt hinter ihn getreten und machte nun erschrocken einen kleinen Satz zurück, nur um ausgerechnet ihn danach tadelnd anzuschauen. Er nickte ihr zu. »Da haben Sie Recht. Das ist noch ein Schwachpunkt.« Das Grinsen, dass nun auf Hungerhakens Gesicht erschien, erinnerte mehr an einen Hai als an eine Frau und Sebastian beeilte sich, sich wieder zum Terminal umzudrehen.

»Gut, dann wollen wir mal die zusätzlichen Daten einpflegen«, sagte er mehr zu sich und machte sich an die Arbeit. Das konnte dauern.

 

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