März 2066

 

Fabian »Thunder« Seifer spürte jeden einzelnen Knochen in seinem alten SEK-Körper. Als Ausbilder sollte man nicht auf einem gefrorenen Feld in Wintertarn-Klamotten liegen. Er rückte den Schultergurt seiner Maschinenpistole zurecht und erneut fiel sein Blick auf die danebenliegenden, erbärmlichen zwei Magazine. Die Sache musste schnell und hart abgehen, für längere Spielchen hatten sie keine Munition mehr. Thunder griff sich an den stoppeligen Hals, drückte zweimal auf den Auslöser seines Kehlkopfmikros und nur Sekunden später knackte es mehrmals kurz hintereinander aus seinem Ohrstöpsel. Das Team war in Stellung. Da spürte er das Vibrieren unter sich. Der Konvoi kam. Er bemühte sich ruhig auszuatmen, sah den Atem vor seiner Schutzbrille kondensieren und spürte, wie der zu Beton gefrorene Ackerboden jedes Grad aus seinem Körper herauszuziehen versuchte. Er war schon bequemer in den Kampf gezogen.

Dann kamen die beiden Fahrzeuge aus dem Wald, rumpelten über die schlecht instandgehaltene Straße, die sich aus der Baumlandschaft herausschlängelte und nur wenige Meter an ihrer Position vorbei verlief. Plattes Land soweit man sehen konnte. Als erstes kam der führende Jeep in Sicht, dahinter dann der Bundeswehr-LKW. Beide hatten ordentlich Tempo drauf, die Fahrer hatten die Angst im Nacken. Kein Wunder. Wer wegen einer Reifenpanne den eigentlichen Konvoi ziehen lassen musste und mit nur einem Jeep voll Soldaten als Schutz in diesem Land herumfuhr, machte sich selbst zur willkommenen Zielscheibe der frierenden und hungernden Massen. Selbst hier auf dem Land. Oh yeah! 

Thunder zielte durch das Rotpunkt-Visier seiner Maschinenpistole, visierte die Fahrerhöhe an, die Finger froren trotz der professionellen Thermohandschuhe fast an dem kalten Metall fest. Nicht gegen das Visier atmen, sonst kannst du gleich Eis kratzen! Thunder atmete ruhig ein und aus, der kleine Konvoi kam immer näher. Die Wagen fuhren an sie heran, in ihren Wintertarn-Klamotten waren sie im tiefen Schnee so gut wie unsichtbar, erst recht seine Kollegen drüben hinter dem kleinen Hügel, keine zehn Meter entfernt.

Dann war der Jeep auf seiner Höhe, nur ein paar Schritte trennten sie. Thunder spannte jeden Muskel an, wartete auf die Detonation, aber nichts passierte. Er wollte gerade fluchen, da explodierte der Sprengsatz doch noch, aber zwei Atemzüge zu spät. Anstatt direkt vor dem Jeep ging die Ladung unter der Motorhaube des LKW hoch. Die Explosion erschütterte den Boden und hätte er nicht die Ohrstöpsel drin gehabt, wäre er jetzt für Minuten taub gewesen. Thunder sprang hoch, noch bevor die Schnauze des LKW wieder auf dem Boden schlug. Neben ihm eröffnete Tobi bereits das Feuer und auch von der Gegenseite ertönte das trockene Husten der schallgedämpften Waffen seiner SEK-Kollegen. Schreie, Männer die aus dem Jeep sprangen. Plötzlich schrie Tobi neben ihm auf und fiel zu Boden. Schüsse von links peitschten an ihm vorbei. Soldaten auf der Ladefläche des LKW? Thunder fluchte, ließ sich fallen, zog seine letzte Granate vom Gürtel und warf sie hinter den Transporter. Er hörte noch jemanden »Granate« schreien, dann explodierte der Todbringer auch schon und die Rufe erstarben in blutigem Gurgeln. Seine Männer vom Hügel rückten vor, nahmen die beiden Jeep-Wachen unter Beschuss, die sich hinter ihrem Fahrzeug verschanzt hatten. Thunder sprang über den Graben neben der Straße, rannte vor, ließ sich auf die Knie sinken und gab nacheinander zwei kurze Salven ab. Seine Waffe hustete trocken. Die Wachen gingen in den Rücken getroffen zu Boden, Thunder eilte vor, stellte sich über die beiden Soldaten und schoss ihnen durch die Helme. Er hörte seinen ehemaligen Ausbilder noch »Sorgt immer dafür, dass euch nichts in eurem Rücken überraschen kann« sagen, da lief er auch schon in Richtung des mittlerweile aus dem Motorraum rauchenden LKW, drüben beim Hügel sah er ebenfalls drei Männer in Wintertarnung aufstehen und die paar Meter in Richtung des Transporters gehen. Da flog ein kleines, grünes Ei aus dem Laderaum in deren Richtung. Thunder konnte trotz der Maske das Entsetzen auf Bastis Gesicht sehen. Thunder ließ sich fallen, vergrub den Kopf unter den Armen, dann explodierte die Splittergranate. Metallfragmente schnitten quer über seinen Rücken, er konnte einen Aufschrei gerade noch unterdrücken. Dann sprang er auf, riss die Maschinenpistole hoch und leerte sein ganzes Magazin durch die dunkelgrüne LKW-Plane, bis er die Schreie hörte, auf die er gewartet hatte. Behände lud er nach, rannte hinter den LKW, sprang um die Ecke und schoss im Flug auf Verdacht in den Laderaum hinein, durchlöcherte aber nur die dort liegenden Leichen noch etwas. Mit schmerzenden Rippen rappelte er sich auf. Seine alten Knochen würden ihm diesen Stunt noch Tage vorhalten. Das Adrenalin rauschte so schnell aus seinem Körper wie es gekommen war und hinterließ ein flaues Gefühl in der Magengegend und zitternde Finger. Also wie immer in den letzten fast zwanzig Jahren, die er beim SEK war. »Gewesen war«, berichtigte ihn sein Unterbewusstsein. Thunder kletterte auf die Ladefläche, stieß mit dem Fuß gegen die durchlöcherten Soldaten, hörte nur bei einem noch ein Röcheln, das er mit einem Schuss endgültig beendete. Dann machte er eine schnelle Runde. Der Anblick der von Granatensplittern erfassten SEKler war kein schöner. Sein Herz stach vor Schmerz, als er die zerfetzten Gesichter sah. Gerade um Basti tat es ihm leid. Das Erstaunen war auf dem Gesicht des Jungspunds festgefroren, wenn man diese Ansammlung von Fleischfetzen noch so nennen wollte. Das Küken der Gruppe. Er fühlte sich noch älter, als er ohnehin schon war.

Thunder kniete sich kurz hin. »Wenigstens hast du es hinter dir«, murmelte er und legte seine Hand auf die erkaltende Brust seines kurzzeitigen Weggefährten. Dann stand er auf und ging zu Tobi, der auf dem Feld lag und mit schmerzverzerrtem Gesicht gerade sein Bein abband. Das Weiß des Wintertarn-Anzugs war auf Höhe des Oberschenkels dunklem Rot gewichen und die bleiche Gesichtsfarbe offenbarte ebenso wie der rundherum getränkte Schnee, das der Blutverlust nicht ohne war.

»Morphium?«, fragte Thunder und kniete sich neben den Mann, der ihn unter seiner Hartschalen-Maske gequält anlächelte.

»Nein, geht schon.« Tobi schüttelte den Kopf, dann sank er bewusstlos in den Schnee. Das war ja richtig gut gelaufen.

 

»Fabian?«, sprach ihn Tobi mit der Alternative zu »Thunder« an, seinem Kampfnamen, den er während der Einsätze nutzte. Wenn es ums Töten ging. Was in den letzten Wochen zu oft vorgekommen war.

Fabian schaute zu seinem Kollegen herüber, der auf dem Boden des LKW-Laderaums lag und sich ausruhte.

»Ja?«

»Schon was gefunden?«

»Noch dabei«, beschied Fabian und durchwühlte die Leichen der Bundeswehrsoldaten weiter. Er warf ein Sturmgewehr-Magazin auf den kleinen Haufen, den er zusammengetragen hatte. Ein paar Nahrungskonzentrat-Päckchen, Panzerkekse, Munition, ein Verbandspack. Nichts Nennenswertes. Und der LKW hatte nur noch Schrottwert. Dabei war der Plan so einfach gewesen: Geländegängigen LKW schnappen und ab in den Süden. Wie man so hörte, war die Südpassage nach Afrika noch offen und er konnte sich kaum vorstellen, dass Afrika zufror. Egal was sie im Fernsehen gesagt hatten, bevor die Sender abgestellt worden waren. So schlimm konnte doch selbst keine Eiszeit sein. Oder?

»Bleib hier«, rief er Tobi zu, kletterte von der Ladefläche und stapfte durch den dichten Schnee zum Jeep. Hoffentlich funktionierte wenigstens der noch. Ach ja, die Leichen der beiden Wachen hatte er ja auch noch nicht gefilzt. Hoffentlich noch etwas Munition. Mit gerade mal fünf bisher erbeuteten Magazinen kamen sie nicht allzu weit. Fabian beugte sich über die – nach gerade einmal zwanzig Minuten – fast steif gefrorenen Leichen und durchwühlte sie. Zwei Magazine wanderten in die Jackentasche, gefolgt von einem weiteren Verbandspack. Dann hielt er inne. Eine ausgedruckte, in Folie eingeschlagene Deutschlandkarte mitsamt eingezeichneten Sperrgebieten fiel ihm in die Hände. Ein Lächeln schlich sich kurzzeitig in sein Gesicht. Ein echter Glücksgriff. Laut Aufdruck gerade mal zwei Wochen alt. Damit konnten sie wirklich was anfangen. Afrika kam näher.

Routinemäßig nahm er den beiden Soldaten die Handheld-Computer aus den Brusttaschen, auch wenn jetzt – nach dem Ausfall des landeweiten Kommunikationssystems – die Dinger nicht viel mehr wert waren als ihre Batterien. Oh, das vom ranghöchsten Toten leuchtete. Eingeschaltet? Die Mails waren aufgerufen. Sofort legte sich Schnee auf den Touchscreen. Fabian fluchte und stieg in den Jeep, dessen Scheiben glücklicherweise aus biegsamem Plastik bestanden und daher von der Explosion nicht zerstört worden waren. Gemütliche plus 15 Grad empfingen ihn im Inneren und er begann sofort zu schwitzen. Eine solche Hitze hatte er seit Monaten nicht mehr genießen können. Er legte den Handheld neben sich, startete den Motor und drehte die Heizung auf. Fast voller Tank. Jetzt noch schnell Tobi und die Beute einpacken und dann ab nach Süden, den Computer konnten sie später checken.

 

Der Jeep rutschte auf dem durchgefrorenen Boden weg und Fabian hatte Mühe, ihn unter Kontrolle zu behalten und auf der Straße zu bleiben. Neben ihm entfuhr Tobi ein schmerzerfülltes Stöhnen.

»Sorry, ich muss mich erst an diese BW-Drecks-Karre gewöhnen«, entschuldigte sich Fabian.

Tobi biss die Zähne zusammen und schüttelte nur den Kopf. Die bleiche Gesichtsfarbe passte gut zu den stoppeligen paar Zentimetern blonden Haares, die sich der SEKler hatte wachsen lassen. Bei den Temperaturen war die früher übliche Kopfrasur selbst unter so harten Kerlen aus der Mode gekommen. Spätestens als die Unruhen auch die Städte erfasst hatten, machte sowieso jeder, was er wollte. Das SEK des LKA Hessen war nicht mehr als eine Erinnerung, die die Eiszeit bald unter sich begraben würde. Jeder Glückliche war längst weg, mit einem der Exodus-Schiffe weggekommen. Aber was waren ein paar hunderttausend Deutsche schon gegen die Millionen, die gerade nach Süden flüchteten? Die Hoffnung dort Rettung zu finden, war gering, aber die Chancen immer noch besser, als hier zum Germanen am Stiel zu gefrieren.

»Wie lange brauchen wir?«, stieß Tobi neben ihm aus zusammengebissenen Zähnen hervor.

Fabian zuckte mit den Achseln.

»Wochen? Ich weiß es nicht. Bei dem Wetter? Bis Spanien und dann übers gefrorene Meer nach Afrika? Ich sag mal Wochen, aber wer weiß das schon?«

Dabei fiel sein Blick auf den Handheld-PC, den sein Mitstreiter bei seinem Einstieg in den Fußraum gepfeffert hatte.

»Schau mal nach, ob darin die aktuellen Wetterberichte verzeichnet sind. Auch ohne Komnetz sind die BW-Berichte Längen besser als unsere Schätzungen.«

Tobi nickte, bückte sich, stieß pfeifend die Luft aus als er sich über seine Wunde beugte, schnappte sich den handtellergroßen Computer und ließ sich mit einem Stöhnen zurück in den Sitz sinken.

In den nächsten Minuten, während Fabian den Wagen rumpelnd über einen gefrorenen Waldweg in Richtung Hauptstraße lenkte, war sein Kumpan in die Dateien versunken. Plötzlich hielt er inne, schaute zu Fabian herüber und seine Augen waren weit aufgerissen.

»Exodus-Zugangspässe! Hier drauf sind Exodus-Zugangspässe! Der Konvoi war kein einfacher Nachschub, Fabian! Das waren Lieferungen für die Schiffe!«

Fabian stieg in die Eisen, das Heck brach aus und sie rutschten einige Meter über den Schnee, bevor der Wagen nur Zentimeter vor dem Graben neben dem Waldweg zum Stehen kam.

Mit einer Handbewegung entriss er Tobi den Handheld und schaute sich die aufgerufene Datei an. Dann schrie er auf, so laut, dass es in den Ohren weh tat, bis kein Geräusch mehr aus seiner Kehle kam. Er trommelte auf das Lenkrad und sein Kollege fiel in das Freudengeheul ein.

»Daher waren die so unterwegs wie die Teufel!«, sagte Tobi ungläubig und schaute aus blutunterlaufenen Augen seinen Kollegen an.

Fabian nickte und stierte immer wieder auf die Dateien. Der Zeitplan samt Einsatzbefehl war eindeutig. Es gab ein letztes Schiff, das in Kürze ablegen würde. Sie hatten nur wenige Tage, um durch das zugefrorene Deutschland bis zum Ablegeort zu kommen, ganz im Norden der durch Gevatter Frost zerstörten Republik. Uniformen besorgen und Geschichten erfinden. Ab an Bord. Vielleicht könnte es wirklich so einfach sein.

»Eckernförde«, stieß Tobi aus, »der Marinestützpunkt. Ich dachte, alle Exodusschiffe wären schon weg. Das hat man jedenfalls gehört!«

Fabian nickte. »Ja. Aber wundert dich das? Das waren alles Berichte aus dritter Hand. In der offiziellen Kommunikation gab es solange Lügen, bis alles längst gelaufen war, dann ist sie zusammengebrochen. Die leeren U-Bootstützpunkte an der Küste waren doch Beleg genug, oder nicht?«

Tobi nickte. Die Nachrichten waren eindeutig gewesen. Die letzten Bemühungen der Wissenschaftler, die Eiszeit zu stoppen waren erfolglos gewesen, die Pläne der Bundesregierung, durch ein Bunkersystem in den Bergen die Deutschen überleben zu lassen, wurden von Experten bereits bei Ankündigung zerpflückt als gigantische Tiefkühltruhe, in der niemand länger als ein paar Jahre überleben würde, bis auch die dortige Energieversorgung zusammenbrechen würde. Das war Anfang des Jahres gewesen. Danach war alles ganz schnell gegangen. Man hörte von ablegenden U-Booten von allen bekannten und einigen unbekannten U-Bootstützpunkten an der Nordsee. Plötzlich brach jegliche offizielle Kommunikation ab und alle Komnetze zusammen, die Regierung war ebenso wie einige hunderttausend Bürger nie mehr gesehen worden und danach war das Land sich selbst überlassen geblieben. Allein die Temperaturen verhinderten, dass die folgenden Unruhen das Land völlig entvölkerten. Es war schlicht zu kalt, und gefrorener Bauch kämpfte nicht gern. Hier und da überschritten französische und polnische Truppen die Grenzen um ein paar Rohstofflager einzunehmen, aber sonst war die Lage recht ruhig. Dann setzte die Fluchtwelle ein. Jeder, der konnte, machte sich auf gen Süden. Und jetzt dieser Befehl. »Nachschub sofort nach Stützpunkt E3 bringen. Funktionen [Wachen] an Bord einnehmen. Priorität A. Exodus-XXII verlässt E3 am 28. März 2066.«

Fabian legte den Handheld wieder in die wartenden Hände seines Mitstreiters.

Tobi las sich den Text mehrmals durch und griff zu der Karte, die auf der Frontlüftung im heißen Luftstrom tanzte. E3. Definitiv Eckernförde.

»Das sind nur 13 Tage für mehrere hundert Kilometer«, fluchte er, nachdem er einigen Minuten herumgerechnet hatte.

Fabian strich sich über das stoppelige Gesicht.

»Machbar. Hart, aber machbar.« Er warf einen Blick auf die Armaturen. »Wenn wir nicht als Tiefkühlkost ankommen wollen, wird allein die Heizung schon einen guten Teil des Benzins auffressen, bis wir auch nur die Hälfte der Strecke geschafft haben.«

Tobi nickte. »Also sollten wir die Route so planen, dass wir an Benzin kommen.«

»Aber das will quasi jeder der Südflüchtlinge ebenso.«

Tobi lachte hart. »Aber wenigstens werden die Straßen frei sein. Wir sind die einzigen Vollidioten, die jetzt noch nach Norden fahren.«

Fabian stimmte in das Lachen ein, fuhr vorsichtig rückwärts und wendete. Der Kurs lag an. Sein Kumpan schaute rüber.

»Die werden merken, dass wir nicht die angekündigten Soldaten sind.«

Fabian zuckte mit den Achseln und zeigte mit dem Daumen auf die Rückbank, wo ihre Waffen lagen.

»Möglich. Aber wir haben einen universellen Freifahrtschein, wenn sie uns die Pässe nicht abkaufen.«

Er war noch nie in seinem Leben so entschlossen gewesen, wie jetzt. Sie würden dieses U-Boot nehmen. Oder bei dem Versuch zugrunde gehen.

 

*

 

»Hier ist bestimmt nichts mehr!«, nuschelte Boomer unter seinem über den Mund gezogenen Schal und kickte unmotiviert eine im Schnee liegende Coladose durch das Foyer des verlassenen Polizeireviers. Bereits die erste Schneewehe, die sich aufgrund der zerstörten Fensterfront gebildet hatte, stoppte die Dose, was Goof ein albernes Kichern entlockte. Ein gestreckter Mittelfinger von Boomer folgte prompt und der lange Schlaks lachte erneut unter seiner Skimaske auf, die ihm viel zu groß war und nur vom Band seiner Schneebrille halbwegs an Ort und Stelle gehalten wurde.

Pia rümpfte die Nase, ließ die beiden Dauerstreithähne zurück und stieg über die schneebedeckte Theke des kleinen Polizeireviers einer mittlerweile fast gänzlich verlassenen Kleinstadt im Norden der in Kälte erstarrten Republik.

Ihre Hand rutschte auf dem eisüberzogenen Holz aus, sie fiel von der Theke und schlug der Länge nach in den dahinterliegenden Schnee.

»Autsch!«, beschwerte sie sich und kam langsam wieder hoch. Die beiden Spinner stritten sich noch immer. »Na danke auch!«, murmelte Pia, klopfte sich den Schnee von der dicken Winterkleidung und durchstreifte das Büro. Alle Schreibtische waren aufgebrochen, darauf standen festgefrorene Monitore ohne Strom. Keine Waffen, keine Ausrüstung. Wie Goof schon vermutet hatte, aber eher fror selbst die Hölle ein, bevor sie dem langen Kasper Recht gab. Warum Boomer und sie den Scherzkeks nicht irgendwo »vergessen« hatten, überstieg in manchen Momenten wirklich ihr Verständnis. War wohl ihre mütterliche Ader. Selbst eine Vierzehnjährige konnte einen völlig lebensunfähigen Streber nicht sich selbst überlassen. Nicht in einer beginnenden Eiszeit, wenn man den Halbinformationen glauben konnte.

»Nu halt die Klappe!«, schimpfte Boomer mit durchdringender Bassstimme und schaute über die Theke. Das kantige Gesicht des durchtrainierten Jugendlichen war selbst unter seinem Schal noch markant und Pias Hormone tanzten, als er ihr die Hand reichte und sie zurück über die Theke zog.

»Hier unten ist nichts zu holen, Jungs. Lasst uns oben nachschauen!« Mit diesen Worten stapfte Pia durch den Schnee zum Treppenhaus. Boomer überholte sie mit langen Schritten und ließ seine Muskeln spielen, als er die Tür trotz des hüfthohen Schneebergs davor ein wenig aufzog. Goof kicherte albern im Hintergrund. Er hielt die Kraftbezeugungen des zwei Jahre Älteren für dämlichen Testosteronüberschuss, und auch, wenn Pia ihm innerlich recht gab ... praktisch war es schon. Und er sah dabei auch noch so unheimlich gut aus!

Pia zwinkerte Boomer unter ihrer Skibrille zu und zwängte sich in das Treppenhaus. Da die Türen hier noch dicht gehalten hatten, bedeckte nur feiner Raureif die steinerne Oberfläche. Endlich mal kein Schnee. Sie konnte ihn nicht mehr sehen.

Der erste Stock war zugleich Endstation. In diesem Revier hatten nicht mehr als eine Handvoll Bullen Dienst getan. Mittlerweile waren aber alle ausgeflogen. Oder hatten bei den Unruhen im Dezember und Januar ihr Leben verloren, wie so viele andere. Beispielsweise Goofys ganze Familie. Schätzungen sprachen von zehntausenden Toten. Aber das Zählen hatte man zugunsten der Südflucht unterlassen. Die Gemüter waren bei diesen Temperaturen schnell wieder abgekühlt. Oder man machte es wie so viele andere, leugnete den Untergang, verkroch sich zu Hause und ergab sich dem Schicksal. Wie Boomers Eltern.

Pia stemmte sich gegen die reifüberzogene Holztür. Die Scharniere knackten, als das Eis brach und sich die Tür zum ersten Stock öffnete.

Da hörte sie das Surren. Ein Generator? Ihr Herz klopfte bis zum Hals, als sie den Kopf wieder zurück in den Flur steckte und den behandschuhten Finger über die Lippen legte. Ein Generator war Gold wert, den ließ niemand ohne Grund zurück. Erst recht keinen laufenden! Boomer nickte und funkelte Goof derart gefährlich an, dass der Schlaks sofort nickte und mucksmäuschenstill wurde.

Boomer blieb dicht hinter ihr, als Pia durch den Flur schlich, dabei einem Haufen verbrannter Möbel im Flur auswich – ein häufiger Anblick, seitdem der Strom weg war – und langsam das Ende erreichte. Zwei Türen hatte sie passiert, nur noch eine auf der rechten Seite vor ihr war übrig. Das Brummen war hier deutlich zu hören. Sie kniete sich neben die Tür, horchte aufmerksam, aber bis auf das Geräusch vernahm sie nichts. Vorsichtig griff sie zur Türklinke, drückte sie herunter, wartete auf den Widerstand der angefrorenen Scharniere, aber die Tür öffnete sich sofort und dichter, warmer Rauch mit dem kratzigen Aroma eines PKW-Auspuffs strömte aus der Öffnung, legte sich sofort auf ihre Lungen und ließ Pia husten. Mit dem Handschuh wischte sie den Ruß von der Skibrille und bemühte sich, im dahinterliegenden Raum etwas zu erkennen. Hinter ihr husteten Boomer und Goof. Pia stand auf und ging durch die Schwaden hinein in den Raum, langsam gewöhnten sich ihre Augen an das Halbdunkel und der sich in den Flur verteilende Rauch machte es auch etwas leichter. Ein Computerraum mit einem wandhohen Serverschrank. Ein RX-34! Sie kannte das Modell. Etwas veraltet, aber für ein Polizeirevier in der nördlichen Einöde Deutschlands trotzdem ein seltener Anblick. Direkt angrenzend stand der Grund für den Rauch. Ein benzinbetriebener Generator, dessen Auspuffrohr in der Decke verschwand. Hatte der dichte Schneefall die Dachöffnung verstopft? Jedenfalls brummte der Generator vor sich hin, stieß dichte Abgase aus und sorgte mit seinem Strom für leuchtende Lämpchen auf dem Serverschrank. Daneben stand eine Pappkiste mit allerlei Elektroteilen, und damit war der kleine Raum auch schon so gut wie ausgefüllt. Je mehr sie sah, desto mehr kam ihr die Örtlichkeit wie eine Abstellkammer vor. Da sah sie die Füße hinter der Kiste und schrie auf. Boomer riss sie zurück und stürmte in den Raum, blieb dann ebenfalls wie angefroren stehen, bevor er vorsichtig einen Schritt vorwärts ging und die Kiste beiseite zog. Pia erkannte die alte Frau. Jedes noch so kleine Kaff hatte wohl eine Dorf-Pennerin und hier lag sie in ihrer abgerissenen Bundeswehrjacke, der zerschlissenen Jeans und den bei Wind und Wetter stets gleichen Turnschuhen. Wie sie hieß, wer sie war, Pia hatte keine Ahnung. Sie riss sich aus ihrer Starre, schlängelte sich an Boomer vorbei und ging neben der Frau in die Knie. Ein seltsam friedlicher Ausdruck lag auf ihrem Gesicht. Zahlreiche Falten machten das wahre Alter unbestimmbar. Man konnte fast meinen, sie schliefe. Wären da nicht die blau angelaufenen Lippen und die steife, unnatürliche Haltung. Boomer schob Pia wieder beiseite, zog die Kiste aus dem Raum heraus und stellte sie vor Goof ab.

»Schau durch, ob was für uns dabei ist.« Damit drehte er sich wieder zu Pia, die aus den Augenwinkeln noch sah, wie der lange Schlaks mit den Augen rollte und eine Verbeugung andeutete.

Ach, Goof. Sollte froh sein, dass sie ihn überhaupt mitnahmen.

Als Boomer die Tür wieder leicht zuzog, sah Pia ein gerolltes Handtuch am Boden liegen. Hatte die Obdachlose damit die Wärme des Generators hier drin halten wollen und war dann vom durch Schnee verstopften Abgasrohr im Schlaf überrascht worden? Pia schauderte. Sie hatte noch nie zuvor eine Tote gesehen. Jedenfalls außerhalb des Fernsehens, außerhalb der zahllosen Berichte über die Unruhen. Bevor das Netz zusammengebrochen war. Boomer streichelte ihr über die Kapuze.

»Sollen wir den Generator mitnehmen?«, nuschelte er unter seinem Schal.

Pia schaute zu den beiden Gerätschaften hinüber und schüttelte den Kopf.

»Der ist in der Wand verankert. Ohne Werkzeug haben wir da keine Chance. Außerdem ...«, sie deutete auf den Füllpegel des minikühlschrankgroßen Geräts »ist das Benzin bald alle.«

Boomer nickte.

»Und der Server?«

»Ich schau mir den mal an. Vielleicht ist eine aktuelle Polizeikarte gespeichert. Wäre interessant, damit wir auf unserem Weg Richtung Süden die Straßensperren umgehen können.«

Boomer schüttelte den Kopf. »Straßensperren. Glaubst du ernsthaft, es gibt welche? Von wem?«

»Na gut, dann gibt es vielleicht andere Infos, die nützlich sein könnten.«

»Ist auch egal, mach dein Hexenwerk an dem Ding da, ich kümmer mich mal um die Alte.« Er packte die Leiche an den Füßen, zog sie aus der Tür und hinterließ eine bräunliche, übel riechende Spur auf dem Boden.

Pia schauderte, konzentrierte sich dann aber auf den Server. Boomer hatte bereits Leichen gesehen, als er bei den Unruhen aktiv gewesen war, daher wohl sein leichter Umgang mit der armen Frau. Pia hingegen hatte es Technik schon immer angetan. Leider gab es in Zeiten einer globalen Eiszeit nützlichere Talente. »Wildniskunde« oder »Schnee – Die Grundlage für ein schmackhaftes Essen« zum Beispiel. Umso mehr hoffte sie, dass ihre Magie an dem Polizeiserver nicht verschwendet war.

Sie griff in ihren Rucksack, holte ihren Handheld-PC heraus und schloss das seit Zusammenbrechen des Komnetzes herzlich nutzlose Gerät an den Server an. Und an den Generator. Sollte sein Strom wenigstens ihrem Akku zugutekommen, solange er noch lief.

Der Handheld erwachte zum Leben. Pia stellte die Verbindung her und wollte gerade ihr in zahllosen Cyberschlachten geschärftes Passwort-Hackingtool starten, als der Server bereits Daten sendete. Das Ding war wohl vor geraumer Zeit in den Notmodus gegangen und sendete jetzt bereitwillig seine Fracht an jeden, der zaghaft an die virtuelle Tür klopfte. Umso besser, weniger Zeit »verschwendet«, die sie Boomer und Goof vielleicht erklären musste.

Draußen erklang plötzlich Geschepper, als Boomer den zaghaften Suchanstrengungen von Goof »unter die Arme griff« und die Kiste kurzerhand vor dessen Füßen umkippte. Pia kicherte und machte sich an den Daten zu schaffen.

Die Minuten verstrichen und Pia kämpfte sich durch einen Hort nutzlosen Wissens. Veraltete Dienstpläne, Polizeigesetze und Anwendungsvorschriften, Telefonverzeichnisse anderer Behörden. Dann fiel ihr ein Ordner auf. Er war relativ neu. Kurz vor den Unruhen. Kurz bevor alles zusammenbrach. »Exodus«. Sie öffnete ihn, eine Passwortabfrage leuchtete auf, nur um einen Sekundenbruchteil später vom Notmodus des Servers automatisch außer Plan gesetzt zu werden. Derselbe Dialog kam direkt nochmal. Doppelte Passwortabsicherung? Was waren das für Daten? Schnell kopierte Pia die Dateien auf ihren Handheld, das blinkende, rote Notlicht des Generators verriet, dass er jederzeit den Dienst aufgeben konnte.

Zwei Einträge. Eine Deutschlandkarte mit GPS-Daten. Und eine simple Textdatei, angelegt vom Oberbullen des Reviers. Pia las den Text quer. Hielt inne, las ihn erneut, diesmal sorgfältiger. Dann setzte sie sich auf den Boden und schüttelte den Kopf. Also stimmten die Gerüchte, die sie vor dem Off der Netze aufgeschnappt hatten. Es gab einen Plan, die Menschen zu evakuieren. Nein, nicht »die Menschen«. Einige Bürger, wichtige Persönlichkeiten. Der Leiter des Reviers hatte seine persönlichen Notizen auf seinem Dienst-PC festgehalten, und eine Backup-Kopie war automatisch auf dem Server angelegt worden. Der Bulle hatte ebenfalls nur Hörensagen-Wissen, aber dafür aus bester Quelle, von seinem Bruder, einem Offizier bei der Bundeswehr. Die beiden planten, ihn ebenfalls an Bord zu schmuggeln, aber dafür musste der Polizist sich erst mal bis zur U-Boot-Basis des Exodus-Projekts durchschlagen, und dann würde sein Bruder dafür sorgen, dass er zur Exodus-Unterwasserbasis mitgenommen würde. Der Mann hatte Notizen gemacht, was er alles mitnehmen wollte an Ausrüstung aus dem Revier, hatte eine Planung für sich und seine Familie aufgestellt. Ob er es wohl geschafft hatte? Die Infos waren für Pia Beweis genug, dass die letzten Meldungen über in See stechende U-Boote, wahr gewesen sein mussten.

Sie rief die Karte auf. Der Bruder hatte dem Polizisten Eckernförde an der Ostsee markiert. Und in der Datei war die Rede davon, dass mehrere U-Boote nochmal zu einem bestimmten Stützpunkt zurückkehren würden für Nachschublieferungen. Also musste es ja nichts heißen, dass die letzten Nachrichten vor dem Zusammenbruch verlassene Häfen betrafen. Oder? Pia schüttelte den Kopf, war hin- und hergerissen. Dann gluckerte der Generator plötzlich laut auf, gurgelte noch ein letztes Mal und erstarb mit dem Äquivalent von »Ich hab es euch doch gesagt«.

Pia ging vor die Tür, Boomer packte gerade ein paar lange, als Seil zu gebrauchende Kabel in Goofs Rucksack und machte sich einen Spaß daraus, sie so fest hineinzustopfen, dass der Schlaks fast in die Knie ging. Pia räusperte sich und Boomer drehte sich mit schuldbewusster, aber zu süßer Miene, um ihm böse zu sein, zu ihr um.

»Ich hab hier was gefunden. Es könnte unser Ticket hier raus sein. Oder wir haben einen extremen Umweg gemacht. Also, es geht nach Norden statt nach Süden.«

Boomer legte den Kopf schief.

»Keine Ahnung wovon du redest, aber wenn du es für eine gute Idee hältst, bin ich dabei.«

Goof kicherte und setzte hinzu: »Kannst es uns auf dem Weg erklären. Mich hält hier eh nichts.«

 

Pia rutschte unruhig von einer Pobacke auf die andere und bemühte sich, die alles durchdringende Kälte zu ignorieren. Ihre Winterkleidung – günstig »besorgt« aus einem verlassenen Bekleidungsgeschäft – war für einen normalen deutschen Winter gemacht, nicht für eine beginnende Eiszeit. Wenigstens war es halbwegs windstill. Das Schlimmste waren die Nächte, wenn ein Eissturm begann, und man das Gefühl hatte, dass die Welt in einem Bombardement von Hagel und Eis zugrunde ging. Pia schauderte und schaute zu Goof hinüber, der die Zeit so sinnvoll nutzte, wie es ihm möglich war: Er schlief auf dem Beifahrersitz des aufgegebenen Fords, in dem sie auf Boomer warteten. Der Spinner wollte einen letzten Versuch starten, seine Eltern ebenfalls zum Gehen zu bewegen, aber wenn Pia etwas aus ihrer letzten Begegnung mit Familie Bärmann gelernt hatte, dann, dass das »Kopf in den gefrorenen Sand stecken« dort groß in Mode war. Sie konnte das Gefasel von »Hilfe kommt bestimmt, wir müssen auf den Staat vertrauen, bald kommt wieder alles in Ordnung« nicht mehr hören. Diese Welt ging vor die Hunde, und man half sich besser selbst, denn sonst würde es keiner tun. Man musste nicht als Waise im Heim aufgewachsen sein, um diese Grundströmung der Welt zu erkennen. Und das war vor der anbrechenden Eiszeit gewesen.

Sie kurbelte ein Fenster herunter, klaubte Schnee vom Dach und stopfte ihn sich in den Mund. Wenigstens verdursten würden sie nicht. Da klopfte es plötzlich am Heck des Wagens, Pia schnellte in die Höhe und stieß sich den Kopf.

»Aua!«

»Sorry«, kam Boomers Stimme von draußen, Pia öffnete die Tür und stieg aus. Der kräftige Teenie hob entschuldigend die Arme und Pia lächelte ihm zu, während sie sich den Kopf rieb. Betont langsam schälte sich Goof aus dem Beifahrersitz und stieg ebenfalls aus.

Ungewohnt ernst fragte er Boomer: »Und? Was haben deine Eltern gesagt?«

Der Hobby-Bodybuilder schüttelte nur kurz den Kopf und damit war alles gesagt. Sie waren immer noch nur zu dritt.

Pia öffnete den Kofferraum und sie holten ihre vorbereiteten Rucksäcke heraus.

»Hab in der Meierstraße noch ein paar Konserven abstauben können«, verkündete sie stolz und Boomer nickte ihr zu.

»Aus dem Altenheim?«

»Die brauchen die eh nicht mehr. Du weißt ja. Kein Strom. War übrigens Goofs Idee.«

Boomer klopfte dem Schlaks anerkennend auf den Rücken. Ein echter Gefühlsausbruch für den gekünstelten Macho. Pia setzte die Skibrille auf, schulterte den Rucksack und schob den Schal hoch, so dass kein Zentimeter ihres Gesichts mehr frei lag.

»Wollen wir?«, fragte sie in die Runde, und ohne eine Antwort abzuwarten, ging sie los, die Hauptstraße hinunter. Laut Karte führte die dahinter beginnende Bundesstraße Richtung Norden. Leider hatten sie keinen Kompass. Die Straßenschilder mussten reichen. Sofern sie noch standen.

Die Gruppe setzte sich schweigsam in Bewegung, jeder hatte einen schweren Campingrucksack geschultert, darin lag ihre Beute der letzten Tage, die sie eigentlich für ihren Trip Richtung Süden gebunkert hatten. Nun ging es in die entgegengesetzte Richtung.

Keiner der beiden hatte ihr eine Frage deswegen gestellt. Boomer liebte sie zu sehr, Goof war einfach nur froh, bei ihnen zu sein. Aber es kam ihr nicht richtig vor. Wenn sie irrte? Dann sollten wenigstens alle den Umweg mitgetragen haben. Daher zog sie mit behandschuhten Händen ihr Komlink hervor und reichte es im leichten Nieselschnee herum.

»Wir müssen nach Eckernförde. Dort ist eine U-Boot-Basis und laut der Daten vom Polizeiserver werden dort noch U-Boote anlegen, auch jetzt noch. Die werden ein paar Kinder sicherlich nicht stehen lassen.«

»Woher willst du wissen, dass die Schiffe noch da sein werden?«

»U-Boote«, warf Goof ein und erntete dafür einen vernichtenden Blick des anderen Jungen.

Pia zuckte mit den Achseln, was unter ihrer dichten Winterkleidung fast verlorenging.

»Ich weiß es nicht. Aber wir sollten es wenigstens probieren. Das sind nur hundert Kilometer. Das müssten selbst wir Schwächlinge schaffen!« Pia kannte Boomer. Ihm körperliche Schwäche anzudichten, war sein wunder Punkt.

»Pah!«, stieß das Kraftpaket aus. »Im Ernstfall trag ich dich.«

»Und meinen Rucksack?«

»Den auch!«

Pia zwinkerte Boomer zu und warf ihm einen Kuss zu, woraufhin er unter der Skibrille sichtlich errötete.

»Wenn ihr mit dem Rumgeturtel fertig seid, dann hätte ich da noch eine Frage. Mal angenommen, die U-Boote sind wirklich da, wir schaffen es irgendwie, in eine bewachte Militärbasis hineinzukommen, es gelingt uns, nicht erschossen zu werden und klopfen freundlich an. Was machen wir, wenn die ›Nein‹ sagen?«

Pia zuckte kurz zusammen. Der Gedanke war ihr auch schon gekommen. Mehr als einmal. Und sie hatte keine Antwort.

Als Boomer sah, dass seine Freundin hilflos war, sprang er ein.

»Dann schleichen wir uns an Bord und fahren als blinde Passagiere mit«, sagte er mit fester Stimme und schlug zur Bestätigung mit der Faust in die Handinnenfläche der anderen Hand.

Pia umarmte ihn.

»Genau, du Spinner. Ihr Spinner. So machen wir es!«

Goof hielt kurz inne, nickte dann aber.

»Besser, als wie der Rest der Lemminge auf dem Weg gen Süden zu erfrieren«, flüsterte Pia vor sich hin.

Der Trupp setzte sich wieder in Bewegung, sie ließen ihr Heimatstädtchen hinter sich und machten sich auf den Weg gen Norden. So ungewiss die Zukunft auch war, immerhin waren sie zusammen. Sie mussten es einfach schaffen.

 

*

 

»Du bleibst im Wagen«, beschied Thunder, und ohne eine Antwort seines verletzten Kollegen abzuwarten, schloss er die Fahrertür, schulterte seine Maschinenpistole, zog die Skimaske hoch und rückte die Kampfbrille zurecht. Es war Wind aufgekommen, was zusammen mit dichtem Schneetreiben und der Abenddämmerung eine Sicht von wenigen Metern bedeutete. Perfekt für das, was er vorhatte. Thunder schlich an der Mauer der Bundeswehrbasis entlang. Der hoffentlich verlassenen. Tobi war zwar dagegen gewesen, hier schon Rast zu machen, aber Thunder hatte den noch langen Weg ins Feld geführt. Dass er in Wirklichkeit Tobis angeschlagenem Körper eine schaukelfreie Ruhepause gönnen wollte, hatte er nicht gesagt. Sein Kumpel machte ihm Sorgen. Der Blutverlust war hoch gewesen, die Schusswunde im Oberschenkel bereitete ihm auch nach Stunden noch Probleme. Sie riss immer wieder auf bei ihren halsbrecherischen Fahrten über zugeschneite Straßen, die unter dem weißen Nichts noch mehr Ärger bereithielten, was sie aber leider stets zu spät bemerkten. »Höllenritt« traf es deutlich besser als »Fahrt«. Außerdem war da ja immer noch die Sache mit den Uniformen, um sich an Bord des U-Boots tricksen zu können.

Thunder war bis zum geöffneten Tor der Basis vorgerückt, ging in die Knie, griff die Maschinenpistole fester und lugte um die Ecke. Ein leerer Hof, drei Gebäude in U-Form angeordnet, zwar nur als Schemen bei dieser Sicht erkennbar, aber das war die Standard-Anordnung einer Bundeswehr-Basis. Warum sollte diese hier anders sein? Thunder eilte über den Hof, rutschte fast auf irgendetwas aus und konnte sich gerade noch rechtzeitig vor der Hauswand abfangen. Mit klopfendem Herz drückte er sich an die Wand der rechten Kaserne, ging Schritt für Schritt vorwärts, bis er die kleine Steintreppe fand, die zur Haustür hochführte. Er atmete tief durch, schmeckte den Schweiß, den die Skimaske in den letzten Tagen aufgenommen hatte und drückte die Klinke herunter. Doch statt wie gedacht langsam aufzugehen, erfasste eine plötzliche Windböe die Tür, sodass sie mit einem lauten Knallen gegen die Wand stieß. Thunder zuckte zusammen, sprang sofort in das Gebäude und schloss die Tür hinter sich. Seine Augen brauchten einen Moment, bis sie sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, die Lampe seiner MP hatte schon vor Tagen den Geist aufgegeben. Deutsche Wertarbeit. Langsam erschienen die Details des Raumes vor ihm. Fast alle Türen der Kaserne waren offen, überall lag Müll herum. Bis auf den Wind, der um die Häuser pfiff, war kein Laut zu hören. Thunder ging zügig durch den Flur und überprüfte einige Stuben. Überall dasselbe Bild: Leere. Alles auch nur halbwegs Brauchbare war schon lange mitgenommen worden. Nur ein paar Matratzen waren zurückgeblieben. Wenigstens etwas.

Thunder machte kehrt, eilte über den zugefrorenen Hof und betrat den gegenüberliegenden Bau. Und fluchte herzhaft. Es bot sich dasselbe Bild: Die Soldaten hatten nach dem Zerfall der staatlichen Ordnung alles mitgenommen, was auch nur halbwegs zu gebrauchen war.

Ein letzter Versuch blieb. Thunder kämpfte sich wieder über den Hof, die Schneewehen wurden umso höher, je weiter er zum Verwaltungsgebäude kam, das die Spitze des U bildete. Ungünstigerweise lag es auf der Wetter- und Windseite. Als er an der Tür angekommen war, stand er bereits hüfthoch im Schnee. Der weiße Mist war nicht festgetreten, sodass er nicht darauf laufen konnte. Nein, er musste wie durch Wasser waten. Seine Hose saugte sich bereits voll, Thunder fror sich den Arsch ab. Dann war die Tür am Ende der kurzen Steintreppe erreicht. Doch weder Rütteln noch ein herzhafter Fluch halfen. Entweder war sie abgeschlossen oder festgefroren im Rahmen. Oder beides. Thunder seufzte, machte einen Schritt rückwärts, hob seine Maschinenpistole und die Waffe ruckte in seiner Hand zweimal auf. Die schallgedämpften Salven zerfetzten das Holz an den Scharnieren und Splitter prallten gegen seine Kampfbrille. Einen beherzten Tritt später flog die Tür ins Gebäudeinnere und Thunder machte sich daran, hier nach Nützlichem zu suchen.

 

Fabian hustete. Der Rauch des Feuers, in dem mehrere Holztüren verbrannten, zog zwar aus der leeren Türöffnung der Stube hinaus und verteilte sich über den Flur im ganzen Gebäude, aber es blieb genug zurück, um ein kratziges Gefühl im Hals zu bekommen. Dass auch Lacke mit verbrannten, störte Fabian ebenfalls nicht sonderlich. Als ob Lungenkrebs hier ihr größtes Problem sein sollte. Zur Not würde er ein Stoßgebet zum Himmel schicken. Sein erstes seit Jahren. Als SEK-Teamführer lernte man, dass Gott nur eine Ausrede für Menschen war, Schwierigkeiten zu machen. Und spätestens mit der Eiszeit hatte der »liebe« Gott sich selbst disqualifiziert.

Tobi lag auf einer der erbeuteten Matratzen nahe dem Feuer und schaute unter der anderen hoch, mit der ihn Fabian zugedeckt hatte. Die BW-Dinger waren so dünn, dass sie sowohl Liegefläche als auch Decke abgeben konnten.

»Jetzt nochmal zum mitschreiben: Sommertarn?«

Fabian lachte trocken auf und nickte zu dem Kleidungsstapel hinüber, den sie auf dem einzigen Tisch des Sechs-Bett-Zimmers aufgetürmt hatten.

»Sommertarn!«, bestätigte er. »Besser als nichts.«

»Und mehr hast du im Hauptgebäude nicht gefunden? Kein Essen? Waffen? Muni? Benzin? Irgendwas?«

Fabian schüttelte den Kopf. »Sei froh, dass überhaupt noch was dagewesen war.«

Tobi ließ sich wieder auf die Matratze sinken.

»Ach komm! Mit Sommertarn wird man uns in Eckernförde den Schwindel doch niemals abnehmen.« Er lachte kurz auf. »Guten Tag, wir sind Ihre Ablösung. Ach, die Uniformen? Ja, wissen Sie, wir aus dem Süden nehmen das mit der Tarnung nicht ganz so ernst. Und das Grün harmoniert doch wunderbar mit dem ganzen Schnee hier, meinen Sie nicht?«

Fabian konnte sich ein Lachen nicht verkneifen.

»Ist gut. Ich weiß, dass es nicht ideal ist, aber bis wir was Besseres finden, nehmen wir es erst mal mit.«

Sie schwiegen ein paar Minuten und lauschten dem Knacken des Holzes im Feuer. Eine Türklinke löste sich im Feuer aus ihrer Umfassung und fiel in die Glut.

Tobi hustete erneut und hielt sich mit einem Stöhnen den Oberschenkel.

»Schlimmer?«, wollte Fabian wissen.

Der SEKler winkte ab. »Geht schon.« Fabian hörte, wie sein Kumpel betont langsam und kontrolliert atmete. Die Schmerzmittel waren so gut wie aus, und sie hatten sich darauf geeinigt, die Dosis runterzufahren, so dass es zwar nicht ganz ausreichte, aber dafür wenigstens noch ein paar Tage die schlimmsten Wellen abmilderte.

»Bei Sonnenaufgang los?«

Fabian nickte. »So früh es geht, wir haben noch ordentlich Strecke vor uns. Und nun schlaf 'ne Runde, ich weck dich dann.«

Tobi fixierte ihn unter seiner »Decke«. »Mach keine Dummheiten! Weck mich so früh, dass du auch noch ne Runde schlafen kannst. Ich schaff das schon, Wache zu halten!«

Fabian grinste ihn an. »Würd ich doch nie tun, alter Kumpel. Und nu schlaf!«

Tobi schaute ihn noch einen Moment an, schüttelte dann ermattet den Kopf und ließ sich vollends in das Lager sinken. Minuten später hörte Fabian schon das Schnarchen seines Kollegen.

Er riss sich einen Energieriegel auf, einen ihrer letzten, aber sein Magen knurrte mittlerweile so laut, dass sie auch gleich einen Neonpfeil über dem Gebäude platzieren konnten. Und als Fahrer musste er morgen früh bei Kräften sein. Er versuchte, auf der dünnen Matratze eine halbwegs gemütliche Stellung zu finden. Er traute er sich nicht, sich hinzulegen. Es hieß immer noch Wache »halten«, nicht »liegen«. Die letzten Wochen hatten ihre Spuren hinterlassen, auch bei ihm. Aber egal, wie mies er sich fühlte, er würde nicht während einer Wache einschlafen. Punkt.

 

Geräusche auf dem Flur. Fabian schreckte aus bleiernem Schlaf hoch, fluchte innerlich, schälte sich aus dem Berg Sommertarnklamotten, mit denen er es sich etwas gemütlicher und wärmer gemacht hatte. Wohl zu gemütlich. Von wegen »Wache halten«. Ein schneller Blick zu Tobi hinüber, aber der schlief den Schlaf der Eiszeit-Gerechten. Ein weiteres Geräusch aus dem Flur. Schritte? War das ein Flüstern? Die Reflexe griffen, Thunder schnappte sich die MP, entsicherte, ging neben der Tür in Stellung und stupste Tobi auf dem Weg mit dem Fuß an.

Der SEKler schaute unter seiner Decke hervor, aber als er Thunders Haltung sah, ersparte er sich jeden Kommentar, nahm ebenfalls seine MP und nach einem Winken humpelte er zum Fenster und ging in Stellung.

Thunder spähte um die Ecke. Mitten in der Nacht war im Flur nichts zu sehen, nur der flackernde Lichtschein ihres spärlichen Feuers erhellte die Szenerie notdürftig. Eine Bewegung zu seiner Rechten. Tobi hatte die Faust gehoben, zog sie ruckartig herunter und streckte danach zwei Mal zwei Finger ab und deutete nach draußen. Zwei Trupps à zwei Mann auf dem Hof. Thunder unterdrückte einen Fluch und spähte weiter den Flur hinunter.

Zwei Gestalten kamen in Sicht, noch unscharf, aber die linke hielt ein Gewehr in der Hand, mit dem sie halbwegs absicherte, während die andere durch die Stuben ging und sie durchsuchte. Plötzlich blieb der ohne Gewehr stehen und deutete in Richtung ihrer Stube. Das Feuerflackern. Thunder hatte sich bereits gefragt, warum die Neuankömmlinge das nicht früher bemerkt hatten. Die Gestalten drückten sich an entgegengesetzten Flurwände und kamen langsam näher. Mit jedem Schritt wurden durch das spärliche Licht des Feuers mehr Details offenbar. Zivilisten!

»Nicht schießen«, zischte er Tobi zu, dann rief er in den Flur: »Es ist alles ok. Wir sind keine Gefahr für Sie!«

Sofort blieben die beiden stehen, der mit dem Gewehr erwachte als erster aus seiner Starre, hob die Waffe in Thunders Richtung und rief mit dunkler, leicht zitternder Stimme herüber: »Wer sind Sie?«

»Nur zwei Durchreisende, die hier die Nacht verbringen und dann auch sofort wieder weg sind. Wir wollen keinen Ärger! Nur ein Dach über dem Kopf für die Nacht und ein paar Holztüren zum Verbrennen.«

»Ist das Ihr Fahrzeug auf dem Hof?«

Thunder fluchte innerlich. Er hätte den Wagen besser verstecken sollen, aber in der Eiseskälte blieb man nicht länger draußen, als unbedingt notwendig.

»Ja. Wir können zwei Personen mitnehmen, wenn Sie wollen.« Hoffentlich nahmen sie das Angebot nicht an. Aber alles, was die Situation entspannte, war gut.

Der Mann ließ die Waffe sinken.

»Danke. Nett von Ihnen. Aber unsere Großfamilie würde sich ungern trennen. Dürfen wir näher kommen? Vielleicht können wir handeln?«

Thunder schaute zu Tobi herüber, doch der zuckte nur mit den Achseln. Alles blieb wieder am Teamführer hängen.

Zivilisten. Genauso durchgefroren wie sie, vielleicht etwas zum Tauschen. Aber bewaffnet. Die Gedanken rasten, dann traf er eine Entscheidung und trat aus der Türöffnung in den Raum zurück.

»Klar, kommen Sie ruhig.«

»Komm, Sohn«, sagte der Gewehrträger und die beiden Männer kamen mit offenen Handflächen und geschultertem Gewehr auf sie zu. Der Ältere mit der Waffe betrat den Raum zuerst, und musste wegen des dichteren Rauchs husten. Im Feuerschein sah man, dass seine dunkelgrüne Kleidung schon bessere Tage gesehen hatte, sah nach Arbeiterkleidung aus. Vielleicht vom Bau. Aber wenigstens war sie gefüttert. Der Sohn betrat nach ihm den Raum und schaute sich hektisch um, blickte fast ehrfürchtig auf Tobis Maschinenpistole, der weiterhin aus dem Fenster schaute. Thunder musterte die Neuankömmlinge. Der alte Mann sah lebenserfahren aus, wie er an den Augen erkennen konnte.. Der Junge hingegen konnte kaum älter als achtzehn sein, er war mehr schlecht als recht mit normaler Zivilkleidung bekleidet, aber immerhin trug er mehrere Lagen übereinander. Er ähnelte einer unmodischen Zwiebel und das Baseballkäppi mit den zahllosen Schal-Lagen darunter machte es auch nicht besser.

Der Junge ging direkt zum Feuer, kniete sich davor und hielt die Hände zum Wärmen hin.

»Fabian.« Er streckte dem Älteren die Hand hin, die der Mann zögerlich ergriff, dann aber den festen Händedruck erwiderte.

»Fischer. Heinz Fischer.« Er lächelte verlegen und deutete auf die Maschinenpistole, die Fabian über der Schulter hängen hatte.

»Nett. Haben Sie davon noch mehr? Wir mussten auf dem Weg schon so manchem Plünderer zeigen, dass wir keine leichte Beute sind.«

Fabian schüttelte den Kopf. »Leider nein. Hier in der Kaserne werden Sie auch nichts finden, wir haben schon alles durchsucht, da sind uns andere zuvorgekommen. Wahrscheinlich die Soldaten bei ihrem Abzug.«

»Mist. Gerade auf Waffen und Munition hatte ich hier schon gehofft.«

»Hatte Mama doch schon vermutet, dass es hier nix gibt, Paps«, gab der Junge vom Feuer aus zum Besten und der Vater blitzte ihn verärgert an.

»Sei ruhig, Flo!«

Der Angesprochene schüttelte den Kopf, schwieg aber.

»Habt ihr wenigstens etwas Benzin hier finden können für euren Jeep?«

»Nein. Noch nicht mal das.«

»Eine Schande.«

Der Vater ging zum Fenster, nickte Tobi zu und schaute in das Schneetreiben der Nacht hinaus und seufzte.

»Eine merkwürdige Zeit. Wer hätte mal gedacht, dass wir alle so in der Patsche sitzen würden. Und dass so etwas nötig wäre.«

Thunder löste sich ruckartig vom Anblick des Sohnes am Feuer, aber es war schon zu spät. Wie beiläufig deutete das Ende des Gewehrs direkt auf Tobis Brust. Der Alte drückte den Lauf der Waffe gegen die Brust des SEKlers. Thunder hatte in einer fließenden Bewegung seine MP in Anschlag gebracht und den Laser auf die Stirn des Mannes gerichtet, der dadurch zum Hindu mutierte.

Der Sohn sprang auf.

»Paps!«

»Sei ruhig, Flo. Das muss sein! Komm her und nimm ihm die Waffe ab.«

Der Junge beeilte sich, den Weisungen seines Vaters zu folgen. Tobi gab die Waffe sichtlich zerknirscht ab.

Fischer nickte Thunder zu und der sah die Angst in den Augen des Mannes. Ungewohntes Terrain, Zivilist! Aber er hatte keinen Grund, an dessen Entschlossenheit zu zweifeln. Die beginnende Eiszeit veränderte vieles, auch Menschen.

Tobi seufzte. »Sorry, Chef.«

Thunder würdigte das keiner Antwort. Er würde nachher ein ernstes Wort mit dem SEKler sprechen müssen, gerade in der jetzigen Zeit musste man auf alles gefasst sein. Innerlich ergänzte er noch: und nicht bei der Wache einschlafen. Aber das war jetzt nicht wichtig. Später.

»Was wollen Sie?«

»Ich bin kein Unmensch. Nur ein Familienvater, der das Beste für seine Lieben will.«

»Das beantwortet meine Frage nicht.«

Der Gesichtsausdruck des Mannes verhärtete sich.

»Nun gut, Soldat. Oder was auch immer Sie sind. Dann sage ich es in der für Sie gewohnten Kurzform. Waffen runter, alles an Munition und sonstiger Ausrüstung dazu legen, Wagenschlüssel nicht vergessen.« Er zögerte einen Moment. »Ihr Essen dürfen Sie behalten, ebenso wie die Kleidung, ich will Sie nicht zum Tode verurteilen.«

»Wie großzügig«, ätzte Thunder. »Sagen Sie mir einen Grund, warum ich Sie nicht sofort erschießen sollte.« Der Laserpunkt blieb fest auf Heinz' Stirn tätowiert.

Der Vater drückte sein Gewehr fester gegen Tobis Brust. »Sohn, ziel auf ihn«, sagte er und nickte zu Thunder. Flo gehorchte, auch wenn er die MP viel zu tief fasste und mehr in Richtung von Thunders Bauchnabel zielte. Wie hieß es immer in der Grundausbildung: »Waffen sind am gefährlichsten in den Händen Unwissender, denn sie haben keine Ahnung, wie man anders schießt, als zu töten.«

»Da haben Sie Ihre Antwort. Und damit genug geredet. Runter mit der Waffe!«

Thunder analysierte die Lage und entschied sich. Er ließ die Waffe sinken und machte ein paar Schritte nach rechts, als ob er den Ausgang freigeben würde. Damit stand er für den Vater jetzt direkt hinter dem rauchenden Feuerrest. Keine Behinderung für einen geübten Schützen. Aber möglicherweise für einen Zivilisten mit einem alten Jagdgewehr und eine Bubi mit einer unbekannten Waffe.

»Okay, wir geben auf. Nehmen Sie, was Sie wollen!«

Der Alte lächelte, und auf diese Millisekunde Unkonzentriertheit hatte Thunder gewartet. Er riss die MP hoch, die Waffe ruckte in seiner Hand, eine schallgedämpfte Salve zerschnitt die Luft und traf den Vater in die rechte Schulter. Ein Schuss knallte laut und Beton bröselte von der Decke. Tobi reagierte sofort, sprang den Jungen an und riss ihn zu Boden. Einen Kopfstoß ins Gesicht und Flo lag wimmernd und zusammengerollt wie einen Fötus, auf dem Boden. Thunder sprang gleichzeitig über das Feuer und in den Vater hinein. Die Schulter knallte gegen den Brustkorb des alten Mannes, er hörte die Rippen krachen. Der Mann rutschte stöhnend an der Wand herunter. Thunder ging ein paar Schritte zurück und stellte seinen Fuß auf das Gewehr. Dabei ließ er den Laserpunkt seiner MP keine Sekunde vom Ziel abkommen.

»Schnapp dir deine Sachen. Und dann raus hier. Schutzgeisel nach Wahl.«

Tobi nickte und stand stöhnend auf. Er hielt sich für einen Moment seinen Oberschenkel, der wieder zu bluten angefangen hatte und schulterte seinen Rucksack. Er stopfte die Sommertarnkleidung in einem beim Konvoi erbeuteten Seesack und hängte ihn sich ebenfalls um. Die Maschinenpistole im Anschlag trat er zu dem Jungen, packte ihn und zog ihn in die Höhe. Dann rammte er ihm sein Knie in den Magen.

»Nur damit du weißt, was passiert, wenn du nicht spurst!«, zischte der SEKler dem Jungen zu, der mit glasigen Augen wimmerte.

Thunder bückte sich vorsichtig, nahm das Jagdgewehr und hängte es sich über die Schulter.

»Eine falsche Bewegung von Ihnen oder Ihren ›Familienmitgliedern‹ auf dem Hof, und Flo ist Geschichte.«

Der Vater nickte hasserfüllt, blieb aber sitzen.

Tobi ging mit dem Jungen voraus, Thunder nahm seinem Kumpel den Seesack ab und sicherte nach hinten.

Sie erreichten im gefühlten Schneckentempo die Tür zum Hof, wobei Tobi den Jungen immer wieder vor sich herschieben musste. Der Junge wankte und wimmerte.

Tobi hielt an, stieß Flo unsanft an die Wand und befahl: »Aufmachen! Und keine krummen Dinger!«

Der junge Mann zog die Tür vorsichtig auf. Sofort fuhr der eiskalte Wind der Nacht herein und Thunder zog seine Skimaske herunter und setzte die Kampfbrille auf.

»Fertig!«, rief er Tobi zu.

»Dann los!«

Tobi stieß den Jungen durch die geöffnete Tür, doch der Schwung war zu groß, er fiel sofort von der kleinen Steintreppe und hinein in die große Schneewehe vor dem Verwaltungsgebäude. Der Wind trug den Schrei des Jungen davon, in der Dunkelheit konnte Thunder nur schemenhaft erkennen, wie der Junge sich hochkämpfte. Durch den plötzlichen Aufbruch hatte er seine Handschuhe nicht wieder angezogen. Die Schmerzen bei fast zwanzig Grad minus – bei Windstille – mussten höllisch sein. Tobi packte Flo am Kragen, als ein Lichtstrahl durch die Nacht fuhr. Eine starke Lichtquelle versuchte die Dunkelheit zu vertreiben, wurde aber von den abertausenden Schneeflocken in der Luft zerstreut.

»Ma!«, rief der Junge. »Hilfe!«

Thunder entriss Tobi die menschliche Zwiebel, stieß ihn wieder auf den Boden, legte auf ihn an.

»Willst du sterben?«, brüllte er ihn an und die Wut kochte in seinen Adern.

Die Angst des Jungen war Hass gewichen. Thunder kannte diesen Anblick aus früheren Tagen, von seinen Einsätzen. Wer erst mal auf diesem Trip war, war selbst mit Engelszungen dort nicht wieder herunterzuholen. Er drehte die MP und schlug Flo mit dem Kolben direkt ins Gesicht. Eine rote Fontäne spritzte aus der Nase und dampfte auf dem Schnee. Der Junge sackte zusammen. Thunder nickte Tobi zu. Dann rannten sie los. Der starke Lichtschein zuckte erneut über den Hof, fand sie aber nicht. In diesem Schneetreiben sollten sie das Fahrzeug besser schnell erreicht haben. Thunder kämpfte darum, auf dem gefrorenen Hof nicht auszugleiten, hielt den Kopf unten und widerstand dem eisigen Wind. Dann stieß sein Fuß an etwas Nachgiebiges. Die Reifen des Jeeps! Thunder schickte ein Stoßgebet zum heiligen Mister 9mm, dem Schutzheiligen der SEKler, und zog an der Wagentür. Sie ließ sich Dank der Vaseline auf den Türgummis leicht öffnen. Mit einem erleichterten Seufzen stieg er ein, ließ den Wagen an und setzte zurück. Dann öffnete er die Beifahrertür. Tobi zog sich mit einem Stöhnen herein und noch bevor die Tür geschlossen war, gab Thunder Gas. Mehr rutschend als fahrend überquerte er den Hof. Das Tor kam in Sicht und hinter ihnen gellten Rufe. Ein Mann mit einem Gewehr trat aus dem Dunkel, direkt in ihren Weg und hob die Waffe. Thunder drückte das Gaspedal durch, das »Familienmitglied« wollte noch zur Seite springen, aber es war zu spät. Mit einem dumpfen Aufschlag traf der Kuhfänger den Mann und katapultierte ihn zur Seite weg. Thunder riss den Wagen nach rechts auf die Landstraße, die sie laut Karte zur Autobahn führen sollte. Die Hinterräder brachen aus, Tobi schrie auf, Thunder kurbelte, versuchte den Jeep abzufangen, aber das Heck brach weg. Eine kleine Böschung tauchte auf, sie rutschten einen Meter nach unten, dann knallte es. Die linke Hinterseite hing an einem Laternenpfahl, Thunder fluchte. Hinter ihnen Rufe, ein Schuss ertönte und pfiff an ihrem Fahrzeug vorbei. Glücklicherweise lief der Motor noch. Thunder riss das Lenkrad nach rechts, gab langsam Gas. Mit einem infernalischen Quietschen löste sich der Wagen vom Laternenpfahl, dann waren sie frei. Ein weiterer Schuss fiel und Tobi schrie, als die Kugel direkt über seinem Fenster gegen die leichte Panzerung des Bundeswehr-Jeeps schlug und sirrend in der Nacht verschwand. Für heute waren sie genug beschossen worden! Thunder gab vorsichtig Gas, die Reifen bekamen Halt und das Fahrzeug schob sich langsam die Böschung hoch. Endlich waren sie wieder auf der Straße, Thunder gab Gas und sie verschwanden in der Nacht. Rufe hinter ihnen, eine letzte Kugel schoss an ihrem Fahrzeug vorbei. Dann hatte die Nacht sie verschluckt, dichter Schnee schlug gegen die Scheibe. Als sie die Bundesstraße erreichten, erlaubte sich Thunder, das Licht einzuschalten und die Schneeflocken tanzten ihren weißen Walzer im Lichtstrahl. Mit gefühlt sehr schnellen dreißig Stundenkilometern fuhren sie die zu Eis erstarrte Straße entlang und wichen liegengebliebenen Fahrzeugen aus.

Sein Puls verlangsamte sich, das Adrenalin flaute ab und hinterließ einen sauren Nachgeschmack im Mund und ein Zittern in den Muskeln. Fabian verlangsamte auf Schritttempo, griff zur Wasserflasche auf dem Rücksitz und nahm einen kräftigen Zug. Dann warf er Tobi einen schnellen Blick zu, bevor er wieder auf die Straße schaute. Sein Kumpel war aschfahl, drückte auf die Wunde an seinem Oberschenkel. Tobi hing mehr im Sitz, als dass er saß. Mittlerweile hatte der Kampfanzug dort eine braunrote Färbung von getrocknetem Blut, in der Mitte allerdings unterbrochen durch tiefrot. Die Wunde war wohl wieder aufgebrochen. Fabian unterdrückte einen Fluch.

»Geht's?«

Tobi brauchte einen Moment, dann nickte er ermattet.

»Nimm noch eine Tablette!«

»Nein«, stöhnte sein Nebenmann. »Wir haben das doch schon besprochen. Ohne Rationierung sitzen wir in Kürze auf dem Trockenen.«

»Dann besorgen wir neue. Und jetzt nimm eine. Das ist ein Befehl!«

Tobi zögerte einen Moment, dann kramte er in der Brusttasche seines Kampfanzugs, nahm eine Tablette heraus und spülte sie mit einem Schluck Wasser hinunter.

»Woher auch immer du noch welche bekommen willst«, murmelte Tobi.

Fabian seufzte. »Lass das meine Sorge sein. Bei der überhasteten Südflucht dürften noch ein paar Apotheken nicht restlos ausgeplündert sein.«

»Hoffnungen. Vage Hoffnungen.«

»Willst du jetzt mit mir hier herumdiskutieren?«, sagte er eine Spur schärfer als gewollt. »Wir schaffen das.« Fabian atmete durch und drehte die Heizung etwas höher. Wenn sie schon auf dem Hoffnungstrip waren, konnten sie auch gleich für eine Tankstelle beten.

»Und mach die Augen zu. Bevor es nicht hell wird, kommen wir eh nur im Schritttempo voran, wenn ich uns nicht in den Graben lenken will.«

Tobi nickte und Minuten später wirkten wohl Tablette und Schlafmangel zugleich und er fiel in einen unruhigen Schlaf. Einer der gnädigsten Momente, auf den sie in dieser Welt noch zu hoffen wagen durften.

 

*

 

»Leute, ich kann nicht mehr. Wartet mal einen Moment!« Goof schnaufte und lehnte sich an eine Mauer, die ihm bis zum Bauchnabel reichte. Womit sie gerade noch aus dem Schnee herausschaute.

Pia kämpfte sich die paar Meter bis zu ihm durch. Sie kamen so gut wie nicht vorwärts, es war zum Verzweifeln. Sie »wateten« mehr durch den Schnee, als dass sie liefen. Es war ungemein kräftezehrend und einfach nur nervig, man sah überhaupt nicht, dass man Strecke schaffte. Die letzten beiden Tage hatten sich wie Kaugummi gezogen. Und auch jetzt war es schon später Nachmittag und sie hatte nicht das Gefühl, dass sie etwas geschafft hatten. Erst den einen Fuß vorwärts, dann den anderen hinterziehen. Und jetzt wiederholen. Und wiederholen. Und wiederholen. Zwischendurch Rast und Schnee im Mund schmelzen, Wasserflaschen mitzuschleppen wäre wegen der Minusgrade eh zum Scheitern verurteilt gewesen. Boomer lehnte sich neben Goof an die Mauer, legte seinen Rucksack ab und steckte sich ebenfalls Schnee in den Mund. Dann zerteilte er einen Müsliriegel und reichte die Bruchstücke herum. Pia musste den Riegel erst im Mund auftauen, bevor sie ihn kauen konnte. Ein Festmahl.

Sie merkte, wie ihr die Tränen kamen, aber sie riss sich zusammen, stieg stattdessen auf die Mauer und schaute sich um. Weiß, soweit das Auge reichte. Die ganze Bundesstraße war ein einziger weißer Teppich, ihr Verlauf nur durch die herausstehenden Masten und Schilder abschätzbar. Aber da hinten, in gut einem Kilometer Entfernung, war endlich mal wieder ein Dorf. Vielleicht konnte sie da noch etwas Vernünftiges erbeuten, was ihnen auf dem Weg nach Eckernförde helfen konnte. Eventuell ein Auto mit Benzin im Tank?

»Träum weiter!«, murmelte sie vor sich hin. Mit etwas Glück fanden sie etwas zu essen, auf mehr durften sie nicht hoffen.

»Kommt, lasst uns weitergehen. Nur noch einen Kilometer bis zum Dorf.«

»Lentföhrden«, warf Goof als ihr Kartenorganisator ein. Sein beinahe fotografisches Gedächtnis, mit dem er sie bisher gut durch die Gegend navigiert hatte, war wirklich zu etwas nutze. Es war besser, als in der Schule als Freak abgestempelt zu werden. Der er eigentlich ja auch war, schob sie in Gedanken hinterher und Pia schämte sich beinahe für den Gedanken, aber er stimmte. Goof war immer ein Außenseiter gewesen.

Boomer nickte, schulterte seinen Campingrucksack und Pia sah die Anstrengung in seinen Augen. Er hatte darauf bestanden, dass sie alles Schwere im Marschgepäck in seinen Rucksack packten. Ehrensache. Aber sie merkte, wie er unter dem Gewicht litt. Der billige Rucksack schnitt durch die fadenscheinige Winterkleidung in die Schultern, schlug gegen seinen Rücken, wenn er sich durch den Schnee mehr vorwärts warf als wirklich zu laufen. Aber er beschwerte sich nicht. Pia ging zu ihm, stellte sich auf die Zehenspitzen und streichelte ihm über die Wange. Oder eher über den dicken Schal, den er sich um den Kopf gewickelt hatte. Boomer lächelte und legte seinen Kopf an ihren.

»Wir schaffen das«, flüsterte er ihr zu.

»Ich hoffe es!« Pia merkte, wie eine Träne unter ihrer Skibrille herunterlief und von der Polsterung aufgesogen wurde.

»Bestimmt!«

Boomer packte sie an den Schultern, drehte sie um und gab ihr einen Klaps auf den Po. Er war noch nie ein Mann der großen Worte gewesen.

 

Die Dämmerung zog auf, als sie das Dorf erreichten. Völlig ausgepumpt schleppte sich Pia vorwärts, der Wind war in den letzten Minuten immer stärker geworden. Wenigstens hatte der Schneefall aufgehört, so dass sie mehr als nur ein paar Meter weit sehen konnten. Die Einfamilienhäuser lagen verrammelt da, Bretter waren vor die Türen genagelt, Autos waren keine zu sehen, weder auf der Straße, noch in den Garagen, in die sie hier und da hineinspähen konnten. Wenigstens würden sie einen Platz zum Schlafen finden, vielleicht sogar ein Haus mit Kamin, zum Verbrennen gab es in den meisten Häusern mehr als genug, wenn man nicht wählerisch war. Was Pia bei fremder Leute Eigentum in diesen harten Zeiten nicht wirklich war. Sie wateten weiter vorwärts, die Dorfmitte kam in Sicht, angeordnet als großer Kreisverkehr mit Läden drumherum und einem großen Baum samt Parkbank in der Mitte. Nett. Vielleicht fanden sie in einem der Geschäfte noch etwas zu essen, dann mussten sie nicht schon wieder die gefrorenen Dosenpfirsiche aus dem Altenheim lutschen.

 Sie kamen an der Zufahrt zum Kreisverkehr an und Pia wollte sich gerade anschauen, was für Läden rundherum angesiedelt waren, als es plötzlich einen lauten Knall gab. Pia duckte sich unwillkürlich und sie hörte, wie Boomer und Goof es hinter ihr ebenso taten. Dann gab es noch einen Knall. Das kam von der anderen Seite des Kreisverkehrs. Pia kniff die Augen zusammen, versuchte in der Dämmerung etwas zu erkennen und entdeckte einen Supermarkt. Wieder waren mehrere Knallgeräusche zu hören.

»Das kommt möglicherweise vom Supermarktparkplatz«, flüsterte Goof von hinten.

Pia zuckte mit den Achseln, weil sie die genaue Quelle nicht orten konnte.

»Goof könnte recht haben«, stimmte Boomer zu.

»Nachsehen?«, fragte Pia.

»Ja. Vielleicht fällt was für uns ab.« In Boomers Stimme klang Vorfreude mit. Vielleicht hatten die komischen Spritzen aus der Muckibude nicht nur die Muskeln wachsen, sondern sein Hirn auch schrumpfen lassen.

 »Könnte gefährlich sein!«, warf sie ein.

»Und das hier nicht?«, fragte Boomer und zeigte auf Eis und Schnee.

Pia seufzte und setzte sich in Bewegung. Sie blieben dicht beim kleinen Hügel in der Mitte des Kreisverkehrs. Rechts neben dem Supermarkt war ein Bekleidungsgeschäft, die Tür war nur angelehnt, die Scheiben bereits von innen mit Eiskristallen überzogen. Vielleicht hatte es auch Fenster nach hinten raus, mit Sicht auf den Parkplatz des Marktes.

Pia lief los, so gut es ging, stolperte und fiel – mal wieder – in den Schnee. Boomer zog sie hoch und drückte sie vorwärts. Sie zogen mit ihren Körpern eine Furche durch den Schnee. Der Supermarkt lag ausgestorben zu ihrer Linken. Da sahen sie plötzlich, wie der Lichtstrahl einer Taschenlampe über die geplünderten Regalreihen wanderte. Pia beeilte sich, in das Bekleidungsgeschäft zu kommen und drückte die Tür auf, die sofort nachgab. Auch hier sahen sie nur leergeräumte Regale und Kleiderständer. Auf dem Boden verstreut lagen Stofffetzen und T-Shirts, und sogar die Vorhänge der Umkleidekabinen waren heruntergerissen. Pia schlitterte über den gefrorenen Teppich zum hinteren Bereich des Ladens. Dort gab es ein kleines, aber leider ebenfalls leeres Lager. Die Pappreste auf dem Boden zeigten ihnen, dass sogar jemand für Verpackungsmaterial noch Verwendung gefunden hatte. Pia öffnete eine Tür und fand sich in einem kleinen Aufenthaltsraum wieder, mitsamt Mikrowelle, Wasserkocher und Tisch mit Stühlen. Und einem Fenster zum Hof. Pia duckte sich, schlich rechts am Tisch vorbei und spähte hinaus. Zwei Vans parkten auf dem ansonsten leeren Parkplatz. Einer war wohl gerade angekommen, der Schnee schmolz auf der warmen Motorhaube. Der andere hatte bereits mehrere Zentimeter neues Weiß angesammelt. Die Scheinwerfer des Neuankömmlings brannten und beleuchteten den rückwärtigen Eingang des Nebengebäudes.

Plötzlich hörte sie laute Schreie und mehrere dick eingepackte Menschen kamen aus dem Supermarkt auf den Parkplatz gerannt. Zwei hetzten mit einer großen Kiste in Richtung des schon leicht eingeschneiten Vans. Hinter ihnen kam ein weiterer Mann aus dem Supermarkt, der eine Pumpgun hochriss und abdrückte. Der laute Knall hallte über den Hof. Der rechte Kistenträger wurde förmlich von den Beinen gerissen, als ihn die Ladung in den Rücken traf. Er schrie, ließ die Kiste los und fiel zu Boden. Noch ein Schuss fiel und der Kopf des am Boden liegenden zerplatzte. Blut und Gehirn spritzen gegen den Van.

Pia drückte sich die Hand auf den Mund und unterdrückte einen Aufschrei. Eine erfrorene Bettlerin war eine Sache. Ein Ermordeter etwas anderes.

»Was war das?«, zischte Goof von hinten und drängelte sich hinter sie.

»Heilige Scheiße!«, fluchte er dann und drehte sich zu Boomer um.

»Da wurde einer kaltgemacht.«

Pia konnte Boomers Reaktion nicht sehen, starrte weiter aus dem Fenster, duckte sich dabei so gut es ging hinter das Fensterbrett.

Der linke Kistenträger hob die Hände, stammelte irgendetwas und wich rückwärts gehend zum Van zurück. Der Gewehrträger lachte, lud durch und drückte erneut ab. Die Scheiben des Vans splitterten, das Weiß auf der Motorhaube wurde rot gesprenkelt. Noch ein Schuss, ein zerplatzender Reifen, ein ersterbender Schrei. Dann war alles ruhig.

Eine Frau trat aus dem Supermarkt, blieb kurz stehen als sie die Leichen sah und schüttelte den Kopf. Dann ging sie zu der Truhe und bemühte sich dabei, größtmöglichen Abstand zu den sterblichen Überresten zu halten, die im Schnee vor sich hin dampften.

»Die hatten gute Beute gemacht«, rief sie dem Gewehrträger zu und schloss die Kiste wieder. »Fleisch für mehrere Wochen. Müssen das Kühlhaus geknackt haben.«

»Sag ich doch, dass es sich lohnt, nochmal herzukommen, bevor wir aufbrechen.« Die dunkle Stimme brach sich in einem Lachen, dann lud der Mann seine Pumpgun nach, hängte sie sich um die Schulter und trug zusammen mit der Frau die Kiste zum anderen Van.

Als sie die Arbeit beendet hatten, schaute die Frau zum Mann hoch, ihre offenen Haare ragten unter der Kapuze ihres Anoraks hervor.

»Werde bitte nicht gleich sauer. Aber musstest du sie gleich abknallen?« Ihre Körperhaltung verriet, dass sie die Antwort fürchtete.

»Pah!« Der Mann machte eine wegwerfende Handbewegung, drehte sich um, nahm einen Benzinkanister und einen Schlauch aus dem Van und warf ihn der Frau gegen die Brust, die daraufhin rücklings in den Schnee fiel. Pia krallte ihre Finger in das Fensterbrett, wagte kaum zu atmen.

»Zapf lieber den Sprit dieser Looser ab und mach dich nützlich. Und beeil dich, bevor wir hier noch festfrieren.«

Die Frau wischte sich über das Gesicht, stand auf und öffnete beim zweiten Van den Tankdeckel. Ihre geschickten Bewegungen, wie sie den Schlauch einführte, mit dem Mund das Benzin ansaugte und anschließend das andere Ende des Schlauchs in den Kanister hielt, zeugten davon, dass sie so etwa wohl nicht zum ersten Mal machte.

Schade, den Van hätten sie gut gebrauchen können. So schwer konnte fahren nun wirklich nicht sein.

Dann trug die Frau zitternd den Kanister zurück, verlud ihn in den Van, stieg ein und das Paar fuhr im Schritttempo davon. Die Geräusche des Wagens verhallten.

Pia bemerkte erst jetzt die Schmerzen in der Brust und atmete wieder aus. Sie hatte wohl unwillkürlich die Luft angehalten.

»Sie sind weg!«, gab sie nach hinten durch und sie hörte ein erleichtertes Seufzen.

»Was machen wir nun?«, wollte Goof wissen.

Boomer trat neben Pia ans Fenster und schaute hinaus. Schnee fiel vom Himmel und bedeckte die beiden Erschossenen mit einem weißen Leichentuch.

»Na was schon? Wir schauen nach, ob wir aus dem Van was gebrauchen können.« Er schaute konzentriert auf den Hof hinaus »Und wir sollten uns beeilen. Die Schüsse könnten Leute angelockt haben, denen wir nicht begegnen wollen.«

Pia zögerte, nickte dann aber. So wenig, wie ihr der Gedanke behagte, zu den Leichen zu gehen, so sehr brauchten sie Lebensmittel und alles, was ihnen sonst noch helfen konnte. Es lagen noch fast achtzig Kilometer vor ihnen. In dem Tempo brauchten sie noch über eine Woche. Bis dahin konnte das U-Boot längst weg sein.

»Okay!« Pia öffnete das Fenster und sie kletterten auf den Parkplatzhof.

 

Da lagen die Leichen, ihr Blut hatte sich in den Schnee ergossen, Pia konnte den Geruch selbst durch ihren Schal riechen. Er lag schwer in der eiskalten Luft. Pia musste würgen, als sie an den Leichen vorbei zum Van ging. Ihr Blick glitt immer wieder zum weggeplatzten Kopf des ersten Toten, als ob ihr Unterbewusstsein sich für dieses Detail besonders interessieren würde. Sie zwang sich, wegzusehen und öffnete stattdessen die Heckklappe des Fahrzeugs. Zwei große Sporttaschen, eine randvoll, eine fast leer. Und ein brauner Umzugskarton, aus dem etwas herausragte, das nach Tennisschlägern aussah. Schneeschuhe! Pia konnte ihr Glück kaum fassen. Sie kannte die Bilder aus den Nachrichten. Das waren Schneeschuhe. Sogar vier Paar in unterschiedlichen Größen, mit Universal-Schnürvorrichtungen für alle Arten von Schuhen. Eine Träne rollte in die Isolierung ihrer Skibrille und wurde dort aufgesogen, dicht gefolgt von einer weiteren.

Sie sprang aus dem Van, sah wie Boomer gerade eine Leiche – die mit Kopf – durchsuchte.

»Jungs, wir haben Schneeschuhe!«

Boomer schaute hoch und Pia konnte das Lächeln unter dem dicken Schal, der über sein Gesicht gezogen war, deutlich sehen.

Goof beließ es bei einem empor gereckten Daumen, während er seinen Mageninhalt neben den Van entleerte. Er zitterte am ganzen Körper. Pia ging zu ihm und legte ihm eine Hand auf den Rücken.

»Geht's?«

Goof wollte etwas sagen, blickte zu ihr. Sie sah, wie seine Augen wieder zu der kopflosen Leiche wanderten, dann krümmte er sich erneut zusammen und ein weiterer Schwall Magensäure brannte ein Loch in den Schnee.

Pia ließ ihn erst mal in Ruhe, bestieg dafür wieder den dunkelblauen Van und machte sich daran, die Sporttaschen zu sichten. Dicke Handschuhe, weitere Schals, Flüssigseife, Multivitamintabletten, alles wanderte in ihren Rucksack. Der restliche Inhalt der ersten Tasche bestand hauptsächlich aus für sie viel zu großer Kleidung, aber da würde sie gleich nochmal die Jungs drüber schauen lassen, vielleicht war etwas für die dabei.

Dann öffnete sie die zweite, fast leere Tasche. Trockennahrung in verschiedenen Varianten. Schokoriegel, Crunch-Müsli, Milchpulver, sogar zwei Beutel mit getrockneten Aprikosen waren dabei. Alles extrem haltbares Zeug. Wenn es nur mehr wäre. Daher wohl der Abstecher zum Supermarkt-Kühllager. Eigentlich eine gute Idee. Und dann waren sie ausgerechnet an einen schießwütigen Arsch geraten, der sich gerne anderer Leute Beute unter den Nagel riss. Pia zögerte einen Moment, zuckte dann aber mit den Achseln. Wenigstens hatte ihr Trio so ein paar Schneeschuhe, was zu essen und eine Handvoll Lebensmittel erhalten.

Da ging die Beifahrertür auf und Goof steckte seinen Kopf herein. Ein etwas zu cool wirkendes Grinsen lag auf seinem Gesicht, selbst unter der Skimaske gut erkennbar. Die angefrorene Kotze am Mundwinkel der Maske strafte ihn Lügen.

»Bin wieder okay. Ich muss mich an diesen Scheiß aus Hirnmasse, Gestank und so erst noch gewöhnen. Ist irgendwie ... echter als in den Shootern, die ich so spiele.« Er unterbrach sich und schüttelte den Kopf, nur um dann wieder »cool« zu grinsen. »Ich meine natürlich ›gespielt habe‹. Bevor der ganze Mist hier losging.«

Er stieg ein und schloss die Tür hinter sich, rieb die Handschuhe aneinander und hauchte hinein.

»Noch mehr gefunden?«, wollte er wissen und Pia hielt ein paar der Beutestücke hoch.

»Nett!« Dann zeigte er auf den Fahrersitz. »Und was ist mit der Tasche hier?«

»Hmm?« Pia folgte seinem Blick und entdeckte die Tasche, die sie schlicht übersehen hatte.

Goof hob den röhrenförmigen Sack hoch, auf den in silbernen Lettern »Arctic Survivor« aufgedruckt war. Er öffnete ihn, kramte etwas darin herum und holte einen eingeschweißten Zettel hervor. Der entlockte ihm ein überraschtes Pfeifen, bevor er albern kicherte.

»Offensichtlich bringt uns der Tod heute Glück, werte Freundin.« Er machte eine theatralische Pause und hob den Zettel in die Höhe. »Ein Zelt!« Goof nahm den Zettel und las vor: »Vielen Dank für den Erwerb des Arctic Survivor Extreme Temperature Zeltes. Es wurde speziell entworfen, um selbst bei widrigsten Außenbedingungen und niedrigsten Temperaturen noch eine heimelige Atmosphäre zu bieten. Und so bla und so fort. Ein Arktis-Zelt.«

Pia wäre ihm am liebsten um den Hals gefallen. Aber diese Ehre kam nur Boomer zuteil. Endlich mussten sie nicht jede Nacht nach einem Dorf suchen und Häuser aufbrechen. Nach dem heutigen Erlebnis war es vielleicht eine gute Idee, Menschen erst mal aus dem Weg zu gehen. Die Temperaturen hatten bei einigen die Sicherungen durchbrennen lassen. Und so stark Boomer auch war ... letztlich waren sie drei unbewaffnete Jugendliche. Selbst wenn es im Zelt zu dritt sicherlich etwas kuschelig wurde, so klang das doch wie Engelsgesang in ihren Ohren.

»Nimm es mit. Kannst du das noch tragen?«

Goof wog den Kopf hin und her, dann lachte er keck auf.

»Nicht wirklich. Aber hat Boomer nicht gesagt, er würde uns im Ernstfall alle tragen?«

»Was hab ich?«, wollte der Bodybuilder wissen, als er plötzlich an der Heckklappe auftauchte und anerkennend über die Beute schaute.

»Nicht so wichtig, Schatz!«, stellte Pia fest, streichelte über seine vom Schal bedeckte Wange und hauchte ihm einen Kuss zu. »Wir haben gerade nur gesagt, wie froh wir sind, dass du bei uns bist. Es gibt nämlich noch was zu tragen für deine starken Muckis.«

Boomer lachte auf, seine tiefe Bass-Stimme hallte im Van nach.

»Na dann.«

Pia kramte die Sachen zusammen, verteilte sie auf die drei Rucksäcke und schnallte bei Boomer noch die Zelt-Verpackung obenauf, während die beiden Männer sich im geschlossenen Van noch weitere Zwiebelschichten aus der erbeuteten Kleidung anlegten. Insbesondere Goofs zu dünne Handschuhe konnten endlich mit einem dickeren Paar überdeckt werden. Und eine Ski-Maske unter Boomers Schal ließ ihn zwar endgültig aussehen wie Frankensteins Monster – in diversen Farben und Schnitten – aber das war nun wirklich ihre geringste Sorge.

 

Pia setzte den rechten Fuß auf, der Schneeschuh ließ die oberste, angefrorene Schneeschicht knackend brechen, sackte aber eben nur ein paar Zentimeter ein. Im Vergleich zu ihrem vorherigen Vorwärtskommen war es mit den Dingern ein Genuss. Wenn nicht gerade geschätzte minus dreißig Grad herrschen würden und schlechte Sicht durch Nieselschnee sowie ein beständiges Heulen des starken Windes zwischen den Bäumen des Waldes dazugekommen wären. Schweiß lief ihr über den Rücken, während sich ihr nur durch Ski-Maske, Brille und Schal geschütztes Gesicht längst in eine taube Fläche verwandelt hatte. Links und rechts neben ihr liefen Boomer und Goof. Das hatte der Wind und der sich ständig verändernde Schneefall ihnen mehr als einmal aufgezeigt. Hier ging man schneller verloren als zu früheren Zeiten ein Kind im Supermarkt.

Die Bäume ächzten unter der dicken Schneelast und immer wieder brachen Zweige von weit oben ab und fielen mit Getöse und Schnee zu Boden. Pia senkte den Kopf, stemmte sich in den Wind und ging weiter. Die Nacht würde bald anbrechen und mit ihr kamen noch tiefere Temperaturen. Daher hatten sie die Landstraße verlassen und waren in das kleine Waldstück gegangen. Die Bäume versprachen etwas Windschutz. Sie mussten bald einen vernünftigen Lagerplatz finden und vielleicht hatten sie sogar etwas Glück und fanden einen umgestürzten Baum oder mit einer Senke im Wald sogar den ganz großen Luxusplatz, um ihr Zelt für die Nacht aufzuschlagen. Besorgt blickte sie gen Himmel. Durch den dichten Nieselschnee sah sie lediglich bis zu den Baumwipfeln. Das ständig gleißende Weiß dehnte die Zeit wie einen Kaugummi.

»Wie viel Zeit haben wir noch?«, rief sie Goof zu, der stehenblieb und erst zwei übereinander getragene Paar Handschuhe ausziehen musste, um an seine Uhr zu kommen.

»Noch circa eine Stunde bis es zu dunkel ist, um weiterzulaufen«, rief er über das Heulen des Windes zurück, zeigte nach vorne und ging vorweg. Pia hielt sich hinter ihm und auch Boomer reihte sich in die Kette ein. Ohne den Ober-Nerd, der von seinen Eltern einen sagenhaften Orientierungssinn mitsamt fotografischem Gedächtnis geerbt hatte, wären sie schon so manches Mal in die falsche Richtung gelaufen.

 

Die Minuten zogen sich, Pia konnte jeweils nur an den nächsten Schritt denken, die Oberschenkel waren mittlerweile taub vor Kälte und Erschöpfung.

Goof ging unbeirrt voran. Woher er die Kraft nahm, war ihr ein Rätsel, selbst von Boomer hörte sie hin und wieder ein Ächzen, wenn der Wind etwas nachließ.

Wenn sie nicht völlig die Orientierung verloren hatten, liefen sie immer noch halbwegs parallel zur Straße, die hundert Meter neben ihnen nach Norden führte. Das machte es sicher leichter, nach dem zu erwartenden, nächtlichen Schneefall die Straße und damit die notwendigen Orientierungspunkte wiederzufinden. Sagte Goof jedenfalls.

Pia war es recht, solange es nur endlich ein Nachtlager gab.

»Was zum ...«, waren Goofs letzte Worte bevor er ausrutschte und rücklings in den Schnee fiel und tief einsank. Pia stürzte nach vorne, sprang und konnte gerade noch Goofs Anorakkragen zu fassen bekommen. Erstickte Geräusche von unten.

»Schatz!«

Boomer ließ sich neben sie fallen und seine starken Arme fuhren durch den an dieser Stelle merkwürdig weichen Schnee wie ein heißes Messer durch Butter. Er griff unter Goofs Arme und zog den Schlaks heraus. Dessen Skimaske bestand nur noch aus Schnee. Der Junge ließ sich auf die Knie sinken, spuckte und schnappte nach Luft.

Eine Bewegung weiter vorn, plötzlich sackte der Schnee weiter ab und Pia traute ihren Ohren kaum. Schläge auf Metall? Oder spielte der wieder aufkommende Wind ihr einen Streich? Auf einmal erschien ein Kopf von unten aus dem Schnee, gefolgt von einem massigen Körper. Ein dicker Mann, eingehüllt in einen blauen Thermoanzug, was ihn wie ein Michelin-Männchen aussehen ließ. Er trug lediglich eine Mütze auf dem Kopf, sein Gesicht war frei und damit seit langer Zeit das erste Antlitz, das Pia sah. Von Goof, Boomer und den Überresten des explodierten Schädels beim Supermarkt-Parkplatz abgesehen.

»Wer da?«, rief der Mann über den Wind hinweg und Pia sah, wie er zu seinem Gürtel griff.

Boomer breitete sofort die Arme aus.

»Niemand. Wir laufen hier nur durch. Tschuldigung für die Störung!« Dann wandte er sich Pia zu und zischte: »Los, lass uns verschwinden.«

»Kinder? Seh ich das richtig? Seid ihr noch Kinder?«

Pia nickte eilig. Kinder auszurauben war wohl selbst in diesen Zeiten selten. Hoffte sie.

Der Mann schüttelte den Kopf und lachte, während sich seine Wangen im Wind rot verfärbten.

»Da brat mir doch einer nen Storch. Kinder allein unterwegs.« Er wog den Kopf hin und her, dann hatte er sich wohl entschlossen: »Wenn ihr wollt, könnt ihr bei uns im Bunker übernachten.« Er hob die Hände entschuldigend zur Seite. »Nicht für ewig, wisst ihr, dafür haben wir zu wenig Platz und Vorräte. Aber eine Nacht sollte gehen.«

Pia schaute in die Runde, Goof zuckte mit den Achseln, Boomer schaute sie einfach nur an. Also mal wieder ihre Entscheidung. Wie so oft. Pia zögerte einen Moment. Mitgehen? Sie kannte den Mann nicht, es hatte böse Gerüchte über Raubmorde unter Flüchtigen gegeben, damals, nach den ersten Plünderungen, als viele Menschen ihr wahres Gesicht gezeigt hatten. Sie erschauderte, als der kalte Wind ihren Rücken mit einer Gänsehaut überzog. Das Zittern überstimmte ihre Furcht, sie nickte und ging auf den Mann zu, der sich daraufhin umdrehte und scheinbar nach unten ihm Schnee verschwand. Doch da war ein Beton-Schacht mit einer Leiter! Pia bückte sich, ließ ihren Rucksack hinunter und kletterte hinterher. Fünf Meter. Zehn Meter. Oder war es sogar noch tiefer, hier am Ende der Leiter? Im Schätzen war sie schon immer schlecht gewesen. Als Computer-Freak mochte sie nur genaue Angaben, kein Pi mal Daumen. Auf jeden Fall war es ziemlich tief. Sie schnappte sich ihren Rucksack, rief nach oben und Sekunden später purzelte Goofs Gepäck den Schacht hinunter. Pia schaffte es gerade noch, zur Seite auszuweichen. Der Mann schüttelte halb belustigt, halb erschrocken den Kopf und wandte sich dann der schweren Metalltür zu, die in die Seite des Schachts eingelassen war und auch für den Michelin-Mann ausreichend breit war. Der klopfte in schneller Folge an, ein Mechanismus klackte, dann öffnete sich die Tür und warme, miefende Luft schlug Pia entgegen, ließ ihre Skibrille beschlagen. Himmlisch. Die Tür wurde gerade so weit geöffnet, dass sie nacheinander eintreten konnten und dann sofort geschlossen. Sie standen in einem einzigen, großen Raum, ein paar Beton-Säulen unterbrachen hier und da das Bild. Kisten stapelten sich an den Wänden, auf dem Boden war dicker PVC ausgelegt, irgendwo summte ein Generator und ein großer Heizblock in der Mitte des Bunkers spendete Wärme. Ein bodenlanger Vorhang in der hintersten Ecke schnitt einen kleinen Teil des Raumes ab. Von dort kam das Geräusch fließenden Wassers, das plötzlich aufhörte. Der Vorhang glitt zur Seite und eine Frau mittleren Alters trocknete ihre Hände an einem Handtuch, das sie achtlos über eine Stuhllehne legte. Dann blieb sie stehen, sah die Neuankömmlinge an und schüttelte missbilligend den Kopf.

»Legt erst mal ab. Schön warm, nicht?« Ohne eine Antwort abzuwarten, pellte sich der Mann aus seinen dicken Klamotten und stapfte in langer Unterwäsche zu der Frau. Den Pistolengurt warf er zur Seite. Er landete punktgenau auf dem Kopfkissen eines großen Bettes. Pia zuckte mit den Schultern, lehnte ihren Rucksack neben die Tür und zog sich mit einem erleichterten Seufzen die Skimaske samt Brille herunter und rubbelte über die juckende Haut. Tat das gut! Das Jucken zog über ihren ganzen Körper, als die Wärme langsam durch die Zwiebelschichten drang und taube, eiskalte Haut erreichte. Pia beeilte sich, aus den Klamotten zu kommen und behielt nur die unterste Schicht – Trainingshose, Sweatshirt und Socken – an. Am Rascheln hinter ihr erkannte sie, dass ihre Jungs es ihr gleichtaten. Plötzlich eine Stimme an ihrem Ohr, der säuerliche Geruch von Boomers Atem.

»Woher weißt du, dass wir ihnen trauen können?«, fragte er leise.

Pia zuckte mit den Achseln.

»Wenn er uns hätte erschießen wollen, wären wir schon tot.«

»Vielleicht wollte er uns lieber reinlocken. Gefrorenes Fleisch schmeckt schlechter als frisches«, warf Goof mit seiner piepsigen Stimme von hinten ein. Leider ein wenig zu laut.

Ein kindliches Lachen hinter ihnen ließ Pia herumfahren. Ein Junge von vielleicht acht Jahren stand dort, direkt hinter der Tür, hatte die Finger noch an der Türsteuerung. Oh Goof, du Idiot! 

»Papa! Der lange Dünne hier glaubt, wir würden die essen wollen!«, quäkte der Junge und lief lachend zu seinem Vater, der ihm über den Kopf streichelte.

»Dann mach schon mal den Herd an und hol mir das Schlachterbeil!« Er lachte mit seiner dunklen Stimme herzhaft auf. »Macht euch mal keine Sorgen Kinder, wir haben mehr als genug zu essen hier für die nächsten Jahre. Abwechslungsreich ist zwar was anderes, aber die Menge ist gut.«

»Wenn man Dosenfutter aller Art mag!«, warf die Frau ein, die neben der Heizung kniete und an der Steuereinheit herumfummelte.

»Fängst du schon wieder an, Schatz?! Suppen, Obst, Gemüse, ich hab alles geholt, was ich kriegen konnte.«

»Und keiner weiß, wie lange wir hier unten bleiben müssen, bevor es wieder wärmer wird, also hast du nur lang Haltbares genommen«, vollendete die Frau den Satz mit leicht affektiertem Tonfall und einem Seufzen. War wohl ein Dauerthema.

Der Mann deutete auf einen großen Holztisch an der rechten Wand. Vier Stühle standen daran.

»Setzt euch. Ich bringe euch gleich erst mal einen Kaffee. Oder lieber Instant-Tee?«

»Tee!«, warf Goof ein, der sofort zum Tisch geeilt war und sich gesetzt hatte.

Boomer schüttelte den Kopf, ging langsam hinterher und setzte sich neben den Schlaks.

»Ebenfalls. Danke! Für das Mädel bitte auch.«

Pia ging zur Heizung und hielt der Frau die Hand hin.

»Pia.«

Die Frau schaute sie zögernd an, dann stand sie auf und schlug ein. Das Alter hatte ein paar Falten in ihr Gesicht gezeichnet, aber die hübschen, blauen Augen glichen das mehr als aus. Die langen, schwarzen Haare waren zum Zopf gebunden. Pia schätzte sie auf vierzig.

»Sandra.« Sie nickte in Richtung ihrer beiden Mitbewohner.

»Mein Mann, Dennis. Und unser Sohn, Niklas.«

Pia ließ die Hand los und schaute anerkennend in die Runde.

»Ein tolles Zuhause haben Sie hier.«

Sandra lächelte.

»Ja, nicht? Dummer Zufall, wie wir an ihn gelangt sind.« Dann schob sie schnell ein »Aber die Geschichte ist zu lang, um sie jetzt zu erzählen« hinterher und ging abrupt zum Herd hinüber, der neben dem Bett stand und machte einen Wasserkocher an, während ihr Mann himbeerfarbenes Instantpulver in Tassen löffelte.

»Wie lange bleibt ihr?«, wollte Niklas wissen, der sich auf einen freien Stuhl gesetzt hatte und die Füße baumeln ließ.

»Nur bis morgen«, antwortete die Frau an Pias Stelle. Michelin-Mann-Dennis seufzte, schwieg aber. Damit war alles gesagt. Pia setzte sich neben Boomer auf den letzten freien Stuhl. Die beiden Eheleute stellten dampfende Tassen auf den Tisch. Der süße Tee tat ihnen gut, Pia schloss die Augen, genoss einfach den Moment. Das Jucken ließ mit jeder Minute nach, die sie in der stickigen Wärme verbrachten und die warme Flüssigkeit tat ihr Übriges, um sie aufzuwärmen.

Als er seine Tasse leer hatte, schaute Goof ihre Gastgeber an.

»Wann wollt ihr denn Richtung Süden ziehen?«

»Gar nicht«, antworteten Dennis und Sandra fast gleichzeitig.

»Aber ... wenn ich die letzten Infos die man noch bekam, richtig verstehe, wird das hier bald eine einzige, große Tiefkühltruhe sein.« Goof zeigte auf die Heizung und den Stromgenerator, der in der Ecke vor sich hin summte. »Das hält doch nicht ewig.«

Die Frau stieß sich von der Wand ab, ging zum Herd und hantierte mit irgendwelchen Töpfen herum. »Doch. Es wird nicht so schlimm werden, das ist nur eine Phase. Die geht vorbei. Wir sind hier sicher.«

»Die Erde wird zufrieren. Ihr werdet hier ...«

»Es reicht!«, schnitt Pia Goof das Wort ab. Ihre Stimme war leise, aber der Jugendliche reagierte, schaute auf das grobe Holz des Tisches und schwieg.

»Tschuldigung«, murmelte Pia, Dennis nickte. Alle waren still, selbst der Junge hatte aufgehört zu wippen.

Die Minuten verstrichen, nur die Heizung knackte hin und wieder und unterbrach das monotone Brummen des Generators.

Dann ging Dennis langsam zum Herd und lächelte in die Runde. »Also, wer hat Hunger?«

 

Goof schnarchte vor sich hin und schaffte es, selbst dieses Geräusch irgendwie in piepsige Höhen zu treiben. Er war ein Wunderwerk der Natur, stets in der Lage, das zu tun, was andere am meisten nervte. Kein Wunder, dass er in der Schule stets der Klassenarsch gewesen war. Pia schüttelte belustigt den Kopf. Wenigstens war sie dadurch als PC-Nerd nicht allzu sehr aufgefallen.

Endlich musste sie mal eine Nacht lang nicht drei Lagen übereinander tragen, um nicht zu erfrieren. Nur ein Hemd. Wie früher.

Der Gedanke wurde schlagartig hinweggewischt, als plötzlich Boomers Hand unter ihr Hemd fuhr und immer höher wanderte. Ihr Freund hatte sich von hinten an sie gekuschelt.

Pia genoss die Berührung, seine raue Haut, die über ihre strich, sich langsam den Weg vom Bauchnabel an aufwärts bahnte. Boomers Hand hatte ihre Brüste erreicht, umspielten sanft die Rundungen. Der muskulöse Möchtegern-Macho konnte sanft sein, wenn er wollte. Bei ihr wollte er. Ein Kribbeln lief ihr vom Nacken den Rücken hinunter und setzte sich zwischen ihren Schenkeln fort. Der Generator blubberte, sonst war nichts zu hören, hier in der äußersten Ecke des Raums, direkt vor der Tür des Bunkers. Sandra war so nett gewesen, mit zwei Bettlaken einen behelfsweisen Vorhang um sie zu ziehen, um ihnen wenigstens etwas Privatsphäre zu gönnen. Oder sie auch optisch von ihrer Familie zu trennen. Egal warum, es war Pia nur recht.

Goof seufzte einmal, rollte sich auf die andere Seite und drehte ihr damit den Rücken zu. Wenn nicht jetzt, wann dann? Sie vollbrachte das Kunststück, sich auf den wenigen Quadratzentimetern ihrer Isomatte zu drehen, Boomers Atem schlug ihr ins Gesicht. Sie drückte ihre Nase an seine, streichelte über seine Wange und genoss den Augenblick.

»Ich liebe dich. Mehr als alles andere auf der Welt.« Selbst flüsternd hinterließ seine Bassstimme einen wohligen Schauer auf ihrem Rücken.

Sie schaute in seine Augen, verlor sich in der Tiefe und musste eine Träne unterdrücken.

»Ich dich auch!«, flüsterte sie zurück. Sie küssten sich. Erst langsam, sie genossen die Zeit, die sie endlich einmal füreinander hatten, dann immer stürmischer. Hände wanderten unter Kleidung, erforschten den Körper des nicht in zig Lagen eingehüllten Anderen. Die Küsse wurden länger, Pia zog ihn zu sich, knabberte an seinem Ohrläppchen.

Muskulöse Arme umfassten ruckartig ihren Po. Ein schneller Blick zur Seite. Goof schlief den Schlaf der erschöpften Schneewanderer, und bis auf das Blinken des Generators war durch das Laken auch im Bunker nichts zu sehen. Flink streifte sie ihr Hemd und ihren Schlüpfer ab, während er mit durchgedrücktem Kreuz seine Hose ein Stück hinunter schob. Dann setzte sie sich auf ihn und er drang sofort in sie ein und sie quiekte auf, halb erschrocken ob der Heftigkeit, halb in tiefer Lust. Ihre Körper fanden einen gemeinsamen Rhythmus. Die Welt verlor sich im Takt des Auf und Ab, das immer unregelmäßiger wurde. Zeit verlor ihre Bedeutung, der Bunker drehte sich um sie, sie fühlte sich frei, alle Gedanken wurden weggewischt. Seine Hände krallten sich in ihren Rücken, der spitze Schmerz verschmolz mit ihr, sie ließ sich davontragen. Plötzlich bäumte er sich auf, stöhnte im Orgasmus, zuckte unkontrolliert, dann rollte wie eine unbändige Brandung auch ihr Höhepunkt vom Becken an aufwärts, sie warf den Kopf zurück, biss sich auf die Lippe, um nicht aufzuschreien. Ihre Bewegungen wurden langsamer, bis sie letztlich ruhten. Seine Hand fuhr zu ihrem Gesicht hoch, streichelte ihre verschwitzte Wange und sie lehnte sich daran, genoss das Gefühl. Dann stand sie vorsichtig auf und benutzte ein herumliegendes Handtuch, als sie zur kleinen Toilette schlich. Die Spülung hallte laut durch den Raum, aber offenbar nahm niemand nahm Notiz davon. Doch, Dennis brummelte irgendetwas, dann hörte sie, wie er sich im Bett umdrehte. Pia schlich zurück, kuschelte sich an Boomer, der sie fest im Arm hielt und durch ihr Haar streichelte.

»Wir schaffen das«, flüsterte er ihr zu. Sie lächelte ihn an, betrachtete das Leuchten in seinen Augen und nickte mit einem Lächeln auf den Lippen. Zusammen würden sie alles schaffen. Sogar Goofs Schnarchen auszuhalten.

 

Der Abschied war kurz, aber herzlich gewesen. Auch wenn Pia das Gefühl nicht los wurde, dass Sandra eher froh war, dass sie endlich gingen und somit keine Unordnung mehr in ihr zum langsamen Erfrieren bestimmtes Leben brachten. Sie zuckte mit den Schultern, rückte den schweren Rucksack ein Stück zurecht und stapfte durch den Schnee.

»Noch eine Stunde, dann müssten wir die Hauptstraße erreicht haben. Ab da müsste es deutlich schneller gehen.« Goof deutete nach vorne und Pia nickte. Von Boomer kam kein Laut. Still wie so oft marschierte er einfach vorneweg, stemmte sich gegen den Wind und ermöglichte es den anderen, in seinem Windschatten zu laufen.

Immer einen Fuß vor den anderen. Die Zeit dehnte sich zu einem unendlichen Band, die Welt bestand nur aus dem Knarzen des gefrorenen Schnees, wenn der breite Schneeschuh die oberste Schicht zerbrach. Durch die Skimaske roch sie ihren eigenen Schweiß, der sich schon lange in ihren Klamotten festgesetzt hatte. Aber es war halbwegs auszuhalten. In Boomers Windschatten jedenfalls. Die Zeit verging.

 

Pia bückte sich, stieß ihre behandschuhte Hand tief in den Schnee, holte einen Klumpen sauberen, gefrorenen Wassers hervor und steckte sich das Weiß in den Mund, wo es langsam zerging. Das Waldstück, das sie durchquerten, war an dieser Stelle dicht. Zahlreiche Büsche, die gerade noch so aus dem mittlerweile extrem tiefen Schnee herausschauten, machten ihren Weg zu einem Slalomlauf, wollten sie sich nicht ständig durch irgendein eisbewehrtes Gebüsch die Kleidung aufschlitzen lassen.

»Müssten noch circa 10 Minuten sein bis zur Straße.«

Endlich. Pia klopfte Goof zustimmend auf die Schulter. Boomer lief gut zehn Meter vor ihnen her. Da hörte sie es. Ein Knacken. Sie blieb stehen, kniff die Augen zusammen, versuchte durch den leichten Schneefall etwas zu erkennen. Nichts.

Boomer hatte nichts gehört und stapfte einfach weiter. Aber Goof schaute mit ihr in dieselbe Richtung und sah ebenfalls angespannt aus.

»Hast du das auch gehört?«, fragte sie, da knirschte es plötzlich auf der rechten Seite. Hinter diesem großen Baum.

»Boomer«, zischte Goof und ihr Muskelmann blieb stehen, drehte sich zu ihnen um und hob die Arme.

»Ist was?«

»Sei leise!« Pia ging ein paar Schritte, bemühte sich, mehr zu sehen.

Fell im Schnee, eingesunken im tiefen Weiß. Der Wolf schwamm mehr durch den Schnee, als dass er lief, kam aber trotzdem schnell voran. Ein silber-graues U-Boot im weißen Meer. Boomer sah ihn wohl im Augenwinkel, drehte sich zu dem Raubtier, machte Anstalten loszulaufen. Plötzlich sprang ein weiterer, größerer Wolf mit silbernem Fell hinter einem umgestürzten Baum hervor, versank bis zur Brust im Schnee und näherte sich trotzdem beängstigend schnell Boomer. Der Weg war abgeschnitten. Boomer ruckte herum, wollte ausweichen, da hatte ihn der erste Wolf erwischt und riss ihn von den Beinen. Boomer und der Wolf versanken sofort im hüfthohen Schnee. Boomer schrie. Fell. Krallen. Zähne. Der zweite Wolf kam dazu. Pia taumelte zurück, ihre Schneeschuhe verkanteten sich und sie fiel rückwärts in den Schnee, versuchte panisch Raum zwischen sich und den Kampf zu bringen, indem sie rückwärts robbte und die Schneeschuhe immer zwischen sich und dem Wolf hielt. Hinter ihr schrie Goof und von dort kam auch ein Knurren. Sehr nahe. Sie stieß an einen Baum, drückte sich daran hoch und schaute sich hektisch um. Ein drittes Raubtier stand auf einem Baumstumpf, knapp über der Schneeoberfläche. Das Fell war aufgestellt, ebenso die Ohren. Die Zähne gefletscht stieß das Tier ein tiefes Knurren aus, das Pia alle Haare zu Berge stehen ließ. Sie hatte einen Wolf noch nie aus dieser Nähe gesehen.

 

Vorsichtig richtete sie sich auf, immer die Augen auf den lauernden Wolf gerichtet, und versuchte, keine allzu hastigen Bewegungen zu machen. Als sie wieder auf dem Schnee stand, lief sie los. Panik! Goof direkt neben ihr. Der Wolf sprang in den Schnee und schwamm hinter ihnen her.

Die Schneeschuhe waren fürs Rennen nicht gemacht. Pia warf keuchend einen Blick über die Schulter. Der Wolf war direkt hinter ihr! Sie waren nur noch wenige Schritte von Boomer entfernt, der immer noch mit den beiden Wölfen rang. Seine Ärmel und Hosen waren vom Blut rot gefärbt. Der große Wolf hatte sich in seinen Oberschenkel verbissen, dem anderen schlug Boomer gerade auf die Schnauze. Das Raubtier jaulte auf. Boomer trat mit dem freien Fuß gegen die Flanke des Großen und warf ihn so zur Seite. Er blickte sich panisch um. Ihre Blicke trafen sich. Er sah den Wolf, der sie verfolgte. Boomer spannte alle Muskeln, schrie vor Schmerzen auf und warf sich dann auf das Tier.

Pia wollte stoppen, doch Goof riss sie am Arm mit sich.

»Rennt. Haut ab!« schrie Boomer und schlug wie irre auf das Fellknäuel ein, das er unter sich begraben hatte. Inzwischen hatte sich der Silberrücken aufgerappelt und warf sich auf die zwei Kämpfenden.. Boomer schrie. Pia rief seinen Namen.

Boomer rief ein letztes Mal: »Haut ab!«, dann sah Pia bei ihrem letzten Blick zurück nur noch ein Knäuel aus Fell und Kleidung.

Ihre Beine entwickelten ein Eigenleben, rannten von sich aus, stolperten vorwärts durch den Schnee, während sie immer wieder Boomers Namen rief, umkehren wollte, aber Goof verhinderte das und ihr Instinkt tat das Übrige. Ihre Beine rannten in eine andere Richtung, als Kopf und Herz wollten.

Ein furchtbarer Schrei, der gurgelnd abbrach, übertönte das Gejaule hinter ihnen. Dann war Stille. Die Wölfe heulten. Pia rannte.

 

Langsam nahm sie ihre Umgebung wieder wahr und Pia stellte verwundert fest, dass sie auf der mittleren Fahrspur einer Autobahnbrücke stand. Die Autobahn war künstlich erhöht angelegt, lag wie eine tote Schlange in der weißen Landschaft. Der Wind zerrte an ihrer Kleidung. Es lagen nur wenige Zentimeter Schnee, den Rest wehte der Wind sofort von der Fahrbahn. Sie hatte keine Ahnung, wie sie hierhergekommen war. Ihr Atem rasselte und die Oberschenkel brannten, als ob sie in Flammen stehen würden. Die beiden untersten Schichten Kleidung klebten auf der Haut und die vollgeschwitzte Skimaske fror auf der Haut fest und hinterließ nichts als ein scharfes Brennen. Langsam richtete sie sich auf und schaute sich um. In mehreren hundert Metern Entfernung sah sie das Böse schlechthin. Den Wald. Den Wald der Wölfe, in dem Boomer sein Leben gelassen hatte. Boomer! Tränen schossen ihr in die Augen. Sie rutschte langsam am Kofferraum des Wagens zu Boden und blieb im knöcheltiefen Schnee sitzen. Pia wiegte sich langsam vor und zurück, umklammerte ihren Brustkorb und schluchzte. Die Minuten gingen dahin, der Boden entzog ihr die Körperwärme, aber sie fühlte es kaum. Vielmehr spürte sie, dass in ihr etwas fehlte, das die letzten Monate über stets da gewesen war. Boomer war tot. Hatte sich für sie geopfert. Für sie beide? Wohl eher nicht. Nur für sie. Sie verlor sich in ihren Tränen.

Langsam registrierte sie, dass Goof mittlerweile neben ihr stand, er hatte wohl auf der anderen Seite des Wagens gewartet. Ihre Privatsphäre respektiert.

Eine Hand erschien in ihrem Gesichtsfeld. Langsam, zögerlich ergriff sie sie und wurde sanft in die Höhe gezogen. Goof drückte ihr einen Rucksack in die Hand. Ihren Rucksack. Wann hatte er ihr den abgenommen? Hatte der schmächtige Junge den etwa auch noch getragen? Sie wusste es nicht. Alles nach Boomers Schrei war aus ihrem Gedächtnis gelöscht.

»Wir müssen weiter.« Unter Goofs Skimaske zeichnete sich ein schüchternes Lächeln ab. »Er hätte es gewollt. Komm.« Damit drehte sich der Schlaks um und ging vorweg. Pia schüttelte erstaunt den Kopf, und nach einer langen Sekunde der Unentschlossenheit schloss sie sich ihm an.

Der Wind trieb die Wolken davon und die Sonne kam hervor. Zum ersten Mal seit langem hörte der Schneefall auf, so dass Pia in der glasklaren Luft weit in die Ferne sehen konnte. Die Autobahn zog sich durch die weiße Landschaft. Die Welt war unterschiedslos geworden, ein weißer Brei, endlose Weiten. Dass einen ein einzelner Schritt hier dem Ziel näher brachte, war kaum zu vermitteln. Pia setzte trotzdem einen Fuß vor den anderen, ihre Schneeschuhe drangen bis auf das Eis auf dem Asphalt durch. Sie hatten sogar probiert, ohne sie zu laufen, aber das Eis unter der dünnen Schneeschicht machte das zu einer höllischen Rutschpartie. Durch die größere Trittfläche kamen sie auch auf der Eisschicht schneller mit den Schuhen voran.

Goof lief vor ihr, immer wieder passierten sie Fahrzeuge, die eine dünne Schicht aus festgefrorenem Schnee wie mit einem weißen Tuch bedeckte. Ob Leichen darin lagen? Steifgefroren, verendet auf der Flucht aus der weißen Hölle? Sie wusste es nicht und ihr Wille, es herauszufinden, war nicht vorhanden. Ein Toter heute hatte ihr gereicht.

Vorsichtig liefen sie die Autobahnbrücke auf der anderen Seite wieder herunter und folgten der weißen Schlange, die sich endlos Richtung Norden erstreckten. Die Sonne schien Pia ins Gesicht und glitzerte im Schnee. Ihre Skibrille polarisierte und dämmte den zu grellen Lichtschein ab. Die Sonne auf dem Gesicht zu spüren war einfach schön, egal wie sehr die Umgebung auch einem Eisschrank glich.

Das flache Land kroch langsam an ihnen vorbei, die langsamen Schritte und das Licht hypnotisierten sie. Die Zeit wurde zu einer nicht fassbaren Größe.

Nach einer nicht definierbaren Zeitspanne blieb Goof stehen und setzte sich auf die Motorhaube des am nächsten stehenden Wagens.

»Pause«, beschied er und Pia nickte. Gegen einen Moment der Rast war nichts einzuwenden. Auch wenn Boomers starke Schulter fehlte, gegen die sie sich hätte lehnen können. Schnell wischte sie den Gedanken weg, ließ stattdessen ihren Rucksack auf den Boden fallen, kramte darin so lange herum, bis sie eine Packung Zwieback erwischt hatte und setzte sich neben Goof auf die Motorhaube. Monoton kaute sie das süßliche Brot und schob immer mal wieder eine Handvoll Schnee zum Nachspülen in den Mund. Kein Festessen, aber immerhin etwas im Magen. Die Haube unter ihr knarzte protestierend, als sie ihren Sitz verlagerte. Goof machte sich auf der Motorhaube lang und blickte in den Himmel.

»Was meinst du, ist das U-Boot wirklich da?«

Pia zögerte einen Moment, dann zuckte sie mit den Schultern.

»Wahrscheinlich ja. Die Daten waren recht eindeutig.« Sie hoffte es jedenfalls, ansonsten wären sie

Ewigkeiten in die falsche Richtung gegangen.

Goof seufzte, schwieg aber ansonsten und schaute weiter in den Himmel. Mit der mittlerweile dunkelbraunen Glasfläche seiner Skibrille glich er einer Comicgestalt, die Pia in den Sinn kam, deren Name ihr aber nicht einfallen wollte. Sobald dieser Held seine Spezialbrille abnahm, kamen Laserstrahlen aus den Augen und schmolzen selbst dickste Stahltüren wie Butter. Sie musste auflachen. Goof ein Held. Was für eine Vorstellung.

»Ist was?« Der Schlaks richtete sich auf und schaute sie an.

Pia schüttelte den Kopf und klopfte Goof etwas Schnee vom Rücken.

»Wollen wir?«

»Nur einen Moment noch.«

Der Junge nickte, stand aber trotzdem von der Motorhaube auf und schaffte etwas Ordnung in seinem Rucksack. Dann ging er gelangweilt um das Fahrzeug herum, auf dem sie sich niedergelassen hatten. Pia schaute ihm zu. Nach einem Moment des Zögerns wischte Goof den Schnee vom Fenster der Beifahrerseite und wagte einen Blick ins Innere. Kein Schrei. Also keine Leichen.

»Und? Irgendwas Interessantes?«

Goof drehte ihr betont langsam den Kopf zu. Dann sah sie sein Grinsen unter der verdreckten Skimaske.

»Och, wenn du einen Polizeiwagen interessant findest?«

Pia sprang auf und lief zum Fenster auf der Fahrerseite, schob den Schnee beiseite und starrte durch das von Eiskristallen überzogene Glas. Er hatte recht. Funkgerät und Polizeicomputer am Armaturenbrett waren deutlich zu erkennen. Das eingeschneite Blaulicht auf dem Wagen hatte sie überhaupt nicht bemerkt.

»Denkst du, was ich denke?«, fragte Goof.

Pia schaute zu ihm herüber. »Glaubst du ernsthaft, wir kriegen den wieder zum Laufen? Der steht bestimmt seit Wochen hier.« Sie schaute sich um, aber das Wetter hatte alle eventuellen Fußspuren längst verwischt. »Und wenn der noch fahren würde, hätten die Bullen ihn hier bestimmt nicht stehen lassen.«

»Und? Was haben wir zu verlieren?«

»Zeit!«

Goof zuckte mit den Schultern, überlegte einen Moment, antwortete dann: »Einen Versuch, Pia. Bitte!«

Wegen seines quengeligen Tonfalls musste sie fast lachen und schüttelte belustigt den Kopf.

»Na gut, du altes Spielkind. Aber wenn wir den nicht innerhalb einer halben Stunde zum Laufen gebracht haben, machen wir uns auf die Socken! Klar?«

»Klar!« Goof strahlte und zog an der Beifahrertür, die sich natürlich keinen Zentimeter bewegte. Nur zum Spaß versuchte es Pia auf ihrer Seite. Die Tür öffnete sich zwar nicht, aber sie spürte, wie der Griff den Riegel beiseiteschob.

»Hier ist nicht abgeschlossen!«

»Hier auch nicht!« Goof eilte wie ein kleines Kind zu seinem Rucksack, zückte einen ihrer wertvollsten Besitztümer und ging mit dem Sturmfeuerzeug zurück. Erst wollte sie ihn abhalten, aber dann fiel ihr die kleine Flasche Brennstoff ein, die sie für das Feuerzeug beim Supermarkt-Van erbeutet hatten. Sollte also kein Problem darstellen.

Der Schlaks schob den Schnee rund um die Tür zur Seite und fing an, mit dem Feuerzeug die Türdichtung zu bearbeiten. Auch wenn ihr Hirn sagte, dass keine Gefahr drohte, ging Pia dennoch instinktiv ein paar Schritte zurück und setzte sich auf die Mittelleitplanke, die gerade noch so aus dem Schnee herausragte. Von hier aus hatte sie einen weiten Blick über die Landschaft. Eine Ebene mit vereinzelten Bäumen, viele davon umgestürzt.

Dann hörte sie ein knackendes Geräusch und Goof schrie triumphierend auf.

»Ich hab's!« Der Junge zog und zerrte an der Beifahrertür, die sich langsam öffnete und dabei hässliche Knackgeräusche von sich gab. Pia stand schnell auf und half Goof, die Tür ein paar Mal hin und her zu bewegen, so dass sie sich nun deutlich leichter öffnen ließ. Der Schlaks holte seinen Rucksack und warf ihn zwischen Fahrer- und Beifahrersitz auf die Rückbank. Die Schneeschuhe folgten.

»Na, du hast ja einen Optimismus!«

Pia sah das strahlende Lächeln unter seiner Maske durchblitzen, dann schob sich Goof auch schon ins Fahrzeug und kletterte auf den Fahrersitz.

Pia zuckte mit den Achseln, warf ihren Rucksack und die klobigen Schneeschuhe ebenfalls hinein, setzte sich auf den Beifahrersitz und zog die Tür bis auf einen kleinen Spalt zu. Sie traute sich nicht, sie vollständig zu schließen. Das Eis war ein unbarmherziger Feind, der in den schlimmsten Momenten zuschlug.

»Hast du die Schlüssel?«, feixte Pia, aber Goof winkte ab.

»Brauch ich nicht. Ich hab da mal eine Sendung gesehen. Der Bordcomputer kontrolliert bei diesem Polizeiwagen-Modell alles. Sogar die Zündung. Damit gilt er als sehr diebstahlsicher und konnte – als das Funknetz noch existierte – sogar aus der Ferne abgeschaltet oder gestartet werden.« Er schob die Skibrille vom Gesicht, kratzte sich ausgiebig die gerötete Stirn und zwinkerte Pia zu. »Also dein Fachgebiet, meine Liebe!«

Pia grinste. Das konnte ja lustig werden. Aber gut, was sollte schon passieren, wenn sie dem Polizeicomputer unterlag? Schlimmstenfalls würde das Fahrzeug nicht anspringen und dann stünden sie keinen Deut schlechter da als vorher. Sie griff nach hinten zu ihrem Rucksack, holte ihren seit dem Polizeirevier unbenutzten Handheld-PC hervor und schloss ihn mit Hilfe des Universalkabels an die Konsole in der Mitte des Armaturenbretts an. Einen Moment lang passierte nichts. Dann erwachte der Bord-Computer und projizierte ein Head-Up-Display auf die zugeschneite Frontscheibe. Erst flackernd, doch dann stabilisierte sich die Anzeige.

»Klasse!«, jubelte Goof.

»Das war nur die halbe Miete. Der schwere Teil kommt jetzt.« Eine Passwortabfrage erschien auf dem Display. Pia tippte auf ihrem Handheld herum und überzeugte das Fahrzeug, dass es in einer Werkstatt sei und in den Wartungsmodus wechseln solle. Prompt wurde ein neues Menü auf der Windschutzscheibe eingeblendet, alle sicherheitsrelevanten Daten wie Fahndungsregister und so weiter verschwanden. Kein Thema, daran waren sie eh nicht interessiert. Pia atmete tief ein, roch das chemische Meeres-Aroma des Duftbäumchens am Rückspiegel und wählte das Service-Menü. Neue Einträge erschienen, alte verschwanden.

»Werkseinstellungen?«, fragte Goof. »Meinst du echt, die sind so doof?«

Pia lächelte verschmitzt. »Vielleicht.« Damit bestätigte sie den Menüpunkt, bejahte die Sicherheitsabfrage, ob das System wirklich auf die Werkseinstellungen zurückgesetzt werden sollte und stieß einen Fluch aus. Eine neue Passwortabfrage erschien. Also waren das doch nicht alles Vollidioten. Gewesen. Dann hatte sie eine Idee. Das Eingabefeld war deutlich kürzer als das erste. Also ein Servicepasswort. Vielleicht ... sie tippte auf dem Handheld herum. Sie hatte vor ewigen Zeiten – als es noch einen Rest Ordnung gab, an dem man sich festklammern konnte – mal eine Datei im Netz erbeutet, die die häufigsten Servicepasswörter großer Hersteller beinhaltete. Sie scrollte durch ihre Dateiliste. Wo war die nur? Ah ja, hier. Pia öffnete die Datei und wies ihren Handheld an, den Fahrzeugcomputer der Reihe nach damit zu füttern.

»Und?« Goof beugte sich so weit zu ihr herüber, dass sein Kopf das Display ihres Handheld fast verdeckte. Sie drückte ihn beiseite.

»Warte.«

Kaum hatte sie es ausgesprochen, leuchtete die Passwortabfrage auf der Scheibe grün auf und verschwand. Pia hielt den Atem an und atmete erst aus, als das Folgemenü erschien. Dann jubelte Goof schmerzhaft laut neben ihrem Ohr und strubbelte ihr über die Kapuze.

»Du hast es geschafft!«

Pia grinste. »Sieht so aus!« Dann ging sie das Menü durch. Die Werkseinstellungen hatten alle polizeirelevanten Daten »verschwinden« lassen, bis sich das Fahrzeug das nächste Mal mit dem Hauptcomputer der Polizei synchronisieren konnte. Da konnte das Spatzenhirn lange warten. Das Behördennetz war zwar eines der letzten gewesen, das ausfiel, aber es war genauso weg wie alle anderen auch. Dem Eis zum Opfer gefallen. Oder den Unruhen. Was letztlich auf dasselbe Resultat hinausgelaufen war.

Stattdessen leuchtete nur ein rudimentäres Menü auf der Windschutzscheibe. Sie konnte den Status der einzelnen Systeme abfragen. Und den Wagen starten. Mehr nicht. Ziemliche Einschränkung!

»Schau erst mal nach, wie viel Sprit wir noch haben«, warf Goof von der Seite ein und Pia tat ihm den Gefallen. Die einzelnen Systeme des Wagens wurden als Head-Up-Display auf die Scheibe geworfen und erstrahlten dort im metallischen Blau, dass der Hersteller des Wagens für seine Anzeigen ausgewählt hatte.

»Tank halbvoll, Batterie fast leer. Oh, wir haben jede Menge Frostschutzmittel. Und die Scheibenwischerflüssigkeit ist voll. Toll!«, scherzte Goof.

»Immerhin.«

Pia atmete tief durch. »Sollen wir?«

»Klar! Sonst finden wir ja nie raus, ob wir weiter laufen müssen.« Goof hob die Hände zum Wagendach und betete: »Oh bitte, bitte, bitte, lieber Gott, ich habe die Schnauze derart voll vom Latschen. Bitte lass diese grünen Vollidioten das gute, frostgeschützte Winterdiesel getankt haben, die Batterie für das erste Anspringen ausreichen und auch sonst alles glatt gehen, auf dass wir unsere Füße schonen können.«

Pia nickte. »Amen.«

Dann bestätigte sie den zweiten Menüeintrag. Die Zündung röchelte auf, sie hörte den Motor kurz anspringen, dann erstarb er augenblicklich.

»Probiers nochmal!«, flehte Goof.

Pia drückte im Geiste die Daumen und bestätigte noch einmal. Die Zündung hörte sich erneut an wie ein Achtzigjähriger mit Keuchhusten. Aber der Motor sprang an und blubberte im Leerlauf vor sich hin. Für eine Sekunde war Ruhe im Wageninneren, dann schrien beide gleichzeitig los und lagen sich in den Armen.

»Fahren! Wir können fahren!« Goof kriegte sich gar nicht mehr ein und hüpfte wild auf dem Sitz herum. Pia blendete erneut die Systemanzeigen ein und sah, wie die Batterie sich langsam durch den laufenden Motor auflud. Am liebsten hätte sie sofort die Heizung bis zum Anschlag aufgedreht. Aber die Sorge, das würde dem über Wochen eingefrorenen Wagen den Rest geben, überwog. Stattdessen stieg sie aus und schob den Schnee von Windschutz- und Heckscheibe. Der Schnee schmolz rußschwarz unter dem Auspuff und der Dieselgestank roch wie das süßeste Parfüm der Welt. Sie lief zurück zur Beifahrertür, stieg ein und traute sich nun, die Tür komplett zu schließen. Diese Ruhe. Keine Naturgeräusche. Nur das leise Blubbern des Motors war zu hören. Unglaublich.

»Kannst du fahren?«

Goof wog langsam den Kopf hin und her, wodurch die um den Hals baumelnde Skibrille hin und her schwang.

»Können ist zu viel gesagt. Aber ich hab schon ein paar Trainingseinheiten auf dem Verkehrsübungsplatz hinter mir. Mit dem Wagen meines Onkels. Früher.«

»Da es meine allererste Stunde auf dem Fahrersitz wäre, bist du mir meilenweit überlegen und somit ab sofort unser offizieller Fahrer.« Pia klopfte ihm auf die Schulter und spürte selbst durch die zahlreichen Schichten Kleidung die spitzen Knochen. Dass der Junge nicht vom Wind durch die Gegend geweht wurde, war wirklich ein Wunder. Oder dem Rucksack zu verdanken.

Goof lachte auf.

»Dann wollen wir mal.« Vorsichtig trat er die Kupplung und legte den ersten Gang ein. Irgendetwas quietschte protestierend auf, aber der Wagen gehorchte und setzte sich in Bewegung. Zentimeter für Zentimeter schoben sie sich über die vereiste Fahrbahn. Ob der Motor durchhielt? Und wenn sie nur ein paar Kilometer weit kamen, war das immer noch eine Strecke, die sie nicht laufen mussten.

Goof gab vorsichtig etwas mehr Gas und aus Zentimetern wurden Meter. Die Reifen griffen erstaunlich gut.

»Klappt«, bestätigte er überflüssigerweise.

»Dann gib mal Gas.« Vorsichtshalber schnallte sich Pia an.

 

Eine Stunde waren sie jetzt unterwegs und der Motor lief immer noch. Pia schickte ein Stoßgebet zum Himmel. Die Batterieanzeige auf dem Head-Up-Display verkündete, dass mittlerweile keine akute Gefahr mehr drohte, wenn der Motor mal ausgehen würde. Pia griff zur Mittelkonsole und drehte die Heizung auf höchste Stufe.

Goof lachte. »Endlich!«

Sie warf einen Blick auf den Kilometerzähler. Immerhin. Sechzig Minuten für dreizehn Kilometer waren nicht der Hit, aber immer noch besser als dieselbe Strecke zu Fuß zu bewältigen.

Schweigend fuhren sie weiter, die Landschaft zog im Schneckentempo an ihnen vorbei. Links und rechts der Straße gähnten weite, leere Felder aus Schnee und immer mal wieder ein paar Bäume, die wie Eispickel aus dem weißen Einerlei herausstachen. Auch die liegengebliebenen Fahrzeuge waren weniger geworden, nachdem sie das direkte Umfeld der Auffahrt verlassen hatten. Viele Fahrer waren gar nicht so weit gekommen. Pia schauderte und sie hielt ihre Hände unter die Lüftung, aus der die erste, leidlich warme Luft herauskam. Es fühlte sich wie ein Segen an.

»Halt nach Autobahntankstellen Ausschau. Vielleicht haben wir ja nochmal Glück.«

Pia zögerte einen Moment. Glück? Boomer war gestorben. Aber Goof hatte recht. Der Wagen war ein Lichtblick. Vielleicht schafften sie es wirklich rechtzeitig zum U-Boot, bevor es ablegte und damit ihre letzte Chance in die eisigen Tiefen mit sich nahm. Oder wie auch immer man es sich im Meer vorstellen musste. Sie hatte nur davon gelesen. Von klarem Wasser, Fischen, Korallenriffen. Ob die Kälte davon irgendetwas übrig gelassen hatte?.

»Alles klar«, sagte Pia und hob den Daumen, nur um die Hand danach direkt wieder unter die Lüftung zu halten. »Ich schau gleich mal auf die letzte Straßenkarte, die mein PC noch zu bieten hat. Aber gib mir einen Moment, diese Eisblöcke wieder in Finger zu verwandeln.«

Goof lachte. »Klaro! Ich hab eh noch keine Schilder gesehen. Also sind es bis zu einer Tanke auf jeden Fall noch mehrere Kilometer. Bei unserer wahnwitzigen Geschwindigkeit ...!« Er ließ den Satz unvollendet und Pia konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen.

Erneut setzte Schneefall ein. Goof schaltete die Scheibenwischer ein, die mit einem hässlich knarzenden Geräusch ihren Dienst aufnahmen und die weißen Flocken beiseiteschoben.

Dann beugte sich der Schlaks plötzlich nach vorne. Pia sah ihn an und folgte seinem Blick. Und klebte eine Sekunde später ebenfalls fast an der Scheibe.

»Menschen?« Goofs Tonfall klang ängstlich und Pia konnte es ihm nicht verdenken. Sie sah sie ebenfalls. Eine Autobahnabfahrt lag in gut zweihundert Metern Entfernung vor ihnen. Und ein Fahrzeug stand in verkehrter Fahrtrichtung – gen Süden – rechts auf dem Seitenstreifen. Die Kühlerhaube war geöffnet, jemand beugte sich über den Motorraum und ein weiterer schaute ihm über die Schulter.

»Was sollen wir tun?« Goofs Angst war in Panik umgeschlagen. Pia konnte das Zittern in seiner Stimme hören, sah, wie sich seine Hände immer fester an das Lenkrad klammerten. Sie legte ihm eine Hand auf die Schulter.

»Keine Panik. Die sind einfach nur liegengeblieben. Wir fahren dran vorbei, kurbeln ohne stehen zu bleiben mein Fenster runter, fragen, ob wir helfen können, und wenn uns etwas nicht sauber vorkommt, gibst du Stoff. Okay?«

Goof nickte eilig. Klang nach einem Plan. Keinem wirklich durchdachten, aber das war immer noch besser als keinen zu haben.

Pia schnallte sich vorsichtshalber wieder an, legte ihre Hand auf den elektrischen Fensterheber und wartete. Bis auf den liegengebliebenen Jeep war die Fahrbahn völlig leer – von der knöchelhohen Schneeschicht mal abgesehen. Wäre das Eis unter dem ganzen Weiß nicht gewesen, sie hätten hier richtig Geschwindigkeit machen können.

Sie waren bis auf gut fünfzig Meter heran, als die beiden Gestalten plötzlich auf die Fahrbahn sprangen. Eine weitere Person stieg aus der Beifahrertür und blieb beim Wagen stehen. Alle drei hatten Gewehre auf sie gerichtet.

Goof ging instinktiv vom Gas, der Wagen rollte aus.

Der dritte Mann schwenkte seine Waffe wie einen überdimensionierten Fächer hin und her und wedelte zusätzlich mit dem anderen Arm. Die Geste war unmissverständlich. Stehenbleiben.

Pia spürte, wie das Blut in ihren Adern zu pochen begann, Adrenalin flutete durch ihren Körper. Sie warf einen panischen Blick zu Goof herüber, der wie festgefroren am Lenkrad klebte. Der Wagen rollte weiter aus, war fast gänzlich zum Stehen gekommen.

Wie hoch standen wohl die Chancen, dass diese Leute freundlich nach Ersatzteilen fragen würden?

»Fahr!«, schrie Pia, Goof blickte sie an, sah die Entschlossenheit in ihren Augen, schluckte schwer und trat das Pedal voll durch. Die Räder drehten durch und Schnee wurde aufgewirbelt, während ihr Wagen nur zögernd Fahrt aufnahm. Dann brach das Heck aus und knallte gegen die Mittelleitplanke. Ein hässliches Kreischen, als Metall auf Metall traf, dann schob sich der Wagen wie an einer Schiene an der Leitplanke entlang, wurde dadurch gebremst nur langsam schneller. Die Geschwindigkeitsanzeige zitterte über der Zehn-km/h-Marke. Der Mann auf ihrer Fahrbahnseite warf sich zur Seite, als sie nur knapp an ihm vorbei schlidderten.

Das laute »Stehenbleiben oder wir schießen!« war selbst durch die geschlossenen Türen gut zu hören.

»Weiter! Gib Gas!«, bestätigte sie Goof und der Schlaks hielt den Fuß weiterhin auf dem Gas. Fünfzehn Stundenkilometer. Und das bestialisches Kreischen des Metalls auf der Fahrerseite. Die »Schienenfahrt« funktionierte. Wahnsinn.

Dann knallten Schüsse hinter ihnen, Kugeln durchschlugen die Karosserie, die Heckscheibe zerbarst. Glassplitter ergossen sich über die Rückbank bis in ihren Fußraum.

Vor ihnen tauchte ein liegengebliebenes Fahrzeug auf und Goof versuchte krampfhaft, den Wagen von der Leitplanke wegzulenken. Einer der Männer hinter ihnen schrie etwas und erneut peitschten Schüsse.

Pia schrie, Eis und Schnee spritzten hoch. Plötzlich ein lauter Knall, direkt auf ihrer Seite. Den Bruchteil einer Sekunde glaubte Pia, getroffen zu sein, denn die Welt drehte sich. Dann wurde ihr bewusst, dass Goof völlig die Kontrolle verloren hatte. Seine Schreie trugen zu dieser Annahme bei. Der Wagen drehte sich um die eigene Achse, schlug immer wieder irgendwo gegen. Dann zerbrach die Windschutzscheibe und Sicherheitsglas regnete auf sie herab. Der Fahrtwind schnitt wie ein eisiges Messer in die Augen, Pia sah nur noch Chaos. Dann knallte der Wagen mit der Fahrerseite gegen die andere Leitplanke. Sie wurden durchgeschüttelt, Pia schrie und mit einem Ruck, als würde ihr ein Riese ins Genick treten, kamen sie zum Stehen. Ihre Brust fühlte sich an wie flüssiges Feuer, insbesondere dort, wo der Gurt in ihren Brustkorb geschnitten hatte.

»Goof! Alles klar?«

Ein Stöhnen kam als Antwort. Pia duckte sich unter der nächsten Windbö weg, die durch das Loch fegte, wo einmal ihre Windschutzscheibe gewesen war. Hastig setzte sie die Skibrille auf. Endlich konnte sie wieder etwas sehen. Von vorne hörte sie Rufe. Eine Dampfwolke kam aus der Motorhaube, die einer Ziehharmonika glich. An eine Weiterfahrt war nicht zu denken.

»Nein!« Ein weiterer Schrei drang leise zu ihnen herüber. »Ihr Idioten. Der Wagen!« Dann peitschten Schüsse über das Fahrzeug hinweg, einer durchbohrte mit einem lauten »Klong« die Beifahrertür ein paar Zentimeter über ihrem Oberschenkel und verabschiedete sich durch den Kofferraum. »Dafür werdet ihr bezahlen. Der Wagen!«

Pia nestelte hektisch am Gurtverschluss herum und sah, dass Goof es auch nicht sofort schaffte.

»Weg!«, schrie er, griff zu den Schneeschuhen, die in einem Meer aus Glassplittern im Fußraum der Rückbank lagen. Endlich ließ sie ihr Gurt auch frei. Sie schnappte sich die Schneeschuhe, warf sich gegen die Beifahrertür, die nach einer Schrecksekunde nachgab und knarzend aufging. In einer Entfernung von gut hundert Metern wateten die drei Angreifer durch den Schnee. Ohne Schneeschuhe. Vielleicht konnten sie es schaffen. Einer der Männer legte wieder auf sie an und ein Schuss durchschlug die geöffnete Beifahrertür.

Pias Finger zitterten und das Anlegen der Schneeschuhe kam ihr wie eine Ewigkeit vor, aber irgendwann klackte der Verschluss und ihre Füße hatten Halt. Pia griff sich ihren Rucksack von der splitterübersäten Rückbank und wuchtete sich aus dem Beifahrersitz, damit Goof auch aus dem Wagen krabbeln konnte. Sie schnallte sich den Rucksack mit mittlerweile geübten Handgriffen um. Der Wind heulte laut, dennoch hörte sie die wütenden Schreie ihrer Verfolger.

»Bleibt endlich stehen, ihr Rotzbälger«

Sie mussten weg!

»Jetzt komm schon!« Sie sah zu ihren Verfolgern hinüber, die mittlerweile bedeutend näher gekommen waren.

Der Schlaks schaute zu ihr hoch und nickte. Sie konnte die Panik in seinen Augen sehen. Das zitternde Häufchen Elend kam hoch und schnappte sich ebenfalls seinen Rucksack, warf ihn auf den Rücken und wäre wegen der plötzlichen Last fast gestürzt, hätte Pia ihm nicht unter die Arme gegriffen.

»Wir müssen los. Wir sind schneller zu Fuß als die!« Pia wartete keine Antwort ab, sondern verfiel in einen Laufstil, der irgendwo zwischen Stapfen und Rennen lag, mit einer ordentlichen Prise Stolpern dabei. Goof lief schräg hinter ihr, sie hörte sein Keuchen und das Knirschen des Schnees unter den Schneebrettern.

Schnee spritzte hoch, als sie über irgendein Teil stolperte, das nur wenige Zentimeter aus dem Schnee empor lugte. Ihre Hände rutschten über eine Kühlerhaube, fanden keinen Halt und sie schlug der Länge nach hin.

Arme, die von hinten unter ihre Achseln griffen und sie in die Höhe zogen. Entsetzte, weit aufgerissene Augen. Goof, der sie vorwärtsschob. Schüsse peitschten und Schnee spritzte an der Stelle hoch, an der sie gerade noch gelegen hatte.

»Bleibt stehen oder wir erschießen euch!«

Goof zögerte einen kurzen Moment, eilte dann aber neben Pia weiter die Autobahn entlang.

»Tun die doch eh. Aus Rache für das Auto. Und für den Inhalt unserer Rucksäcke.«

Kluger Bursche. Pia stemmte sich gegen den Wind. Der dicht gepackte Rucksack würde vielleicht einen Schuss abfangen. Oder nicht? In einem Computerspiel würde das sicher funktionieren. Auch hier in der Realität?

Sie waren vielleicht zwanzig Meter weit gekommen, als ihre Verfolger wohl die Nase voll hatten. Jedenfalls prallte irgend etwas auf ein Wagendach und fiel nur zwei Wagenlängen hinter ihnen in den Schnee.

Dann ertönte ein Knall so laut, wie ihn Pia noch nie vorher gehört hatte. Eine Druckwelle fegte durch den Schnee und schleuderte ihn hoch in die Luft. Alles weiß. Pia wurde von den Beinen gerissen und prallte gegen einen Wagen. Ihr blieb die Luft weg, alles schmerzte. Sie stöhnte. Neben ihr schrie Goof und hielt sich den in einem merkwürdigen Winkel abstehenden Unterarm. Dunkle Schemen, die durch den weißen Nebel näher kamen. Pia versuchte auf die Beine zu kommen, rutschte am Kofferraum des Wagens ab, an dem sie gelandet war. Ihre Muskeln bemühten sich mit aller Kraft, sie wieder in die Senkrechte zu bekommen und nach endlosen Momenten gelang es ihnen auch. Sie machte den ersten Schritt und alles drehte sich. Der nächste Schritt, sie rutschte aus. Pia fiel, Schnee im Gesicht. Sie rollte sich auf die Seite, schaute mehr verwundert als ärgerlich auf ihre Beine hinab, sah , dass der rechte Schneeschuh fehlte. Der linke hingegen war an Ort und Stelle. Irgendwer da oben hatte einen merkwürdigen Sinn für Humor. Das Klingeln in ihren Ohren ließ langsam nach, der Nebel aus emporgeschleudertem Schnee legte sich. Die Schemen verschwanden und wurden ersetzt durch echte Gestalten. Die drei Männer kamen näher, der rechte hieb dem in der Mitte auf den Arm.

»Für zwei Gören hast du eine Druckgranate verschwendet!«, hörte sie ihn über den Wind und dem Pfeifen in ihren Ohren hinweg schreien.

Der mittlere zuckte mit den Schultern, soweit man das unter seiner dicken, schwarzen Winterjacke erahnen konnte.

»Dafür nehmen wir ihren Proviant.« Als sie nach wenigen Schritten Pia und Goof erreichten, zeichnete sich ein Lächeln unter seiner Skimaske ab. »Oh, wir werden sie dafür büßen lassen. Für den Wagen. Für die Granate. Für unser Schicksal. Dem Herrn sei gedankt, er hat uns eine Frau geschickt.«

»Ein Mädchen«, fügte der deutlich kleinere Mann hinzu.

»Egal! Eng ist ein dehnbarer Begriff«, ergänzte der korpulente Wegelagerer und lachte schäbig.

Pia erschauderte, und wäre Goofs Wehklagen über seinen gebrochenen Unterarm nicht gewesen, das sie im Hier und Jetzt hielt, sie wäre wohl ohnmächtig geworden. Das war alles zu viel für einen Tag.

Goof schrie immer wieder auf, umklammerte seinen linken Arm und wiegte sich vor und zurück. Er hatte bei dem Sturz beide Schneeschuhe verloren.

Pia zog die Beine an und schnallte den linken Schneeschuh ab. Vielleicht konnten sie es doch noch zu Fuß schaffen? Wenn Goof mitzog? Oder sollte sie einfach so losrennen und Goof zurücklassen? Einen Sekundenbruchteil erwog sie alle Möglichkeiten, bis die Scham sie überflutete. Goof hatte sie aus dem Wald geschafft, als Boomer getötet worden war. Er hatte sie nicht im Stich gelassen. Das würde sie mit ihm jetzt auch nicht tun.

Der Anführer in der Mitte lud sein Gewehr nach und richtete es anschließend auf Pia. An Flucht war sowieso nicht zu denken. Sie wäre keine drei Schritte weit gekommen.

»So, dann legt mal eure Rucksäcke ab.« Damit fuhr der Mann zu Goof herum und jagte eine Kugel neben ihn in den Schnee. »Und du hör endlich auf zu schreien, sonst geb ich dir gleich einen wirklichen Grund dafür!«

Pia löste zitternd den Rucksack und kam langsam wieder auf die Beine. Goof schluchzte und nestelte mit dem noch gebrauchsfähigen Arm an den Gurten herum, schaffte es aber nicht. Der Wegelagerer atmete tief durch und zielte auf Goofs Brust.

»Nein!«, schrie Pia, stolperte durch den Schnee zu ihrem Freund und kniete sich neben ihn in den Schnee.

»Sei leise«, flüsterte sie ihm zu und schob erst mal seinen gesunden Arm aus dem Gurt. Dann blickte sie ihn mitleidig an. »Tief Luft holen!« Das hatte sie mal im Fernsehen gesehen. Gerade als der Junge nickte und sichtlich einatmete zog sie den Gurt flott über den gebrochenen Arm. Da geschah das Unglück. Sein Arm streckte sich nicht von selber, so wie sie gehoffte hatte. Sie spürte das Knacken und Knirschen der Knochen, als sie den Unterarm unbeabsichtigt gerade rückte. Goof blickte entsetzt auf den Arm, setzte zu einem Schrei an, dann fiel sein Kopf auf seine Brust. Er war einfach ohnmächtig geworden. Pia schluckte, beeilte sich aber, den Gurt nun endgültig freizubekommen.

»Gut. Und jetzt zurück zu eurem Wrack von Wagen. Wollen doch mal sehen, was sich noch retten lässt.« Er zeigte auf die beiden Rucksäcke. »Die nimmst du. Vorwärts. Und wehe du machst Sperenzchen.« Sein Tonfall ließ keinen Zweifel an seiner Entschlossenheit, im Ernstfall ein Exempel zu statuieren.

»Was ist mit dem Jungen, Boss?«, wollte der Fettsack wissen.

»Lasst ihn zurück«, antwortete dieser ohne zu zögern. »Nur Ballast.«

»Nein!«, schrie Pia. »Bitte nicht!« Dann brannte auch schon ihre Wange, als eine behandschuhte Hand ihre eine Backpfeife verpasste.

»Denk bloß nicht, dass du hier irgendwas zu melden hättest, Mädchen. Und jetzt vorwärts!« Der lange Kerl, den sie Boss nannten, trottete los und stellte sich hinter sie, drückte sie vorwärts, während die beiden Rucksäcke in ihren Armen jeden Schritt zur Qual machten. Sie konnte das Wrack in zwanzig Metern Entfernung im Schnee dampfen sehen. So weit? Das schaffte sie nie! Und was war mit Goof? Sie konnten ihn doch nicht zurücklassen!

 

*

 

»Falschfahrer auf der Autobahn!«, murmelte Fabian empört vor sich hin, als er dem Van auswich.

»Einer? Hunderte!«, empörte sich Tobi vom Beifahrersitz und sie beide lachten. Ein schlechter Witz angesichts der hohen Anzahl liegengebliebener Wagen auf einer zugefrorenen Autobahn. Die sie gerade in die falsche Richtung befuhren. Ein liegengebliebener LKW hatte die eigentliche Autobahnauffahrt versperrt, daher hatten sie die entsprechende Abfahrt kurzerhand in eine Auffahrt verwandelt. Merkwürdiges Gefühl. Wie so vieles in dieser Zeit.

»Wie weit kommen wir noch?«

Fabian klickte am Auswahlrad des Lenkrads herum und auf der Windschutzscheibe blendete der Bord-PC die Navigationskarte aus und die Füllstandsanzeige des Tanks ein.

Fabian schüttelte den Kopf. War nach dem letzten Check vor ungezählten Kilometern nicht besser geworden. Wie auch.

»Achtzig Kilometer, wenn wir wie bisher fahren, würde ich schätzen. Hundert ohne Heizung.«

»Also achtzig«, sagten sie zeitgleich und lachten. Fabian wagte einen kurzen Seitenblick zu seinem Kumpel herüber, als gerade mal für mehrere hundert Meter kein liegengebliebener Wagen auf der Fahrbahn zu sehen war.

Ein verdammt bleicher Tobi, der ihn da ansah. Ringe unter den Augen, eingefallene Wangen, die Schmerzen hatten sich in seine Züge gegraben. Die Blutung hatten sie zwar stoppen können, aber der SEKler hatte derart viel Blut verloren, dass er völlig geschwächt war. Wenigstens waren die Schmerzen derzeit erträglich. Sagte er zumindest. Aber auch erst, nachdem er die endgültig letzte ihrer Schmerztabletten genommen hatte. Noch circa zehn Stunden Ruhe, bevor das Raubtier in seinem Bein wieder erwachte und jede Bewegung in eine Strafe der Hölle verwandelte.

Sie fuhren schweigend weiter. Es war völlig klar, dass der Treibstoff nicht reichen würde, um an der U-Boot-Basis anzukommen. Die Autos auf der Bahn waren meist auch nicht deshalb stehengeblieben, weil ihr Tank zu voll war. Abzapfen war daher keine Option. Und zu Fuß würden sie es nicht schaffen. Tobi jedenfalls nicht, Fabian vielleicht. Was keine Option war. Versuchte er sich jedenfalls einzureden, sein Unterbewusstsein wusste es allerdings besser. Aber das war eine Frage, die sich hoffentlich nie stellen würde. Irgendwann musste ja mal eine Autobahntankstelle kommen. Dann mussten sie nur irgendwie die Pumpanlage in Gang bekommen. Und es sollte schon noch etwas in den unterirdischen Tanks drin sein. Sprit, der durch die niedrigeren Bodentemperatur hoffentlich noch nicht gefroren war. Deutlich zu viele »Wenns«, aber sie hatten keine Wahl.

Tobi beugte sich nach vorne, deutlich langsamer als noch vor ein paar Stunden und nutzte den Touchscreen in der Konsole, um wieder das Navigationsmenü einzublenden. Ein paar Klicks später hatten sie Gewissheit. Ein kleines Fähnchen war auf der Karte erschienen. Autobahntankstelle in etwas mehr als fünfzig Kilometern. Tobi lächelte zu Fabian herüber, der ihm einen hochgereckten Daumen zeigte. Für sich dachte er: »Wenn alle ›Wenns‹ passen!«

 

Die Kilometer krochen dahin. Schlangenlinien um Autos herum. Umgekippter LKW. Vorsichtig umfahren. Ausbrechendes Heck. Stabilisieren, ausrollen lassen, weiter fahren. Die effektive Geschwindigkeit war nicht der Rede wert, aber sie kamen voran. Immerhin zehn Kilometer in der letzten Stunde.

Tobi atmete gleichmäßig neben ihm. Die Auswirkungen der letzten Schmerztablette ließen ihn endlich Schlaf finden. Keinen wirklich erholsamen, aber besser als gar keinen. Fabian bediente das Auswahlrad am Lenkrad, um sich den Tankstand anzeigen zu lassen. Die letzten zehn Kilometer hatten so viel Sprit gefressen wie fünfzehn. Wenn es so weiterlief, würden sie die Tankstelle nur ganz knapp erreichen. Oder ganz knapp nicht, und Tobi müsste dann laufen. Die Optionen waren lausig. Ihn im Auto zurückzulassen, um Treibstoff zu holen, war bei den Temperaturen ohne Heizung – die ohne Motor nicht funktionierte – ein sicheres Todesurteil. Zu Fuß würden sie es ohne Schneeschuhe nicht schaffen, er schätzte ihre Geschwindigkeit dann auf zwei Kilometer pro Stunde. Lächerlich. Bei der Eisschicht unter dem Schnee eher noch weniger. Langsam hob und senkte sich der Brustkorb. Fabians Brust hingegen fühlte sich an wie zugeschnürt, was nicht am Gurt lag. Ganz nüchtern betrachtet musste er Tobi im Ernstfall zurücklassen, wenn er überleben wollte. Ganz nüchtern betrachtet.

 

Weitere fünf Kilometer waren geschafft. Der Motor surrte vor sich hin, die Lüftung stieß einen beständigen Strom warmer Luft aus. Hätte er nicht ständig wegen der Hindernisse Schlangenlinien fahren müssen, Fabian wäre mittlerweile am Steuer eingeschlafen. Früher war er nie ohne Musik gefahren. Aber die Radiostationen hatten ihren Dienst schon lange eingestellt. Und eigene Musik hatte keiner von ihnen dabei. Das regelmäßige Atmen von Tobi zu hören, machte die Eintönigkeit nicht besser. Die endlose, weiße Weite vor der Windschutzscheibe auch nicht. Dann sah er den Tanklastwagen, der auf ihrer Fahrbahnseite auf dem Standstreifen stand. Ein Flüssigkeitstransporter. Sprit? Öl? Milch? Fabian ging vom Gas und aus halsbrecherischen zwanzig Stundenkilometern wurden zehn. Der LKW kam langsam näher. Fabian lenkte fuhr noch an einem querstehenden Jeep vorbei und hielt auf den LKW zu, brachte ihren Wagen daneben zum Stehen und ließ den Motor laufen.

»Hm?«, machte es neben ihm und Tobi rutschte langsam in seinem Sitz hoch, wobei er kurz aufstöhnte. Ein kurzer Blick auf sein Bein. Kein neues Blut, das den mittlerweile braunroten Stoff neu färbte. Immerhin etwas.

»Alles ok. Nur ein LKW, den ich mir mal ansehen möchte.« Fabian schaute durch die Seitenscheibe nach draußen und seufzte. »Ja, ist ja gut! War klar!«, murmelte er, schnappte die Jacke vom Rücksitz und zog sie mit abenteuerlichen Verrenkungen noch auf dem Fahrersitz an.

Der Tanklaster war komplett mit Schnee bedeckt, da musste er wohl aussteigen, um zu erkennen, was der geladen haben konnte. Eine echte Freude.

»Bin gleich wieder da.« Ohne eine Antwort abzuwarten, schloss er den Reißverschluss, zog den Kragen soweit hoch wie es ging, streifte Skimaske und -Brille über und atmete nochmal tief die trockene Heizungsluft ein. Mit einem Seufzen öffnete er die Fahrertür, sprang hinaus und verschloss sie sofort wieder hinter sich. Die Kälte traf wie ihn wie der Tritt eines Kickboxers mitten ins Gesicht. Er nahm den Kopf runter, stemmte sich in den Wind und ging die paar Schritte bis zur Seite des LKW.

Das Führerhaus war mit einer dicken Schicht gefrorenen Schnees quasi versiegelt, das Aufbrechen in der Kälte war keine schöne Aussicht. Also musste er hinten nachsehen. Vorsichtig stapfte er zur Rückseite, zog sein Kampfmesser und brach damit die zentimeterdicke Schicht aus gefrorenem Schnee und Eis von den ersten beiden Stufen der dort angebrachten Metallleiter und stieg sie hoch. Mit dem Messer kratzte er das Eis vom Tank und stieß ein Stoßgebet zu wem auch immer aus. Jawohl, das Logo einer Tankstellenkette! So schnell er konnte, kletterte er von der Leiter. Eine vereiste Klappe schützte den Tankanschluss. Fabian schlug mit dem Knauf des Kampfmessers das Eis weg. Sie ließ sich trotzdem nicht öffnen. Fabian fluchte, dann zwang er sich, ruhig durchzuatmen. Da gab es bestimmt ... seine Finger fanden den Verschluss und mit Hilfe des Messers konnte er ihn lösen. Knackend ließ sich die Klappe öffnen. Mist. Der Metallverschluss im Stutzen sah so aus, als ob er sich erst öffnete, wenn ein Schlauch angesetzt wird. Fabian sah sich um. Auf der anderen Seite war ein dicker Schlauch auf einer Rolle aufgerollt und an ein zweites Auslassventil angeschlossen. Am Schlauchende saß auch eine Kappe, aber die hatte ein Schloss. Fabian überlegte nicht lange, packte den Schlauch und rollte ihn ein Stück ab. Dann trieb er die Spitze des Kampfmessers in den Schlauchansatz, ganz dicht am Ventil. Eine hellbraun-goldene Flüssigkeit schoss als daumendicker Strahl aus dem Schnitt und färbte den Schnee. Fabian ging in die Hocke. Er schob die Skimaske halb hoch und hielt sich das Messer unter die Nase. Das roch wie ... ja, wie Kraftstoff. Er wollte jubeln, dann schnürte es ihm die Kehle aber wieder zu. Diesel oder Benzin? Ihr Wagen brauchte laut Bord-Computer Diesel. Und er hatte keine Ahnung, was diese Flüssigkeit hier war. Er war kein Mechaniker und das weltweite Netz stand nun mal leider nicht mehr zur Verfügung. Er zog die Maske wieder vor sein Gesicht und atmete tief durch. Die eiskalte Luft schmeckte absolut klar und schmerzte in der Lunge. Sie mussten es drauf ankommen lassen. Also hieß es jetzt Ersatzkanister befallen und schleppen.

 

Die Arme brannten, das Gesicht auch. Mit zwei Ersatzkanistern vornüber in den Schnee zu fallen, weil er auf dem Eis ausgeglitten war, war nicht gerade seine Vorstellung vom einfachen Befüllen ihres Jeeps. Ächzend stapfte er hinter den Wagen, fingerte am Tankdeckel so lange herum, bis er ihn trotz seiner Handschuhe geöffnet hatte und roch an der Öffnung. Der Geruch war dem Zeug in den Kanistern verdammt ähnlich, aber was hieß das schon. Wenn er jetzt Benzin auf den Restvorrat Diesel im Tank kippte, konnten sie ihrem schönen Fahrzeug sofort Lebewohl sagen. Sollte er Tobi fragen? Er schüttelte den Kopf. Sein Kumpel konnte die Entscheidung auch nicht leichter machen. Warum dann noch jemanden belasten? Mit zitternden Fingern setzte er den Rüssel des Ersatzkanisters auf das Einfüllloch. Er hörte das Gluckern im fast leeren Tank. Der Motor lief stampfend weiter. Fabian lehnte sich an den Wagen, legte den Kopf in den Nacken und gönnte sich ein paar Sekunden tiefste Zufriedenheit. Sie konnten es wirklich schaffen. Irgendjemand da oben schien sie doch noch nicht auf der Abschussliste zu haben.

Die weißen Wolken zogen schnell über den hellblauen Himmel und Fabian schaute ihnen dabei zu. Dann stieß er sich vom Wagen ab, füllte den zweiten Kanister ebenfalls ein und klopfte an die Seitenscheibe. Tobi öffnete das Fenster ein paar Millimeter.

»Diesel, wir haben Glück! Der hatte tatsächlich Diesel geladen.«

Tobi schenkte ihm das dickste Grinsen seit Stunden und reckte müde den Daumen empor.

Also weiter. Es warteten noch weitere Gänge durch Eis und Schnee auf ihn, bis der Tank voll war.

 

Fabian zitterte immer noch ein bisschen, auch wenn das Hin- und Herschleppen der Kanister mittlerweile auch schon wieder eine Stunde her war. Bald müsste die nächste Auffahrt kommen. Und damit wieder mehr liegengebliebene Fahrzeuge. Hoffentlich hatten sich seine Muskeln bis dahin wieder etwas beruhigt.

Da die Luft im Wagen nach einiger Zeit immer dicker wurde, öffnete er das Fahrerfenster ein Stück, um etwas Frischluft hereinzulassen. Er konnte den Wagen gut bei fünfzehn Stundenkilometern in der Spur halten und die Zeit zog sich in Ereignislosigkeit.

Irgendwann musste Tobi mal austreten und Fabian stoppte den Wagen auf der Standspur. Als sein Kumpel wieder einstieg und die Tür zuschlug, hallte das Geräusch erstaunlicherweise in der Ferne wider ... und noch ein zweites und drittes Mal. Sein Unterbewusstsein ordnete die Geräusche schneller ein als er und Adrenalin durchflutete seinen Körper. Weitere Schüsse ertönten. Dann ein Moment der Stille. Er horchte genauer hin, aber nur das Pfeifen des Windes war zu hören. Bei den Windverhältnissen mussten die Schüsse hunderte Meter entfernt gewesen sein. Dann durchbrach ein gewaltiger Knall die Stille und in der Entfernung sah Thunder eine Schneewolke in die Luft aufsteigen. Granaten? Was zum Geier?

Thunder riss sich aus der Starre los und ließ den Wagen ausrollen. In Tobi kam Leben. Der SEKler reichte ihm sofort seine durchgeladene, aber gesicherte MP5 und hatte dabei einen grimmigen Gesichtsausdruck aufgesetzt. Es war doch immer schön, mit Profis zu arbeiten.

»Granate?«

Thunder nickte.

»Und Schüsse. Klangen wie Jagdgewehre.«

»Richtung ein Uhr?«

»Ja, circa.«

»Also im Weg.«

Thunder nickte erneut. Sie sahen sich stumm an. Die Auswahlmöglichkeiten waren begrenzt. Weiter auf die Gefahr zufahren, oder umdrehen und zig Kilometer zurück bis zur Abfahrt und ab da weiter über Land.

Tobi äußerte sich als Erster. »Lass uns weiterfahren.«

Thunder legte ihm anerkennend die Hand auf die Schulter. Dann fuhr er langsam wieder an. Tobi schnallte sich los, kein Gurt sollte ein in Deckung werfen verhindern. Tobi löste den Gurt. Er sollte ihn bei der folgenden Aktion nicht behindern. Seine Waffe hielt er ebenfalls bereit.

Langsam näherten sie sich der immer noch erkennbaren Schneewolke.

Plötzlich zeigte Tobi nach vorne rechts und Thunder folgte dem Fingerzeig. Er nahm das Fernglas zur Hand und spähte in die angegebene Richtung. Drei, nein vier Gestalten stapften da durch die weiße Hölle. Thunder hielt den Wagen an.

»Drei Targets mit Jagdgewehren. Und eine Geisel. Deutlich kleiner.« Der Kerl in der Mitte schubste die vorderste Gestalt grob, die der Länge nach hinschlug. Ein schneller Schwenk nach links und rechts. Sonst niemand zu sehen. Nur ein dampfendes Autowrack, das hinter den Gestalten an der Leitplanke klebte. Die Geisel musste den Wagen gesteuert haben und dann von den Kerlen aufgehalten worden sein. Die Kehle schnürte sich ihm zu. Eine beschissene Zeit, in der sie lebten.

»Also ein Standard-Szenario«, meinte Tobi von der Seite und Thunder nickte.

»Jepp.« Er legte den abgehackten Tonfall ihres alten Ausbilders auf, den sie selbst vor Jahren genossen hatten: »Drei Geiselnehmer führen eine Geisel über eine Fläche mit verteilter Deckung. Der Rest Ihrer Einheit ist zu weit entfernt, um einzugreifen. Was tun Sie?«

Tobi starrte in die Ferne. »Wenn wir mit voller Montur unterwegs wären, würde ich jetzt irgendwas von Überraschungsangriff mit vorheriger Blitzgranate erzählen. Aber wir sind in einem Fahrzeug, das die Kerle schon von Weitem hören werden. Wir haben zwar vernünftig Munition, aber keine Granaten. Und ich bin in zu schlechter Verfassung für ein Katz-und-Maus-Spiel.«

Thunder hörte zu, wog den Kopf hin und her.

»Ein einzelner Schütze dürfte es leichter haben. Ohne Wagen. Mit Absicherung aus guter Deckung.«

»Ich soll hierbleiben?«

»Du hast gerade selbst gesagt, dass du in schlechter Verfassung bist.«

»Scheiße, aus deinem Mund hört sich das gleich dramatischer an, als bei mir.«

Thunder legte seinem Kumpel erneut die Hand auf die Schulter.

»Der Jeep ist wichtiger als ich. Du musst ihn schützen! Wenn ich es nicht schaffe, kletterst du rüber und gibst Gas.« Er fixierte seinen SEK-Kollegen. »Ist das klar?«

Tobi zögerte für eine Sekunde und nickte dann. »Nur damit hinterher keiner sagt, wir hätten nicht alle Optionen erwogen: Oder wir lassen dieses Problem Problem sein und fahren zügig vorbei. Mit der ganzen Deckung hier und auf der ›falschen‹ Fahrbahnseite dürften die uns kaum aufhalten können.«

Thunder nickte. Daran hatte er auch bereits gedacht.

»Meinst du das ernst?«

Tobi schwieg einen Moment. Dann senkte er seine Stimme. »Nicht wirklich. Oder doch. Ach, ich weiß es auch nicht. In einer derartigen Situation war ich noch nie.«

Thunder lachte kurz und hart. »Ich auch nicht, Kumpel, ich auch nicht. Aber ich könnte ehrlich gesagt schlecht mit dem Gedanken leben, die Geisel, möglicherweise ein Kind, was auch immer, allein mit drei Arschlöchern zu lassen.« Er schenkte sowohl der Straße wie auch dem Kampfgefährten einen kurzen Blick. »Vielleicht haben sie was Gutes zu essen dabei ...«

Tobi lachte herzlich auf, es war schön, seinen Kumpel so zu hören.

»Hast mich überzeugt. Wir machen es!« Er fuhr wieder an. Thunder atmete tief durch. Sie mussten auf gut hundert Meter heran. Ausreichend weit weg, dass sie nicht gehört wurden, aber nah genug, dass er im Ernstfall den Rückzug antreten konnte. Er drückte vorsichtig aufs Gaspedal. Der Wagen rollte so langsam vorwärts, dass selbst Tobi hätte Schritt halten können. Ganz langsam fuhr er hinter mehreren liegengebliebenen Wagen entlang, bemühte sich, nicht in den Blickwinkel der Geiselnehmer zu geraten. Die Straße vor ihm hielt einige dieser Hindernisse bereit und das erste Mal war er dankbar dafür. Sie konnten es schaffen!

Er hielt hinter einem Linienbus, der perfekten Sichtschutz bot.

Das Essen zu retten, war ein ziemlich blödes Argument gewesen. Tobis Reaktion darauf bewies, dass er das Szenario des Weiterfahrens ebenfalls nicht wirklich erwogen hatte. Das Schicksal hatte der Geisel zwei ausgebildete SEKler geschickt, in welch miesem Zustand sie selbst auch waren.

»Die können sich warm anziehen«, murmelte Thunder vor sich hin. Welch ein Wortspiel in der Eishölle.

 

Der Schnee knirschte unter den Kampfstiefeln, Thunder bemühte sich, ruhig zu atmen und schlich weiter vorwärts, immer an der zugeschneiten Mittelleitplanke entlang. Hier und da nutzte er ein Auto als größere Deckung. Die drei Schießwütigen und die Geisel waren mittlerweile am Fahrzeugwrack angekommen. Der dickste der drei Verbrecher durchwühlte gerade einen Rucksack, indem er ihn auf den geschlossenen Kofferraum ausschüttete.

Auf der Gegenfahrbahn war ein Wagen so dicht an der Mittelleitplanke verreckt, dass er eine prima Deckung abgab. Thunder schlich zu der Stelle, der Wind trug einige Fetzen eines Streitgesprächs rund um den nicht gerade üppig gefüllten Rucksack zu ihm. Ein kurzer Blick über die Motorhaube des geparkten Wagens. Gut zwanzig Meter trennten ihn von den Vieren. Schnell sprang er über die Leitplanke und duckte sich hinter die Motorhaube. Ein erneuter Blick. Niemand hatte ihn bemerkt. Mit dem Arm wischte Thunder den Schnee von der Haube und hatte so eine fast ideale Stützoberfläche zum genauen Zielen. Wenn nur der Dreckswind nicht wäre. Als hätte das nicht gereicht, setzte leichter Schneefall ein. Nicht gerade beste Trainingsbedingungen.

Thunder federte in den Knien leicht nach oben, bis er die bestmögliche Haltung für sich gefunden hatte. Er stützte den Arm mit der MP auf dem Wagen ab, kontrollierte seinen Atem und legte mit geübter Bewegung den Sicherungshebel mit dem Daumen um. Dann legte er das Auge an das Rotpunktvisier. Nur für ihn sichtbar erschien ein roter Punkt auf der Brust des Fettsacks, der sich eben gebückt und etwas aufgehoben hatte, während seine beiden Kumpels die mittlerweile als Jugendliche erkennbare Geisel gegen den irreparabel zerstörten Wagen stießen. Fetzen von Beleidigungen waren zu hören.

Sollte er sie Bedrohen und zur Aufgabe zwingen? Er erwog die Idee für eine Sekunde, verwarf sie jedoch wieder. Der Gegner war von der groben Sorte. Diese Art kannte er, da war meist nicht viel mit Verhandeln. Insbesondere, wenn die sich gegenüber nur einem Gegner fälschlicherweise im Vorteil sahen, konnte es hässlich werden, gerade für die Geisel. Nein, so war es besser.

 

Thunder bemühte sich, noch ruhiger zu atmen. Einatmen, ausatmen, der Wendepunkt der Atembewegung nahte, der rote Punkt saß wie festgestanzt auf der Winterjacke des Geiselnehmers. Punkt erreicht. Er drückte ab. Das »Plöpp« seiner Waffe wurde vom Wind übertönt. Die Wirkung des Schusses leider nicht. Der Fettsack fiel nach hinten in den Schnee und die beiden verbliebenen Kerle rissen ihre Waffen hoch. Einer gab dem Kind einen Stoß, so dass es zu Boden fiel und damit aus dem Zielfeld geriet. Herzlichen Dank auch! Die Köpfe der Verbrecher ruckten ziellos umher. Nochmals danke. Thunder visierte nach links, der Leuchtpunkt wanderte zur Brust des größeren Geiselnehmers. Die Maschinenpistole zuckte zweimal kurz in seinen Händen, der Mann schleuderte nach hinten, schrie auf und flog in den Schnee. Der dritte warf sich leider hinter dem Wagen zu Boden.

»Mist«, fluchte Thunder leise.

»Wer auch immer du bist, ich habe hier eine Geisel!« Panik lag in der Stimme des Mannes, der seine Warnung herüber schrie.

Thunder antwortete nicht, ging dafür tiefer in die Hocke lugte am Wagen vorbei. Sch..., von hier aus gab es keine weitere Deckung bis zum fünfzehn Meter entfernten Wrack. Wenn sein Gegenüber zum richtigen Zeitpunkt aus der Deckung hervorlugte, hätte er sich auch gleich eine Zielscheibe aufmalen können. Die Optionen waren gering, der Weg zu weit.

»Hilfe!«, schrie eine junge, weibliche Stimme hinter dem Wrack, nur um gleich gequält aufzuschreien.

»Schnauze, verdammt!«

Thunder griff zum Kehlkopfmikrofon.

»Auf mein Zeichen hin kuppelst du aus und lässt den Motor so richtig aufheulen. Bestätigung?«

Zweimal Knacken in der Leitung. Gut. Einen Moment warten, Tobi musste erst auf den Fahrersitz wechseln. Mit seinem verletzten Bein kein Klacks.

Doch sein letzter Gegner kam ihnen zuvor. Ein Schmerzensschrei, dann wurde das Mädchen auf die Beine gerissen, der Geiselnehmer umklammerte ihren Hals von hinten. Mit der anderen hielt er ihr eine Pistole an die Schläfe.

»Komm heraus, Arschloch, sonst hat die Hübsche hier eine Kugel im Kopf!«

Thunder lugte hinter dem Fahrzeug hervor und zielte in Richtung des Kopfes. Aber aus dieser Position bei den Sichtverhältnissen wollte er es lieber nicht drauf ankommen lassen. Wie aufs Stichwort kam Wind auf und hüllte die Szene in dichtes Treiben. Die Gestalten wurden zu Umrissen. An einen sauberen Rettungsschuss war nicht mehr zu denken. An ein Vorrücken aber auch nicht.

»Zeig dich endlich, sonst muss die Kleine dran glauben!«

Weitere Sekunden verstrichen, Thunder kontrollierte seinen Atem, sparte die Kraft für den richtigen Moment.

»Gut, wenn das als Motivation noch nicht ausreicht ...!«

Ein Aufschrei des Mädchens, Thunder sah durch das Visier schemenhaft, wie der Geisel Skimaske und -brille hinuntergerissen wurden. Sie schlug die Hände vor das gerötete Gesicht und wollte in die Hocke gehen. Sie schrie vor Schmerz auf, als der Wind ihren ungeschützten Kopf traf.

»Bleib stehen, Mädel!« Der Mann packte sie grob unter den Armen und riss sie wieder hoch.

Das erhöhte den Zeitdruck. Wenn er die Geisel retten wollte, hatte er nun keine Zeit mehr.

Ein Griff an das Kehlkopfmikro, er drückte zweimal schnell auf den Knopf. Eine Sekunde später jaulte der Motor des Jeeps in gut hundert Metern Entfernung auf. Zeitgleich ließ der Wind etwas nach, der Schnee fiel ruhiger und die Verwehungen ließen nach. Der Kerl wirbelte herum, zielte mit der Pistole wild in die Richtung, aus der die Motorengeräusche kamen und murmelte irgendetwas vor sich hin.

»Nein!«, schrie das Mädchen und trat, jetzt wo die Pistole von ihrem Kopf weg war, nach hinten aus. Sie traf den Mann am Schienbein, der sie im Reflex losließ. Sie warf sich nach vorne in den Schnee. Der Mann fluchte. Thunder schnellte aus der Deckung hoch, stellte den Kippschalter der Waffe auf Salve und gab noch in der Bewegung zwei Feuerstöße ab. Schläge von Kugeln auf Metall, aber auch das saftige Schmatzen, als Blei auf etwas Weiches traf. Eine Salve im Ziel, einmal daneben, bei der Witterung kein schlechter Schnitt. Der Schrei des Mannes erstarb in einem Gurgeln und er fiel nach hinten in den Schnee. Thunder stapfte vorwärts und stellte auf Einzelschuss zurück. Als er beim zuletzt Angeschossenen angekommen war, jagte er ihm einen Schuss durch den Kopf. Dann folgten zwei weitere »Plöpps«, als die Köpfe des hochgewachsenen Geiselnehmers und des auf dem Rücken liegenden Dicken durchlöchert wurden. Er wandte schnell den Blick ab, verdrängte das letzte Bild. Der letzte Geiselnehmer auf dem Rücken liegend, schaumiges Blut dampfte auf der Maske. Die Hände leer und abwehrend zu ihm gestreckt, ein Mund der sich gerade öffnete, um irgendwelche nutzlosen Worte zu rufen. Dann der Schuss, das Loch, das im Schädel klaffte, die leeren Augen. Egal wie oft er bereits Menschen hatte töten müssen, die Anblicke verfolgten ihn immer. Dunkle Begleiter vergangener Tage.

 

»Gefahr final ausgeschaltet«, funkte er zu Tobi.

Das Mädchen kroch am Boden rückwärts gegen den Wagen und kauerte sich zusammen, dann blickte sie panisch zu ihm hoch. Fabian hängte sich die Maschinenpistole über die Schulter, ging in die Hocke, hob Skimaske und –brille vom Boden auf und hielt sie dem Mädchen hin.

»Du bist in Sicherheit. Die tun dir nichts mehr!«, versuchte er sie zu beruhigen. Sie griff sofort zu den Utensilien, klopfte den Schnee vom Stoff und zog sich beides über. Dann stand sie langsam auf, den rechten Fuß so nach hinten gestellt, dass sie sich sofort zur Flucht wenden konnte. Fabian konnte es ihr nicht verdenken.

»Komm erst mal zu Atem, Mädel. Ich schau derweil, ob ich noch was an netter Ausrüstung von diesen Arschlöchern hier retten kann.«

»Retten?« Die Jugendliche schaute ihn an, der Schock stand ihr ins Gesicht geschrieben. Dann schien es, als ob sie sich innerlich schüttelte. Der Blick wurde fester, ihre Statur gerader. »Goof«, rief sie und stapfte so schnell es ging durch den Schnee über die Fahrbahn. Thunder beeilte sich, ihr zu folgen.