SECHZEHN

»Theoretisch ist es möglich, Kate«, erklärte Larson. »Es fällt mir nicht leicht, das zu sagen, aber es liegt durchaus im Bereich des Möglichen.«

Ich war einige Minuten vor acht in Larsons Büro eingetroffen, um ihn zu sprechen, ehe er in den Gerichtssaal ging. Zuvor hatte ich bei Cutter angerufen und mein Training für diesen Vormittag bei ihm abgesagt. Am Spätnachmittag wollte ich sowieso gemeinsam mit den Mädchen zu ihm. Doch jetzt bereute ich es fast, hierhergekommen zu sein. Obgleich Larson nur aussprach, was ich bereits in Erwägung gezogen hatte, wollte ich es nicht hören.

»Aber Stuart? Er ist noch nicht einmal wirklich religiös. Er geht nur in die Messe, wenn ich ihn dazu zwinge.«
»Soll das etwa ein Argument gegen seine Zusammenarbeit mit Dämonen sein?«, fragte er. Ich runzelte die Stirn, doch Larson fuhr fort. »Sie sind doch diejenige, die seine rasche Genesung nach dem Autounfall so seltsam fand.«
»Nein, das stimmt nicht.« Ich schüttelte so heftig den Kopf, dass mir beinahe der Nacken schmerzte. »Ich habe nur so vor mich hin geredet und nicht klar denken können.« Nervös rieb ich mir die Stirn, um die gewaltige Migräne, die sich ankündigte, zu unterdrücken.»Außerdem sah ich ihn nach dem Unfall in der Kirche. Er ist nicht gestorben. Er war sogar kaum verletzt.« »Vielleicht war seine Verletzung ja nur klein, aber die Wirkung größer, als Ihnen bewusst ist. Ein Mensch kann seine ganze Einstellung ändern, wenn er sich auf einmal seiner eigenen Sterblichkeit bewusst wird.«
»Ein Pakt mit dem Teufel? Stuart? Das glaube ich einfach nicht.«
»Ihr Mann ist sehr ehrgeizig, Kate. Wenn er glaubt, dass Goramesh ihm helfen kann …« Er beendete den Satz nicht, und ich konnte meine eigenen Schlussfolgerungen ziehen.
Diese gefielen mir ganz und gar nicht. Sie drängten sich mir aber immer stärker auf, obwohl ich versuchte, sie als lächerlich abzutun.
»Behalten Sie ihn im Auge, Kate. Und wenn es nötig ist, müssen Sie ihn aufhalten. Es ist überaus wichtig, dass wir herausfinden, wonach Goramesh sucht, und dass wir das Gesuchte sicher in den Vatikan bringen. Falls Stuart es zuerst bekommt –«
»Sie reden ja bereits so, als wären wir uns ganz sicher, dass er in die Sache verwickelt ist.« Ich hatte plötzlich das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen.
»Bis wir nicht sicher wissen, dass er nichts damit zu tun hat, müssen wir leider davon ausgehen.«
Ein Gerichtsdiener steckte in diesem Moment den Kopf ins Zimmer, um sicherzustellen, dass sich Larson für die nächste Verhandlung bereit machte. Der Richter ging also zur Arbeit, und ich verließ das Gebäude, um … Ja, was eigentlich? Um zu schmollen? Um mir Sorgen zu machen?
Nein, so gern ich diesen beiden Gefühlsregungen nachgehangen wäre, so blieb mir doch keine Zeit dafür. Ich trug schließlich die verdammte Verantwortung.
Also stieg ich in den Wagen und fuhr auf schnellstem Weg zur Kathedrale.
Mein Handy klingelte, als ich parkte. Ich warf einen Blick auf das Display und sah, dass der Anruf von meiner Telefonnummer zu Hause stammte. Hatte Allie etwa ihre Mitfahrgelegenheit verpasst? War Eddie wieder in der Lage, normale Telefonanrufe zu führen? Oder war Stuart unerwartet nach Hause zurückgekehrt? Suchte er mich eventuell sogar? Wusste er, dass ich ihm auf der Spur war? Gab es überhaupt etwas, dem ich auf der Spur sein konnte, oder litt ich einfach nur ebenso wie Larson unter ganz normalem Verfolgungswahn?
Ich ließ es noch einmal klingeln und hob dann ab. »Hallo?«
»Hi, ich bin es.« Lauras Stimme. (Sie wäre die Nächste auf meiner Liste gewesen.)
»Gibt es etwas?«
»Du-weißt-schon-wer macht mich noch wahnsinnig«, flüsterte sie so leise, dass ich sie kaum verstand.
Ich zuckte zusammen. »Es tut mir echt leid. Was treibt er denn?«
»Er klebt mir ständig an den Fersen«, erklärte sie. »Momentan schaut er zum Glück fern. Aber sonst umkreist er mich ununterbrochen, sieht mir über die Schulter und murmelt irgendetwas über Dämonen und dass ich den Fernsehkanal wechseln soll. Es ist wirklich unheimlich, Kate.«
»Es tut mir so leid«, sagte ich noch einmal, auch wenn es natürlich nichts nützte. »Möchtest du, dass ich nach Hause komme?«
»Nein, nein. Es wird schon werden. Hast du mit ihm gesprochen, bevor du heute Morgen weggefahren bist?«
»Nein, er hat noch geschlafen. Wie wirkt er denn?« »Eigentlich wesentlich besser. Er macht mich zwar wahnsinnig, aber er redet nicht mehr so viel Unsinn. Ich weiß nicht genau, woran es liegt, aber ich glaube, dass er klarer geworden ist.«
»Gut.« Sogar besser als gut. Ich brauchte einen Eddie, der nicht verrückt war. Vor allem falls Larsons schlimmste Vermutungen (okay meine schlimmsten Vermutungen) hinsichtlich Stuart zutrafen, durfte Eddie keine Geheimnisse verraten. (Diese Überlegung führte zu einem weiteren Anfall von schlechtem Gewissen. Wie konnte ich nur so etwas von Stuart annehmen? Er war doch mein Mann. Timmys Vater. Der Mann, den ich mein Leben lang zu lieben und zu ehren geschworen hatte. Er war nicht so ehrgeizig. Oder etwa doch?)
Ich holte tief Luft und versuchte, erst einmal nicht daran zu denken. »Hast du deswegen angerufen? Um mir von Eddie zu erzählen?«
»Nein. Es gibt zwei Dinge. Willst du zuerst die guten oder die schlechten Nachrichten hören?«
»Oh, bitte. Die guten zuerst.«
»Ich habe herausgefunden, dass Bruder Michael in einem Kloster in der Nähe von Mexiko City gelebt hat. Und weißt du was?«
»Es war das Kloster, das vor Kurzem von Dämonen überfallen wurde.« Das war tatsächlich eine gute Nachricht.
»Ganz genau.« Ich konnte die Aufregung in ihrer Stimme deutlich hören. »Da besteht also eindeutig eine Verbindung, nicht wahr?«
»Ja, das ist toll«, sagte ich. Ich versuchte ebenfalls enthusiastisch zu klingen, aber in Wahrheit wusste ich nicht, was ich mit dieser Neuigkeit anfangen sollte. Schließlich war uns bereits vorher klar gewesen, dass es eine Verbindung geben musste. Laura hatte nun die Bestätigung gefunden, aber eine neue Einsicht brachte uns das nicht. Doch ich wollte Lauras Begeisterung nicht schmälern. »Und was ist die schlechte Nachricht?«
»Dass heute Nachmittag um drei Kinderhorden bei dir einfallen.«
»Scheiße.« Das hatte ich völlig vergessen. Ich werfe immer einen Blick auf meinen Terminkalender. Immer, immer, immer. Außer heute.
Verdammt – woran hatte ich nur gedacht? (Auf diese Frage wusste ich natürlich die Antwort. Ich hatte an Dämonen gedacht. Und an die Möglichkeit, dass sich mein Mann, den ich so gut zu kennen glaubte, auf einen eingelassen hatte. Im Großen und Ganzen hatte ich also eine gute Ausrede, eine Spielgruppe von vier Kindern zu vergessen, für die ich auch noch Essen vorbereiten musste. Aber das minderte nicht mein schlechtes Gefühl.)
»Habe ich etwas falsch gemacht? Soll ich es besser für dich absagen?«
»Nein, nein. Das ist alles meine Schuld. Ich hätte schon vor Tagen absagen sollen, aber ich habe es ganz einfach vergessen.« Ich fragte mich, was ich noch alles vergessen haben mochte. Doch für den Moment war das egal. Offenbar würden sich meine ganzen Verpflichtungen sowieso melden, sobald sie aktuell wurden.
Wir plauderten noch einige Minuten. Ich entschloss mich, trotzdem als Erstes für zwei Stunden ins Archiv hinabzusteigen und dann noch rasch für die Spielgruppe einzukaufen (Muffins, Kekse, Obst und Saft). Danach wollte ich Timmy abholen und nach Hause fahren. Laura versprach mir, während der Spielgruppe dazubleiben, falls Eddie wieder einen Schub von Dämonen-Verfolgungswahn bekommen und die Kinder (oder auch ihre Eltern) zu Tode erschrecken würde.
Sobald ich aufgelegt hatte, klingelte das Telefon erneut. Ich hob ab, ohne auf das Display zu sehen, da ich annahm, es wäre noch einmal Laura. »Hast du etwas vergessen?«
»Nein«, antwortete Allie. »Das Handy ist echt so cool, Mami!«
Ich lachte. Als sie das Handy bekommen hatte, war ihr eingeschärft worden, es nur für Notfälle zu benutzen. Aber ich hätte wissen müssen, dass sie nicht widerstehen konnte, trotzdem ein paar Anrufe zu machen.
»Freut mich, dass es dir gefällt«, erwiderte ich. »Und was ist der Notfall?«
»Was?«
»Sollst du etwa das Telefon benutzen, ohne dass du dich in Lebensgefahr befindest?«
»Oh.« Ich hätte ihr eigentlich ernsthaft ins Gewissen reden sollen, war aber damit beschäftigt, nicht laut loszulachen.
»Na ja. Es gibt schon eine Art Notfall.«
Wenn man bedachte, wie meine Woche bisher verlaufen war, hätte man eigentlich annehmen sollen, dass dieser Satz meine Migräne endgültig zum Ausbruch bringen würde. Aber ich kannte meine Tochter. Dieser Notfall war keiner. Dieser Notfall war nur eine Ausrede, um mit dem Handy spielen zu können. »Okay, dann schieß mal los. Worum geht es?«
»Können Mindy und ich nach der Schule ins Einkaufszentrum? Bitte, bitte, bitte!«
»Du machst wohl Scherze.«
»Nein, Mami. Bitte!«
»Allison Crowe, kannst du dich noch an unsere Vereinbarung erinnern?«
(Langes Schweigen.)
»Allie …«
»Äh, welche Vereinbarung genau?«
Wenn es nicht so schmerzhaft gewesen wäre, hätte ich in diesem Moment am liebsten meinen Kopf gegen das Lenkrad geschlagen. »Unsere Vereinbarung, dass an oberster Stelle der Selbstverteidigungskurs steht und sich dem alles andere, was du vorhast, unterzuordnen hat.«
»Oh, die Vereinbarung.«
»Genau die.«
»Wir könnten doch danach hin …« Diesmal klang ihre Stimme bereits wesentlich weniger fordernd.
Ich spürte, dass ich im Begriff war nachzugeben und versuchte, dagegen anzukämpfen. »Was gibt es denn so Wichtiges im Einkaufszentrum?«
(Wieder langes Schweigen. Diesmal hatte ich das Gefühl zu wissen, worum es ging. Um Jungs.)
»Allie?«
»Stan arbeitet da heute. Wir wollten nur kurz vorbeischauen. Vielleicht mit ihm in seiner Pause eine Cola trinken oder so.«
»Wir?«
»Mindy und ich.«
Ich schüttelte den Kopf. Erst vierzehn, und schon tat sich meine Tochter mit ihrer Freundin zusammen, um irgendwelche Jungs zu verfolgen. Aber was konnte ich tun? Zumindest zog sie nicht allein los. (Noch beruhigender fand ich es allerdings, dass sie in ihrem Alter nicht bereits schwanger war. Eine solche Situation gehörte zu denjenigen Pubertätserscheinungen, an die ich nicht einmal denken wollte.)
»Ist das der Typ mit den verbilligten Theaterkarten?« Falls das tatsächlich der Fall sein sollte, würde ich ablehnen müssen. Er mochte ja ein netter Junge sein, aber sein Atem roch, und das machte ihn so lange verdächtig, bis ich mir sicher war, dass es an seinen Zähnen oder so lag und nicht das Anzeichen für einen stinkenden Dämon war.
»Oh, Mami, du meinst Billy Der ist doch so absolut uncool!«
Ich vermutete, das bedeutete, dass er ihr nicht lag. »Und wer ist dann dieser Stan?«
»Er arbeitet bei Gap und ist wirklich süß. Bitte, Mami. Bitte! Er hat mich gefragt, ob ich ihn nicht besuchen will. Er mag mich, Mami!«
»Ist er in deinem Jahrgang?«
Wieder eine dieser Pausen.
»Allie, du wirst es zwar kaum glauben, aber ich habe noch ein paar Dinge zu erledigen. Also – ist er jetzt in deiner Klasse oder nicht?«
»Ich glaube, er geht in eine höhere oder so«, erwiderte sie.
»Du glaubst?«
»Na ja. Ich habe ihn nach der Schule kennengelernt. Aber er hängt immer mit den älteren Typen herum. Und wenn er mich mag, dann kann ich auch mit denen abhängen. Ach, Mami, du erlaubst es mir doch, oder?«
Sie redete derart schnell, dass ich das, was sie gerade gesagt hatte, erst einmal in meinem Kopf zurückspulen und auf Wiederholen« drücken musste. Mir gefiel das Ganze überhaupt nicht. Aber ich sah auch keine Möglichkeit, Allie einen letztendlich harmlosen Besuch im Einkaufszentrum zu verbieten. Elternsein bedeutet einen ständigen Drahtseilakt. Wenn man zu wenig kontrolliert, stürzt man gleich ab. Wenn man aber zu viel Kontrolle ausübt, kommt man gar nicht mehr von der Stelle.
»Okay«, sagte ich schließlich. »Du kannst gehen. Aber ich komme mit.«
Ich erwartete wieder einen ihrer »Ma-ami«-Ächzer und weiteren Protest. Doch meine Tochter seufzte nur und meinte: »Okay Wie auch immer. Danke.«
Ich lächelte siegesbewusst. »Du bist toll, Schatz. Solltest du nicht in der Schule sein?«
»Heute haben wir in der ersten Stunde Lernzeit«, erklärte sie.
»Dann geh jetzt und lerne irgendetwas. Und ruf bitte nicht mehr an, es sei denn, du verlierst literweise Blut oder bist sonst irgendwie schwer verletzt.«
»Wie auch immer, Mami«, sagte sie und legte auf.
Ich blickte auf das Handy, während mir allmählich bewusst wurde, worauf ich mich da gerade eingelassen hatte. Ich hatte tatsächlich freiwillig zugestimmt, den Abend im Einkaufszentrum zu verbringen!
Dämonen zu jagen wäre um ein Vielfaches einfacher gewesen.

Da ich nicht viel Zeit im Archiv zur Verfügung hatte (schließlich musste ich zur Spielgruppe zurück sein), entschloss ich mich, das Ganze diesmal etwas anders anzugehen. Ich vermutete, dass Goramesh (höchstwahrscheinlich) nicht nach Dokumenten suchte. Und ehrlich gesagt, langweilten sie auch mich inzwischen ziemlich.

Stattdessen durchsuchte ich die Kisten nach Gegenständen. Ich zog eine nach der anderen heraus, öffnete den Deckel und wandte mich sogleich der nächsten zu, falls sich darin nur Papiere befanden. So hätte ich wahrscheinlich von Anfang an vorgehen sollen, aber ich hatte angenommen, dass der Gegenstand, auf den Goramesh so scharf war, bereits vom Archivar herausgefischt worden war, weshalb es für mich das Beste schien, die Dokumente nach einem Hinweis zu durchforsten. Das kam mir noch immer am sinnvollsten vor, aber die Vorstellung, weitere staubige Blätter in die Hand nehmen und durchsehen zu müssen, sagte mir ganz und gar nicht zu. Ich rechtfertigte meine andere Vorgehensweise damit, dass ich mir einredete, auf diese Weise mehr Glück haben zu können.

Tatsächlich entdeckte ich einige ganz spannende Dinge, aber nichts schien mir für einen Dämon von Interesse. Ich entdeckte sogar die Kiste mit der kleinen Golddose, die Mike Florence der Kirche vermacht hatte. Als ich die Beschreibung auf der Liste für das Finanzamt gelesen hatte, war ich daran interessiert gewesen, sie zu sehen. Doch als ich sie nun in Händen hielt, strahlte das Ding keinerlei Reiz mehr auf mich aus. Nachdem ich die Dose geöffnet hatte, ließ meine Begeisterung noch mehr nach. Im Inneren befand sich nur etwas, was wie weiße Asche aussah. Vielleicht handelte es sich um irgendeine seltsame Form von Urne.

Ich ging dieser wahnwitzig spannenden Beschäftigung noch eine weitere Stunde nach. (Für das Wochenende wollte ich Father Ben darum bitten, ebenfalls ins Archiv zu dürfen, und dann musste Larson mitkommen. Das war nur gerecht.) Entmutigt sammelte ich nach einer Weile meine Siebensachen zusammen. Ich blieb für einen Moment vor den Vitrinen stehen und dachte daran, wie viel einfacher es gewesen wäre, wenn alles bereits hübsch sauber in Glasvitrinen untergebracht gewesen wäre. Aber das war ja leider nicht der Fall. Dagegen konnte ich nichts machen. Zumindest ging es mir besser als diesen Märtyrern, deren Überreste jetzt in diesen Beuteln verwahrt wurden.

Der Gedanke an die Märtyrer ließ mich erneut Kraft schöpfen. Ich hatte auch nicht vor, mich so leicht geschlagen zu geben. Goramesh durfte nicht gewinnen. Ich würde ihn aufhalten. Irgendwie musste es mir gelingen, das Ganze zu einem Abschluss zu bringen.

Frischen Mutes ging ich in die Sakristei, um dort mit Father Ben zu sprechen. Insgeheim hatte ich gehofft, er würde mir erzählen, dass sich auch Clark im Archiv herumgetrieben hatte. Aber nein – anscheinend waren in letzter Zeit nur Stuart und ich im Kellergewölbe gewesen.

Das war keine gute Nachricht. Nicht für meine Pläne, Goramesh zu besiegen.
Und was noch wichtiger war: Es bedeutete auch nichts Gutes für meine Ehe.

Als Dämonenjägerin habe ich mich schon in ziemlich anstrengenden Situationen befunden. Es gab Tage ohne Schlaf, an denen ich ein ganzes Nest von Dämonen aushob. Ich hatte Vampiren in einer Allee in Budapest aufgelauert und hatte im Grunde all die üblichen Aufgaben zugeteilt bekommen, die mit meinem Beruf einhergehen. Aber ich kann Ihnen versichern, dass nichts mit der Erschöpfung und dem Chaos vergleichbar ist, ausgelöst durch eine Spielgruppe mit vier wild tobenden Zweijährigen.

Nach einer Stunde hatten sich die Kinder allmählich beruhigt (»beruhigt« heißt in diesem Fall, sie waren mit so viel Spielsachen zugeschüttet worden, dass sie kaum mehr heraussehen konnten). Die anderen Mütter und ich saßen am Küchentisch. Wir hatten Kaffee und Muffins vor uns stehen, wobei wir darauf geachtet hatten, nicht das Gebäck auf unsere Teller zu laden, das die Kinder zuvor in ihren kleinen, verschmierten Händen gehabt hatten.

Ich hatte bereits einen ersten Schluck Kaffee genommen und genoss die Banalität des Alltags, als auf einmal Timmy im Spielzimmer zu brüllen begann. Im Bruchteil einer Sekunde war ich aufgesprungen, wobei mein erster Gedanke möglichen Dämonen galt, die erneut bei uns eingebrochen waren.

Doch als ich den Raum betrat, konnte ich erleichtert aufatmen. Mein kleiner Junge stand mit verschränkten Armen da, hatte den Kopf zurückgeworfen und setzte gerade zu einem neuen Brüllanfall an. Neben ihm war Danielle Cartright, hielt Boo Bear in den Händen und grinste siegesgewiss. (Ich kritisiere kleine Kinder eigentlich sehr selten, aber Danielle ist wirklich unerträglich. Mir tut jetzt schon der Mann leid, der sie einmal heiratet. Ich halte in diesem Fall ihre Mutter für die Schuldige, während ihr Vater mein volles Mitgefühl besitzt. Momentan jedoch tat mir am meisten Timmy leid.)

»Danielle«, sagte ich. »Warum gibst du Timmy nicht seinen

Bären zurück? Sei so nett.«
»NEIN!« Sie brüllte mich nicht nur an, sondern rannte auch
in die hinterste Ecke des Zimmers, kletterte auf einen Stuhl und
setzte sich auf den Bären. Wie charmant!
Ihre Mutter Marissa betrat hinter mir das Zimmer. »Sie ist
gerade in dem Stadium, dass sie einfach alles haben will«,
meinte sie, als ob diese Erklärung das Problem lösen und die
Tränen meines Kindes trocknen würde.
»Vielleicht könntest du ja etwas dagegen unternehmen«, sagte ich und bemühte mich darum, nicht ebenfalls loszubrüllen.
Natürlich redete ich bereits deutlich lauter, als ich das normalerweise tue, weil Timmys Heulen inzwischen eine Lautstärke
erreicht hatte, die das Trommelfell zum Vibrieren brachte. Er
stürzte auf mich zu, und ich nahm ihn in die Arme. Doch selbst
Mamis Anwesenheit konnte den Tränen keinen Einhalt gebieten.
»Er sollte sich wirklich nicht so sehr auf ein Spielzeug konzentrieren«, sagte Marissa.
Innerlich stellten sich mir die Stacheln auf. Meine Muskeln
spannten sich an, während ich mir vorstellte, wie ihr frisch
gereinigter Leinenanzug in einer Minute einen großen Fußabdruck in Höhe ihres Brustkastens aufweisen würde. In diesem
Moment legte sich eine Hand auf meine Schulter, und eine
sanfte Stimme sagte: »He, Timmy. Beruhige dich.«
Laura. Sie hatte mit Eddie am Computer in Stuarts Arbeitszimmer gesessen und musste den Aufruhr gehört haben. Da ich
nicht auf den Kopf gefallen bin, wusste ich natürlich, dass sich
ihr »Beruhige dich« genauso auf Timmy wie auf mich bezog. »Wir sind völlig ruhig«, verkündete ich und schenkte Marissa ein Hol-sofort-den-Bären-zurück-oder-du-stirbst-du-Zicke
Lächeln.
»Lass mich mal sehen, ob ich Danielle überzeugen kann, dass
sie den Bären zurückgibt«, erklärte Marissa, die offenbar die
Gefahr, in der sie sich befand, spürte.
»Superidee«, erwiderte ich.
Dann sah ich entsetzt und fasziniert zu, wie sie tatsächlich
eine geschlagene Viertelstunde damit verbrachte, mit ihrer
zweijährigen Tochter zu verhandeln. Und das Ergebnis? Kein
Bär.
Die Spielstunde war inzwischen offiziell beendet. Die anderen Mütter (die wahrscheinlich die Gefahr witterten) verabschiedeten sich und verließen eilig mit ihrem Nachwuchs das
Haus. Marissa schien weder zu bemerken, wie unpassend der
Auftritt ihrer Tochter und auch ihr eigener war, noch dass ich
inzwischen vor Wut kochte. Sie hockte noch immer vor ihrem
Kind und versuchte, Danielle Boo Bear zu entlocken. Inzwischen hatte Timmy alle Tränen vergossen, die er besaß, und ich
hatte ihn mit der Erklärung auf das Sofa gesetzt, dass Boo Bear
Danielle gerade besuchte und bestimmt ganz bald zu ihm
zurückkehren würde.
Am liebsten hätte ich Marissa beiseitegestoßen und Danielle
den Bären aus ihren gierigen kleinen Händen gerissen. Aber ich
wusste, dass ein solches Verhalten jedem Erziehungsratgeber
widersprochen hätte. Also wartete ich ab. Meine Wut wurde
immer größer, während ich zusah, wie Marissa bettelte und
sanft auf ihre Tochter einredete und Danielle im Grunde dazu
erzog, eine selbstsüchtige Zicke zu werden (das arme Kind). Nach einer Zeitspanne, die der Länge einer durchschnittlichen Eiszeit zu entsprechen schien, versprach Marissa ihrem Mädchen Eiscreme, ein neues Spielzeug und einen Ponyritt im Zoo. Endlich kletterte Danielle vom Stuhl herunter und marschierte zu Timmy, um ihm gehässig Boo Bear ins Gesicht zu schleu
dern.
»Danke«, sagte Timmy (Und er sagte es, ohne von mir daran
erinnert zu werden, wobei sie sowieso keinen Dank verdient
hatte.) Ich spielte gequält die höfliche Gastgeberin, bis die
beiden aus der Tür waren. Doch sobald ich diese hinter ihnen
geschlossen hatte, wandte ich mich entnervt an Laura. »Diese
Frau ist eine –«
»Du darfst sie nicht umbringen.«
»Wenn sie ein Dämon wäre, schon.« (Sie können sich gar
nicht vorstellen, wie sehr ich mir wünschte, sie wäre einer
gewesen.)
»Sie ist aber kein Dämon.«
Ich warf einen Blick auf Timmy, der noch immer auf dem
Sofa saß, an seinem Daumen nuckelte und ein wenig verloren in
die Gegend starrte. Mir krampfte sich das Herz zusammen.
»Für mich schon«, sagte ich. »Für mich ist sie eindeutig ein
Dämon.«

Die beiden Mädchen waren gemeinsam nach oben gegangen, aber nur Allie kam in ihren Sportklamotten wieder herunter. Mindy trug noch immer ihre Schulkluft. Sowohl Laura als auch ich sahen sie fragend an. »Hast du dich für den realistischen Straßenkampf-Look entschieden?«, fragte ich. »Du wirst zwar zugegebenermaßen eher in deinen Straßenklamotten überfallen, aber es ist doch besser, in Shorts und einem T-Shirt zu trainieren.«

Mindy schien sich plötzlich ausgesprochen für meinen Teppich zu interessieren. »Ich bin mir nicht mehr sicher, ob ich überhaupt mitmachen will.«

»Überhaupt mitmachen?«, wiederholte Laura. »Was soll das heißen – du bist dir nicht sicher?«
Mindy zuckte mit den Schultern. Sie sah ihre Mutter aus großen Augen an. Offensichtlich verstand sie nicht, warum sich ihre Mutter plötzlich für die Welt des Kickboxens so zu begeistern schien.
Allie hatte sich neben mich gestellt, und ich sah sie fragend an. »Sie hat Angst, vor Cutter dumm dazustehen«, flüsterte mir meine Tochter zu. »Sie findet ihn nämlich ziemlich süß, weißt du.«
»Mindy Jo Dupont«, sagte Laura in scharfem Ton. »Kate hat sich wirklich große Mühe gegeben, euch für diesen Kurs anzumelden. Warum willst du jetzt auf einmal nicht mehr mitmachen?«
»Ich habe einfach so viele Hausaufgaben.« Sie steckte die Hände in die Hosentaschen. »Du weißt schon.«
»Was ich weiß, junge Dame, ist vor allem eines: Da draußen gibt es viele seltsame und unheimliche Leute.« Laura sprach mit einer Entschlossenheit, die ich bei ihr sonst nicht kannte, aber ich konnte sie verstehen. Ich hatte ihre sichere kleine Welt ins Wanken gebracht. Und das war etwas, was sich nicht mehr leugnen ließ.
»Du wirst diesen Kurs besuchen und dort lernen, wie du dich im Notfall verteidigen kannst.« Sie drehte sich zu mir um und sah mich an. Ihr Gesicht glühte mütterlich wild entschlossen. »Falls es noch einen Platz gibt, will ich übrigens auch mitmachen.«
Mindy und Allie bemühten sich nicht einmal, ihre Verblüffung zu verbergen. Ich war nicht so sehr verblüfft als vielmehr überrascht. Bisher war ich mir immer sicher gewesen, dass nichts, aber auch gar nichts, Laura dazu bringen konnte, einen Kurs zu besuchen, der auch nur im Entferntesten etwas mit Sport zu tun hatte.
Anscheinend hatte ich mich geirrt. Die Dämonen hatten ein kleines Wunder vollbracht.
»Ich bin beeindruckt«, flüsterte ich ihr später zu, als die Mädchen in den Minivan kletterten. »Du. Sport. In der Öffentlichkeit.«
Sie schnitt eine Grimasse.
»Du magst vielleicht lachen, aber mir kann man da nichts mehr vormachen. In Filmen ist es immer der Handlanger und nicht der Held, der untergeht. Ich habe genügend Filme gesehen, um das zu wissen.« Sie rückte ihre Tasche, die ihr um die Schulter hing, zurecht. »Aber vor dir steht eine Nebendarstellerin, die nicht vorhat, kampflos den Löffel abzugeben.«

»Toll gemacht, Mädchen!« Eddie feuerte Allie begeistert an. Neben ihm schlug Timmy auf einer Matte, die Cutter für ihn hingelegt hatte, Purzelbäume.

Nach anfänglichen Aufwärmübungen hatte sich Cutter gleich auf die Kleinarbeit gestürzt. Er zeigte uns, wie man sich befreite, wenn einen jemand am Handgelenk festhielt. Allie gelang das Manöver (man reißt den Arm hoch und gleichzeitig weg, sodass man den schwächsten Punkt des Angreifers, in diesem Fall den Daumen, für sich nutzt), und auch ich applaudierte begeistert.

»Jetzt versuchen wir es einmal mit deiner Mutter«, verkündete Cutter.
Ich schüttelte ablehnend den Kopf. Er wollte mich aus der Reserve locken, aber das ließ ich nicht zu. So gern ich jemanden in diesem Moment in Grund und Boden geprügelt hätte (herzlichen Dank, Marissa), so war ich doch entschlossen, vor Allie die relativ Unbedarfte zu markieren.
Cutter erwischte mich von hinten, und ich stieß ihn weg. Dabei benutzte ich eine Bewegung, die ihn – wenn ich sie richtig ausgeführt hätte – über meine Schulter hätte fliegen und auf der Matte landen lassen. Doch heute tat ich so, als wäre ich nicht dazu in der Lage.
»Komm schon, Mami! Du hast ihn doch auch das letzte Mal besiegt.«
»Reines Anfängerglück«, keuchte ich, während Cutter mich auf die Matte warf.
»Anfängerglück – lächerlich«, murmelte er. »Ich werde schon noch herausfinden, was mit Ihnen los ist.«
Er sprach sehr leise, und auch meine Antwort fiel flüsternd aus. »Nicht, wenn ich nicht will.«
Seiner finsteren Grimasse nach zu urteilen, glaubte er mir. »Konzentrieren Sie sich auf die Mädchen und Laura«, sagte ich. »Ich kann mich um mich selbst kümmern.«
Zum Glück tat er genau das (wobei Eddie von seiner Bank aus immer wieder Ermutigungen schrie, einschließlich dem gelegentlichen »Fantastisch! Die Kleine wird noch eine großartige Jägerin!«). Zu meiner Erleichterung kam Allie allerdings viel zu sehr ins Schwitzen, um auf Eddies bizarre Kommentare zu achten. Entweder das, oder sie hatte bereits gelernt, ihn nicht allzu ernst zu nehmen.
Am Ende der Stunde hatte ich das Gefühl, dass die Mädchen einen guten Anfang gemacht hatten. Auf jeden Fall wussten sie nun, wie man brüllte. (Das ist übrigens einer der wichtigsten Elemente jeder Verteidigung. Das Brüllen spannt unsere Bauchmuskulatur an und lässt einen Kick oder Schlag härter werden. Es geht immer nur um die Bauchmuskulatur – merken Sie sich das.)
Nach dem Kurs waren die Mädchen bester Dinge und glühten förmlich (Mädchen glühen, Jungs schwitzen). Sie plauderten angeregt darüber, wie cool Cutter sei und wie cool sie wären und wie sie überhaupt jeden zusammenschlagen würden, der ihnen dumm kam. Einer anderen Mutter mochte so etwas vielleicht nicht gefallen, aber ich war begeistert.
Da das Glühen natürlich auch Schwitzen bedeutete, fuhren wir erst einmal nach Hause, damit sich die Mädchen duschen und frisch machen konnten, ehe es ins Einkaufszentrum ging. Gewöhnlich dauert die Vorbereitung auf das Treffen mit einem Jungen ja in diesem Alter bis zu zwei Stunden, aber da wir einen Termin einzuhalten hatten (das Einkaufszentrum schließt werktags um einundzwanzig Uhr), nahmen sich die Mädchen unglaublicherweise vor, in einer halben Stunde so weit zu sein.
Laura und Mindy gingen durch unseren Garten zu sich nach Hause. Während Timmy ein Kindervideo ansah, wartete ich gemeinsam mit Eddie in der Küche auf Allie, die zum Umziehen nach oben gegangen war. Eddies plötzliche Ausbrüche waren merklich seltener geworden, und er schien weniger verwirrt zu sein. Ich wollte ihm so viele Fragen stellen – Was ging eigentlich in Coastal-Mists vor sich? Wusste er von Goramesh? Hatte er irgendeine Ahnung, was der Dämon suchte? –, aber dies war das erste Mal, dass wir uns unter vier Augen sprechen konnten.
Ich machte Tee und überlegte mir, wie ich die Unterhaltung am besten beginnen könnte.
»Earl Grey«, erklärte Eddie. »Nicht einen dieser labbrigen Kräutertees.«
»Kein Problem.«
»Ich verstehe nicht, wie jemand dieses Zeug trinken kann«, plapperte er vor sich hin. »Verdammter Warmduscher-Tee.« Er sah mich an. »Was trinkst du?«
»Jedenfalls nichts für Warmduscher – so viel ist schon mal klar.«
»Hm.« Seine Augen wurden schmaler, und er zog die buschigen Augenbrauen zusammen, sodass sie ein V über seiner Nase bildeten. »Kein Warmduscher-Getränk, aber dafür führst du ein ziemliches Warmduscher-Leben.«
Ich horchte auf. »Wie bitte?«
»Du hast gesagt, du wärst eine Jägerin. Du bist aber keine Jägerin. Du hast eine Familie, ein Haus, alles völlig durchschnittlich.« Er klang so, als ob er das wirklich verachtenswert fände. »Zuerst dachte ich ja, das könnte eine Fassade sein und du trainierst in Wirklichkeit das Mädchen. Aber das stimmt nicht. Du bist nicht mehr mit von der Partie.«
»Herzlichen Dank. Aber es stimmt. Ich habe mich zurückgezogen.«
Er schnaubte verächtlich. »Wie ich sagte – ein Warmduscher.«
»Jetzt pass mal auf, Lohmann«, entgegnete ich scharf. »Ich kann dich genauso schnell nach Coastal-Mists zurückbringen, wie ich dich da herausgeholt habe.«
Er schnaubte erneut verächtlich. »Das würdest du nicht tun.«
»Verlass dich lieber nicht darauf«, entgegnete ich, ohne jedoch allzu viel Entschlossenheit in meine Worte zu legen.
»Also – warum will mich eine Jägerin, die nicht mehr arbeitet, kennenlernen?« Er betrachtete mich neugierig. »Brauchst du vielleicht jemanden, der dir einen gehörigen Tritt in den Hintern verpasst?«
Ich lachte. Meine Verärgerung ließ deutlich nach. »Also eines kann man dir nicht nachsagen, Eddie. Und zwar, dass du langweilig wärst.«
Er rückte die Brille auf seiner Nase zurecht und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. »Zeit für deine Geschichte, Mädchen. Warum hast du dich wieder auf dieses ganze Spiel eingelassen?«
Was den richtigen Zeitpunkt betraf, mit ihm ins Gespräch zu kommen, so hätte ich es selbst nicht besser machen können. Ich erzählte ihm also alles von Anfang an, beginnend mit dem alten Mann im Supermarkt, bis zum heutigen Tag. »Irgendwelche Ideen?«, fragte ich, nachdem ich meine Geschichte beendet hatte. Das Geräusch der laufenden Dusche über uns hatte aufgehört. Ich hatte rasch gesprochen, aber doch nicht zu rasch. Allie würde sicher jeden Augenblick bei uns auftauchen. Inbrünstig hoffte ich, dass Eddie ein paar Antworten auf meine Fragen hatte. Noch mehr hoffte ich jedoch, dass er schnell damit herausrückte.
»Ideen …« Er machte eine Pause und schnalzte leise. »Nein. Keine Ideen.«
Ich war enttäuscht. Ich hatte wirklich gehofft, dass er uns weiterhelfen konnte. Aber zumindest war seine Antwort schnell gekommen. »Na ja. Kann man nichts machen. Ich wollte es zumindest probieren.«
Wieder schnaubte er belustigt. »Hast du etwa Hummeln im Hintern, Mädchen? Ich bin noch nicht fertig. Ich habe gesagt, dass ich keine Ideen habe, aber das liegt einfach daran, dass ich auch gar keine brauche. Nein. Ich brauche keine Ideen, weil ich bereits genau weiß, was dieser verdammte Dämon will.«
Wieder machte er eine Pause und trank genüsslich einen Schluck Tee.
Am liebsten hätte ich ihm vor Ungeduld die Tasse aus der Hand geschlagen. »Was?«, zischte ich. Ich wollte endlich eine Antwort. »Wenn du etwas weißt, dann spuck es aus, verdammt noch mal!«
»Er sucht die Lazarus-Knochen«, erklärte er, als ob das die einzig mögliche Antwort wäre.
Ich sah ihn an und blinzelte. Was zum Teufel waren die Lazarus-Knochen?

Natürlich blieb mir keine Zeit, nachzuhaken, ehe Laura und Mindy wieder bei uns auftauchten. Ich überlegte mir kurz, ob ich Eddie in Stuarts Arbeitszimmer führen, die Tür hinter uns schließen und genauere Informationen von ihm verlangen sollte. Aber das hätte wahrscheinlich dazu geführt, dass sich die beiden Mädchen zornig auf mich gestürzt hätten. Sie waren nämlich wirklich scharf darauf, ins Einkaufszentrum zu fahren, um Stans Kaffeepause nicht zu verpassen.

Also gut. Da blieb mir wohl nichts anderes übrig, als in den sauren Apfel zu beißen.
Ich hinterließ Stuart (der bis spätabends arbeiten wollte, wobei ich nicht mehr unbedingt annahm, dass es sich auch um Berufliches handelte) eine kurze Nachricht, und dann kletterten wir ins Auto. Da Allie darauf bestand, parkte ich in der Nähe des Restaurantkomplexes, und wir gingen dort hinein. Ich hatte den ganzen Tag über nichts außer einem übersüßten Muffin gegessen, weshalb ihr Vorschlag in meinen Ohren ziemlich reizvoll klang.
Allerdings wurde mir gar nicht gestattet, mir etwas zu essen zu holen. Uns wurde vielmehr mitgeteilt, dass Timmy, Eddie, Laura und ich an einem Tisch in einer der hinteren Ecken Platz nehmen und vorgeben sollten, überhaupt nichts mit den Mädchen zu tun zu haben. Sie wollten auf jeden Fall vermeiden, dass Stan gleich bemerkte, dass wir ihn beobachteten. »Seht einfach ganz cool aus«, erklärte Allie. »Tut so, als wärt ihr gerade beim Einkaufen gewesen und hättet gar nichts mit uns zu tun.«
»Genau«, bestätigte Mindy. »Wir wollen schließlich nicht, dass er von unseren Müttern erfährt.«
»Ein grauenvoller Gedanke«, meinte Laura trocken.
»Genau«, erwiderte Mindy todernst.
Also warteten wir. Und warteten. Und warteten. Ich wäre am liebsten aufgestanden, um mir eine Portion Pommes frites zu holen, aber meine Tochter hatte mir genaue Anweisungen gegeben, mich auf keinen Fall von der Stelle zu rühren. Sie wollte, dass ich es auf keinen Fall verpasste, wenn Stan eintraf. Ich mochte selbst vielleicht so uncool sein, dass man mich besser versteckte, aber sie wollte mir trotzdem den Typen zeigen.
Ich war sowohl geschmeichelt als auch belustigt. Vor allem jedoch fühlte ich ein großes Loch im Bauch.
Doch meine Neugier war stärker als mein Hunger. Da Mindy und Allie etwa fünf Tische von uns entfernt saßen, schien es die beste Gelegenheit, mein Gespräch mit Eddie fortzusetzen. Bisher hatte er nichts weiter hinzugefügt. (Das stimmt nicht ganz. Er hatte ziemlich viel geredet und zu allem und jedem seinen Senf dazugegeben. Er hatte den ganzen Weg von zu Hause bis zum Einkaufszentrum kaum den Mund geschlossen. Über die Lazarus-Knochen war ihm jedoch kein weiteres Wort über die Lippen gekommen.)
Jetzt saß er neben mir, hatte seinen Stock gegen sein Bein gelehnt und die kleine Flasche mit Weihwasser vor sich auf den Tisch gestellt. Da ich niemand bin, der lange um den heißen Brei herumredet, fragte ich ihn direkt. »Was sind die LazarusKnochen?«
Laura sah mich zwar ziemlich neugierig an, sagte aber kein Wort.
»Die Knochen von Lazarus«, erklärte Eddie. Seine Miene wirkte todernst, aber ich glaubte doch, ein belustigtes Blitzen in seinen Augen erkennen zu können. Er mochte vielleicht amüsiert sein, aber ich war es ganz und gar nicht. Ich hatte schon lange jene Grenze überschritten, wo ich die Situation noch lustig finden konnte. Ich wollte das alles so schnell wie möglich hinter mich bringen. Und zwar ohne dass weitere Leute (menschlicher Natur) zu Schaden kamen.
»So weit war ich auch schon«, sagte ich. »Was will Goramesh damit?«
»Das hat er dir bereits gesagt«, meinte Eddie. Er spielte mit dem Griff seines Stocks, während er sich zu mir beugte. »Die eigentliche Frage lautet doch, Mädchen: Warum suchst du danach?«
Ich lehnte mich zurück. Die Frage überraschte mich. »Ganz einfach. Um sie vor Goramesh zu finden. Ist doch klar. Und dann bringen wir sie in den Vatikan. Dort werden sie vor ihm in Sicherheit sein.«
Er nickte. Sein Kopf wackelte so lange auf und ab, bis ich nicht mehr wusste, ob er noch einmal aufhören würde. Schließlich schnalzte er mit der Zunge. »Mir scheinen sie da, wo sie liegen, ziemlich sicher zu sein.«
»Vielleicht für den Moment, aber nicht für immer. Denk doch nur daran, was Goramesh mit dem Kloster und der mexikanischen Kathedrale gemacht hat.«
»Ah.« Dieser Laut wurde von einem höchst mediterranen Schulterzucken begleitet.
»Nichts ah«, entgegnete ich. »Das hier ist meine Stadt. Es ist meine Kirche, und ich werde nicht zusehen, wie er sie sich –«
»Das kann er nicht«, unterbrach mich Eddie.
»Was?«
»Wenn er es könnte, hätte er sich die Knochen schon lange geholt.«
»Goramesh kann die Kathedrale nicht angreifen«, mischte sich nun Laura ein. Sie klang ziemlich respektvoll und sah Eddie interessiert an. »Das macht Sinn«, sagte sie an mich gewandt. »Die Reliquien im Mörtel. Das kann für Dämonen nicht gerade angenehm sein.«
Sie hatte recht. »Aber das bedeutet nicht, dass Goramesh diese Lazarus-Knochen nicht finden wird.« Es kam mir seltsam vor, dem Gesuchten endlich einen Namen zu geben. »Er hat menschliche Gefolgsleute. Dessen sind wir uns sicher.« Ich erzählte nicht, dass ich inzwischen befürchtete, mein Mann könnte dazugehören.
»Wenn sie versteckt sind, dann sollen sie auch versteckt bleiben«, erklärte er starrsinnig. »Du solltest dich nicht in Dinge einmischen, von denen du keine Ahnung hast.«
Ich entschloss mich, das Ganze von einer anderen Seite aus anzugehen. »Dann erzähl mir doch wenigstens, warum ein Dämon höherer Ordnung diese Knochen so dringend in seinen Besitz bringen möchte.«
»Das habe ich dir schon gesagt«, sagte Eddie. »Hast du dir die Ohren nicht gewaschen oder was?«
»Ist ja gut. Die Armee, die sich erhebt. Aber was hat das mit Lazarus zu tun? Außer der Tatsache, dass er sich von den Toten erhoben hat?«
Eddie fasste sich in den Mund und holte seine dritten Zähne heraus. Er legte sie auf den Tisch neben die Flasche mit Weihwasser.
»Diese verdammten Dinger schneiden mir in den Gaumen«, erklärte er mit einer Stimme, die jetzt ziemlich nuschelnd klang.
»Eddie«, zischte ich. »Jetzt sag schon.«
»Ich sage es dir ja«, entgegnete er. »Reg dich wieder ab, Mädchen.«
Ich sah ihn finster an. Ich hatte keine Lust, mich wieder abzuregen.
»Die Toten sich erheben lassen«, sagte er. »Die LazarusKnochen können Tote wieder zum Leben erwecken.«
Seine Antwort machte Sinn. Ich hätte eigentlich selbst darauf kommen können. Aber das so klar zu hören … Ich holte tief Luft.
»Und das ist noch nicht alles«, fuhr Eddie fort. »Die Knochen beleben auch das Fleisch wieder.«
»Die Armee meines Meisters …«Ich brach ab und dachte an den ersten Dämon.
»Sie meinen also richtige Tote?«, wollte Laura wissen. »Die seit vielen Jahren unter der Erde liegen? Von Würmern zerfressen und all das?«
»Genau das meine ich«, erwiderte Eddie. »Die Knochen bringen diese Körper wieder zum Leben. Ihre Seelen haben sie schon lange verlassen, sodass kein Kampf mehr nötig ist. Sobald der Körper wiederbelebt ist, kann man mit ihm alles machen.«
»Verdammte Scheiße«, sagte Laura, was meine Empfindung genau in Worte fasste.
»Aber … Aber …« Es fiel mir schwer, etwas zu sagen. Das war keine gute Nachricht. (Die Untertreibung des Jahrhunderts
– finden Sie nicht?) Wenn Goramesh die Knochen in seine Finger bekam, würde er in der Lage sein, einen Körper anzunehmen. All seine Dämonen würden Körper erhalten. Plötzlich wären sie dazu fähig, auf Erden zu wandeln, ohne darauf warten zu müssen, dass ein Mensch stirbt. Sie würden nicht mehr gegen die Seelen ankämpfen müssen. Sie würden ganz problemlos in einen Körper schlüpfen und darin bleiben.
Keine gute Nachricht. Wirklich überhaupt keine gute Nachricht.
»Aber …«Ich versuchte es noch einmal. »Wie kannst du dir so sicher sein? Larson hat keine Lazarus-Knochen erwähnt. Auch Padre Corletti nicht. Und ich habe garantiert noch nie von ihnen gehört.«
»Das kannst du auch nicht«, erklärte Eddie. Etwas in seiner Miene hatte sich verändert. Auf einmal schien sich eine Trauer um ihn gelegt zu haben, die ihn um zehn Jahre altern ließ. »Ich bin der einzige noch lebende Zeuge, der von ihnen weiß.«
Laura beugte sich nach vorn. »Wieso?«
Eddie warf einen Blick zu dem Tisch der Mädchen (ich muss zugeben, dass ich fast vergessen hatte, wieso wir eigentlich hier waren). »Der Junge ist immer noch nicht aufgetaucht«, sagte er. »Sieht so aus, als ob ich Zeit hätte, euch die Geschichte zu erzählen.
Es war in den fünfziger Jahren«, begann er. »Die Forza schickte mich zu einer Kathedrale in New Mexico, wo ich helfen sollte, Reliquien zusammenzupacken und in den Vatikan zu schicken, ehe dort die Regierung mit ihren Atomtests begann. Für den Fall, dass irgendetwas passierte. Eine der üblichen Aufgaben.« Er nickte mir zu. »Du weißt schon.«
»Ja, weiß ich.« Jäger bekommen oft solche Aufgaben. Da Dämonen gern Reliquien an sich bringen, um sie in einer ihrer unheimlichen Zeremonien zu verwenden, schickt die Kirche jedes Mal einen Jäger vor Ort, wenn eine Sammlung woanders hinbefördert werden soll.
»Ich war gerade in einer Kirche in Mexiko beschäftigt gewesen, als man mir diesen Job zuteilte. Der Rest des Teams kam nach Mexiko, um dort genaue Anweisungen zu erhalten. Die Gruppe bestand aus mir, einem Priester, einem Kunsthistoriker und einem Archivar. Von Mexiko aus fuhren wir in die Vereinigten Staaten und verbrachten über einen Monat in der Kathedrale. Bereits in der ersten Woche landeten wir einen Volltreffer. Versteckt unter einem losen Stein in der Sakristei entdeckten wir eine kleine Holzkiste und ein Blatt Papyrus. Zachary brauchte ewig, um den Text zu übersetzen, aber endlich war er so weit.«
»Es waren die Lazarus-Knochen«, sagte ich.
Er nickte. »Die echten Knochen des Lazarus. Ich habe später Nachforschungen angestellt und herausgefunden, dass Lazarus in Larnaca begraben worden war, man aber zu einem späteren Zeitpunkt seine Gebeine nach Konstantinopel gebracht hatte. Danach verliert sich die Spur. Irgendwie gelangten die Knochen aber in die Neue Welt.«
Laura blickte ihn gespannt an. »Und was ist dann passiert?«
»Verrat«, sagte Eddie. Er schloss die Augen, und ich sah, wie sich sein Brustkasten hob und senkte, während er versuchte, nicht die Fassung zu verlieren. »Bis heute weiß ich nicht, wer es war oder warum. Ich weiß nur, dass wir angegriffen wurden. Der Papyrus wurde zerstört, der Kunsthistoriker und der Archivar kamen ums Leben. Es war ein blutiger Kampf. Diese verdammten Dämonen –«
»Und du und der Priester? Ihr habt überlebt?«
»Und wir hatten die Kiste.« Er schüttelte den Kopf, als ob er die Erinnerung auf diese Weise verscheuchen wollte. »Wir waren beide lebensgefährlich verletzt, aber ich wusste, wohin wir mussten. Weit weg und an einen sicheren Ort. An einen Ort, den sie nicht betreten konnten.«
»Nach San Diablo«, sagte ich. »Zur Kirche mit dem Reliquien-Mörtel.«
Er nickte. »Ich konnte allerdings nicht mitkommen. Father Michael hat sie allein hierhergebracht.«
»Bruder Michael«, flüsterte ich. »Er hat den Namen San Diablo unter Folter genannt, doch dann lieber den Tod gewählt, als zu verraten, wo sich die Knochen befinden.«
»Und wo sind sie?«, wollte Laura wissen und stellte damit die Frage der Stunde. »Holen wir doch endlich die Knochen, geben sie Larson und bringen sie aus der Stadt.«
»Ich weiß es nicht«, erklärte Eddie. »Ich habe Michael nie mehr gesehen oder gesprochen. Er hat es bis hierher geschafft. Aber mehr weiß ich nicht.«
Ich runzelte die Stirn. Am liebsten hätte ich mit ihm diskutiert und ihm erklärt, dass er es wissen musste, weil ich selbst doch keine Ahnung hatte.
»Lass sie ruhen, Kate. Sie sollen nicht noch einmal gestört werden. Und du hast andere Pflichten.« Mit diesen Worten nickte er in Richtung des Tisches, an dem unsere Töchter saßen. Ich bemerkte, dass der geheimnisvolle Stan endlich aufgetaucht war.
Ich lehnte mich zur Seite, um den neuen Angebeteten meiner Tochter genauer unter die Lupe zu nehmen. Doch als ich ihm ins Gesicht blickte, stockte mir der Atem. Um mein Herz schloss sich eine eiserne Faust.
Am Tisch meiner Tochter und ihrer besten Freundin saß mein Mülltonnen-Dämon. Und ich musste zugeben, dass Todd Stanton Greer für einen kürzlich Verstorbenen ausgesprochen gesund und knackig aussah.

SIEBZEHN

Scheiße, Scheiße, SCHEISSE!

Ich sprang auf, bereit, den Feind niederzustrecken. Doch dann kam ich zu Sinnen und setzte mich sofort wieder. Der Tisch, an dem unsere Kinder und Greer saßen, war ziemlich weit von uns entfernt. Wenn mich der Dämon kommen sah, würde er meine Tochter töten. Ich brauchte einen besseren Plan
– und zwar einen, der sicherstellte, dass Greer mich nicht wiedererkannte.

Scheiße.
Ich rückte meinen Stuhl so hin, dass ich mit dem Rücken zu dem Dämon saß. Innerlich bebte ich vor Angst. Wahrscheinlich schwitzte ich auch ziemlich stark.
»Kate?« Laura sah mich besorgt an. »Alles in Ordnung bei dir?«
»Das ist er. Das ist der Dämon, der mich bei den Mülltonnen angegriffen hat«, flüsterte ich heiser.
Laura warf einen entsetzten Blick zu dem Tisch hinüber. Auch ich wagte es, noch einmal hinzusehen. Stan nahm gerade einen Schluck Limonade. »Heiliger Strohsack«, sagte Laura.
»Das kannst du laut sagen.«
»Heiliger Flohsack!« Timmy schlug mit seiner kleinen Faust auf den Tisch. »Wo ist der heilige Flohsack, Mami?«
»Hier in der Nähe, mein Junge«, erwiderte ich und wandte mich dann wieder an Laura und Eddie. »Ich muss es schaffen, ihn von ihr wegzulocken. Aber er darf mich nicht sehen. Verdammt, verdammt, verdammt.«
»Verdammt«, wiederholte Timmy, doch diesmal achtete ich nicht weiter auf ihn.
»Soll ich gehen?«, fragte Laura. »Vielleicht kann ich behaupten, dass es gleich eine Sonderverkaufsaktion bei Gap gibt? Oder dass Tim krank ist und wir nach Hause müssen? Los, sag schon! Was soll ich tun?«
Ich schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht.« Ich warf einen Blick auf Eddie, der während der letzten Minuten geschwiegen hatte. War er etwa wieder in seiner eigenen kleinen Welt versunken? Ich unterdrückte ein Stöhnen und konzentrierte mich erneut auf Laura. »Was macht er gerade?«
Sie sah über meine Schulter hinweg zu unseren Töchtern und dem Dämon. »Er redet mit Allie«, berichtete sie. »Aber Mindy ist auf dem Weg hierher.«
Das reichte. Ich setzte Timmy auf den Boden und wollte aufstehen. Ich würde es nicht zulassen, dass mein kleines Mädchen mit diesem Ungeheuer allein war. Ein sanftes, aber deutliches Zupfen an meinem Arm ließ mich innehalten.
Eddie.
»Warte«, sagte er und schwieg dann wieder.
»Warten? Worauf soll ich warten?« Wieder machte ich Anstalten aufzustehen und schaffte es diesmal sogar, als Mindy an unseren Tisch kam.
»Ich glaube, er mag sie«, verkündete sie zufrieden. »Ist er nicht süß?«
Ich enthielt mich jeglichen Kommentars.
»Warum bist du nicht dortgeblieben?«, wollte Laura wissen. Mindy zuckte mit den Achseln.
»Du weißt schon. So ein Gefühl. Kam mir wie das fünfte Rad am Wagen vor.«
Mein Blut kochte. Vermutlich war ich bereits knallrot angelaufen. Ein Gefühl? Was für ein Gefühl?
Mindy plauderte fröhlich weiter. »Also – kann ich auf euch in der Buchhandlung warten?«
Laura sah mich fragend an, und ich nickte. »Klar«, sagte sie.
»Pass auf Timmy auf«, bat ich sie, sobald sich Mindy außer Hörweite befand.
Ich drehte mich auf dem Absatz um und wollte Allie gerade zu Hilfe eilen, als sich mir Eddie in den Weg stellte. »Ich werde sie holen«, sagte ich, auch wenn ihm das bereits klar sein musste.
Er rammte mit einer erstaunlichen Heftigkeit seinen Stock in meinen Fuß. Am nächsten Tag würde ich bestimmt einen hübschen blauen Flecken haben. »Denk nach, Mädchen. Denk endlich nach.«
»Aua!« Ich unterdrückte das Bedürfnis, ihm einen Tritt zu verpassen. »Spinnst du? Was soll das?«
»Ich kümmere mich nur darum, dass hier alles richtig läuft.« Er nickte in Richtung Tisch. »Jetzt setze dich wieder hin. Und sobald das Mädchen herkommt, bring es sofort weg.«
»Was willst du –«
»Setzen.«
Diesmal gehorchte ich. Um besser beobachten zu können, was Eddie vorhatte, stellte ich meine Tasche auf den Tisch und begann angeregt darin herumzuwühlen, während ich meine Tochter nicht aus den Augen ließ.
Timmy den Laura inzwischen auf einen Stuhl gesetzt hatte, wollte es mir sofort nachmachen. Aber ich war wirklich nicht in der Verfassung, auf ihn einzugehen. Laura kümmerte sich um ihn, während meine Tochter von einem senilen alten Mann beschützt werden sollte.
Wieder begann ich aufzustehen. Doch diesmal war es Laura, die mich am Arm festhielt. »Wenn der Dämon mit Allie weggehen will, dann kannst du dich dazwischenwerfen. Ansonsten soll erst einmal Eddie seinen Plan durchziehen.«
Sie hatte recht. Ich wusste, dass sie recht hatte. (Sie hatten beide recht.) Es blieb mir also nichts anderes übrig, als tatenlos mit ansehen zu müssen, wie das Schicksal meines Kindes in den Händen eines mir im Grunde unbekannten Mannes lag.
»Was macht er gerade?«, fragte ich und sah vorsichtig hinter meiner Tasche hervor. Eddie war am Tisch von Allie und Stan vorbeigegangen und humpelte gerade auf eine Vitrine mit Kuchen und Getränken zu. Er sprach mit dem Verkäufer, reichte ihm etwas Geld und erhielt dafür zwei Plastikbecher mit Limonade.
Ich starrte ihn an. Mein Herz raste. Was zum Teufel hatte er vor?
Er hängte seinen Stock über den Arm und schlurfte auf Allies Tisch zu. Sie sah ihm lächelnd entgegen. Ich konnte zwar nicht hören, was sie sagte, aber ihre Gesten verrieten, dass sie Eddie gerade als ihren Urgroßvater vorstellte.
Wie überaus reizend. Aber jetzt beeil dich endlich und schaff den Dämon weg!
Offenbar erreichten meine Gedanken Eddie nicht. Er stand ein wenig länger da, wobei er leicht wankte, und hielt dann die Plastikbecher hoch, als ob er mit ihnen prahlen wollte.
Dann stellte er einen davon vor den Dämon und den anderen vor Allie. Er klopfte Allie freundlich auf die Schulter und wandte sich dem Dämonenjungen zu. Seiner Mimik und Gestik nach zu urteilen, bemühte er sich darum, so freundlich wie möglich zu wirken.
Schließlich trat Eddie den Rückzug an. Er verabschiedete sich von den Kids und bewegte sich wieder auf unseren Tisch zu.
Ich stand von Neuem auf.
Laura fasste mich am Arm und zog mich wieder auf den Stuhl zurück. »Warte«, sagte sie. »Warte erst einmal ab.«
Ich biss die Zähne zusammen. Am liebsten hätte ich ihr vor Nervosität eine Ohrfeige verpasst.
Allie und ihr Schwarm blieben sitzen, sodass ich meine Tochter zumindest im Auge behalten konnte.
Eddie trat zu uns. Ich starrte ihn finster an. »Und? Was sollte das jetzt?«
Er warf mir einen scharfen Blick zu, und ich glaubte, für einen Moment die eiserne Härte erkennen zu können, die unter seinem schwächlichen Äußeren verborgen lag. »Warte«, sagte auch er. »Und sieh genau hin.«
Das tat ich. Meine Anspannung wuchs stetig, während Allie und der Dämon miteinander plauderten und an ihren Getränken nippten. Meine Kleine beugte sich immer wieder zu ihm. Ihre Körpersprache verriet deutlich, wie gut ihr der Junge gefiel. Ich rutschte unruhig auf meinem Stuhl hin und her. Wenn nicht bald etwas geschah, würde ich höchstwahrscheinlich einem Herzanfall erliegen (was zumindest Allies Aufmerksamkeit auf mich und von dem Dämon weglenken würde).
Noch immer tat sich nichts.
Und noch immer nicht.
Die beiden redeten miteinander und nippten an der Limonade. Ich ballte meine Fäuste. Worüber sprachen sie bloß? Sie konnten doch überhaupt keine gemeinsamen Interessen haben. Stan war ein widerwärtiger Dämon, der direkt aus der Hölle kam, während meine Tochter gerade in die Highschool gekommen war und sich für typische Mädchensachen wie Klamotten interessierte.
»Jetzt reicht es«, verkündete ich, schob meinen Stuhl zurück und stand auf. Im gleichen Moment sah ich, wie Stan aufblickte und sich seine Augen auf mich richteten. Seine Pupillen leuchteten auf einmal rot auf, und er sprang auf. Allie folgte seinem Beispiel, und ich hörte, wie sie ihn laut fragte: »Alles in Ordnung?«
Natürlich nicht. Er war schließlich ein Dämon!
Er machte einen Schritt auf meine Tochter zu. Ich wusste, dass er nicht davor zurückschrecken würde, in aller Öffentlichkeit anzugreifen. Und das hatte er auch vor, denn er wollte es mir so richtig zeigen.
Ich rannte los.
»Kate!«, rief Laura. Ich hörte sie jedoch kaum, denn in diesem Moment ertönte ein gequälter, hoher Schrei. Es war der Dämon.
Er fiel auf die Knie, hob die Hände und warf den Kopf zurück. Ein Fauchen entrang sich seinem weit aufgerissenen Mund, und er fluchte so heftig, wie ich es bisher selten gehört habe.
Allie wich schockiert zurück. Sie hielt die Hand vor den Mund und betrachtete ihn entsetzt. Er sah sie mit einem schmerzverzerrten Gesicht an.
»Ein bisschen Weihwasser in der Limonade«, erklärte Eddie neben mir gelassen. »Wirkt eigentlich immer.«
Ein guter Trick, das musste ich ihm lassen. Aber ich hatte im Moment keine Zeit, ihn gebührend zu bewundern. Der Dämon war nämlich wirklich verdammt wütend. Wer wusste da, was er als Nächstes tun würde? »Allie!«, schrie ich. »Komm hierher! Sofort!«
»Du verdammtes Miststück!«, heulte Stan auf, wobei seine Worte wohl mehr mir galten als meiner Tochter. »Was hast du gemacht? Was. Hast. Du. Mit. Mir. Gemacht?«
Allie wartete nicht ab, bis er seine Frage zu Ende formuliert hatte. Als er das letzte Wort herauspresste, befand sie sich bereits in meinen Armen.
Während sie ihren Kopf gegen meine Brust drückte, sah ich fasziniert zu (und natürlich auch mit dem Gefühl der Erleichterung und des Erfolgs), wie Stan mühsam aufstand. Für einen Moment befürchtete ich, dass er auf uns zukommen würde, doch er wandte sich in Richtung Ausgang. Ich dachte kurz daran, ihm zu folgen, doch ich wusste, dass das unnötig sein würde. Todd Stanton Greer würde innerhalb weniger Stunden (erneut) tot sein. Der Dämon würde verschwinden und der Junge endlich seine letzte Ruhe finden.
Allie zitterte in meinen Armen. »Was für ein durchgeknallter Freak! Auf welchem Trip war der denn?«
»Ich weiß nicht, Schatz«, erwiderte ich und streichelte ihr über das Haar. »Aber jetzt ist alles vorbei.«
Sie seufzte enttäuscht. »Und dabei wirkte er so nett.« »Manchmal ist es schwer, einen Menschen richtig einzuschätzen«, erklärte ich und nahm sie an der Hand, um das Einkaufszentrum zu verlassen. Es war zwar keine besonders gute oder originelle Antwort, aber augenblicklich die einzige, die mir einfiel.

Ich konnte keinen Schlaf finden.

In meiner Welt war viel zu viel auf einmal ins Wanken geraten. Mein Leben schien auf einmal aus vielen losen Einzelteilen zu bestehen, und ich wusste nicht, wie ich sie wieder zusammensetzen sollte. Also warf ich mich unruhig in unserem leeren Bett hin und her. Stuart arbeitete mal wieder bis spät in die Nacht in seinem Zimmer, und mein Verfolgungswahn erreichte geradezu epidemische Ausmaße.

Ich rollte mich zusammen, umschlang mein Kopfkissen und versuchte nicht darüber nachzudenken, was ich tun würde, wenn der Mann, mit dem ich den Rest meines Lebens verbringen wollte, sich mit Dämonen zusammengetan hatte. Eigentlich konnte ich nicht glauben, dass ich mich so sehr in dem Charakter des Mannes, den ich liebte, getäuscht hatte. Aber alles schien darauf hinzuweisen, dass Stuart etwas Ungutes im Schilde führte.

Mir lief ein kalter Schauder über den Rücken. Ich wollte endlich schlafen. Um nicht länger an meinen Mann denken zu müssen, konzentrierte ich mich auf anderes. Zum Beispiel versuchte ich durch logische Kombination herauszufinden, wo Bruder Michael die Lazarus-Knochen versteckt haben konnte. Ich hatte nicht die leiseste Ahnung, aber so dachte ich zumindest über Knochen, Körper, die auferstehen, und Dämonen nach, die in San Diablo die Vorherrschaft übernahmen, bis die Welt mit einem lauten Knall unterging.

Nicht gerade vergnüglich oder entspannend.

Aber das würde auch gar nicht passieren, wenn es mir gelang, Goramesh aufzuhalten.
Leider wusste ich noch immer nicht, wie ich das bewerkstelligen konnte.
Irgendwann musste ich dann wohl doch eingeschlafen sein, denn ich wachte auf, als sich die Matratze bewegte. Stuart hatte sich auf seiner Seite hingelegt. Ich rollte mich zur Seite und stützte mit dem Ellenbogen meinen Kopf ab, um ihn besser betrachten zu können.
»Hi«, sagte ich.
»Selber hi.«
»Woran hast du gearbeitet?«
»An diesem Immobiliengeschäft«, sagte er. »Das Übliche.«
»Aha.« Ich setzte mich auf, schob mir das Kissen in den Rücken und lehnte mich dann zurück. »Willst du mir davon erzählen?«
»Es ist ziemlich langweilig, Kate. Und außerdem ist es schon spät.«
»Verstehe.« Ich presste die Lippen zusammen und überlegte, wie ich das Ganze am besten angehen sollte. Eigentlich war es sonst eher meine Art, direkt anzugreifen. Außerdem hatte ich nicht viel zu verlieren. »Bist du irgendwie beunruhigt?«, wollte ich wissen. »Gibt es etwas, was du mir noch nicht erzählt hast?«
»Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst«, erwiderte er. Er klang überrascht. Wahrscheinlich wäre ich auch darauf hereingefallen, wenn er nicht, statt mich anzusehen, seine Bettdecke zurechtgezupft hätte.
»Normalerweise sprichst du mit mir über deine Arbeit. Mann, Stuart, normalerweise langweilst du mich sogar endlos mit deiner Arbeit.«
Ich erzählte ihm nicht, dass ich normalerweise auch sofort abschaltete, wenn er davon erzählte. Das wäre doch etwas zu viel Ehrlichkeit auf einmal gewesen. »Aber in den letzten Tagen hast du überhaupt nichts mehr davon gesagt. Irgendwie mache ich mir Sorgen, dass etwas nicht stimmen könnte.«
»Es ist alles in Ordnung«, entgegnete er. »Ich bin nur müde. Können wir jetzt schlafen?«
»Natürlich. Klar. Aber du kannst jederzeit mit mir sprechen, das weißt du.«
»Ich weiß, Kate.« Leicht genervt schaltete er das Licht auf seiner Seite aus. Ich zog mir die Decke bis zur Nase. Angespannt wartete ich darauf, ob er mich berühren würde, und hoffte, dass ich dann nicht zurückschrecken würde. Doch er blieb regungslos liegen. Nach einer Weile des Schweigens rollte ich mich wieder auf seine Seite und sah ihn an.
»Was ist eigentlich mit Clark?«, wollte ich wissen.
Stuart antwortete nicht gleich. »Was soll mit ihm sein?«
»Wir haben auch über ihn nicht viel gesprochen. Was treibt er so? Was hat er vor, wenn du seine Stellung bekommst?«
Jetzt musste er lachen. »Wenigstens hast du ›wenn‹ und nicht ›falls‹ gesagt.«
»Na ja. Du wirst ja auch gewinnen, oder nicht?«
»Denke schon«, erwiderte er mit einer Stimme, die mir einen kalten Schauder über den Rücken jagte.
»Und was macht dann Clark?«, bohrte ich nach.
»Er wird sich zurückziehen. Sein Onkel ist gestorben und hat ihm tonnenweise Geld hinterlassen. Er hat sich bereits ein Haus in Aspen gekauft. Clark muss garantiert sein Leben lang nicht mehr arbeiten.«
»Wow«, sagte ich und runzelte die Stirn. Falls tatsächlich ein reicher Onkel existierte, gab das Clark wesentlich weniger Grund, sich an der Kirche rächen zu wollen, weil diese die Besitztümer seines Vaters bekommen hatte. Da ich augenblicklich keine anderen Verdächtigen hatte, blieb nur noch mein Mann übrig. Keine sehr wissenschaftliche Vorgehensweise, muss ich zugeben. Mein Verstand sagte mir, dass es Dutzende von dämonischen Gefolgsleuten in San Diablo geben konnte, die alle mehr als willig waren, die Lazarus-Knochen an sich zu bringen. Aber mein Herz klagte Stuart an. Und deshalb brach es mir fast entzwei.
»Willst du mir erzählen, was du wirklich von mir willst?«, fragte Stuart.
Die Frage überraschte mich so sehr, dass ich ihn verblüfft anstarrte. Er hatte die Augen offen, und sie leuchteten hell in der Dunkelheit. Ich kannte sein Lächeln so gut. Das war der Mann, den ich zu kennen glaubte und den ich liebte. Täuschte ich mich in ihm? Bitte, bitte – lass mich unrecht haben.
Er strich mir über die Wange. »Komm schon, Kate. Spuck es aus.«
»Okay«, sagte ich. »Zeit für die Wahrheit.« Ich atmete einmal tief durch. »Ich verbringe mehr Zeit als angenommen in der Kirche, um meine ehrenamtliche Arbeit dort machen zu können.« Ich hielt inne, falls die Erwähnung der Kirche bei ihm das Bedürfnis einer Beichte auslösen sollte.
Schweigen.
Ich räusperte mich. »Jedenfalls brauche ich wesentlich mehr Zeit als gedacht, und deshalb habe ich … Äh … Timmy ist jetzt im Kindergarten.« Ich bemerkte, wie sehr ich stotterte und dass ich mich vor lauter Nervosität zu einem kleinen Ball zusammengerollt hatte. Was dieses Geständnis betraf, so erwartete ich wirklich den Zorn meines Mannes. (Und ehrlich gesagt, verdiente ich ihn auch. Wenn Stuart eine solche Entscheidung allein getroffen hätte, ohne mich vorher zu fragen, hätte er bestimmt sein blaues Wunder erlebt.)
»Im Kindergarten also«, sagte er. »Und in welchen geht er?«
Ich blinzelte. Sein ruhiger Ton überraschte mich.»KidSpace«, erwiderte ich. »Das ist der beim Einkaufszentrum.«
»Ist der in Ordnung?«
»Ja, ist er. Und die Kindergärtnerin ist wirklich nett«, beteuerte ich.
»Und das hilft dir?«
»Ja. Es ist ja sowieso nur vorübergehend.« Ich stützte mich auf meinen Ellenbogen und betrachtete eingehend sein Gesicht. »Stuart, es tut mir wirklich leid. Ich weiß, dass ich es vorher mit dir hätte besprechen sollen, aber es ist schwer, überhaupt einen Platz in einer Kindertagesstätte zu ergattern. Dort hatten sie gerade zufällig einen frei. Da musste ich einfach zuschlagen. Ich brauche die Extrazeit –«
Er legte einen Finger auf meine Lippen. »Mach dir keine Sorgen, mein Schatz.«
Ich brauchte mindestens zwei Sekunden, um seine Antwort zu verdauen, und selbst dann glaubte ich kaum, meinen Ohren trauen zu können. »Was?«
»Du sollst dir keine Sorgen machen. Du bist eine tolle Mutter, und ich vertraue dir da völlig.«
»Oh.« Wieder runzelte ich die Stirn. Sein Lob freute mich eigentlich gar nicht. »Dann ist es also okay?«
»Klar, kein Problem. Aber jetzt ist es schon nach eins. Ich muss wirklich schlafen.« Er beugte sich zu mir herüber, küsste mich auf die Wange und rollte sich dann auf seine Seite des Bettes. Ich starrte auf sein weißes T-Shirt, das im Mondlicht leuchtete.
Das war übel. Das war wirklich übel.
Bisher war es noch nie passiert, dass der Stuart, den ich kannte, ruhig geblieben war, wenn ich ihn in Bezug auf Timmy einfach in einer Entscheidung übergangen hatte. Der Mann, der das Bett mit mir teilte, konnte nicht mehr der Stuart sein, den ich geheiratet hatte.
Tränen brannten in meinen Augen, und ich drückte meinen Kopf in mein Kissen. Nur ein Gedanke kreiste durch meine Gedanken: Mein Mann, den ich liebte, musste wirklich für einen Dämon arbeiten.

Stuart war bereits fort, als ich aufwachte, und ich muss zugeben, dass ich erleichtert war.

Ich hatte schlecht geschlafen. Meine Träume wurden von dämonischen Bildern meines Mannes bevölkert, und immer wieder musste ich an die Lazarus-Knochen denken. Wahrscheinlich hatte mein Unterbewusstsein versucht, eine Lösung zu finden, doch es wäre hilfreicher gewesen, wenn sich mein Gehirn stattdessen zurückgelehnt und entspannt hätte. Ich war erschöpft, schlecht gelaunt und nicht in der Stimmung, mir von irgendjemand – ganz egal ob Mensch oder Dämon – etwas sagen zu lassen.

Laura, zuverlässig wie immer, hatte sich erneut einverstanden erklärt, auf meine zwei Mündel aufzupassen, sodass ich zu Larson ins Büro fahren konnte, um ihn noch vor neun Uhr, ehe er ins Gericht ging, zu sprechen. Timmy steckte bis zu den Ellenbogen in Haferbrei, als sie eintraf. Allie war bereits aus dem Haus gerannt, um von einer weiteren Mutter im Auto mitgenommen zu werden, und Eddie schlief noch. (Die Aufregungen des gestrigen Tages hatten ihn meiner Meinung nach doch erschöpft. Allerdings musste ich zugeben, dass sich dieser Zustand durchaus gelohnt hatte, wenn ich daran dachte, wie stolz er auf sein wirklich brillantes Manöver gewesen war.)

Ich ließ Laura mit dem Versprechen allein, um zehn Uhr zurückzukehren, damit ich sie von meiner Brut befreien konnte. Dann wollte ich Timmy in den Kindergarten bringen und Eddie mit mir in die Kathedrale nehmen. Mit etwas Glück würde er dort vielleicht sogar etwas entdecken, was ich bisher übersehen hatte.

Ich hatte Larson angerufen, um ihm mitzuteilen, dass es Neuigkeiten gab. Als ich bei ihm eintraf, wartete er bereits mit einer frisch aufgebrühten Kanne Kaffee auf mich.

»Die Lazarus-Knochen«, sagte ich, lehnte mich im Ledersessel zurück und nahm einen Schluck Kaffee. Ich hatte endlich eine Antwort auf unsere große Frage gefunden und fühlte mich dementsprechend stolz.

»Die Lazarus-Knochen«, wiederholte er ungerührt. »Sie meinen wohl die Knochen des Lazarus, der von Jesus von den Toten auferweckt wurde? Die Knochen, denen man nachsagt, dass sie Tote wieder zum Leben erwecken können?«

Ich starrte ihn verblüfft an. »Sie wissen davon?«

»Das ist doch alles Humbug. Ein Ammenmärchen. Reine Erfindung und sonst gar nichts.«
»Das glaube ich nicht«, entgegnete ich. »Eddie hat die Knochen gesehen. Er wurde deswegen verraten.«
Der Zweifel, der zuvor Larsons Miene ausgezeichnet hatte, wich nun neugierigem Interesse. »Wirklich? Also gut, dann schießen Sie mal los.«
Das tat ich. Ich berichtete ihm alles, was Eddie mir erzählt hatte.
»Interessant.« Larson saß an seinem Schreibtisch und spielte mit seinen Fingern, während er nachdenklich die Lippen schürzte.
»Eddie ist also nicht so verkalkt wie angenommen«, sagte ich. »Vielleicht mag er exzentrisch sein, aber garantiert nicht verkalkt.«
»Aber wir wissen immer noch nicht, wo sich die LazarusKnochen befinden. Das konnte er Ihnen nicht verraten, oder?«, hakte Larson nach.
Ich rutschte im Sessel hin und her. »Wir wissen, dass sie irgendwo in der Kathedrale sein müssen.«
»Aber wir wissen nicht, wo.« Er schlug mit der Faust auf den Tisch und sprang auf. »Verdammt, Kate! Wir müssen sie finden. Wir müssen sie finden, ehe er es tut.«
Ich fuhr mir mit der Zunge über die Lippen. Eigentlich wollte ich etwas sagen, aber ich war mir nicht sicher, wie Larson darauf reagieren würde.
Er musterte mich bereits weniger erregt. »Was ist los?«
»Ich habe gerade an etwas gedacht, was Eddie sagte. Die Knochen befinden sich momentan in Sicherheit. Ich meine, das müssen sie doch, weil sie bisher keiner gefunden hat. Vielleicht sollten wir sie einfach nur dort liegen lassen.«
»In Sicherheit?«, wiederholte er. »Glauben Sie das wirklich?« Er begann unruhig durch sein Büro zu wandern. Ich beobachtete ihn. Er schien mir allmählich die Nerven zu verlieren. »Wie können Sie das behaupten, wenn Goramesh so scharf darauf ist, sie zu finden? Denken Sie wirklich, dass der Dämon einfach so aufgibt, nur weil sich die Suche als schwierig gestaltet? Kate, benutzen Sie Ihr Gehirn!«
»Das tue ich doch!« Ich hatte meine Stimme erhoben, aber mein Zorn richtete sich vor allem gegen mich selbst. Er hatte recht, verdammt noch mal! »Aber ich weiß einfach nicht, wo sich die Knochen befinden. Was soll ich tun? Ich weiß nur, dass Bruder Michael sie nach San Diablo brachte und sich dann sein restliches Leben in einem Kloster in Italien verbarg. Auf einmal entdeckten ihn die Dämonen, und anstatt das Geheimnis zu verraten, sprang er lieber aus dem Fenster. Das Geheimnis ist zusammen mit ihm begraben worden, Larson. Daran lässt sich nichts ändern.« Ich war auch aufgesprungen. Bei meinem letzten Satz hielt ich inne und spulte ihn im Kopf noch einmal ab: Daran lässt sich nichts ändern.
Oder vielleicht doch?
»Mike Florence«, flüsterte ich.
Larson schüttelte den Kopf. Seine Miene spiegelte seine Besorgnis wider, dass ich allmählich vielleicht wirklich nicht mehr alle Tassen im Schrank haben könnte.
»Mike – Michael – Florence«, sagte ich langsam.»Florenz, in Italien.« Ich strich mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Wie hatte ich nur so blind sein können? »Natürlich. Er hat der Kirche etwas gespendet. Die Knochen befinden sich im Archiv, ohne dass sie jemals katalogisiert wurden. In einer kleinen goldenen Dose.«
»In einer goldenen Dose?«
»Genau«, erwiderte ich. »Etwa so groß.« Ich zeigte es ihm mit meinen Händen. Die Dose an sich war nichts wert, sodass derjenige, der die wertvollsten Reliquien archiviert hatte, nicht begriffen haben konnte, wie wichtig ihr Inhalt in Wahrheit war. Ich runzelte die Stirn. Auf einmal ließ meine Euphorie etwas nach. »Nein, das kann nicht stimmen, wenn ich es mir recht überlege«, sagte ich. »Da würden gar keine Knochen hineinpassen. Dafür ist die Dose viel zu klein.«
»In ihrer ursprünglichen Größe vielleicht nicht«, gab Larson zu bedenken. »Aber Knochen sind sehr brüchig.«
Ich hob den Kopf. »Sie meinen, dass sie möglicherweise zerfallen sind?«
»Der Knochenstaub würde doch die gleichen Eigenschaften besitzen wie die Knochen. Glauben Sie nicht?«
»Sie sind der Experte«, antwortete ich.
»Gehen Sie! Holen Sie die Dose. Bringen Sie das gute Stück mir, und ich werde es dann sofort in den Vatikan schicken lassen.« Das musste er mir nicht zweimal sagen. Ich befand mich bereits in der Nähe der Tür, die Tasche über meine Schulter geworfen. »Kommen Sie doch mit«, forderte ich ihn auf. »Wir bringen sie dann gemeinsam zum Flughafen. Ich werde mich darum kümmern, dass Sie sicher an Bord eines Flugzeugs nach Rom gelangen.«
»Ich kann nicht. Ich habe gleich einen wichtigen Gerichtstermin.« Er rieb sich die Schläfen und warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »In frühestens einer Stunde kann ich mir irgendeine Entschuldigung einfallen lassen und die Sitzung vertagen. Dann können wir uns treffen.«
Am liebsten hätte ich ihm widersprochen. Ich wollte ihn darauf hinweisen, dass sein Pflichtbewusstsein seinem Beruf gegenüber nicht größer sein sollte als das meine im Hinblick auf meine Familie. Doch mir blieb keine Zeit. Es wäre außerdem wohl auch kaum ein Streit gewesen, den ich gewonnen hätte. »Kommen Sie zu mir nach Hause«, sagte ich. »Ich muss Laura erlösen, und vielleicht kann Eddie bestätigen, dass es sich um die richtigen Knochen handelt. Es würde mir nicht gefallen, wenn wir aus Versehen dem Vatikan die Asche des lieben Onkel Edgar bringen würden.«
»Sie haben recht.« Er zögerte einen Moment. Dann nickte er. »Also bei Ihnen in einer Stunde. Los, jetzt gehen Sie endlich.«

Genau eine Stunde später drängten sich Larson, Eddie und ich um unseren Esstisch. Anstatt Timmy in den Kindergarten zu bringen, hatte ich Laura gebeten, bei sich zu Hause auf ihn aufzupassen. Ich wusste nicht, wie viel Zeit das Ganze in Anspruch nehmen würde und was wir alles machen mussten. Falls ich Larson tatsächlich zum Flughafen von Los Angeles bringen musste, würde ich Timmy nicht rechtzeitig aus der Kindertagesstätte abholen können.

Die Dose stand neben dem Salz- und dem Pfefferstreuer, und weder Eddie noch Larson machten den Anschein, als ob sie die

Dose berühren wollten.
»Woher wissen wir eigentlich, ob es sich um das richtige Pul
ver handelt?«, fragte ich. »Ich meine, wie können wir uns sicher
sein?«
Larson und ich blickten Eddie an. »Irgendeine Idee?«, wollte
der Richter wissen.
»Na ja. Also«, begann Eddie umständlich. »Ich habe sehr viele Ideen.«
»Zu der Dose, Eddie«, sagte ich und gab ihm einen sanften
Stoß. Ich bezweifelte, dass Larson in der Laune war, sich Eddies
endloses Gerede anzuhören. Ich jedenfalls war es ganz und gar
nicht.
»Charlie hat Michael und mir nur einen Teil des Textes vorgelesen«, erklärte Eddie. »War auch das Beste. War ein ziemlich
langes Dokument, wisst ihr?« Er blinzelte. Seine Augen wirkten
hinter der Brille, die er sich auf die Nase geschoben hatte, wie
die einer Eule. »In welchem Jahr war das noch mal? Nicht in
den Sechzigern … Gab damals keine Hippies. Vielleicht in den
Fünfzigern?«
»Eddie.«
Er winkte ab. »‘tschuldigung. Okay. Du hast ja recht. Also,
dann.« Wieder blinzelte er und sah Larson verstohlen an.
»Worüber haben wir gerade gesprochen?«
Larson presste seine Hände auf die Tischplatte und rückte
ganz nahe an Eddie heran. »Wie prüfen wir, ob das hier die
Lazarus-Knochen sind?«
»Ah ja, stimmt. Jetzt erinnere ich mich wieder. Klar. Mit
Weihwasser.«
Ich sah Larson an, der genauso verwirrt wie ich wirkte. »Mit
Weihwasser? Wie soll das gehen?«
»Einfach ein bisschen daraufspritzen, und dann sollte man
die Flamme Gottes sehen. Ich kann mich nicht mehr an die
genaue Übersetzung erinnern, aber der Text sagte etwas über
Anmaßung und dass die Flamme eine Warnung sei, wie man
die Knochen nicht verwenden durfte. Irgendein Hinweis.« »Ein Hinweis?«, fragte ich.
»Matthäus 25,41«, erwiderte Eddie.
Ich schüttelte den Kopf. Ich hatte noch nie viele Stellen aus
der Bibel auswendig gekonnt.
»Dann wird er auch sagen zu denen zur Linken: ›Weichet von
mir, ihr Verfluchten, in das ewige Feuer, das bereitet ist dem
Teufel und seinen Engeln.‹«
Ich nickte, ohne antworten zu können. Endlich begriff ich,
was die Knochen darstellten. Ich wollte sie prüfen und dann so
schnell wie möglich aus meinem Haus haben. Sie mussten San
Diablo verlassen. Eddies kleine Flasche mit Weihwasser stand
neben dem Salz. Ich reichte sie Larson. »Hier«, sagte ich. »Die
Ehre gebührt Ihnen.«
Er schob meine Hand beiseite und nickte in Eddies Richtung.
»Nach so vielen Jahren finde ich, dass Mr. Lohmann diese Ehre
verdient hat.«
»Das finde ich aber auch.« Eddie holte tief Luft, sodass sich
seine knochigen Schultern hoben. Dann zog er die Dose zu sich
heran. Es gelang ihm problemlos, den Deckel zu öffnen. Gespannt beobachtete ich, wie er den Sprühknopf auf den Staub
richtete. »Wie wäre es mit einem kleinen Trommelwirbel?« »Ich mag vielleicht nicht Ihr alimentatore sein«, meinte Larson gereizt. »Aber ich muss Ihnen trotzdem ein für alle Mal sagen: Hören Sie endlich mit diesem Mist auf und kommen Sie
zur Sache!«
Eddie warf mir ein verstohlenes Grinsen zu. Seine dritten
Zähne schimmerten weiß. »Schon mal bemerkt, wie ungeduldig
manche Mentoren sein können?«
»Der Test, Eddie«, mahnte ich.
»Ja, schon recht, schon recht.« Er schüttete ein wenig von
dem Knochenstaub auf eine Serviette und sprühte dann Wasser
darüber. Ein feiner Dunst hing in der Luft und legte sich auf das
Knochenmehl.
Ich sprang automatisch auf, da ich erwartete, Flammen aufsteigen zu sehen. Doch nichts geschah. Wir blickten nur auf ein
Häufchen feuchten Pulvers, das auf einer feuchten Serviette lag. Neben mir gab Larson ein leises Geräusch der Enttäuschung
von sich. »Sind Sie sich sicher, dass wir es hier mit Weihwasser
zu tun haben? Sie haben mir doch erzählt, dass die Pfleger im
Altenheim seine Flasche immer mit normalem Leitungswasser
aufgefüllt haben.«
»Ich bin mir sicher«, entgegnete ich, wobei ich es lieber gehabt hätte, wenn dem nicht so gewesen wäre. »Father Ben
erneuert das Weihwasser jeden Morgen, und ich habe Eddies
Flasche selbst für ihn gefüllt.«
»Na ja«, sagte Eddie. »Das wäre es dann. Ich nehme an, dass
wir weitersuchen müssen.«
»Ja«, erwiderte Larson angespannt. »Das scheint mir allerdings auch so.«

Larson kehrte kurz darauf wieder in sein Gericht zurück und ließ Eddie und mich in bedrückter Stille am Küchentisch zurück.

»Ich dachte wirklich, wir hätten sie endlich gefunden«, sagte ich. »Ich dachte, wir hätten das Rätsel endlich gelöst und das Ganze zu einem Abschluss gebracht.«

»So wie ich das sehe«, meinte Eddie, »werden wir es nie zu einem Abschluss bringen.«
»Du vielleicht nicht. Aber ich werde damit wieder aufhören, sobald die Lazarus-Knochen sicher im Vatikan liegen.«
»Ehrlich? Meinst du?« Er kaute nachdenklich auf einem Kugelschreiber herum.
Ich dachte, er würde noch etwas hinzufügen, doch er schwieg. »Ich muss einfach an meine Familie denken, Eddie. An Allie, Timmy und an Stuart«, erklärte ich. Als ich den Namen Stuart aussprach, sah ich bewusst woanders hin. Ich wollte Eddie nichts von meinem Verdacht erzählen, solange ich mir nicht hundertprozentig sicher war.
»Wir müssen alle tun, was wir tun müssen. Aber diese Stadt hat mehr Probleme als nur Goramesh, das weißt du. Vielleicht hat er die Dämonen ja hierhergelotst. Vielleicht aber auch nicht. Jedenfalls wird keine dieser bösartigen Kreaturen verschwinden, bloß weil die Knochen nicht mehr hier sind.«
»Es gibt noch andere Jäger«, entgegnete ich, auch wenn ich wusste, dass das nicht stimmte. Padre Corletti hatte mir die Personalsituation der Forza schließlich bereits erklärt. »Ich habe mich zurückgezogen. Genau wie du, Eddie. Du willst doch auch nicht wieder mit diesem ganzen Mist anfangen, oder?«
Er schnaubte belustigt. »Ich habe nie damit aufgehört, Mädchen.«
»Was?« Ich blinzelte ihn verblüfft an. »Ich dachte, du wärst schon lange in Rente.«
Sein Lachen klang harsch und nicht im Geringsten wie das eines schwachen alten Mannes. Die Medikamente, die man ihm verabreicht hatte und die ihn so gelähmt hatten, schienen allmählich weitgehend abgebaut zu sein.
»Während der letzten fünfzig Jahre oder so habe ich mich an vielen Orten aufgehalten, an denen ich eigentlich nicht sein wollte. Hast du schon einmal fünfzehn Jahre ohne richtige Dusche verbracht? Nicht gerade spaßig, Mädchen, aber so war das eben. Ich habe es für die Forza gemacht. Und was das Essen betrifft … Ich musste oft die schlimmsten Dinge zu mir nehmen, die man sich so vorstellen kann, nur um zu überleben. Eigentlich gar keine echte Nahrung mehr, sondern nur noch Abfall, Abfall mit –«
»Einen Augenblick.« Ich hielt eine Hand hoch, ehe Eddie wieder so richtig in Fahrt geraten konnte. »Warte mal. Worum geht es hier eigentlich?«
»Ich habe dir doch schon gesagt, worum es geht«, erwiderte er leicht gereizt, während er weiterhin auf dem Kugelschreiber herumbiss. »Ich wurde verfolgt. Ich habe mich nicht zurückgezogen. Ich bin untergetaucht. Hatte keine andere Wahl. Ich habe gegen Dämonen in Sri Lanka gekämpft und ein Nest von Vampiren in Nepal ausgeräuchert. Einige Zeit verbrachte ich in einem Kloster in Südamerika und versteckte mich dann für ein paar Jahre auf Borneo.«
»Du hast dich versteckt? Seit den fünfziger Jahren?«
»Sie waren mir auf den Fersen. Ständig auf den Fersen.«
»Wer? Und warum?«
»Natürlich die Dämonen – wer sonst?«, erwiderte er. »Sie haben die Lazarus-Knochen gesucht. Und das hieß, dass sie erst einmal mich finden mussten.«
»Du hast dich also die ganze Zeit über in Verstecken aufgehalten? Weshalb bist du dann nach San Diablo gekommen? Du wusstest doch, dass die Knochen hier sind. Dachtest du nicht daran, dass die Dämonen darauf kommen könnten, hier zu suchen?«
Eddie begann so heftig zu lachen, dass er sich verschluckte. Zuerst wurde er knallrot und schließlich beinahe blau, was nicht gerade sehr attraktiv aussah. Ich sprang auf und schlug ihm hastig auf den Rücken, bis er eine Hand hochhielt und ich aufhörte. Er versuchte zu sprechen, brachte aber zuerst kein Wort heraus. Also reichte ich ihm ein Glas Wasser. Er nahm einen Schluck und probierte es erneut. »Ich bin nicht freiwillig hierhergekommen, Mädchen. Man hat mich hierhergebracht.«
»Was?«
»Vor etwa drei Monaten.«
»Zu dem Zeitpunkt, als Bruder Michael den Freitod wählte«, sagte ich.
»Genau da.«
»Und? Wo warst du zuvor?«
»Sechs Monate davor war ich in Algier und arbeitete als Barkeeper, während ich mich gleichzeitig um einige übernatürliche, bösartige Kunden kümmerte. Ich habe dort auch Jäger ausgebildet. Natürlich nicht offiziell. Das ist eigentlich sowieso die beste Art und Weise, wenn du mich fragst. Die Forza ist viel zu langsam geworden, obwohl die Gefahr ständig zunimmt. Man muss sich ihr stellen und kämpfen. Man muss sich ihr stellen und –«
»Eddie!«
Sein ganzer Körper schien in sich zusammenzusinken. »Sie haben mich dort gefunden. Die Dämonen, meine ich. Sie haben mich in irgendeine Hütte in Inglewood geschleppt und mich dort mit Drogen vollgepumpt. Haben mir Fragen gestellt und versucht, Antworten aus mir herauszubekommen. Aber ich habe ihnen nichts gesagt, kein einziges Wort.«
Mir war nach Heulen zumute, aber meine Augen blieben überraschenderweise trocken. Eine neue Welle des Zorns rollte durch meinen Körper. Ich wollte diesem alten Mann zeigen, dass es sich lohnte, den Großteil des Lebens dafür herzugeben, ein wichtiges Geheimnis zu bewahren. Mehr denn je wollte ich jedoch Goramesh vernichten.
»Die Dämonen haben dich also hierhergebracht?«, fragte ich ungläubig.
»Sie haben mir etwas weniger Drogen verabreicht, als ich hier eintraf. Vielleicht dachten sie, dass ich mich wirklich an nichts erinnern kann, weil ich inzwischen so verwirrt war. Keine Ahnung. Und ich wusste auch nicht, was sie dazu brachte, mich nach San Diablo zu bringen.« Er sah mich an. »Jedenfalls nicht, bis du mir deine Geschichte erzählt hattest.«
»Sobald sie von Bruder Michael erfuhren, dass die Knochen hier liegen, musstest auch du hierher gebracht werden.«
»Das nehme ich an, ja. Hat ihnen aber nicht viel genutzt«, erklärte er mit einem zufriedenen Grinsen. »Ich habe nichts verraten. Kein einziges Wort. Eines kann ich dir sagen: Die Droge oder die Medizin muss erst noch erfunden werden, die den guten alten Eddie zum Sprechen bringt, wenn er es nicht will.«
Ich sah ihn fragend an. »Du hast mit mir gesprochen«, sagte ich, wobei ich fast flüsterte. »Warum? Warum hast du mir vertraut?«
»Ist es falsch, dir zu vertrauen?«
»Nein.« Ich schüttelte den Kopf. »Nein, ganz und gar nicht.«
Er grinste mich verschmitzt an. »Dann ist es doch egal, welche Gründe ich hatte – oder nicht?«

ACHTZEHN

Mein Unterhaltungsspektrum reichte innerhalb von achtundfünfzig Stunden von der Prüfung eines feinen weißen Pulvers durch Weihwasser, um herauszufinden, ob es ApokalypsePotenzial besaß, bis zum Verkauf von Kuchen auf der Wiese vor der Kathedrale St. Mary.

Es ist die Abwechslung, die mein Leben so aufregend macht. Ich wusste noch immer nicht, wo sich die Lazarus-Knochen befanden oder wer sie aus der Kathedrale holen und in Gorameshs Dämonenhände legen wollte. Zu behaupten, dass ich frustriert war, wäre die Untertreibung des Jahres gewesen. Falls mein Lächeln also ein wenig angespannter als sonst ausfiel, konnte man das durchaus den Dämonen und ihren Machenschaften zuschreiben.
»Mami!« Allie trat zu mir. Timmy saß gemütlich auf ihrer Hüfte. »Muss ich ihn wirklich die ganze Zeit mitnehmen? Ich lerne garantiert niemand Coolen kennen, wenn ich ständig meinen kleinen Bruder mit mir rumschleppe.«
»Das hier ist ein Kirchenbasar, Liebling, und keine Party. Hier wirst du so oder so keine coolen Jungs kennenlernen.«
Sie schnitt eine Grimasse. »Ich habe es dir doch bereits x-mal gesagt«, maulte sie. »Ich denke nicht ständig nur an Jungs.«
»Nur montags, mittwochs und freitags – oder sehe ich das falsch?«
»Genau«, entgegnete sie und kicherte. »Und an jedem zweiten Dienstag.«
»Heute ist Freitag«, gab ich zu bedenken. »Wer steht also auf deiner Liste für heute ganz oben?«
»Keiner«, erwiderte sie mit einem tiefen Seufzer. »Die coolen Typen sind irgendwie auch immer die seltsamsten, glaube ich.«
Ich wusste, dass sie an Stan dachte, und es tat mir in der Seele weh. Am Morgen hatte ich in der Zeitung eine kleine Notiz entdeckt. Todd Greer – der wie ein Wunder den Angriff eines bösartigen Hundes wenige Tage zuvor überlebt hatte – war aus dem Einkaufszentrum gestürzt und direkt von einem Bus erfasst worden. Er war dem Bericht zufolge sofort tot. Obwohl ich wusste, dass er kein Mensch mehr gewesen war, verspürte ich doch eine gewisse Traurigkeit, als ich das las. Vermutlich wegen des Jungen, der er einmal gewesen war.
Ich lächelte meine Tochter an. Wie sehr wünschte ich mir, sie vor der Schlechtigkeit der Welt beschützen zu können! Wahrscheinlich hätte ich ihr jetzt versichern müssen, dass es da draußen noch viele Typen gab, die nicht seltsam waren. Aber ich schwieg. Das würde sie sowieso bald genug selbst herausfinden.
»Wieso fragst du nicht Laura, ob sie auf Tim aufpassen kann?«, schlug ich vor, nachdem ich einem Mann in einem TShirt von Allies früherer Schule ein Stück Kuchen verkauft hatte.
»Ich habe sie schon gesucht. Sie ist nirgends zu finden.« Sie sah mich mit ihrem bettelnden Hundeblick an. »Opa meint, dass er auch auf Timmy aufpassen könnte.«
»Wenn du Tim bei Opa abstellst, gibst du mir auf der Stelle dein Handy zurück.« Auch ich konnte hässlich werden, wenn es sein musste.
Ein genervter Seufzer entschlüpfte ihr, gefolgt von einem »Wie auch immer«.
»Warum wartest du nicht auf Stuart? Er wollte um halb sieben sowieso da sein.«
»Wir haben erst sechs Uhr, Mami. Das bedeutet eine weitere halbe Stunde!«
»Diese Qualen«, sagte ich.
»Wann kommst du hier weg?«
»Eigentlich jetzt, aber ich muss noch einige Dinge erledigen.« Wie zum Beispiel ins Archiv hinunterschleichen und hoffen, dass ich plötzlich eine Eingebung habe, fügte ich in Gedanken hinzu.
»Mami! So werde ich doch nie jemanden kennenlernen können.«
»Ich weiß. Ich bin böse.« Ich trat einen Schritt zurück, damit Tracy Baker meinen Platz als Kuchen-Königin einnehmen konnte. Dann kam ich um den Stand herum zu meiner Tochter. »Am besten versuchst du es, wie gesagt, bei Laura. Ich bin mir sicher, dass sie sich hier irgendwo mit Mindy herumtreibt. Meinst du nicht?«
Allies Seufzer nach zu urteilen, hätte man annehmen können, dass sie gerade die Nachricht erhalten hatte, nur noch wenige Wochen zu leben. »Ich weiß nicht. Dann suche ich eben nach ihr. Schon wieder!«
Sie schlich missmutig davon, während Timmy fröhlich nach ihren baumelnden Ohrringen fasste.

Allie mochte Laura vielleicht nicht gefunden haben, aber mir bereitete es kein Problem, sie zu orten. Obwohl Laura nicht katholisch ist, stellt der Kirchenbasar einen wichtigen Termin im Kalender dar, und wir beide besuchen ihn jedes Jahr. Gewöhnlich klappern wir die verschiedenen Stände ab und kaufen selbstgemachten Nippes und sinnlosen Plunder. Doch dieses Jahr hatten wir eine Aufgabe.

»Du weißt, dass ich dir helfen könnte«, sagte Laura, während wir auf das Kirchengebäude zugingen.
»Ja, ich weiß. Aber nein danke. Falls Goramesh uns beobachtet, weiß er wahrscheinlich sowieso bereits, dass du mir hilfst. Aber für den Fall, dass er es noch nicht tut, möchte ich lieber die Illusion aufrechterhalten, allein zu arbeiten.«
»Was kann ich dann tun?«
Ich verspürte zwar ein schlechtes Gewissen, aber ich wollte Allie helfen. »Könntest du vielleicht Allie erlösen? Ihr Bruder stellt nicht gerade das coolste Accessoire dar, das man sich so vorstellen kann.«
»Für Allie tue ich alles.«
»Danke.«
»Kein Problem. Nur ein weiterer Nachtisch auf dem immer größer werdenden Dessertwagen.«
Inzwischen waren wir vor der Kirchentür angekommen. Sie blieb stehen und rieb sich die Oberarme, während sie kopfschüttelnd das Gebäude betrachtete. »Irgendwie traurig und faszinierend zugleich – findest du nicht?«
Ich konnte an nichts anderes als die Millionen von Kisten denken, die noch immer darauf warteten, von mir durchgesehen zu werden. Nachdem ich bereits dem Ziel so nahe zu sein schien, hatte ich jetzt noch weniger Lust als zuvor, mich wieder in meine Nachforschungen in diesem staubigen Keller zu stürzen.
»Kate?«
»Sorry. Was ist los?«
»Ich habe gerade über die Kathedrale nachgedacht. Über die Knochen der Heiligen, die in den Mörtel gemischt wurden. Und mir fielen diese fünf Märtyrer im Keller ein. Ich meine, einerseits ist so was ja unglaublich inspirierend, aber andererseits auch irgendwie seltsam und unheimlich.«
Ich stieß die Kirchentür auf. »Mich interessiert momentan weder seltsam noch unheimlich oder inspirierend. Ich will nur noch diese Knochen finden. Und anstatt die nächsten zwei Stunden damit zu verbringen, mir gemeinsam mit dir Tücher und verrückte Ohrringe anzusehen, muss ich mich wieder über diese von Ungeziefer befallenen Kisten hermachen. Es tut mir leid, aber augenblicklich bin ich wirklich nicht in der Stimmung, die historischen Dimensionen des Gebäudes oder der alten Knochen da unten zu goutieren.«
Ihre Lippen zuckten, doch sie nickte ernst. »Verstehe«, sagte sie. »Dann an die Arbeit.«
Sie machte kehrt und begab sich zum Kirchenbasar zurück, während ich noch für einen Moment im Foyer stehen blieb, um einen Kniefall in Richtung Altar zu machen. Solche Kniefälle sind mir schon immer schwergefallen (es tut mir leid, aber die Bewegung ist irgendwie unnatürlich), und diesmal plumpste ich dabei sogar auf meinen Hintern. Denn der Gedanke, der mir plötzlich durch den Kopf schoss, brachte mich total aus dem Gleichgewicht.
Laura hatte von fünf Märtyrern gesprochen, aber in der Vitrine im Keller befanden sich sechs Beutel mit Reliquien. Ein zusätzlicher Beutel war also ausgestellt und damit unter den Augen aller versteckt worden.
Wie ein heftiger Stromschlag durchfuhr mich die Erkenntnis.
Ich wusste endlich, wo sich die Lazarus-Knochen befinden mussten.
Wie von der Tarantel gestochen, rannte ich aus der Kirche und riss mein Handy aus der Tasche. Dann lief ich aufgeregt hin und her und versuchte, einen Empfang zu bekommen. Sobald mir das gelungen war, wählte ich hastig Larsons Nummer. »Ich weiß, wo die Knochen sind«, sagte ich, ohne mich lange mit höflichen Vorreden aufzuhalten.
»Sind Sie sich sicher?« Seine Stimme klang erregt.
»Absolut. Ganz sicher … Glaube ich jedenfalls. Wo sind Sie?«
»Etwa eineinhalb Kilometer von der Kathedrale entfernt. Gehen Sie hinein, holen Sie die Knochen, und wir treffen uns dann auf dem Parkplatz.«
»Ich kann warten«, sagte ich. »Es wäre mir lieber, wenn wir sie zusammen holen würden.«
»Keine Zeit«, erwiderte er, als stünde er unter Druck. »Goramesh hat seine Ohren überall. Sie hätten mich nicht einmal anrufen sollen. Aber nachdem Sie es jetzt laut ausgesprochen haben, müssen Sie die Knochen auf jeden Fall sofort holen.«
Ich spürte, dass mir die Wangen vor Scham brannten. Um mich zu verteidigen, öffnete ich den Mund, doch ich brachte kein Wort heraus. Hatte er recht? Hatte ich gerade mich – und die Knochen – in Gefahr gebracht?
»Ich werde auf Sie warten, wenn Sie herauskommen, und dann bringen wir sie gemeinsam zum Flughafen. Los, gehen Sie schon!«
Ich ging. Ich rannte durch das Kirchenschiff bis zum Altarraum, wo ich die vier Stufen nach oben mit einem Sprung nahm. Dann riss ich die Tür zur Sakristei auf und eilte die Treppe zum Keller hinab.
Doch unten blieb ich abrupt stehen. Ich stieß einen leisen Schrei aus, als ich sah, wer dort saß.
Stuart.
Um Himmels willen! Wartete er etwa auf mich?
Er saß an einem der langen Holztische. Ein übergroßes Buch mit vergilbten Seiten und einer winzigen Schrift lag aufgeschlagen vor ihm. Er blickte zu mir auf, und ich konnte deutlich die Überraschung in seinem Gesicht erkennen. Was mich betraf, so verspürte ich nur noch Angst, das Gefühl, betrogen worden zu sein, und eine seltsame Hoffnung. War er noch immer mein Stuart? Oder war er vielleicht hierhergekommen, um mir wehzutun?
Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr, runzelte die Stirn und sah mich fragend an. »Habe ich mich verspätet? Ich dachte eigentlich, dass du mich erst um halb sieben erwartest.«
»Was?« Seine Bemerkung warf mich etwas aus der Bahn. Ich verstand nicht ganz, was er meinte.
»Bist du nicht deswegen gekommen? Hast du mich nicht gesucht?«
»Ich … Nein, eigentlich nicht.«
Für einen Moment legte sich ein Schleier der Verwirrung auf seine Miene, der jedoch gleich wieder verschwand. »Ach so. Du bist natürlich hierhergekommen, um an deinem Projekt weiterzuarbeiten.«
»So in etwa«, entgegnete ich, ohne mich von der Stelle zu rühren. »Aber warum bist du hier?«
Er schlug das Buch mit einem lauten Knall zu. Eine Staubwolke stieg in die Höhe. »Ist nicht wichtig. Es betrifft nur eine Sache, an der ich gerade arbeite.«
Ich schüttelte den Kopf, denn trotz der seltsamen, unheimlichen Umstände begann ich allmählich die Geduld zu verlieren. »Was ist eigentlich los, Stuart? Sag es mir endlich. Sag mir die Wahrheit!« Ich zog einen Stuhl ihm gegenüber heraus, setzte mich und fasste dann über den Tisch, um seine Hand zu ergreifen. »Bitte. Was auch immer es sein mag – ich werde damit fertig.«
»Du wirst damit fertig? Kate, was ist in letzter Zeit mit dir los?«
Ich lehnte mich zurück und starrte ihn fassungslos an, meine Hände wieder auf meiner Seite des Tisches. »Mit mir?«
»Du wirkst so seltsam abwesend. Du bringst irgendwelche alten Männer mit nach Hause, ohne mich zu fragen, und meldest Tim einfach im Kindergarten an, ebenfalls ohne mich zu fragen.«
»Ich dachte, du hättest nichts dagegen gehabt. Das hast du doch gesagt.«
»Ich hatte auch nichts gegen deine Beurteilung der Situation, aber du hast die ganze Angelegenheit kein einziges Mal vorher mit mir besprochen.« Er schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, Schatz. Ich kann meinen Finger nicht genau darauf legen, aber irgendetwas stimmt hier nicht. Hat es vielleicht mit dem alten Mann zu tun?« Er holte tief Luft. »Oder ist es Eric?«, fügte er hinzu, wobei seine Stimme deutlich gequälter als zuvor klang.
»Es hat nichts mit Eric zu tun«, sagte ich. Ich biss mir auf die Unterlippe. »Es hat mit dir zu tun.«
»Mit mir?«
»Ich habe dich hier im Archiv gesehen. Doch als ich dich danach fragte, hast du mich belogen, Stuart. Was ist los? Du lügst mich doch sonst nie an.«
Für einen Moment zeigte sich ein ironisches Lächeln auf seinen Lippen. »Wollen wir jetzt damit anfangen, einander unsere Lügen aufzulisten?«
Ich hatte nicht vor, mich auf ein solches Spiel der gegenseitigen Beschuldigungen einzulassen. Ich wollte nur endlich wissen, woran ich war. »Warum, Stuart? Warum bist du dir so sicher, dass du die Wahl gewinnst?«
Diesmal lachte er laut auf. »Gütiger Himmel, Kate! Meinst du etwa, dass ich mich bestechen lasse?«
»Ich …« Ich schloss den Mund, da ich nicht wusste, was ich sagen sollte.
»Ich war nur aufgeregt. Und ich glaube, dass ich wirklich gute Aussichten habe. Jeremy Thomas hat eine Stelle in Washington bekommen, und Frank Caldwell hat mir nun seine Unterstützung zugesagt. Ich wollte dir nichts sagen, ehe es nicht offiziell war, falls sich in letzter Minute noch etwas ändern sollte. Aber jetzt ist es sicher.«
Ich konnte meine Freude nicht verbergen. »Aber das ist ja fantastisch!« Jeremy Thomas war der Staatsanwalt, der Stuarts größter Gegner im Wettlauf um den Bezirksstaatsanwaltsposten gewesen war. Bei Frank Caldwell handelte es sich um den zukünftigen Vorgesetzten des Bezirksstaatsanwalts. Seine Unterstützung war Gold wert.
»Ist doch super, oder?«
»Das kann man wohl sagen«, sagte ich. Ich hatte das Gefühl, als ob mir eine riesige Last vom Herzen gefallen wäre. Doch als ich mich umsah und mich daran erinnerte, wo wir uns befanden, verspürte ich erneut eine Bedrückung. »Aber was tust du dann hier?«
»Es geht um den Kauf von Land«, sagte er. »Clark hat mir geschworen, mich vierteilen zu lassen, wenn ich irgendjemandem – einschließlich dir – etwas davon erzähle. Wenn das hier herauskommt, könnten wir uns in einer sehr schlechten Position befinden.«
Ich starrte ihn an. »Land. Du bist hier unten, weil du Land kaufen willst?«
Er schlug das Buch auf, und ich begriff, worum es sich handelte. Es war eine alte Auflistung der kirchlichen Immobilien. »Ich habe versucht, die genaue Bezeichnung einer Kirchenimmobilie ausfindig zu machen, die von der Stadt gekauft werden soll. Der Deal bringt einige politische Komplikationen mit sich, weshalb wir das Ganze so lange wir möglich unter Verschluss halten wollten.«
»Und das ist alles? Damit hast du dich die ganze Zeit über beschäftigt?«
»Ja. Was hast du denn gedacht? Etwa, dass ich eine Affäre unter dem Altar habe?«
»Nein, das nicht.«
Er stand auf und hielt seinen Schreibblock wie einen Schild vor sich. Eigentlich erwartete ich, dass er mich nun fragte, was ich so trieb, aber er sagte nichts. Vielleicht wollte er es gar nicht wissen. Vielleicht wünschte ich mir auch so sehr, er würde nicht nachhaken, dass er meine Bitte gehört hatte. Er verkündete jedenfalls nur, dass er jetzt gehen müsse. »Ich weiß, dass ich versprochen habe, dich und die Kinder um halb sieben zu treffen. Aber ich glaube, dass ich gerade das gefunden habe, wonach wir suchen, und jetzt würde ich wirklich gern –«
»Geh schon«, sagte ich.»Geh ins Büro zurück und grüße Clark von mir.«
Er kam um den Tisch herum und gab mir einen Kuss auf die Wange. Ich hatte ein derart schlechtes Gewissen, dass ich befürchtete, danach zu schmecken. Zum Glück schien er nichts zu merken.
Er ging zur Tür, doch ich streckte den Arm aus und erwischte ihn noch an der Hand. »Ist wieder alles in Ordnung zwischen uns?«
Sein Lächeln wärmte mich von Kopf bis Fuß. »Ja, alles bestens«, sagte er.
Ich hoffte, dass er recht hatte.
Ich sah ihm nach, bis er die Treppe hinauf verschwunden war, und holte dann tief Luft, um nicht loszuheulen. Dafür hatte ich jetzt wirklich keine Zeit. Ich musste die Knochen holen.
Zögernd trat ich an die Glasvitrine. Die Befürchtung, dass ich falsch liegen könnte, verlangsamte meinen Schritt. Doch in dem Moment, in dem ich einen Blick in die Vitrine warf, wusste ich, dass ich recht hatte. Es waren fünf Märtyrer gewesen, und doch lagen hier tatsächlich sechs Beutel mit Reliquien.
Ich öffnete einen nach dem anderen. Dunkle Asche, einige Haare, Knochensplitter. In jedem Beutel. Und dann machte ich den letzten auf. Auf dem beigelegten Schildchen stand »Reginald Talley«, aber ich war mir sicher, dass ich keinen Reginald darin finden würde. Ich zog die Schnüre auf und sah hinein. Reines Weiß. Knochen, die zu feinstem Pulver zermalmt worden waren.
Lazarus.
Bruder Michael musste die Knochen gemahlen haben. Die goldene Dose, die mit diesem weißen Pulver gefüllt gewesen war, sollte nicht in die Irre führen, sondern vielmehr als ein Hinweis dienen. Als ein Hinweis, der für Eddie bestimmt war. Der erste war der Name gewesen: Mike Florence. Die Kurzform seines Vornamens und der Nachname die italienische Stadt, damit Eddie verstehen würde, dass diese Dose von seinem Freund stammen musste. Bruder Michael hatte absichtlich weißes Pulver hineingetan, denn dieses Pulver war der zweite Hinweis. Es verriet Eddie, dass die Knochen zermalmt worden waren und er deshalb nach Knochenstaub und nicht mehr nach ganzen Knochen suchen sollte.
Meine Vernunft sagte mir zwar, dass der Test gar nicht mehr nötig war. Aber da ich bereits einmal falsch gelegen hatte, wollte ich diesmal nicht mehr auf meine Vernunft hören. Ich holte das Fläschchen mit Weihwasser heraus und stellte es vor mich auf den Tisch. Dann zog ich aus meiner hinteren Hosentasche eine der Servietten hervor, die ich am Kuchenstand eingesteckt hatte. Ich breitete sie vor mir aus und schüttete ein bisschen Pulver darauf. Schließlich öffnete ich das Fläschchen und ließ vorsichtig einen einzigen Tropfen auf den Knochenstaub fallen.
Ich hielt den Atem an, während der Tropfen fiel. Als sich eine Flamme reinsten Blaus entzündete, stellte ich das Fläschchen beiseite. Ich bebte am ganzen Körper.
Das war es also. Die echten Knochen.
Mein Herz pochte heftig. Fasziniert starrte ich auf die Flamme, bis sie von selbst ausging. In diesem Moment wurde ich Zeugin eines ganz besonderen Ereignisses. Eine unglaubliche Macht war für einen Augenblick anwesend. Ich zitterte, weil ich spürte, wie sie den Raum erfüllte. Diese Macht hatte mich hierhergeführt, und jetzt würde sie mich auch sicher hinausgeleiten.
Bis hierher war es einfach gewesen. Keine menschlichen Dämonenanhänger hatten mich bedroht, und auch keine Höllenhunde waren aufgetaucht, um mich anzufallen.
Nichts von all dem, was ich befürchtet hatte, war eingetreten. Und obwohl ich hätte glücklich sein müssen, beunruhigte mich die Situation doch ein wenig. Mein Instinkt funktionierte normalerweise gut. Sogar sehr gut. Und ich war mir so sicher gewesen, dass Goramesh einen Menschen schicken würde, der für ihn die Knochen holte.
Wenn es nicht Stuart gewesen war – wer dann ?
In diesem Moment wusste ich es. Ich erkannte die volle Wahrheit, die so schrecklich war, dass ich zu würgen begann.
Die ganze Zeit über war ich selbst es gewesen. Ich war die menschliche Spielfigur, die Gorameshs Machtgier stillen sollte.
Ich. Und sonst niemand.

NEUNZEHN

Ich hielt mich am Tisch fest, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Eine eisige Kälte begann sich in meinem Inneren auszubreiten.

Es war Goramesh beinahe gelungen, sein Ziel zu erreichen. Mit meiner Hilfe! Ich hielt die Lazarus-Knochen in meiner Hand und war gerade im Begriff gewesen, sie nach oben zu bringen und Larson zu übergeben.

Verdammt!
Ich hatte bereits am ersten Tag recht gehabt und hätte schon damals meinem Instinkt vertrauen sollen. Larson war tatsächlich ein Dämon! Er hatte gelogen, als er behauptete, Goramesh besäße keinen Körper.
Natürlich hatte Goramesh einen Körper. Larson war Goramesh.
Ich sank auf den staubigen Holzboden und umschlang meine Knie. Entsetzen und Erleichterung wechselten sich in meinem Inneren ab, und mir blieb für den Moment nichts anderes übrig, als automatisch vor und zurück zu schaukeln. Ich hätte es beinahe nicht bemerkt. Fast hätte ich alles für immer ruiniert.
Langsam wich der Schrecken einem kalten Zorn. Er wollte also die Lazarus-Knochen? Dann konnte er verdammt noch mal selbst hier herunterkommen und sie sich holen.
Ich zerknüllte die Serviette und steckte sie gemeinsam mit dem Weihwasserfläschchen wieder in meine Hosentasche. Dann zog ich den Beutel zu. Ich legte ihn in die Vitrine zurück, holte tief Luft, um mir Mut zu machen, und ging die Treppe hinauf.
Ich war mir nicht ganz sicher, was ich tun sollte. Nur eines wusste ich: Larson würde die Knochen nicht bekommen. Sobald ich die Kathedrale verlassen und wieder Handyempfang hätte, wollte ich Padre Corletti anrufen. Wenn er keine Jäger zur Verfügung hatte, dann war das auch nicht schlimm. Sollte er eben die Schweizergarde schicken. Aber ich würde so lange nicht locker lassen, bis die Knochen San Diablo verlassen hatten und sich auf dem Weg zum Vatikan befanden. Eddie konnte mir in der Zwischenzeit helfen, sie zu bewachen. Auch Father Ben würde eine Hilfe sein, falls ich noch einen Dritten brauchte.
Ich stürmte aus der Kathedrale und rannte fast in Laura hinein. »Wo ist Larson?«
Sie blieb stehen und sah mich verblüfft an. Mein Tonfall überraschte sie wahrscheinlich.
»Wo ist er?«, wollte ich wissen.
»Vermutlich beim Eis«, erwiderte sie. »Was ist denn los? Die Kinder werden schon mal einen Abend mit ungesundem Essen überstehen.«
Die Kinder? Ich verstand nicht, was sie meinte. Die Kinder? Doch dann begriff ich.
Ich packte sie entsetzt an der Schulter. »Wo sind meine Kinder?«
»Sie sind bei Larson.« Meine Freundin sah mich irritiert an. »Paul kam wie versprochen vorbei, doch dann erklärte er, dass er nicht lange bleiben könnte. Ich wurde so wütend, dass ich beinahe einen Tobsuchtsanfall bekam. Aber ich riss mich zusammen, weil ich ja auf die Kinder aufpassen sollte, doch ich glaube, dass Paul meine Laune trotzdem nicht entgangen ist.«
Ich machte mit meiner Hand eine auffordernde, ungeduldige Bewegung, um ihr zu bedeuten, dass sie endlich zum Punkt kommen sollte.
»Da ist Larson eingesprungen und hat vorgeschlagen, mit den Kinder zusammen ein Eis kaufen zu gehen.« Sie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und schien sich nun auch Sorgen zu machen. »Er hat behauptet, dass es mit dir abgesprochen sei. Stimmt das etwa nicht?«
»Oh, nein! Das stimmt ganz und gar nicht.« Ich lief vor Verzweiflung vor der Kirche hin und her. Dann stürmte ich los Richtung Eis. Die Lazarus-Knochen waren für den Moment vergessen.
Laura rannte mir hinterher. »Was ist geschehen?« Ich hörte, wie sie schwer neben mir atmete, als wir vor dem Stand abrupt zum Stehen kamen.
»Es ist Larson«, sagte ich. »Er ist Goramesh.«
Laura wurde kreidebleich, und ich fing sie gerade noch auf, als ihre Beine nachgaben. »Oh, mein Gott – die Kinder. Mindy.« Ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Wenn ihnen irgendetwas passiert. Wenn ihr –«
»Das wird es nicht«, erklärte ich ihr mit einer Stimme, die auf einmal eisenhart klang.
»Was hast du vor?«
»Ihn in Grund und Boden zu prügeln«, sagte ich. Momentan war das der einzige Plan, den ich hatte. Ehrlich gesagt, fand ich ihn auch verdammt gut.
»Mama! Mama!«
Wir drehten uns um, als wir die Rufe hörten. »Mindy«, sagte Laura mit einer solchen Erleichterung, dass ich schon befürchtete, sie würde noch einmal umkippen.
Meine eigene Erleichterung vermischte sich mit der Angst um meine eigenen Kinder, die noch immer nirgends zu sehen waren.
»Was ist passiert?«, fragte ich.
Ihr Gesicht an Lauras Brust gedrückt, die Arme um ihre Mutter geschlungen, sah sie mich mit verweinten Augen an. »Er hat mich einfach fortgestoßen«, erklärte sie. »Und Allie musste bei ihm bleiben, weil er drohte, sonst Timmy etwas anzutun.«
Ich schloss die Augen und war vor Angst wie gelähmt.
Da läutete mein Handy.
Ich hob ab, ehe noch das erste Klingeln vorbei war.
»Bringen Sie mir die Knochen, Kate«, sagte Larson.
»Sie können mich mal.« Ich sprach die Worte aus, ohne den Mut zu spüren, der sich darin widerzuspiegeln schien.
»Meine liebe Kate«, erwiderte er ruhig. »Lassen Sie mich das Ganze so einfach wie möglich formulieren: Bringen Sie mir die Lazarus-Knochen, oder Ihre Kinder sind tot.«
»Arschloch«, flüsterte ich, aber er hatte bereits aufgelegt.
Ich hätte am liebsten auf etwas eingeprügelt, aber es standen nur Laura und Mindy neben mir. Verzweifelnd schluchzend fiel ich meiner Freundin in die Arme. Sie streichelte mir über den Rücken und gab beruhigende Laute von sich, an die sie selbst bestimmt auch nicht glaubte.
Die ganze Zeit über hatte mir Larson etwas vorgemacht. Doch jetzt war die Maske gefallen. Larson war Goramesh – ein Dämon höherer Ordnung. Der Dezimator. Und ich verspürte eine Höllenangst.
Genug.
Ich löste mich von Laura und wischte mir die Augen.
»Kate?«
Ich antwortete nicht, denn ich hätte kein Wort herausgebracht. Stattdessen drehte ich mich um und ging wieder auf die Kirche zu. Tränen liefen mir über die Wangen, aber ich wusste, was ich zu tun hatte.
Schließlich ging es um meine Kinder.

Ich hielt den Stoffbeutel fest an mich gedrückt, während ich die Kellertreppe wieder hinaufrannte. Innerlich tobte ich. Ich hätte es wissen müssen. Hätte die Hinweise richtig deuten müssen. Sie waren offensichtlich gewesen. Sein zögerliches Verhalten, als es darum ging, die Kathedrale zu betreten. Sein ständiges Kauen von Pfefferminzkaugummis. Seine Stärke, als wir in meinem Garten gekämpft hatten. Seine Fähigkeit, einen anderen Dämon zu erkennen und ein Messer derart geschickt und präzise zu werfen.

Es war das Weihwasser gewesen, das mich in die Irre geführt hatte.
Doch als ich nun an dem Weihwasserbecken vorbeiging, verstand ich, wie ihm auch diese Illusion gelungen war. Ein Dämon kann heiligen Boden betreten, auch wenn ihm das Schmerzen bereitet. Die Weihwasserbecken waren ziemlich weit vom Altarraum und dem mit Reliquien durchsetzten Mörtel entfernt. Goramesh hatte einfach die Schalen umgestoßen und sie mit normalem Leitungswasser wieder aufgefüllt. Nun fiel mir auch wieder die Wasserpfütze auf dem Boden ein, in die ich vor unserem zweiten Treffen gestiegen war. Da wusste ich, dass ich bestimmt recht hatte.
Es hatte noch andere Hinweise gegeben. Ich wollte keine Nachforschungen im Archiv anstellen, aber er hatte mich dazu überredet. Und ich hatte zugestimmt, mit mehr Elan nach den Reliquien zu suchen, falls es ein weiteres Anzeichen für Dämonen geben sollte, die in San Diablo ihr Unwesen trieben. An jenem Abend stattete mir prompt Todd Greer seinen kleinen Besuch ab. Das hatte ich als deutlichen Hinweis verstanden, was es auch gewesen war – nur hatte ich das Ganze falsch interpretiert. Larson hatte dem Höllenhund befohlen, Todd Greer umzubringen, damit ein Dämon in dessen Körper eindringen und mich überzeugen konnte, die Suche für Larson zu übernehmen. Und dann hatte Larson den Dämon in der Gasse getötet, um damit zu zeigen, dass wir auf der gleichen Seite standen.
Ein hinterhältiger Teufel!
Dann war da noch Eddie gewesen. Larson hatte angeblich zufällig Eddies Aufenthaltsort in unserer Nähe herausgefunden. Alles gelogen.
Er hatte Eddie natürlich selbst hierhergebracht. Ich sollte Eddie kennenlernen, weil der alte Jäger der Einzige war, der wusste, was Goramesh suchte und wo es vielleicht zu finden war. Ich vermutete sogar, dass Larson die Anweisung gegeben hatte, die Dosierung der Medikamente herunterzuschrauben, damit Eddie wieder in der Lage war, klarer zu denken. Denn nur so vermochte er mir von den Knochen zu erzählen, sobald er verstanden hatte, dass man mir vertrauen konnte. Und warum sollte man mir nicht vertrauen?
Ich war schließlich auch Jägerin und hatte selbst keine Ahnung, dass ich als Köder diente.
Larson hatte sogar meine Ängste hinsichtlich Stuart geschürt, weil er wahrscheinlich hoffte, dass ich dann genügend mit meinen eigenen Problemen beschäftigt war und nicht auf die Idee kam, ihn zu verdächtigen. Es hatte ja auch gut funktioniert.
Mit einem hasserfüllten Fluch stürzte ich aus der Kathedrale. All diese Hinweise waren jetzt nur noch theoretisch interessant. Was wirklich zählte, waren meine Kinder. Ich musste sie wiederbekommen.
Die untergehende Sonne warf lange Schatten auf den Boden und tauchte die Welt in eine unwirkliche Stimmung, die ausgezeichnet zu meiner Verfassung passte. Ich bedeckte meine Augen mit einer Hand, um nicht vom Licht geblendet zu werden, und sah mich um. Nirgends konnte ich Laura oder Eddie entdecken. Ich klappte mein Handy auf und begann gerade Lauras Nummer zu wählen, als ich hinter mir das Quietschen von Reifen vernahm. Ich wirbelte herum. Larsons Wagen raste über den beinahe leeren Parkplatz auf mich zu.
Ehe er mich erreicht hatte, trat der Fahrer auf die Bremse, und der Wagen kam kreischend zum Stehen. Meine Muskeln spannten sich an. Ich war bereit, auf ihn einzuschlagen. Da sein Wagen getönte Scheiben hatte und mich zudem das Licht blendete, konnte ich Larson nicht sehen. Ich raste zur Fahrertür und riss sie auf. »Steig aus, du Hurensohn!«
»Mami!«
Es war nicht Larson. Es war Allie.
Sie sprang aus dem Wagen und stürzte in meine Arme. Ich brach unter ihrem heftigen Ansturm zusammen, fiel auf den Boden und ließ meinen Tränen nun freien Lauf. »Mein Liebes, ach, mein Liebes«, murmelte ich, während sie ebenfalls heulte. Nach einer Weile hob ich ihr Kinn an und schob sie ein wenig von mir weg, um sie genauer betrachten zu können. »Hat er dir etwas angetan? Ist alles in Ordnung?«
Sie konnte vor Weinen kaum sprechen, brachte aber ein schwaches »Timmy« heraus. Mir gefror das Blut in den Adern. »Ich konnte ihn nicht mitnehmen. Oh, Mami. Er hat noch immer Timmy.«
»Ist er verletzt? War er okay als du weggefahren bist?« Ich wäre am liebsten auf der Stelle losgerannt. Ich wollte kämpfen, irgendetwas machen, um die Situation zu verbessern. Adrenalin pumpte durch meinen Körper, und ich spürte, wie sich eine betäubende Kälte in mir ausbreitete. Ein kalter Pragmatismus ergriff von mir Besitz. Keine Gefühle, Kate. Konzentriere dich nur auf das, was vor dir liegt. Und rette Timmy.
»Er … Es ging ihm gut. Aber ich habe Angst, Mami, ich habe solche Angst um ihn.«
Ich biss verzweifelt die Zähne zusammen. »Wohin hat er ihn gebracht?«
»Auf den Friedhof«, sagte sie. Ihre Stimme zitterte noch immer, auch wenn sie wieder etwas kräftiger klang.
»Er hat uns erzählt, dass du weg musstest und er uns ein Eis kaufen und dann nach Hause bringen würde. Doch dann fuhr er in die andere Richtung, und als er am Friedhof anhielt, hat er dich angerufen, und ich hatte solche Angst.«
»Ich weiß, mein Liebling. Aber du hast das alles ganz toll gemacht.«
»Er hat uns dazu gezwungen, mit ihm auszusteigen. Doch er ließ den Schlüssel stecken. Und dann habe ich mich befreit, so wie Cutter uns das gezeigt hat.«
Mir verkrampfte sich der Magen. Sie hatte großes Glück gehabt, und wahrscheinlich hatte dabei der Überraschungseffekt keine geringe Rolle gespielt. Larson hätte sie problemlos schnappen und ihr einfach den Hals umdrehen können. Ich zog sie wieder an mich und hielt sie ganz fest, nur um zu spüren, dass sie wirklich noch heil und unversehrt war. »Das hast du wirklich fantastisch gemacht, mein Liebes«, murmelte ich. Als ich aufstand, zog ich sie hoch. Der Automotor lief noch. Ich starrte den Wagen finster an.
»Jetzt suchst du Laura und Opa und erzählst ihnen, was los ist. Bleib bei ihnen. Verstanden? Weiche nicht von ihrer Seite – ganz gleich, was passiert.«
Sie nickte, wobei ihr Kinn zitterte.
Ich setzte mich hinter das Steuer. »Wo genau auf dem Friedhof?«
»Bei der großen Statue«, antwortete sie. »Bei dem großen Engel, du weißt schon.«
Ich nickte. Ich wusste. was sie meinte. Der Engel befand sich in einer der älteren Ecken des Friedhofs, weit von der Straße entfernt. »Jetzt geh«, forderte ich meine Tochter auf. »Such Laura und Opa. Es wird schon alles gut werden. Ich verspreche es dir. Ich hole deinen Bruder zurück.« Sie lehnte sich in den Wagen und gab mir einen Kuss auf die Wange. »Ich hab dich so lieb, Mami«, sagte sie und rannte dann über den Parkplatz zum Kirchenbasar zurück.
Ich stöhnte verzweifelt. Ich habe dich auch sehr lieb, mein Kleines.
Und dann gab ich Gas.
Ich machte mir nicht die Mühe, über die Kieswege über den Friedhof zu fahren. Stattdessen fuhr ich querfeldein in den südöstlichen Teil des Friedhofs. Die meisten Gräber hatten schlichte Grabplatten, einige jedoch, die noch aus früheren Zeiten stammten, wiesen große Grabsteine auf, um die ich herumkurven musste.
Endlich tauchte der Engel vor mir auf. Ich bremste abrupt, sodass die Hinterachse des Wagens auf dem feuchten Gras zur Seite rutschte. Dann sprang ich aus dem Wagen.
Larson saß zu Füßen des Engels und hatte meinen Sohn auf seinem Knie. »Ein charmanter Junge«, sagte er gelassen. »Ich freue mich, dass du kommen konntest. Es wäre schade gewesen, ihn töten zu müssen.« Er schenkte mir ein bösartiges Grinsen. »Nein, das stimmt nicht. Ich glaube, es hätte mir sogar großen Spaß gemacht.«
Ich stand stocksteif da, die Hände zu Fäusten geballt. »Geben Sie mir meinen Sohn.«
»Gib mir zuerst die Knochen.«
Ich zögerte.
»Ich bringe ihn um, Kate. Du solltest inzwischen doch wissen, dass ich vor nichts zurückschrecke. Aber es gibt etwas, was ich noch mehr will, als sein Blut fließen zu sehen. Gib mir die Lazarus-Knochen, und du bekommst deinen Jungen zurück.«
Ich streckte ihm den Beutel entgegen.
»Kluges Mädchen.« Er wandte sich zur Seite und rief: »Doug. Nimm das.«
Ein alter Mann trat hinter dem Engel hervor. Er schlurfte auf mich zu und nahm mir den Beutel ab. Als ich sein Gesicht sah, zuckte ich zusammen. Das letzte Mal, als ich Doug gesehen hatte, hatte er gerade im Coastal-Mists-Altenheim Schach gespielt.
Ich sah Larson an. »Hurensohn.«
»Unsinn. Doug befindet sich bereits auf der nächsten Ebene. Warum sollten wir da nicht seinen Körper verwenden? Er würde sonst nur verrotten. So viel Verschwendung in diesem Altenheim«, sagte er beinahe wehmütig. Dann sah er mir in die Augen. Sein Blick strahlte reine Bosheit aus. »Aber keine Sorge. Von jetzt an wird es viel weniger Verschwendung geben. Viel, viel weniger.«
»Nicht, wenn ich irgendetwas damit zu tun habe und es verhindern kann.«
»Du wirst aber nichts damit zu tun haben. Arme Kate, du kannst dir doch nicht einmal selbst helfen.«
»Geben Sie mir meinen Sohn.«
»Aber natürlich.« Er stand auf und stellte Timmy auf den Boden. »Ich kann auch großzügig sein, wenn ich will«, erklärte er, während mein Kind auf mich zurannte.
»Du wirst untergehen, Goramesh«, sagte ich. »Ich werde dich in deine Hölle zurückschicken.«
»Alles unsinniges Gerede«, erwiderte er. »Und warum solltest du das überhaupt tun, nachdem du mir so behilflich warst? Ohne dich wäre Eddie niemals mit der Wahrheit herausgerückt. Ohne dich wäre es mir niemals gelungen, an die Knochen zu kommen. Das weißt du doch.«
Ich antwortete nicht, sondern hielt nur meinen Sohn fest an mich gedrückt.
»Willst du nicht bleiben? Willst du nicht bleiben und sehen, wie sich meine Armee erhebt? Ich verspreche dir, dass dein Ende ganz schnell kommen wird.«
»Ich werde bleiben«, entgegnete ich. »Ich werde bleiben und dich aufhalten, Goramesh.«
»Du bist aus der Übung, Kate. Hast du schon vergessen, dass wir miteinander gekämpft haben? Ich kenne dich und deine Schwächen. Man kann mich nicht besiegen.«
»Wann ist Larson gestorben? Wie ist es dir gelungen, hierherzukommen?«
Er lachte mit einer solchen Ausgelassenheit, dass ich für einen Moment ganz verwirrt war und meinen Zorn fast vergaß. »Gestorben? Wer hat denn behauptet, dass Larson gestorben ist?«
»Aber … Oh, mein Gott!«
»Der hat sicher nichts damit zu tun. Larson ist hier bei mir. Er ist mehr als kooperativ gewesen. Er wird dafür seine Belohnung bekommen.«
»Warum hat er sich darauf eingelassen?«
»Krebs«, antwortete er, wobei seine Stimme jetzt ein wenig höher klang. »Warum sollte ich ablehnen, wenn Goramesh mir so viel mehr als den Tod bieten kann? Als ich von meinem Jäger in Italien von den Lazarus-Knochen erfuhr, da hatte ich etwas, was ich ihm als Gegenleistung bieten konnte. Goramesh wollte die Knochen. Und ich wollte leben.«
»Sie werden noch heute Abend sterben, Larson.«
»Nein, Kate. Sie sind diejenige, die sterben wird. Dieser Teil von mir bedauert das sogar. Ich mochte Sie. Vor langer Zeit einmal genoss ich es sogar, für die Forza zu arbeiten. Aber es ging mir nie um die eigentliche Arbeit. Es ging mir immer um etwas anderes.«
»Um die schwarze Magie, nicht wahr?«, sagte ich, weil ich mich an Larsons Worte erinnerte. »Sie haben sich mit den schwarzen Künsten beschäftigt. Padre Corletti war nicht klar, dass Sie –«
»Machen Sie dem Padre keinen Vorwurf«, unterbrach er mich. »Ich kann sehr überzeugend wirken, wenn ich will. Jetzt bin ich natürlich sowohl überzeugend als auch mächtig.« Er holte tief Luft, sodass sich sein Brustkasten weitete. Über seine Haut schienen kleine Wellen wie auf der Oberfläche eines Teichs zu laufen. Darunter konnte ich für einen Moment den wahren Dämon erkennen – rot, schwarz und voll glühender Würmer. Seine Augen leuchteten vor Hass.
Ich blinzelte, und die Vision verschwand. Nur der ätzende Gestank nach Schwefel blieb in der Luft hängen und zeigte mir, dass es keine Wahnvorstellung gewesen war.
Auch Timmy roch es und begann in meinen Armen zu wimmern. »Still, Liebling«, sagte ich. »Es ist fast vorbei.«
»Das ist es«, erklärte Goramesh. »Bleib, Kate. Bleib hier und sieh zu.«
Da ich nicht vorhatte, zu gehen, ohne den Dämon zu vernichten, rührte ich mich nicht von der Stelle. Timmy hielt ich weiterhin fest in meinen Armen.
Goramesh trat an ein frisch wirkendes Grab. Er breitete weit die Arme aus und sah vor sich auf den Boden. Dann begann er lateinische und altgriechische Worte von sich zu geben, wobei er so schnell und leidenschaftlich sprach, dass ich nichts verstand.
Ich musste die Worte aber auch nicht verstehen. Ich wusste, was er gerade tat. Das war mehr als eindeutig. Als er schließlich den Beutel öffnete und hineingriff, um eine Handvoll Knochenstaub herauszuholen, erstarrte ich vor Anspannung. Ich war zu weit von ihm entfernt, um etwas tun zu können, aber vorsichtshalber steckte ich die Hand in meine hintere Hosentasche. So hatte ich das Weihwasser parat, wenn es so weit war.
Goramesh streute das Pulver über seinen ganzen Körper, während er immer schneller seine Zaubersprüche sprach. Schließlich breitete er erneut die Arme aus und rief: »Resurge, mortue!«
Diese Worte verstand ich. Er befahl den Toten, sich zu erheben.
Ich hielt den Atem an und wartete. Die Gräber begannen nicht zu erbeben und sich zu öffnen. Keine Toten kehrten ins Leben zurück.
Ich hatte natürlich gewusst, dass sie das nicht tun würden, und so konnte ich ein zufriedenes Lächeln nicht unterdrücken. Vorsichtig stellte ich Timmy auf den Boden und drängte ihn sanft hinter mich. Dann holte ich die Weihwasserflasche heraus.
»Es ist vorbei, Goramesh«, sagte ich. »Du bist Geschichte.«
»Du einfältige Närrin«, zischte er zornig. »Was hast du getan?«
Ich machte mir nicht die Mühe, ihm zu antworten, denn ich wusste sowieso, dass ihm schon bald genug klar werden würde, was ich getan hatte.
»Du verdammtes Miststück!«, heulte er laut auf, und sein Gesicht begann sich zu verzerren. Ich grinste gehässig. Es hatte begonnen.
Während ich zusah, fing seine Haut an, Blasen zu werfen, und seine Haare fielen in Büscheln auf den Boden. Er schrie. Der Schrei schien direkt aus den Eingeweiden der Hölle zu kommen. »Was hast du getan? Was hast du mir angetan ?«
»Ich habe dir gar nichts angetan«, entgegnete ich. »Es war die selige Maria Martinez, eine der fünf Märtyrer von San Diablo. Möge sie bald heiliggesprochen werden.«
Die Blasen auf seiner Haut wurden immer größer und begannen aufzuplatzen. Es würgte mich, als mir der Schwefelgeruch in die Nase stieg. Maria Martinez war noch keine Heilige, aber sie war bereits seliggesprochen worden. Ich wusste, dass ihre körperlichen Überreste ihn nicht umbringen, ihm aber große Schmerzen zufügen konnten. Und ich hoffte, dass mir das den Vorteil verschaffte, den ich brauchte.
Ich öffnete das Fläschchen und wollte mich auf ihn stürzen.
»Halte sie!«, rief Goramesh, und Doug warf sich auf mich. Mir blieb fast die Luft weg, und ich fiel auf den Boden. Die Flasche mit dem Weihwasser flog mir aus der Hand und zerschellte an einem Grabstein. Weder Doug noch Larson wurden davon getroffen. Als Doug nach mir fasste, trat ich blind zu und versuchte so, den rüstigen Alten von mir abzuschütteln.
Er aber ließ nicht los. Ich wusste, dass Goramesh sich bald erholen und ihm zu Hilfe eilen würde. Zwei gegen eine – vor allem wenn einer der beiden ein Dämon höherer Ordnung war
– bedeutete nichts Gutes.
Als ich Timmys entsetzte Schreie vernahm, gab mir das die Kraft, mich zur Seite zu drehen. So schaffte ich es, mich auf Doug zu setzen. Er versuchte mit seinen feuchten Fingern nach meinem Hals zu fassen, streifte ihn aber nur kurz mit den Fingerkuppen. Ich wich ihm aus und griff verzweifelt nach einem Zweig in der Nähe.
Meine Finger umschlossen das Gesuchte genau in dem Moment, in dem sich seine Hände um meinen Hals legten. Doch es war bereits zu spät für ihn. Ich wusste, dass ich gewonnen hatte, und rammte ihm den Zweig durch das Auge.
Aus Doug wich auf einen Schlag alles Leben, und er blieb regungslos liegen.
Ich sprang auf, bereit, nun Goramesh anzugreifen. Mein Zorn heizte mich an. Doch das Siegesgefühl war nur von kurzer Dauer. Als ich mich umdrehte, erwartete ich, mich dem Dämon gegenüberzusehen. Stattdessen aber sah ich meinen Jungen. Larson hatte den Arm fest um seinen Hals gelegt. Die Reliquien der Maria Martinez hatten inzwischen offenbar ihre Wirkung verloren. Er war zwar noch immer widerwärtig schmierig anzusehen, aber der Schmerz des brennenden Fleisches lenkte ihn nicht länger ab.
»Du Närrin!«, rief er. »Glaubst du wirklich, dass du mich besiegen kannst? Glaubst du, dass du mich hintergehen kannst? Dieser Junge wird sterben, Kate. Bring mir die Knochen und vielleicht erwecke ich ihn dann wieder zum Leben.« Er bewegte sich, und ich stürzte auf ihn zu, wobei ich überhaupt nicht darüber nachdachte, was ich da tat.
»Nein!«, schrie ich angsterfüllt.
Ich hatte ihn kaum erreicht, als Larson ein lautes Heulen vernehmen ließ. Im selben Moment begriff ich, was geschehen war.
Timmy hatte ihn gebissen.
Larson riss den Arm hoch und ließ Timmy los. Gleichzeitig versetzte er ihm mit der anderen Hand einen derart heftigen Schlag, dass mein Liebling durch die Luft flog. Er stürzte auf den Boden, und sein kleiner Körper rührte sich nicht mehr. Ich warf mich mit meinem ganzen Gewicht auf Larson, sodass wir beide zu Boden gingen. Es gelang ihm, sich auf mich zu rollen, und während er wieder aufstand, packte er mich an den Haaren. Meine metallene Haarspange kratzte über meinen Kopf, als er mich auf die Füße zerrte. Ich zuckte zusammen, doch der Schmerz war sogleich vergessen. Mir wurde nämlich klar, dass sich Timmy noch immer nicht bewegt hatte. Ich holte zitternd Luft, bereits das Schlimmste befürchtend. Larson wusste seinen Vorteil zu nutzen und stieß mich von sich, sodass ich mit dem Rücken gegen die Engelstatue prallte. Ich schrie, riss mein Bein hoch und versuchte ihn mit dem Knie in seine Weichteile zu treffen. Doch seine Finger hatten sich bereits wie Klauen um meine Oberarme gelegt, und ich hatte keine Chance mehr, mich zu befreien.
Er war so verdammt stark. So wahnsinnig stark. Und sosehr ich es auch versuchte, es gelang mir nicht, mich loszureißen.
»Er ist tot, Kate«, zischte er. Sein stinkender Atem schlug mir ins Gesicht.
»Nein.« Ich konnte es nicht glauben. Ich wollte es nicht glauben.
Er trat einen Schritt näher. »Gib mir die Knochen, und ich bringe ihn dir vielleicht zurück.« Seine Stimme klang jetzt ruhig und gelassen. »Du kannst deinen Kleinen zurückhaben, Katie. Er kann wieder lebendig werden. Bring mir einfach die Knochen.«
Mir schwindelte, denn ich war kaum mehr in der Lage zu atmen. Er hielt mich zwar nur an den Armen fest, aber er hätte mir genauso gut die Luftröhre abschnüren können. Heiße Tränen liefen mir über die Wangen. War mein kleiner Liebling wirklich tot? Und falls ja – besaß ich die Kraft, die Knochen zu benutzen, um ihn wieder ins Leben zurückzuholen? Oder vielmehr: Besaß ich die Kraft, es nicht zu tun?
Für einen Moment schloss ich die Augen, um mich zu sammeln. »Niemals«, flüsterte ich. »Ich werde dir niemals die Knochen bringen.«
Seine Nasenflügel bebten, und kalte Wut zeigte sich in seinen Augen. »Du gottverdammtes Miststück! Ich breche dir dein Genick und lasse dich hier zurück!« Er kam noch näher an mich heran. Sein Mund drängte gegen mein Ohr. »Eines will ich dir aber noch sagen, ehe du stirbst. Ich werde den Jungen zum Leben erwecken, und er wird mir gehören. Es ist vorbei, Kate. Mein Sieg wird jetzt sogar noch süßer sein, als ich mir das vorgestellt habe.«
Ich versuchte, mich ihm zu entwinden, während meine Angst größer wurde. Aber er hielt mich wie in einem Schraubstock fest und lockerte seinen Griff um keinen Millimeter. Blankes Entsetzen hatte mich ergriffen. Ich unterdrückte ein Schluchzen. Furcht und tiefes Bedauern vermengten sich in mir. Ich hatte geschworen, dass ich diesen Kampf nicht verlieren würde. Doch jetzt befürchtete ich, ein Versprechen gegeben zu haben, das ich nicht halten konnte.
Ich holte tief Luft und versuchte meine Lungen noch einmal mit Sauerstoff zu füllen. Mein Herz schien fast zu bersten. In meinen Ohren rauschte es so heftig, dass ich die hohen Sirenen, die auf einmal ertönten, kaum hörte.
Sirenen ?
Hatte Laura etwa die Polizei gerufen? Hätte Eddie das zugelassen?
Auch Goramesh hörte sie. »Jetzt ist es an der Zeit, Abschied zu nehmen, Jägerin«, sagte er. »Wir wollen doch schließlich nicht, dass die Polizei mein kleines Geheimnis erfährt, nicht wahr?«
Er ließ meine Arme los und begann, mich umzudrehen. Ich wusste genau, was er vorhatte. Jetzt wollte er mir den Hals brechen.
»NEIN!«, schrie ich. Ich hatte keine Waffe. Ich hatte nichts, womit ich ihm Einhalt gebieten konnte. Deshalb tat ich das Einzige, was mir übrig blieb. Ich schlug seinen Arm beiseite, noch ehe er mich am Hals packen konnte. Es funktionierte. Und in diesem Bruchteil einer Sekunde riss ich mir die Haarspange aus den Haaren und stieß damit zu.
Die Spange traf genau ins Schwarze. Sie fuhr wie ein heißes Messer durch ein Stück Butter mitten in das Auge des Dämons. Er erzitterte am ganzen Körper, und die Luft über ihm und mir begann sich zu bewegen. Dann ertönte ein ohrenbetäubendes Tosen, als würde ein Düsenjäger die Schallmauer durchbrechen. Sein Körper wurde leblos, und ich war auf einmal frei. Ich fiel rücklings auf das nächste Grab und landete direkt neben meinem Sohn.
Die Sirenen kamen immer näher. Ich rollte zur Seite und bekam vor Angst kaum Luft. Was würde ich sehen müssen? Ich drehte meinen kleinen Liebling auf den Rücken und gab ihm einen leichten Klaps auf die Wange. Seine Augenlider begannen zu flattern. »Mami?«, fragte er verwirrt.
Ich konnte ihm nicht antworten. Ich konnte ihn nur an mich pressen und weinen.
Es war vorbei.
Und ich war müde. Unendlich müde.
Aber ich hatte gewonnen. Goramesh war verschwunden. Larson war tot.
Als mein Junge seine kleinen Arme um meinen Hals schlang, hielt ich ihn ganz fest und schloss die Augen.

EPILOG

Wie sich herausstellte, hatte Allie die Polizei gerufen. Es war ihr nicht gelungen, Eddie oder Laura sofort zu finden, weshalb sie den Notruf gewählt hatte (und so das Handy für genau den Zweck verwendete, der ihr von mir erlaubt worden war). Danach hatte sie Stuart angerufen. Als Laura und Eddie sie schließlich fanden, waren sie gemeinsam in Lauras Auto zum Friedhof gerast und dort nur wenige Sekunden nach der Polizei eingetroffen. Stuart kam kurz darauf.

Die Sanitäter brachten Timmy sofort in die Notaufnahme, von wo er schon wenige Stunden später als völlig gesund und unverletzt wieder entlassen werden konnte. In den ersten Nächten nach den schrecklichen Ereignissen auf dem Friedhof quälten ihn noch schlechte Träume, doch der Psychologe im Krankenhaus erklärte uns, dass dies mit der Zeit nachlassen würde. Inzwischen schläft er schon wieder ganz normal, weshalb ich mir keine Sorgen mehr mache. Es geht ihm offensichtlich wieder gut.

Ich verbrachte die folgenden Tage damit, meine Verletzungen zu pflegen und mit der Polizei zu sprechen. Schließlich hatte ich sowohl Larson als auch Doug umgebracht, und daran gab es keinen Zweifel. Doch zum Glück klärte sich schon bald, dass keine Anklage gegen mich erhoben werden würde. Allie und Lauras Aussagen bestätigten meine Geschichte, dass Larson meine Kinder entführt und dann gemeinsam mit Doug versucht hatte, mich zu umzubringen. Als die Polizei Larsons Auto untersuchte und dort Haare und andere Spuren im Kofferraum fand, die ihn in Verbindung mit dem Verschwinden eines weiteren Altenheimbewohners brachten, besiegelte dies Larsons Einstufung als mörderischer Schwerverbrecher.

Danach kehrte das Leben mehr oder weniger wieder in seine normalen Bahnen zurück. Natürlich gab es einige Veränderungen. Eddie ist nun zu einem dauerhaften Gast in unserem Haus geworden, und seine Verbindung zu Allie hat sich derart gefestigt, dass es wohl kaum etwas geben dürfte, was die beiden noch einmal auseinanderbringen könnte. Eines Tages werde ich ihr die Wahrheit erzählen. Aber jetzt nicht. Noch nicht.

Laura und die Mädchen besuchen noch immer zusammen mit mir den Selbstverteidigungskurs. Laura schwört, dass sie nur daran teilnimmt, um die Kalorien der ganzen Nachspeisen, die ich ihr als Zahlung für ihre mir erwiesenen Dienste ständig zuschiebe, zu verbrennen. Aber ich glaube viel eher, dass ihr die körperliche Anstrengung Spaß macht. Entweder das, oder sie sieht Cutter gern bei seinen Verrenkungen zu.

Zu Hause entwickelt sich Stuart gerade zum verwöhntesten Ehemann der Welt. Ein schlechtes Gewissen kann so etwas bewirken. Und wenn dieses schlechte Gewissen auch noch darauf zurückzuführen ist, dass Sie furchtbarerweise unterstellt hatten, dass sich Ihr Mann mit Dämonen eingelassen hat … Nun ja. Dann kann das Verwöhnen und Wiedergutmachen mehr oder weniger unendlich so weitergehen.

Was mich betrifft, so habe ich noch immer Geheimnisse vor meiner Familie. Aber was kann ich tun? Ich weiß, dass Goramesh zurückkehren wird. Sein Verschwinden ist nicht von Dauer, und das ist etwas, womit ich leben muss. Außerdem gibt es noch andere Dämonen in San Diablo. Zum Beispiel haben sie das Altenheim infiltriert, und sosehr es mich auch danach verlangt, Padre Corletti zu bitten, einen weiteren Dämonenjäger zu schicken, so weiß ich doch, dass ich ihn nicht anrufen werde.

Wollen Sie die Wahrheit wissen? Ich bin eine Verpflichtung eingegangen, als ich vor vielen Jahren Dämonenjägerin wurde, und jetzt kann ich diese Verpflichtung nicht einfach leugnen. Vor allem nicht, nachdem so viele dieser Kreaturen ihr Unwesen in unseren Straßen treiben.

San Diablo braucht einen Dämonenjäger, und ich bin vor Ort. Ich mag vielleicht ein wenig außer Übung sein. Das stimmt. Aber ich habe Cutter und Eddie, die mir helfen können. Außerdem gibt es einen Teil von mir, der diese Arbeit wirklich liebt.

Und wenn man sich die Sache einmal genau betrachtet: In welcher Familie gibt es denn nicht ein oder zwei kleine Geheimnisse?

DANKSAGUNG

Dass ich nicht Italienisch spreche, wurde schmerzhaft offensichtlich, als ich meinen nach Internetsuchen notdürftig zusammengesetzten Dialog der fabelhaften Eloisa James mit einem SOS in der Betreff-Leiste mailte und sie mir daraufhin sehr höflich mitteilte, dass er voller Fehler stecke. Sie war sogar so liebenswürdig, ihn gleich für mich zu korrigieren! Deshalb gebührt Eloisa ein besonderes Dankeschön, weil sie mich in der Hinsicht gerettet hat. (Falls es doch noch Fehler geben sollte, ist das aber nicht ihre, sondern allein meine Schuld!)

Dass ich kein Latein kann, wurde bereits in der Highschool unangenehm deutlich. Diesbezüglich habe ich es nicht einmal mit einer Internetrecherche versucht, sondern gleich eine SOSNachricht an den Novelists, Inc. E-Mail-Loop geschickt. Eve Gaddy schrieb mir auf der Stelle (sie vermochte meine Frage zwar nicht zu beantworten, stellte aber den Kontakt zu einem Mann her, der das konnte). Mein Dank gilt Dr. John Harris, der mir mit Latein half. Ich glaube nicht, dass ich je so viel Spaß hatte, jemandem dabei zuzusehen, wie er sich mit linguistischen Feinheiten auseinandersetzt – nur um die richtigen Worte zu finden, die Tote wieder zum Leben erwecken!

Dass ich wenig vom Fechten verstehe, war spätestens klar, als ich die Fechtszene mit mehr XXX gefüllt hatte als mit Text – ein dezenter Hinweis darauf, dass ich dringend einige Fachtermini benötigte. Mein Dank geht in diesem Fall an Stefan Leponis, der die Lücken für mich füllte und mir einen wunderbaren Einblick in die Welt des Fechtens bot. Und auch einen Dank an Helen, weil sie meine »Ich brauche dringend Fechtbegriffe«-Jammerei in meinem Blog ernst nahm und mir ihren Mann Stefan zur Rettung schickte!

Dass ich wenig über Kickboxen … Na ja, Sie wissen schon, worauf ich hinauswill. Mein besonderer Dank gilt der wunderbaren und talentierten Lexie, die mir mit den richtigen Outfits und anderen Details geholfen hat (und, wenn ich mich recht erinnere, dafür etwas länger als sonst aufbleiben durfte, indem sie mir über ihre Mutter ihre Antworten übermittelte), sowie Nancy Northcott, weil sie mir einige der Bewegungsabläufe, die sie beim Training gelernt hat, anschaulich erklärte.

Ich möchte mich auch bei Diakon Ron Walker von der Pfarrei St. Mary in Austin, Texas, bedanken, der mich bei der räumlichen Anordnung der Kathedrale und in katholischen Fragen beriet, obwohl ich das eigentlich hätte wissen müssen …

Auch hier gilt wieder der Hinweis: Falls es Fehler geben sollte, so stammen die alle von mir. Und sie sind reine Absicht. Ehrlich. Nennen Sie es einfach literarische Freiheit. Ehrlich …

Und schließlich geht mein ganz besonderer Dank an Don, Kim, Kassie, Allison, Dee und Kathleen, die Kate allesamt vom ersten Moment an ins Herz geschlossen haben. Und das war für mich das Allerwichtigste!