SECHZEHN
»Theoretisch ist es möglich, Kate«, erklärte Larson. »Es fällt mir nicht leicht, das zu sagen, aber es liegt durchaus im Bereich des Möglichen.«
Ich war einige Minuten vor acht in Larsons Büro eingetroffen, um ihn zu sprechen, ehe er in den Gerichtssaal ging. Zuvor hatte ich bei Cutter angerufen und mein Training für diesen Vormittag bei ihm abgesagt. Am Spätnachmittag wollte ich sowieso gemeinsam mit den Mädchen zu ihm. Doch jetzt bereute ich es fast, hierhergekommen zu sein. Obgleich Larson nur aussprach, was ich bereits in Erwägung gezogen hatte, wollte ich es nicht hören.
»Aber Stuart? Er ist noch nicht einmal wirklich
religiös. Er geht nur in die Messe, wenn ich ihn dazu
zwinge.«
»Soll das etwa ein Argument gegen seine Zusammenarbeit mit Dämonen
sein?«, fragte er. Ich runzelte die Stirn, doch Larson fuhr fort.
»Sie sind doch diejenige, die seine rasche Genesung nach dem
Autounfall so seltsam fand.«
»Nein, das stimmt nicht.« Ich schüttelte so heftig den Kopf, dass
mir beinahe der Nacken schmerzte. »Ich habe nur so vor mich hin
geredet und nicht klar denken können.« Nervös rieb ich mir die
Stirn, um die gewaltige Migräne, die sich ankündigte, zu
unterdrücken.»Außerdem sah ich ihn nach dem Unfall in der Kirche.
Er ist nicht gestorben. Er war sogar kaum verletzt.« »Vielleicht
war seine Verletzung ja nur klein, aber die Wirkung größer, als
Ihnen bewusst ist. Ein Mensch kann seine ganze Einstellung ändern,
wenn er sich auf einmal seiner eigenen Sterblichkeit bewusst
wird.«
»Ein Pakt mit dem Teufel? Stuart? Das glaube ich einfach
nicht.«
»Ihr Mann ist sehr ehrgeizig, Kate. Wenn er glaubt, dass Goramesh
ihm helfen kann …« Er beendete den Satz nicht, und ich konnte meine
eigenen Schlussfolgerungen ziehen.
Diese gefielen mir ganz und gar nicht. Sie drängten sich mir aber
immer stärker auf, obwohl ich versuchte, sie als lächerlich
abzutun.
»Behalten Sie ihn im Auge, Kate. Und wenn es nötig ist, müssen Sie
ihn aufhalten. Es ist überaus wichtig, dass wir herausfinden,
wonach Goramesh sucht, und dass wir das Gesuchte sicher in den
Vatikan bringen. Falls Stuart es zuerst bekommt –«
»Sie reden ja bereits so, als wären wir uns ganz sicher, dass er in
die Sache verwickelt ist.« Ich hatte plötzlich das Gefühl, keine
Luft mehr zu bekommen.
»Bis wir nicht sicher wissen, dass er nichts damit zu tun hat,
müssen wir leider davon ausgehen.«
Ein Gerichtsdiener steckte in diesem Moment den Kopf ins Zimmer, um
sicherzustellen, dass sich Larson für die nächste Verhandlung
bereit machte. Der Richter ging also zur Arbeit, und ich verließ
das Gebäude, um … Ja, was eigentlich? Um zu schmollen? Um mir
Sorgen zu machen?
Nein, so gern ich diesen beiden Gefühlsregungen nachgehangen wäre,
so blieb mir doch keine Zeit dafür. Ich trug schließlich die
verdammte Verantwortung.
Also stieg ich in den Wagen und fuhr auf schnellstem Weg zur
Kathedrale.
Mein Handy klingelte, als ich parkte. Ich warf einen Blick auf das
Display und sah, dass der Anruf von meiner Telefonnummer zu Hause
stammte. Hatte Allie etwa ihre Mitfahrgelegenheit verpasst? War
Eddie wieder in der Lage, normale Telefonanrufe zu führen? Oder war
Stuart unerwartet nach Hause zurückgekehrt? Suchte er mich
eventuell sogar? Wusste er, dass ich ihm auf der Spur war? Gab es
überhaupt etwas, dem ich auf der Spur sein konnte, oder litt ich
einfach nur ebenso wie Larson unter ganz normalem
Verfolgungswahn?
Ich ließ es noch einmal klingeln und hob dann ab.
»Hallo?«
»Hi, ich bin es.« Lauras Stimme. (Sie wäre die Nächste auf meiner
Liste gewesen.)
»Gibt es etwas?«
»Du-weißt-schon-wer macht mich noch wahnsinnig«, flüsterte sie so
leise, dass ich sie kaum verstand.
Ich zuckte zusammen. »Es tut mir echt leid. Was treibt er
denn?«
»Er klebt mir ständig an den Fersen«, erklärte sie. »Momentan
schaut er zum Glück fern. Aber sonst umkreist er mich
ununterbrochen, sieht mir über die Schulter und murmelt irgendetwas
über Dämonen und dass ich den Fernsehkanal wechseln soll. Es ist
wirklich unheimlich, Kate.«
»Es tut mir so leid«, sagte ich noch einmal, auch wenn es natürlich
nichts nützte. »Möchtest du, dass ich nach Hause komme?«
»Nein, nein. Es wird schon werden. Hast du mit ihm gesprochen,
bevor du heute Morgen weggefahren bist?«
»Nein, er hat noch geschlafen. Wie wirkt er denn?« »Eigentlich
wesentlich besser. Er macht mich zwar wahnsinnig, aber er redet
nicht mehr so viel Unsinn. Ich weiß nicht genau, woran es liegt,
aber ich glaube, dass er klarer geworden ist.«
»Gut.« Sogar besser als gut. Ich brauchte einen Eddie, der nicht
verrückt war. Vor allem falls Larsons schlimmste Vermutungen (okay
meine schlimmsten Vermutungen) hinsichtlich Stuart zutrafen, durfte
Eddie keine Geheimnisse verraten. (Diese Überlegung führte zu einem
weiteren Anfall von schlechtem Gewissen. Wie konnte ich nur so
etwas von Stuart annehmen? Er war doch mein Mann. Timmys Vater. Der
Mann, den ich mein Leben lang zu lieben und zu ehren geschworen
hatte. Er war nicht so ehrgeizig. Oder etwa doch?)
Ich holte tief Luft und versuchte, erst einmal nicht daran zu
denken. »Hast du deswegen angerufen? Um mir von Eddie zu
erzählen?«
»Nein. Es gibt zwei Dinge. Willst du zuerst die guten oder die
schlechten Nachrichten hören?«
»Oh, bitte. Die guten zuerst.«
»Ich habe herausgefunden, dass Bruder Michael in einem Kloster in
der Nähe von Mexiko City gelebt hat. Und weißt du was?«
»Es war das Kloster, das vor Kurzem von Dämonen überfallen wurde.«
Das war tatsächlich eine gute Nachricht.
»Ganz genau.« Ich konnte die Aufregung in ihrer Stimme deutlich
hören. »Da besteht also eindeutig eine Verbindung, nicht
wahr?«
»Ja, das ist toll«, sagte ich. Ich versuchte ebenfalls
enthusiastisch zu klingen, aber in Wahrheit wusste ich nicht, was
ich mit dieser Neuigkeit anfangen sollte. Schließlich war uns
bereits vorher klar gewesen, dass es eine Verbindung geben musste.
Laura hatte nun die Bestätigung gefunden, aber eine neue Einsicht
brachte uns das nicht. Doch ich wollte Lauras Begeisterung nicht
schmälern. »Und was ist die schlechte Nachricht?«
»Dass heute Nachmittag um drei Kinderhorden bei dir
einfallen.«
»Scheiße.« Das hatte ich völlig vergessen. Ich werfe immer einen
Blick auf meinen Terminkalender. Immer, immer, immer. Außer
heute.
Verdammt – woran hatte ich nur gedacht? (Auf diese Frage wusste ich
natürlich die Antwort. Ich hatte an Dämonen gedacht. Und an die
Möglichkeit, dass sich mein Mann, den ich so gut zu kennen glaubte,
auf einen eingelassen hatte. Im Großen und Ganzen hatte ich also
eine gute Ausrede, eine Spielgruppe von vier Kindern zu vergessen,
für die ich auch noch Essen vorbereiten musste. Aber das minderte
nicht mein schlechtes Gefühl.)
»Habe ich etwas falsch gemacht? Soll ich es besser für dich
absagen?«
»Nein, nein. Das ist alles meine Schuld. Ich hätte schon vor Tagen
absagen sollen, aber ich habe es ganz einfach vergessen.« Ich
fragte mich, was ich noch alles vergessen haben mochte. Doch für
den Moment war das egal. Offenbar würden sich meine ganzen
Verpflichtungen sowieso melden, sobald sie aktuell
wurden.
Wir plauderten noch einige Minuten. Ich entschloss mich, trotzdem
als Erstes für zwei Stunden ins Archiv hinabzusteigen und dann noch
rasch für die Spielgruppe einzukaufen (Muffins, Kekse, Obst und
Saft). Danach wollte ich Timmy abholen und nach Hause fahren. Laura
versprach mir, während der Spielgruppe dazubleiben, falls Eddie
wieder einen Schub von Dämonen-Verfolgungswahn bekommen und die
Kinder (oder auch ihre Eltern) zu Tode erschrecken würde.
Sobald ich aufgelegt hatte, klingelte das Telefon erneut. Ich hob
ab, ohne auf das Display zu sehen, da ich annahm, es wäre noch
einmal Laura. »Hast du etwas vergessen?«
»Nein«, antwortete Allie. »Das Handy ist echt so cool,
Mami!«
Ich lachte. Als sie das Handy bekommen hatte, war ihr eingeschärft
worden, es nur für Notfälle zu benutzen. Aber ich hätte wissen
müssen, dass sie nicht widerstehen konnte, trotzdem ein paar Anrufe
zu machen.
»Freut mich, dass es dir gefällt«, erwiderte ich. »Und was ist der
Notfall?«
»Was?«
»Sollst du etwa das Telefon benutzen, ohne dass du dich in
Lebensgefahr befindest?«
»Oh.« Ich hätte ihr eigentlich ernsthaft ins Gewissen reden sollen,
war aber damit beschäftigt, nicht laut loszulachen.
»Na ja. Es gibt schon eine Art Notfall.«
Wenn man bedachte, wie meine Woche bisher verlaufen war, hätte man
eigentlich annehmen sollen, dass dieser Satz meine Migräne
endgültig zum Ausbruch bringen würde. Aber ich kannte meine
Tochter. Dieser Notfall war keiner. Dieser Notfall war nur eine
Ausrede, um mit dem Handy spielen zu können. »Okay, dann schieß mal
los. Worum geht es?«
»Können Mindy und ich nach der Schule ins Einkaufszentrum? Bitte,
bitte, bitte!«
»Du machst wohl Scherze.«
»Nein, Mami. Bitte!«
»Allison Crowe, kannst du dich noch an unsere Vereinbarung
erinnern?«
(Langes Schweigen.)
»Allie …«
»Äh, welche Vereinbarung genau?«
Wenn es nicht so schmerzhaft gewesen wäre, hätte ich in diesem
Moment am liebsten meinen Kopf gegen das Lenkrad geschlagen.
»Unsere Vereinbarung, dass an oberster Stelle der
Selbstverteidigungskurs steht und sich dem alles andere, was du
vorhast, unterzuordnen hat.«
»Oh, die Vereinbarung.«
»Genau die.«
»Wir könnten doch danach hin …« Diesmal klang ihre Stimme bereits
wesentlich weniger fordernd.
Ich spürte, dass ich im Begriff war nachzugeben und versuchte,
dagegen anzukämpfen. »Was gibt es denn so Wichtiges im
Einkaufszentrum?«
(Wieder langes Schweigen. Diesmal hatte ich das Gefühl zu wissen,
worum es ging. Um Jungs.)
»Allie?«
»Stan arbeitet da heute. Wir wollten nur kurz vorbeischauen.
Vielleicht mit ihm in seiner Pause eine Cola trinken oder
so.«
»Wir?«
»Mindy und ich.«
Ich schüttelte den Kopf. Erst vierzehn, und schon tat sich meine
Tochter mit ihrer Freundin zusammen, um irgendwelche Jungs zu
verfolgen. Aber was konnte ich tun? Zumindest zog sie nicht allein
los. (Noch beruhigender fand ich es allerdings, dass sie in ihrem
Alter nicht bereits schwanger war. Eine solche Situation gehörte zu
denjenigen Pubertätserscheinungen, an die ich nicht einmal denken
wollte.)
»Ist das der Typ mit den verbilligten Theaterkarten?« Falls das
tatsächlich der Fall sein sollte, würde ich ablehnen müssen. Er
mochte ja ein netter Junge sein, aber sein Atem roch, und das
machte ihn so lange verdächtig, bis ich mir sicher war, dass es an
seinen Zähnen oder so lag und nicht das Anzeichen für einen
stinkenden Dämon war.
»Oh, Mami, du meinst Billy Der ist doch so absolut
uncool!«
Ich vermutete, das bedeutete, dass er ihr nicht lag. »Und wer ist
dann dieser Stan?«
»Er arbeitet bei Gap und ist wirklich süß. Bitte, Mami. Bitte! Er
hat mich gefragt, ob ich ihn nicht besuchen will. Er mag mich,
Mami!«
»Ist er in deinem Jahrgang?«
Wieder eine dieser Pausen.
»Allie, du wirst es zwar kaum glauben, aber ich habe noch ein paar
Dinge zu erledigen. Also – ist er jetzt in deiner Klasse oder
nicht?«
»Ich glaube, er geht in eine höhere oder so«, erwiderte
sie.
»Du glaubst?«
»Na ja. Ich habe ihn nach der Schule kennengelernt. Aber er hängt
immer mit den älteren Typen herum. Und wenn er mich mag, dann kann
ich auch mit denen abhängen. Ach, Mami, du erlaubst es mir doch,
oder?«
Sie redete derart schnell, dass ich das, was sie gerade gesagt
hatte, erst einmal in meinem Kopf zurückspulen und auf Wiederholen«
drücken musste. Mir gefiel das Ganze überhaupt nicht. Aber ich sah
auch keine Möglichkeit, Allie einen letztendlich harmlosen Besuch
im Einkaufszentrum zu verbieten. Elternsein bedeutet einen
ständigen Drahtseilakt. Wenn man zu wenig kontrolliert, stürzt man
gleich ab. Wenn man aber zu viel Kontrolle ausübt, kommt man gar
nicht mehr von der Stelle.
»Okay«, sagte ich schließlich. »Du kannst gehen. Aber ich komme
mit.«
Ich erwartete wieder einen ihrer »Ma-ami«-Ächzer und weiteren
Protest. Doch meine Tochter seufzte nur und meinte: »Okay Wie auch
immer. Danke.«
Ich lächelte siegesbewusst. »Du bist toll, Schatz. Solltest du
nicht in der Schule sein?«
»Heute haben wir in der ersten Stunde Lernzeit«, erklärte
sie.
»Dann geh jetzt und lerne irgendetwas. Und ruf bitte nicht mehr an,
es sei denn, du verlierst literweise Blut oder bist sonst irgendwie
schwer verletzt.«
»Wie auch immer, Mami«, sagte sie und legte auf.
Ich blickte auf das Handy, während mir allmählich bewusst wurde,
worauf ich mich da gerade eingelassen hatte. Ich hatte tatsächlich
freiwillig zugestimmt, den Abend im Einkaufszentrum zu
verbringen!
Dämonen zu jagen wäre um ein Vielfaches einfacher gewesen.
Da ich nicht viel Zeit im Archiv zur Verfügung hatte (schließlich musste ich zur Spielgruppe zurück sein), entschloss ich mich, das Ganze diesmal etwas anders anzugehen. Ich vermutete, dass Goramesh (höchstwahrscheinlich) nicht nach Dokumenten suchte. Und ehrlich gesagt, langweilten sie auch mich inzwischen ziemlich.
Stattdessen durchsuchte ich die Kisten nach Gegenständen. Ich zog eine nach der anderen heraus, öffnete den Deckel und wandte mich sogleich der nächsten zu, falls sich darin nur Papiere befanden. So hätte ich wahrscheinlich von Anfang an vorgehen sollen, aber ich hatte angenommen, dass der Gegenstand, auf den Goramesh so scharf war, bereits vom Archivar herausgefischt worden war, weshalb es für mich das Beste schien, die Dokumente nach einem Hinweis zu durchforsten. Das kam mir noch immer am sinnvollsten vor, aber die Vorstellung, weitere staubige Blätter in die Hand nehmen und durchsehen zu müssen, sagte mir ganz und gar nicht zu. Ich rechtfertigte meine andere Vorgehensweise damit, dass ich mir einredete, auf diese Weise mehr Glück haben zu können.
Tatsächlich entdeckte ich einige ganz spannende Dinge, aber nichts schien mir für einen Dämon von Interesse. Ich entdeckte sogar die Kiste mit der kleinen Golddose, die Mike Florence der Kirche vermacht hatte. Als ich die Beschreibung auf der Liste für das Finanzamt gelesen hatte, war ich daran interessiert gewesen, sie zu sehen. Doch als ich sie nun in Händen hielt, strahlte das Ding keinerlei Reiz mehr auf mich aus. Nachdem ich die Dose geöffnet hatte, ließ meine Begeisterung noch mehr nach. Im Inneren befand sich nur etwas, was wie weiße Asche aussah. Vielleicht handelte es sich um irgendeine seltsame Form von Urne.
Ich ging dieser wahnwitzig spannenden Beschäftigung noch eine weitere Stunde nach. (Für das Wochenende wollte ich Father Ben darum bitten, ebenfalls ins Archiv zu dürfen, und dann musste Larson mitkommen. Das war nur gerecht.) Entmutigt sammelte ich nach einer Weile meine Siebensachen zusammen. Ich blieb für einen Moment vor den Vitrinen stehen und dachte daran, wie viel einfacher es gewesen wäre, wenn alles bereits hübsch sauber in Glasvitrinen untergebracht gewesen wäre. Aber das war ja leider nicht der Fall. Dagegen konnte ich nichts machen. Zumindest ging es mir besser als diesen Märtyrern, deren Überreste jetzt in diesen Beuteln verwahrt wurden.
Der Gedanke an die Märtyrer ließ mich erneut Kraft schöpfen. Ich hatte auch nicht vor, mich so leicht geschlagen zu geben. Goramesh durfte nicht gewinnen. Ich würde ihn aufhalten. Irgendwie musste es mir gelingen, das Ganze zu einem Abschluss zu bringen.
Frischen Mutes ging ich in die Sakristei, um dort mit Father Ben zu sprechen. Insgeheim hatte ich gehofft, er würde mir erzählen, dass sich auch Clark im Archiv herumgetrieben hatte. Aber nein – anscheinend waren in letzter Zeit nur Stuart und ich im Kellergewölbe gewesen.
Das war keine gute Nachricht. Nicht für meine
Pläne, Goramesh zu besiegen.
Und was noch wichtiger war: Es bedeutete auch nichts Gutes für
meine Ehe.
Als Dämonenjägerin habe ich mich schon in ziemlich anstrengenden Situationen befunden. Es gab Tage ohne Schlaf, an denen ich ein ganzes Nest von Dämonen aushob. Ich hatte Vampiren in einer Allee in Budapest aufgelauert und hatte im Grunde all die üblichen Aufgaben zugeteilt bekommen, die mit meinem Beruf einhergehen. Aber ich kann Ihnen versichern, dass nichts mit der Erschöpfung und dem Chaos vergleichbar ist, ausgelöst durch eine Spielgruppe mit vier wild tobenden Zweijährigen.
Nach einer Stunde hatten sich die Kinder allmählich beruhigt (»beruhigt« heißt in diesem Fall, sie waren mit so viel Spielsachen zugeschüttet worden, dass sie kaum mehr heraussehen konnten). Die anderen Mütter und ich saßen am Küchentisch. Wir hatten Kaffee und Muffins vor uns stehen, wobei wir darauf geachtet hatten, nicht das Gebäck auf unsere Teller zu laden, das die Kinder zuvor in ihren kleinen, verschmierten Händen gehabt hatten.
Ich hatte bereits einen ersten Schluck Kaffee genommen und genoss die Banalität des Alltags, als auf einmal Timmy im Spielzimmer zu brüllen begann. Im Bruchteil einer Sekunde war ich aufgesprungen, wobei mein erster Gedanke möglichen Dämonen galt, die erneut bei uns eingebrochen waren.
Doch als ich den Raum betrat, konnte ich erleichtert aufatmen. Mein kleiner Junge stand mit verschränkten Armen da, hatte den Kopf zurückgeworfen und setzte gerade zu einem neuen Brüllanfall an. Neben ihm war Danielle Cartright, hielt Boo Bear in den Händen und grinste siegesgewiss. (Ich kritisiere kleine Kinder eigentlich sehr selten, aber Danielle ist wirklich unerträglich. Mir tut jetzt schon der Mann leid, der sie einmal heiratet. Ich halte in diesem Fall ihre Mutter für die Schuldige, während ihr Vater mein volles Mitgefühl besitzt. Momentan jedoch tat mir am meisten Timmy leid.)
»Danielle«, sagte ich. »Warum gibst du Timmy nicht seinenBären zurück? Sei so nett.«
»NEIN!« Sie brüllte mich nicht nur an, sondern rannte
auch
in die hinterste Ecke des Zimmers, kletterte auf einen Stuhl
und
setzte sich auf den Bären. Wie charmant!
Ihre Mutter Marissa betrat hinter mir das Zimmer. »Sie
ist
gerade in dem Stadium, dass sie einfach alles haben
will«,
meinte sie, als ob diese Erklärung das Problem lösen und
die
Tränen meines Kindes trocknen würde.
»Vielleicht könntest du ja etwas dagegen unternehmen«, sagte ich
und bemühte mich darum, nicht ebenfalls loszubrüllen.
Natürlich redete ich bereits deutlich lauter, als ich das
normalerweise tue, weil Timmys Heulen inzwischen eine
Lautstärke
erreicht hatte, die das Trommelfell zum Vibrieren brachte.
Er
stürzte auf mich zu, und ich nahm ihn in die Arme. Doch
selbst
Mamis Anwesenheit konnte den Tränen keinen Einhalt
gebieten.
»Er sollte sich wirklich nicht so sehr auf ein Spielzeug
konzentrieren«, sagte Marissa.
Innerlich stellten sich mir die Stacheln auf. Meine
Muskeln
spannten sich an, während ich mir vorstellte, wie ihr
frisch
gereinigter Leinenanzug in einer Minute einen großen Fußabdruck in
Höhe ihres Brustkastens aufweisen würde. In diesem
Moment legte sich eine Hand auf meine Schulter, und eine
sanfte Stimme sagte: »He, Timmy. Beruhige dich.«
Laura. Sie hatte mit Eddie am Computer in Stuarts Arbeitszimmer
gesessen und musste den Aufruhr gehört haben. Da ich
nicht auf den Kopf gefallen bin, wusste ich natürlich, dass
sich
ihr »Beruhige dich« genauso auf Timmy wie auf mich bezog. »Wir sind
völlig ruhig«, verkündete ich und schenkte Marissa ein
Hol-sofort-den-Bären-zurück-oder-du-stirbst-du-Zicke
Lächeln.
»Lass mich mal sehen, ob ich Danielle überzeugen kann,
dass
sie den Bären zurückgibt«, erklärte Marissa, die offenbar
die
Gefahr, in der sie sich befand, spürte.
»Superidee«, erwiderte ich.
Dann sah ich entsetzt und fasziniert zu, wie sie
tatsächlich
eine geschlagene Viertelstunde damit verbrachte, mit
ihrer
zweijährigen Tochter zu verhandeln. Und das Ergebnis?
Kein
Bär.
Die Spielstunde war inzwischen offiziell beendet. Die anderen
Mütter (die wahrscheinlich die Gefahr witterten) verabschiedeten
sich und verließen eilig mit ihrem Nachwuchs das
Haus. Marissa schien weder zu bemerken, wie unpassend der
Auftritt ihrer Tochter und auch ihr eigener war, noch dass
ich
inzwischen vor Wut kochte. Sie hockte noch immer vor
ihrem
Kind und versuchte, Danielle Boo Bear zu entlocken. Inzwischen
hatte Timmy alle Tränen vergossen, die er besaß, und ich
hatte ihn mit der Erklärung auf das Sofa gesetzt, dass Boo
Bear
Danielle gerade besuchte und bestimmt ganz bald zu ihm
zurückkehren würde.
Am liebsten hätte ich Marissa beiseitegestoßen und
Danielle
den Bären aus ihren gierigen kleinen Händen gerissen. Aber
ich
wusste, dass ein solches Verhalten jedem
Erziehungsratgeber
widersprochen hätte. Also wartete ich ab. Meine Wut wurde
immer größer, während ich zusah, wie Marissa bettelte und
sanft auf ihre Tochter einredete und Danielle im Grunde
dazu
erzog, eine selbstsüchtige Zicke zu werden (das arme Kind). Nach
einer Zeitspanne, die der Länge einer durchschnittlichen Eiszeit zu
entsprechen schien, versprach Marissa ihrem Mädchen Eiscreme, ein
neues Spielzeug und einen Ponyritt im Zoo. Endlich kletterte
Danielle vom Stuhl herunter und marschierte zu Timmy, um ihm
gehässig Boo Bear ins Gesicht zu schleu
dern.
»Danke«, sagte Timmy (Und er sagte es, ohne von mir daran
erinnert zu werden, wobei sie sowieso keinen Dank
verdient
hatte.) Ich spielte gequält die höfliche Gastgeberin, bis
die
beiden aus der Tür waren. Doch sobald ich diese hinter
ihnen
geschlossen hatte, wandte ich mich entnervt an Laura.
»Diese
Frau ist eine –«
»Du darfst sie nicht umbringen.«
»Wenn sie ein Dämon wäre, schon.« (Sie können sich gar
nicht vorstellen, wie sehr ich mir wünschte, sie wäre
einer
gewesen.)
»Sie ist aber kein Dämon.«
Ich warf einen Blick auf Timmy, der noch immer auf dem
Sofa saß, an seinem Daumen nuckelte und ein wenig verloren
in
die Gegend starrte. Mir krampfte sich das Herz zusammen.
»Für mich schon«, sagte ich. »Für mich ist sie eindeutig
ein
Dämon.«
Die beiden Mädchen waren gemeinsam nach oben gegangen, aber nur Allie kam in ihren Sportklamotten wieder herunter. Mindy trug noch immer ihre Schulkluft. Sowohl Laura als auch ich sahen sie fragend an. »Hast du dich für den realistischen Straßenkampf-Look entschieden?«, fragte ich. »Du wirst zwar zugegebenermaßen eher in deinen Straßenklamotten überfallen, aber es ist doch besser, in Shorts und einem T-Shirt zu trainieren.«
Mindy schien sich plötzlich ausgesprochen für meinen Teppich zu interessieren. »Ich bin mir nicht mehr sicher, ob ich überhaupt mitmachen will.«
»Überhaupt mitmachen?«, wiederholte Laura. »Was
soll das heißen – du bist dir nicht sicher?«
Mindy zuckte mit den Schultern. Sie sah ihre Mutter aus großen
Augen an. Offensichtlich verstand sie nicht, warum sich ihre Mutter
plötzlich für die Welt des Kickboxens so zu begeistern
schien.
Allie hatte sich neben mich gestellt, und ich sah sie fragend an.
»Sie hat Angst, vor Cutter dumm dazustehen«, flüsterte mir meine
Tochter zu. »Sie findet ihn nämlich ziemlich süß, weißt
du.«
»Mindy Jo Dupont«, sagte Laura in scharfem Ton. »Kate hat sich
wirklich große Mühe gegeben, euch für diesen Kurs anzumelden. Warum
willst du jetzt auf einmal nicht mehr mitmachen?«
»Ich habe einfach so viele Hausaufgaben.« Sie steckte die Hände in
die Hosentaschen. »Du weißt schon.«
»Was ich weiß, junge Dame, ist vor allem eines: Da draußen gibt es
viele seltsame und unheimliche Leute.« Laura sprach mit einer
Entschlossenheit, die ich bei ihr sonst nicht kannte, aber ich
konnte sie verstehen. Ich hatte ihre sichere kleine Welt ins Wanken
gebracht. Und das war etwas, was sich nicht mehr leugnen
ließ.
»Du wirst diesen Kurs besuchen und dort lernen, wie du dich im
Notfall verteidigen kannst.« Sie drehte sich zu mir um und sah mich
an. Ihr Gesicht glühte mütterlich wild entschlossen. »Falls es noch
einen Platz gibt, will ich übrigens auch mitmachen.«
Mindy und Allie bemühten sich nicht einmal, ihre Verblüffung zu
verbergen. Ich war nicht so sehr verblüfft als vielmehr überrascht.
Bisher war ich mir immer sicher gewesen, dass nichts, aber auch gar
nichts, Laura dazu bringen konnte, einen Kurs zu besuchen, der auch
nur im Entferntesten etwas mit Sport zu tun hatte.
Anscheinend hatte ich mich geirrt. Die Dämonen hatten ein kleines
Wunder vollbracht.
»Ich bin beeindruckt«, flüsterte ich ihr später zu, als die Mädchen
in den Minivan kletterten. »Du. Sport. In der
Öffentlichkeit.«
Sie schnitt eine Grimasse.
»Du magst vielleicht lachen, aber mir kann man da nichts mehr
vormachen. In Filmen ist es immer der Handlanger und nicht der
Held, der untergeht. Ich habe genügend Filme gesehen, um das zu
wissen.« Sie rückte ihre Tasche, die ihr um die Schulter hing,
zurecht. »Aber vor dir steht eine Nebendarstellerin, die nicht
vorhat, kampflos den Löffel abzugeben.«
»Toll gemacht, Mädchen!« Eddie feuerte Allie begeistert an. Neben ihm schlug Timmy auf einer Matte, die Cutter für ihn hingelegt hatte, Purzelbäume.
Nach anfänglichen Aufwärmübungen hatte sich Cutter gleich auf die Kleinarbeit gestürzt. Er zeigte uns, wie man sich befreite, wenn einen jemand am Handgelenk festhielt. Allie gelang das Manöver (man reißt den Arm hoch und gleichzeitig weg, sodass man den schwächsten Punkt des Angreifers, in diesem Fall den Daumen, für sich nutzt), und auch ich applaudierte begeistert.
»Jetzt versuchen wir es einmal mit deiner
Mutter«, verkündete Cutter.
Ich schüttelte ablehnend den Kopf. Er wollte mich aus der Reserve
locken, aber das ließ ich nicht zu. So gern ich jemanden in diesem
Moment in Grund und Boden geprügelt hätte (herzlichen Dank,
Marissa), so war ich doch entschlossen, vor Allie die relativ
Unbedarfte zu markieren.
Cutter erwischte mich von hinten, und ich stieß ihn weg. Dabei
benutzte ich eine Bewegung, die ihn – wenn ich sie richtig
ausgeführt hätte – über meine Schulter hätte fliegen und auf der
Matte landen lassen. Doch heute tat ich so, als wäre ich nicht dazu
in der Lage.
»Komm schon, Mami! Du hast ihn doch auch das letzte Mal
besiegt.«
»Reines Anfängerglück«, keuchte ich, während Cutter mich auf die
Matte warf.
»Anfängerglück – lächerlich«, murmelte er. »Ich werde schon noch
herausfinden, was mit Ihnen los ist.«
Er sprach sehr leise, und auch meine Antwort fiel flüsternd aus.
»Nicht, wenn ich nicht will.«
Seiner finsteren Grimasse nach zu urteilen, glaubte er mir.
»Konzentrieren Sie sich auf die Mädchen und Laura«, sagte ich. »Ich
kann mich um mich selbst kümmern.«
Zum Glück tat er genau das (wobei Eddie von seiner Bank aus immer
wieder Ermutigungen schrie, einschließlich dem gelegentlichen
»Fantastisch! Die Kleine wird noch eine großartige Jägerin!«). Zu
meiner Erleichterung kam Allie allerdings viel zu sehr ins
Schwitzen, um auf Eddies bizarre Kommentare zu achten. Entweder
das, oder sie hatte bereits gelernt, ihn nicht allzu ernst zu
nehmen.
Am Ende der Stunde hatte ich das Gefühl, dass die Mädchen einen
guten Anfang gemacht hatten. Auf jeden Fall wussten sie nun, wie
man brüllte. (Das ist übrigens einer der wichtigsten Elemente jeder
Verteidigung. Das Brüllen spannt unsere Bauchmuskulatur an und
lässt einen Kick oder Schlag härter werden. Es geht immer nur um
die Bauchmuskulatur – merken Sie sich das.)
Nach dem Kurs waren die Mädchen bester Dinge und glühten förmlich
(Mädchen glühen, Jungs schwitzen). Sie plauderten angeregt darüber,
wie cool Cutter sei und wie cool sie wären und wie sie überhaupt
jeden zusammenschlagen würden, der ihnen dumm kam. Einer anderen
Mutter mochte so etwas vielleicht nicht gefallen, aber ich war
begeistert.
Da das Glühen natürlich auch Schwitzen bedeutete, fuhren wir erst
einmal nach Hause, damit sich die Mädchen duschen und frisch machen
konnten, ehe es ins Einkaufszentrum ging. Gewöhnlich dauert die
Vorbereitung auf das Treffen mit einem Jungen ja in diesem Alter
bis zu zwei Stunden, aber da wir einen Termin einzuhalten hatten
(das Einkaufszentrum schließt werktags um einundzwanzig Uhr),
nahmen sich die Mädchen unglaublicherweise vor, in einer halben
Stunde so weit zu sein.
Laura und Mindy gingen durch unseren Garten zu sich nach Hause.
Während Timmy ein Kindervideo ansah, wartete ich gemeinsam mit
Eddie in der Küche auf Allie, die zum Umziehen nach oben gegangen
war. Eddies plötzliche Ausbrüche waren merklich seltener geworden,
und er schien weniger verwirrt zu sein. Ich wollte ihm so viele
Fragen stellen – Was ging eigentlich in Coastal-Mists vor sich?
Wusste er von Goramesh? Hatte er irgendeine Ahnung, was der Dämon
suchte? –, aber dies war das erste Mal, dass wir uns unter vier
Augen sprechen konnten.
Ich machte Tee und überlegte mir, wie ich die Unterhaltung am
besten beginnen könnte.
»Earl Grey«, erklärte Eddie. »Nicht einen dieser labbrigen
Kräutertees.«
»Kein Problem.«
»Ich verstehe nicht, wie jemand dieses Zeug trinken kann«,
plapperte er vor sich hin. »Verdammter Warmduscher-Tee.« Er sah
mich an. »Was trinkst du?«
»Jedenfalls nichts für Warmduscher – so viel ist schon mal
klar.«
»Hm.« Seine Augen wurden schmaler, und er zog die buschigen
Augenbrauen zusammen, sodass sie ein V über seiner Nase bildeten.
»Kein Warmduscher-Getränk, aber dafür führst du ein ziemliches
Warmduscher-Leben.«
Ich horchte auf. »Wie bitte?«
»Du hast gesagt, du wärst eine Jägerin. Du bist aber keine Jägerin.
Du hast eine Familie, ein Haus, alles völlig durchschnittlich.« Er
klang so, als ob er das wirklich verachtenswert fände. »Zuerst
dachte ich ja, das könnte eine Fassade sein und du trainierst in
Wirklichkeit das Mädchen. Aber das stimmt nicht. Du bist nicht mehr
mit von der Partie.«
»Herzlichen Dank. Aber es stimmt. Ich habe mich
zurückgezogen.«
Er schnaubte verächtlich. »Wie ich sagte – ein
Warmduscher.«
»Jetzt pass mal auf, Lohmann«, entgegnete ich scharf. »Ich kann
dich genauso schnell nach Coastal-Mists zurückbringen, wie ich dich
da herausgeholt habe.«
Er schnaubte erneut verächtlich. »Das würdest du nicht
tun.«
»Verlass dich lieber nicht darauf«, entgegnete ich, ohne jedoch
allzu viel Entschlossenheit in meine Worte zu legen.
»Also – warum will mich eine Jägerin, die nicht mehr arbeitet,
kennenlernen?« Er betrachtete mich neugierig. »Brauchst du
vielleicht jemanden, der dir einen gehörigen Tritt in den Hintern
verpasst?«
Ich lachte. Meine Verärgerung ließ deutlich nach. »Also eines kann
man dir nicht nachsagen, Eddie. Und zwar, dass du langweilig
wärst.«
Er rückte die Brille auf seiner Nase zurecht und lehnte sich auf
seinem Stuhl zurück. »Zeit für deine Geschichte, Mädchen. Warum
hast du dich wieder auf dieses ganze Spiel eingelassen?«
Was den richtigen Zeitpunkt betraf, mit ihm ins Gespräch zu kommen,
so hätte ich es selbst nicht besser machen können. Ich erzählte ihm
also alles von Anfang an, beginnend mit dem alten Mann im
Supermarkt, bis zum heutigen Tag. »Irgendwelche Ideen?«, fragte
ich, nachdem ich meine Geschichte beendet hatte. Das Geräusch der
laufenden Dusche über uns hatte aufgehört. Ich hatte rasch
gesprochen, aber doch nicht zu rasch. Allie würde sicher jeden
Augenblick bei uns auftauchen. Inbrünstig hoffte ich, dass Eddie
ein paar Antworten auf meine Fragen hatte. Noch mehr hoffte ich
jedoch, dass er schnell damit herausrückte.
»Ideen …« Er machte eine Pause und schnalzte leise. »Nein. Keine
Ideen.«
Ich war enttäuscht. Ich hatte wirklich gehofft, dass er uns
weiterhelfen konnte. Aber zumindest war seine Antwort schnell
gekommen. »Na ja. Kann man nichts machen. Ich wollte es zumindest
probieren.«
Wieder schnaubte er belustigt. »Hast du etwa Hummeln im Hintern,
Mädchen? Ich bin noch nicht fertig. Ich habe gesagt, dass ich keine
Ideen habe, aber das liegt einfach daran, dass ich auch gar keine
brauche. Nein. Ich brauche keine Ideen, weil ich bereits genau
weiß, was dieser verdammte Dämon will.«
Wieder machte er eine Pause und trank genüsslich einen Schluck
Tee.
Am liebsten hätte ich ihm vor Ungeduld die Tasse aus der Hand
geschlagen. »Was?«, zischte ich. Ich wollte endlich eine Antwort.
»Wenn du etwas weißt, dann spuck es aus, verdammt noch
mal!«
»Er sucht die Lazarus-Knochen«, erklärte er, als ob das die einzig
mögliche Antwort wäre.
Ich sah ihn an und blinzelte. Was zum Teufel waren die
Lazarus-Knochen?
Natürlich blieb mir keine Zeit, nachzuhaken, ehe Laura und Mindy wieder bei uns auftauchten. Ich überlegte mir kurz, ob ich Eddie in Stuarts Arbeitszimmer führen, die Tür hinter uns schließen und genauere Informationen von ihm verlangen sollte. Aber das hätte wahrscheinlich dazu geführt, dass sich die beiden Mädchen zornig auf mich gestürzt hätten. Sie waren nämlich wirklich scharf darauf, ins Einkaufszentrum zu fahren, um Stans Kaffeepause nicht zu verpassen.
Also gut. Da blieb mir wohl nichts anderes
übrig, als in den sauren Apfel zu beißen.
Ich hinterließ Stuart (der bis spätabends arbeiten wollte, wobei
ich nicht mehr unbedingt annahm, dass es sich auch um Berufliches
handelte) eine kurze Nachricht, und dann kletterten wir ins Auto.
Da Allie darauf bestand, parkte ich in der Nähe des
Restaurantkomplexes, und wir gingen dort hinein. Ich hatte den
ganzen Tag über nichts außer einem übersüßten Muffin gegessen,
weshalb ihr Vorschlag in meinen Ohren ziemlich reizvoll
klang.
Allerdings wurde mir gar nicht gestattet, mir etwas zu essen zu
holen. Uns wurde vielmehr mitgeteilt, dass Timmy, Eddie, Laura und
ich an einem Tisch in einer der hinteren Ecken Platz nehmen und
vorgeben sollten, überhaupt nichts mit den Mädchen zu tun zu haben.
Sie wollten auf jeden Fall vermeiden, dass Stan gleich bemerkte,
dass wir ihn beobachteten. »Seht einfach ganz cool aus«, erklärte
Allie. »Tut so, als wärt ihr gerade beim Einkaufen gewesen und
hättet gar nichts mit uns zu tun.«
»Genau«, bestätigte Mindy. »Wir wollen schließlich nicht, dass er
von unseren Müttern erfährt.«
»Ein grauenvoller Gedanke«, meinte Laura trocken.
»Genau«, erwiderte Mindy todernst.
Also warteten wir. Und warteten. Und warteten. Ich wäre am liebsten
aufgestanden, um mir eine Portion Pommes frites zu holen, aber
meine Tochter hatte mir genaue Anweisungen gegeben, mich auf keinen
Fall von der Stelle zu rühren. Sie wollte, dass ich es auf keinen
Fall verpasste, wenn Stan eintraf. Ich mochte selbst vielleicht so
uncool sein, dass man mich besser versteckte, aber sie wollte mir
trotzdem den Typen zeigen.
Ich war sowohl geschmeichelt als auch belustigt. Vor allem jedoch
fühlte ich ein großes Loch im Bauch.
Doch meine Neugier war stärker als mein Hunger. Da Mindy und Allie
etwa fünf Tische von uns entfernt saßen, schien es die beste
Gelegenheit, mein Gespräch mit Eddie fortzusetzen. Bisher hatte er
nichts weiter hinzugefügt. (Das stimmt nicht ganz. Er hatte
ziemlich viel geredet und zu allem und jedem seinen Senf
dazugegeben. Er hatte den ganzen Weg von zu Hause bis zum
Einkaufszentrum kaum den Mund geschlossen. Über die Lazarus-Knochen
war ihm jedoch kein weiteres Wort über die Lippen
gekommen.)
Jetzt saß er neben mir, hatte seinen Stock gegen sein Bein gelehnt
und die kleine Flasche mit Weihwasser vor sich auf den Tisch
gestellt. Da ich niemand bin, der lange um den heißen Brei
herumredet, fragte ich ihn direkt. »Was sind die
LazarusKnochen?«
Laura sah mich zwar ziemlich neugierig an, sagte aber kein
Wort.
»Die Knochen von Lazarus«, erklärte Eddie. Seine Miene wirkte
todernst, aber ich glaubte doch, ein belustigtes Blitzen in seinen
Augen erkennen zu können. Er mochte vielleicht amüsiert sein, aber
ich war es ganz und gar nicht. Ich hatte schon lange jene Grenze
überschritten, wo ich die Situation noch lustig finden konnte. Ich
wollte das alles so schnell wie möglich hinter mich bringen. Und
zwar ohne dass weitere Leute (menschlicher Natur) zu Schaden
kamen.
»So weit war ich auch schon«, sagte ich. »Was will Goramesh
damit?«
»Das hat er dir bereits gesagt«, meinte Eddie. Er spielte mit dem
Griff seines Stocks, während er sich zu mir beugte. »Die
eigentliche Frage lautet doch, Mädchen: Warum suchst du
danach?«
Ich lehnte mich zurück. Die Frage überraschte mich. »Ganz einfach.
Um sie vor Goramesh zu finden. Ist doch klar. Und dann bringen wir
sie in den Vatikan. Dort werden sie vor ihm in Sicherheit
sein.«
Er nickte. Sein Kopf wackelte so lange auf und ab, bis ich nicht
mehr wusste, ob er noch einmal aufhören würde. Schließlich
schnalzte er mit der Zunge. »Mir scheinen sie da, wo sie liegen,
ziemlich sicher zu sein.«
»Vielleicht für den Moment, aber nicht für immer. Denk doch nur
daran, was Goramesh mit dem Kloster und der mexikanischen
Kathedrale gemacht hat.«
»Ah.« Dieser Laut wurde von einem höchst mediterranen
Schulterzucken begleitet.
»Nichts ah«, entgegnete ich. »Das hier ist meine Stadt. Es ist
meine Kirche, und ich werde nicht zusehen, wie er sie sich
–«
»Das kann er nicht«, unterbrach mich Eddie.
»Was?«
»Wenn er es könnte, hätte er sich die Knochen schon lange
geholt.«
»Goramesh kann die Kathedrale nicht angreifen«, mischte sich nun
Laura ein. Sie klang ziemlich respektvoll und sah Eddie
interessiert an. »Das macht Sinn«, sagte sie an mich gewandt. »Die
Reliquien im Mörtel. Das kann für Dämonen nicht gerade angenehm
sein.«
Sie hatte recht. »Aber das bedeutet nicht, dass Goramesh diese
Lazarus-Knochen nicht finden wird.« Es kam mir seltsam vor, dem
Gesuchten endlich einen Namen zu geben. »Er hat menschliche
Gefolgsleute. Dessen sind wir uns sicher.« Ich erzählte nicht, dass
ich inzwischen befürchtete, mein Mann könnte dazugehören.
»Wenn sie versteckt sind, dann sollen sie auch versteckt bleiben«,
erklärte er starrsinnig. »Du solltest dich nicht in Dinge
einmischen, von denen du keine Ahnung hast.«
Ich entschloss mich, das Ganze von einer anderen Seite aus
anzugehen. »Dann erzähl mir doch wenigstens, warum ein Dämon
höherer Ordnung diese Knochen so dringend in seinen Besitz bringen
möchte.«
»Das habe ich dir schon gesagt«, sagte Eddie. »Hast du dir die
Ohren nicht gewaschen oder was?«
»Ist ja gut. Die Armee, die sich erhebt. Aber was hat das mit
Lazarus zu tun? Außer der Tatsache, dass er sich von den Toten
erhoben hat?«
Eddie fasste sich in den Mund und holte seine dritten Zähne heraus.
Er legte sie auf den Tisch neben die Flasche mit
Weihwasser.
»Diese verdammten Dinger schneiden mir in den Gaumen«, erklärte er
mit einer Stimme, die jetzt ziemlich nuschelnd klang.
»Eddie«, zischte ich. »Jetzt sag schon.«
»Ich sage es dir ja«, entgegnete er. »Reg dich wieder ab,
Mädchen.«
Ich sah ihn finster an. Ich hatte keine Lust, mich wieder
abzuregen.
»Die Toten sich erheben lassen«, sagte er. »Die LazarusKnochen
können Tote wieder zum Leben erwecken.«
Seine Antwort machte Sinn. Ich hätte eigentlich selbst darauf
kommen können. Aber das so klar zu hören … Ich holte tief
Luft.
»Und das ist noch nicht alles«, fuhr Eddie fort. »Die Knochen
beleben auch das Fleisch wieder.«
»Die Armee meines Meisters …«Ich brach ab und dachte an den ersten
Dämon.
»Sie meinen also richtige Tote?«, wollte Laura wissen. »Die seit
vielen Jahren unter der Erde liegen? Von Würmern zerfressen und all
das?«
»Genau das meine ich«, erwiderte Eddie. »Die Knochen bringen diese
Körper wieder zum Leben. Ihre Seelen haben sie schon lange
verlassen, sodass kein Kampf mehr nötig ist. Sobald der Körper
wiederbelebt ist, kann man mit ihm alles machen.«
»Verdammte Scheiße«, sagte Laura, was meine Empfindung genau in
Worte fasste.
»Aber … Aber …« Es fiel mir schwer, etwas zu sagen. Das war keine
gute Nachricht. (Die Untertreibung des Jahrhunderts
– finden Sie nicht?) Wenn Goramesh die Knochen in seine Finger
bekam, würde er in der Lage sein, einen Körper anzunehmen. All
seine Dämonen würden Körper erhalten. Plötzlich wären sie dazu
fähig, auf Erden zu wandeln, ohne darauf warten zu müssen, dass ein
Mensch stirbt. Sie würden nicht mehr gegen die Seelen ankämpfen
müssen. Sie würden ganz problemlos in einen Körper schlüpfen und
darin bleiben.
Keine gute Nachricht. Wirklich überhaupt keine gute
Nachricht.
»Aber …«Ich versuchte es noch einmal. »Wie kannst du dir so sicher
sein? Larson hat keine Lazarus-Knochen erwähnt. Auch Padre Corletti
nicht. Und ich habe garantiert noch nie von ihnen
gehört.«
»Das kannst du auch nicht«, erklärte Eddie. Etwas in seiner Miene
hatte sich verändert. Auf einmal schien sich eine Trauer um ihn
gelegt zu haben, die ihn um zehn Jahre altern ließ. »Ich bin der
einzige noch lebende Zeuge, der von ihnen weiß.«
Laura beugte sich nach vorn. »Wieso?«
Eddie warf einen Blick zu dem Tisch der Mädchen (ich muss zugeben,
dass ich fast vergessen hatte, wieso wir eigentlich hier waren).
»Der Junge ist immer noch nicht aufgetaucht«, sagte er. »Sieht so
aus, als ob ich Zeit hätte, euch die Geschichte zu
erzählen.
Es war in den fünfziger Jahren«, begann er. »Die Forza schickte
mich zu einer Kathedrale in New Mexico, wo ich helfen sollte,
Reliquien zusammenzupacken und in den Vatikan zu schicken, ehe dort
die Regierung mit ihren Atomtests begann. Für den Fall, dass
irgendetwas passierte. Eine der üblichen Aufgaben.« Er nickte mir
zu. »Du weißt schon.«
»Ja, weiß ich.« Jäger bekommen oft solche Aufgaben. Da Dämonen gern
Reliquien an sich bringen, um sie in einer ihrer unheimlichen
Zeremonien zu verwenden, schickt die Kirche jedes Mal einen Jäger
vor Ort, wenn eine Sammlung woanders hinbefördert werden
soll.
»Ich war gerade in einer Kirche in Mexiko beschäftigt gewesen, als
man mir diesen Job zuteilte. Der Rest des Teams kam nach Mexiko, um
dort genaue Anweisungen zu erhalten. Die Gruppe bestand aus mir,
einem Priester, einem Kunsthistoriker und einem Archivar. Von
Mexiko aus fuhren wir in die Vereinigten Staaten und verbrachten
über einen Monat in der Kathedrale. Bereits in der ersten Woche
landeten wir einen Volltreffer. Versteckt unter einem losen Stein
in der Sakristei entdeckten wir eine kleine Holzkiste und ein Blatt
Papyrus. Zachary brauchte ewig, um den Text zu übersetzen, aber
endlich war er so weit.«
»Es waren die Lazarus-Knochen«, sagte ich.
Er nickte. »Die echten Knochen des Lazarus. Ich habe später
Nachforschungen angestellt und herausgefunden, dass Lazarus in
Larnaca begraben worden war, man aber zu einem späteren Zeitpunkt
seine Gebeine nach Konstantinopel gebracht hatte. Danach verliert
sich die Spur. Irgendwie gelangten die Knochen aber in die Neue
Welt.«
Laura blickte ihn gespannt an. »Und was ist dann
passiert?«
»Verrat«, sagte Eddie. Er schloss die Augen, und ich sah, wie sich
sein Brustkasten hob und senkte, während er versuchte, nicht die
Fassung zu verlieren. »Bis heute weiß ich nicht, wer es war oder
warum. Ich weiß nur, dass wir angegriffen wurden. Der Papyrus wurde
zerstört, der Kunsthistoriker und der Archivar kamen ums Leben. Es
war ein blutiger Kampf. Diese verdammten Dämonen –«
»Und du und der Priester? Ihr habt überlebt?«
»Und wir hatten die Kiste.« Er schüttelte den Kopf, als ob er die
Erinnerung auf diese Weise verscheuchen wollte. »Wir waren beide
lebensgefährlich verletzt, aber ich wusste, wohin wir mussten. Weit
weg und an einen sicheren Ort. An einen Ort, den sie nicht betreten
konnten.«
»Nach San Diablo«, sagte ich. »Zur Kirche mit dem
Reliquien-Mörtel.«
Er nickte. »Ich konnte allerdings nicht mitkommen. Father Michael
hat sie allein hierhergebracht.«
»Bruder Michael«, flüsterte ich. »Er hat den Namen San Diablo unter
Folter genannt, doch dann lieber den Tod gewählt, als zu verraten,
wo sich die Knochen befinden.«
»Und wo sind sie?«, wollte Laura wissen und stellte damit die Frage
der Stunde. »Holen wir doch endlich die Knochen, geben sie Larson
und bringen sie aus der Stadt.«
»Ich weiß es nicht«, erklärte Eddie. »Ich habe Michael nie mehr
gesehen oder gesprochen. Er hat es bis hierher geschafft. Aber mehr
weiß ich nicht.«
Ich runzelte die Stirn. Am liebsten hätte ich mit ihm diskutiert
und ihm erklärt, dass er es wissen musste, weil ich selbst doch
keine Ahnung hatte.
»Lass sie ruhen, Kate. Sie sollen nicht noch einmal gestört werden.
Und du hast andere Pflichten.« Mit diesen Worten nickte er in
Richtung des Tisches, an dem unsere Töchter saßen. Ich bemerkte,
dass der geheimnisvolle Stan endlich aufgetaucht war.
Ich lehnte mich zur Seite, um den neuen Angebeteten meiner Tochter
genauer unter die Lupe zu nehmen. Doch als ich ihm ins Gesicht
blickte, stockte mir der Atem. Um mein Herz schloss sich eine
eiserne Faust.
Am Tisch meiner Tochter und ihrer besten Freundin saß mein
Mülltonnen-Dämon. Und ich musste zugeben, dass Todd Stanton Greer
für einen kürzlich Verstorbenen ausgesprochen gesund und knackig
aussah.
SIEBZEHN
Scheiße, Scheiße, SCHEISSE!Ich sprang auf, bereit, den Feind
niederzustrecken. Doch dann kam ich zu Sinnen und setzte mich
sofort wieder. Der Tisch, an dem unsere Kinder und Greer saßen, war
ziemlich weit von uns entfernt. Wenn mich der Dämon kommen sah,
würde er meine Tochter töten. Ich brauchte einen besseren
Plan
– und zwar einen, der sicherstellte, dass Greer mich nicht
wiedererkannte.
Scheiße.
Ich rückte meinen Stuhl so hin, dass ich mit dem Rücken zu dem
Dämon saß. Innerlich bebte ich vor Angst. Wahrscheinlich schwitzte
ich auch ziemlich stark.
»Kate?« Laura sah mich besorgt an. »Alles in Ordnung bei
dir?«
»Das ist er. Das ist der Dämon, der mich bei den Mülltonnen
angegriffen hat«, flüsterte ich heiser.
Laura warf einen entsetzten Blick zu dem Tisch hinüber. Auch ich
wagte es, noch einmal hinzusehen. Stan nahm gerade einen Schluck
Limonade. »Heiliger Strohsack«, sagte Laura.
»Das kannst du laut sagen.«
»Heiliger Flohsack!« Timmy schlug mit seiner kleinen Faust auf den
Tisch. »Wo ist der heilige Flohsack, Mami?«
»Hier in der Nähe, mein Junge«, erwiderte ich und wandte mich dann
wieder an Laura und Eddie. »Ich muss es schaffen, ihn von ihr
wegzulocken. Aber er darf mich nicht sehen. Verdammt, verdammt,
verdammt.«
»Verdammt«, wiederholte Timmy, doch diesmal achtete ich nicht
weiter auf ihn.
»Soll ich gehen?«, fragte Laura. »Vielleicht kann ich behaupten,
dass es gleich eine Sonderverkaufsaktion bei Gap gibt? Oder dass
Tim krank ist und wir nach Hause müssen? Los, sag schon! Was soll
ich tun?«
Ich schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht.« Ich warf einen Blick
auf Eddie, der während der letzten Minuten geschwiegen hatte. War
er etwa wieder in seiner eigenen kleinen Welt versunken? Ich
unterdrückte ein Stöhnen und konzentrierte mich erneut auf Laura.
»Was macht er gerade?«
Sie sah über meine Schulter hinweg zu unseren Töchtern und dem
Dämon. »Er redet mit Allie«, berichtete sie. »Aber Mindy ist auf
dem Weg hierher.«
Das reichte. Ich setzte Timmy auf den Boden und wollte aufstehen.
Ich würde es nicht zulassen, dass mein kleines Mädchen mit diesem
Ungeheuer allein war. Ein sanftes, aber deutliches Zupfen an meinem
Arm ließ mich innehalten.
Eddie.
»Warte«, sagte er und schwieg dann wieder.
»Warten? Worauf soll ich warten?« Wieder machte ich Anstalten
aufzustehen und schaffte es diesmal sogar, als Mindy an unseren
Tisch kam.
»Ich glaube, er mag sie«, verkündete sie zufrieden. »Ist er nicht
süß?«
Ich enthielt mich jeglichen Kommentars.
»Warum bist du nicht dortgeblieben?«, wollte Laura wissen. Mindy
zuckte mit den Achseln.
»Du weißt schon. So ein Gefühl. Kam mir wie das fünfte Rad am Wagen
vor.«
Mein Blut kochte. Vermutlich war ich bereits knallrot angelaufen.
Ein Gefühl? Was für ein Gefühl?
Mindy plauderte fröhlich weiter. »Also – kann ich auf euch in der
Buchhandlung warten?«
Laura sah mich fragend an, und ich nickte. »Klar«, sagte
sie.
»Pass auf Timmy auf«, bat ich sie, sobald sich Mindy außer Hörweite
befand.
Ich drehte mich auf dem Absatz um und wollte Allie gerade zu Hilfe
eilen, als sich mir Eddie in den Weg stellte. »Ich werde sie
holen«, sagte ich, auch wenn ihm das bereits klar sein
musste.
Er rammte mit einer erstaunlichen Heftigkeit seinen Stock in meinen
Fuß. Am nächsten Tag würde ich bestimmt einen hübschen blauen
Flecken haben. »Denk nach, Mädchen. Denk endlich nach.«
»Aua!« Ich unterdrückte das Bedürfnis, ihm einen Tritt zu
verpassen. »Spinnst du? Was soll das?«
»Ich kümmere mich nur darum, dass hier alles richtig läuft.« Er
nickte in Richtung Tisch. »Jetzt setze dich wieder hin. Und sobald
das Mädchen herkommt, bring es sofort weg.«
»Was willst du –«
»Setzen.«
Diesmal gehorchte ich. Um besser beobachten zu können, was Eddie
vorhatte, stellte ich meine Tasche auf den Tisch und begann
angeregt darin herumzuwühlen, während ich meine Tochter nicht aus
den Augen ließ.
Timmy den Laura inzwischen auf einen Stuhl gesetzt hatte, wollte es
mir sofort nachmachen. Aber ich war wirklich nicht in der
Verfassung, auf ihn einzugehen. Laura kümmerte sich um ihn, während
meine Tochter von einem senilen alten Mann beschützt werden
sollte.
Wieder begann ich aufzustehen. Doch diesmal war es Laura, die mich
am Arm festhielt. »Wenn der Dämon mit Allie weggehen will, dann
kannst du dich dazwischenwerfen. Ansonsten soll erst einmal Eddie
seinen Plan durchziehen.«
Sie hatte recht. Ich wusste, dass sie recht hatte. (Sie hatten
beide recht.) Es blieb mir also nichts anderes übrig, als tatenlos
mit ansehen zu müssen, wie das Schicksal meines Kindes in den
Händen eines mir im Grunde unbekannten Mannes lag.
»Was macht er gerade?«, fragte ich und sah vorsichtig hinter meiner
Tasche hervor. Eddie war am Tisch von Allie und Stan vorbeigegangen
und humpelte gerade auf eine Vitrine mit Kuchen und Getränken zu.
Er sprach mit dem Verkäufer, reichte ihm etwas Geld und erhielt
dafür zwei Plastikbecher mit Limonade.
Ich starrte ihn an. Mein Herz raste. Was zum Teufel hatte er
vor?
Er hängte seinen Stock über den Arm und schlurfte auf Allies Tisch
zu. Sie sah ihm lächelnd entgegen. Ich konnte zwar nicht hören, was
sie sagte, aber ihre Gesten verrieten, dass sie Eddie gerade als
ihren Urgroßvater vorstellte.
Wie überaus reizend. Aber jetzt beeil dich endlich und schaff den
Dämon weg!
Offenbar erreichten meine Gedanken Eddie nicht. Er stand ein wenig
länger da, wobei er leicht wankte, und hielt dann die Plastikbecher
hoch, als ob er mit ihnen prahlen wollte.
Dann stellte er einen davon vor den Dämon und den anderen vor
Allie. Er klopfte Allie freundlich auf die Schulter und wandte sich
dem Dämonenjungen zu. Seiner Mimik und Gestik nach zu urteilen,
bemühte er sich darum, so freundlich wie möglich zu
wirken.
Schließlich trat Eddie den Rückzug an. Er verabschiedete sich von
den Kids und bewegte sich wieder auf unseren Tisch zu.
Ich stand von Neuem auf.
Laura fasste mich am Arm und zog mich wieder auf den Stuhl zurück.
»Warte«, sagte sie. »Warte erst einmal ab.«
Ich biss die Zähne zusammen. Am liebsten hätte ich ihr vor
Nervosität eine Ohrfeige verpasst.
Allie und ihr Schwarm blieben sitzen, sodass ich meine Tochter
zumindest im Auge behalten konnte.
Eddie trat zu uns. Ich starrte ihn finster an. »Und? Was sollte das
jetzt?«
Er warf mir einen scharfen Blick zu, und ich glaubte, für einen
Moment die eiserne Härte erkennen zu können, die unter seinem
schwächlichen Äußeren verborgen lag. »Warte«, sagte auch er. »Und
sieh genau hin.«
Das tat ich. Meine Anspannung wuchs stetig, während Allie und der
Dämon miteinander plauderten und an ihren Getränken nippten. Meine
Kleine beugte sich immer wieder zu ihm. Ihre Körpersprache verriet
deutlich, wie gut ihr der Junge gefiel. Ich rutschte unruhig auf
meinem Stuhl hin und her. Wenn nicht bald etwas geschah, würde ich
höchstwahrscheinlich einem Herzanfall erliegen (was zumindest
Allies Aufmerksamkeit auf mich und von dem Dämon weglenken
würde).
Noch immer tat sich nichts.
Und noch immer nicht.
Die beiden redeten miteinander und nippten an der Limonade. Ich
ballte meine Fäuste. Worüber sprachen sie bloß? Sie konnten doch
überhaupt keine gemeinsamen Interessen haben. Stan war ein
widerwärtiger Dämon, der direkt aus der Hölle kam, während meine
Tochter gerade in die Highschool gekommen war und sich für typische
Mädchensachen wie Klamotten interessierte.
»Jetzt reicht es«, verkündete ich, schob meinen Stuhl zurück und
stand auf. Im gleichen Moment sah ich, wie Stan aufblickte und sich
seine Augen auf mich richteten. Seine Pupillen leuchteten auf
einmal rot auf, und er sprang auf. Allie folgte seinem Beispiel,
und ich hörte, wie sie ihn laut fragte: »Alles in
Ordnung?«
Natürlich nicht. Er war schließlich ein Dämon!
Er machte einen Schritt auf meine Tochter zu. Ich wusste, dass er
nicht davor zurückschrecken würde, in aller Öffentlichkeit
anzugreifen. Und das hatte er auch vor, denn er wollte es mir so
richtig zeigen.
Ich rannte los.
»Kate!«, rief Laura. Ich hörte sie jedoch kaum, denn in diesem
Moment ertönte ein gequälter, hoher Schrei. Es war der
Dämon.
Er fiel auf die Knie, hob die Hände und warf den Kopf zurück. Ein
Fauchen entrang sich seinem weit aufgerissenen Mund, und er fluchte
so heftig, wie ich es bisher selten gehört habe.
Allie wich schockiert zurück. Sie hielt die Hand vor den Mund und
betrachtete ihn entsetzt. Er sah sie mit einem schmerzverzerrten
Gesicht an.
»Ein bisschen Weihwasser in der Limonade«, erklärte Eddie neben mir
gelassen. »Wirkt eigentlich immer.«
Ein guter Trick, das musste ich ihm lassen. Aber ich hatte im
Moment keine Zeit, ihn gebührend zu bewundern. Der Dämon war
nämlich wirklich verdammt wütend. Wer wusste da, was er als
Nächstes tun würde? »Allie!«, schrie ich. »Komm hierher!
Sofort!«
»Du verdammtes Miststück!«, heulte Stan auf, wobei seine Worte wohl
mehr mir galten als meiner Tochter. »Was hast du gemacht? Was.
Hast. Du. Mit. Mir. Gemacht?«
Allie wartete nicht ab, bis er seine Frage zu Ende formuliert
hatte. Als er das letzte Wort herauspresste, befand sie sich
bereits in meinen Armen.
Während sie ihren Kopf gegen meine Brust drückte, sah ich
fasziniert zu (und natürlich auch mit dem Gefühl der Erleichterung
und des Erfolgs), wie Stan mühsam aufstand. Für einen Moment
befürchtete ich, dass er auf uns zukommen würde, doch er wandte
sich in Richtung Ausgang. Ich dachte kurz daran, ihm zu folgen,
doch ich wusste, dass das unnötig sein würde. Todd Stanton Greer
würde innerhalb weniger Stunden (erneut) tot sein. Der Dämon würde
verschwinden und der Junge endlich seine letzte Ruhe
finden.
Allie zitterte in meinen Armen. »Was für ein durchgeknallter Freak!
Auf welchem Trip war der denn?«
»Ich weiß nicht, Schatz«, erwiderte ich und streichelte ihr über
das Haar. »Aber jetzt ist alles vorbei.«
Sie seufzte enttäuscht. »Und dabei wirkte er so nett.« »Manchmal
ist es schwer, einen Menschen richtig einzuschätzen«, erklärte ich
und nahm sie an der Hand, um das Einkaufszentrum zu verlassen. Es
war zwar keine besonders gute oder originelle Antwort, aber
augenblicklich die einzige, die mir einfiel.
In meiner Welt war viel zu viel auf einmal ins Wanken geraten. Mein Leben schien auf einmal aus vielen losen Einzelteilen zu bestehen, und ich wusste nicht, wie ich sie wieder zusammensetzen sollte. Also warf ich mich unruhig in unserem leeren Bett hin und her. Stuart arbeitete mal wieder bis spät in die Nacht in seinem Zimmer, und mein Verfolgungswahn erreichte geradezu epidemische Ausmaße.
Ich rollte mich zusammen, umschlang mein Kopfkissen und versuchte nicht darüber nachzudenken, was ich tun würde, wenn der Mann, mit dem ich den Rest meines Lebens verbringen wollte, sich mit Dämonen zusammengetan hatte. Eigentlich konnte ich nicht glauben, dass ich mich so sehr in dem Charakter des Mannes, den ich liebte, getäuscht hatte. Aber alles schien darauf hinzuweisen, dass Stuart etwas Ungutes im Schilde führte.
Mir lief ein kalter Schauder über den Rücken. Ich wollte endlich schlafen. Um nicht länger an meinen Mann denken zu müssen, konzentrierte ich mich auf anderes. Zum Beispiel versuchte ich durch logische Kombination herauszufinden, wo Bruder Michael die Lazarus-Knochen versteckt haben konnte. Ich hatte nicht die leiseste Ahnung, aber so dachte ich zumindest über Knochen, Körper, die auferstehen, und Dämonen nach, die in San Diablo die Vorherrschaft übernahmen, bis die Welt mit einem lauten Knall unterging.
Nicht gerade vergnüglich oder entspannend.Aber das würde auch gar nicht passieren, wenn
es mir gelang, Goramesh aufzuhalten.
Leider wusste ich noch immer nicht, wie ich das bewerkstelligen
konnte.
Irgendwann musste ich dann wohl doch eingeschlafen sein, denn ich
wachte auf, als sich die Matratze bewegte. Stuart hatte sich auf
seiner Seite hingelegt. Ich rollte mich zur Seite und stützte mit
dem Ellenbogen meinen Kopf ab, um ihn besser betrachten zu
können.
»Hi«, sagte ich.
»Selber hi.«
»Woran hast du gearbeitet?«
»An diesem Immobiliengeschäft«, sagte er. »Das Übliche.«
»Aha.« Ich setzte mich auf, schob mir das Kissen in den Rücken und
lehnte mich dann zurück. »Willst du mir davon erzählen?«
»Es ist ziemlich langweilig, Kate. Und außerdem ist es schon
spät.«
»Verstehe.« Ich presste die Lippen zusammen und überlegte, wie ich
das Ganze am besten angehen sollte. Eigentlich war es sonst eher
meine Art, direkt anzugreifen. Außerdem hatte ich nicht viel zu
verlieren. »Bist du irgendwie beunruhigt?«, wollte ich wissen.
»Gibt es etwas, was du mir noch nicht erzählt hast?«
»Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst«, erwiderte er. Er klang
überrascht. Wahrscheinlich wäre ich auch darauf hereingefallen,
wenn er nicht, statt mich anzusehen, seine Bettdecke zurechtgezupft
hätte.
»Normalerweise sprichst du mit mir über deine Arbeit. Mann, Stuart,
normalerweise langweilst du mich sogar endlos mit deiner
Arbeit.«
Ich erzählte ihm nicht, dass ich normalerweise auch sofort
abschaltete, wenn er davon erzählte. Das wäre doch etwas zu viel
Ehrlichkeit auf einmal gewesen. »Aber in den letzten Tagen hast du
überhaupt nichts mehr davon gesagt. Irgendwie mache ich mir Sorgen,
dass etwas nicht stimmen könnte.«
»Es ist alles in Ordnung«, entgegnete er. »Ich bin nur müde. Können
wir jetzt schlafen?«
»Natürlich. Klar. Aber du kannst jederzeit mit mir sprechen, das
weißt du.«
»Ich weiß, Kate.« Leicht genervt schaltete er das Licht auf seiner
Seite aus. Ich zog mir die Decke bis zur Nase. Angespannt wartete
ich darauf, ob er mich berühren würde, und hoffte, dass ich dann
nicht zurückschrecken würde. Doch er blieb regungslos liegen. Nach
einer Weile des Schweigens rollte ich mich wieder auf seine Seite
und sah ihn an.
»Was ist eigentlich mit Clark?«, wollte ich wissen.
Stuart antwortete nicht gleich. »Was soll mit ihm sein?«
»Wir haben auch über ihn nicht viel gesprochen. Was treibt er so?
Was hat er vor, wenn du seine Stellung bekommst?«
Jetzt musste er lachen. »Wenigstens hast du ›wenn‹ und nicht
›falls‹ gesagt.«
»Na ja. Du wirst ja auch gewinnen, oder nicht?«
»Denke schon«, erwiderte er mit einer Stimme, die mir einen kalten
Schauder über den Rücken jagte.
»Und was macht dann Clark?«, bohrte ich nach.
»Er wird sich zurückziehen. Sein Onkel ist gestorben und hat ihm
tonnenweise Geld hinterlassen. Er hat sich bereits ein Haus in
Aspen gekauft. Clark muss garantiert sein Leben lang nicht mehr
arbeiten.«
»Wow«, sagte ich und runzelte die Stirn. Falls tatsächlich ein
reicher Onkel existierte, gab das Clark wesentlich weniger Grund,
sich an der Kirche rächen zu wollen, weil diese die Besitztümer
seines Vaters bekommen hatte. Da ich augenblicklich keine anderen
Verdächtigen hatte, blieb nur noch mein Mann übrig. Keine sehr
wissenschaftliche Vorgehensweise, muss ich zugeben. Mein Verstand
sagte mir, dass es Dutzende von dämonischen Gefolgsleuten in San
Diablo geben konnte, die alle mehr als willig waren, die
Lazarus-Knochen an sich zu bringen. Aber mein Herz klagte Stuart
an. Und deshalb brach es mir fast entzwei.
»Willst du mir erzählen, was du wirklich von mir willst?«, fragte
Stuart.
Die Frage überraschte mich so sehr, dass ich ihn verblüfft
anstarrte. Er hatte die Augen offen, und sie leuchteten hell in der
Dunkelheit. Ich kannte sein Lächeln so gut. Das war der Mann, den
ich zu kennen glaubte und den ich liebte. Täuschte ich mich in ihm?
Bitte, bitte – lass mich unrecht haben.
Er strich mir über die Wange. »Komm schon, Kate. Spuck es
aus.«
»Okay«, sagte ich. »Zeit für die Wahrheit.« Ich atmete einmal tief
durch. »Ich verbringe mehr Zeit als angenommen in der Kirche, um
meine ehrenamtliche Arbeit dort machen zu können.« Ich hielt inne,
falls die Erwähnung der Kirche bei ihm das Bedürfnis einer Beichte
auslösen sollte.
Schweigen.
Ich räusperte mich. »Jedenfalls brauche ich wesentlich mehr Zeit
als gedacht, und deshalb habe ich … Äh … Timmy ist jetzt im
Kindergarten.« Ich bemerkte, wie sehr ich stotterte und dass ich
mich vor lauter Nervosität zu einem kleinen Ball zusammengerollt
hatte. Was dieses Geständnis betraf, so erwartete ich wirklich den
Zorn meines Mannes. (Und ehrlich gesagt, verdiente ich ihn auch.
Wenn Stuart eine solche Entscheidung allein getroffen hätte, ohne
mich vorher zu fragen, hätte er bestimmt sein blaues Wunder
erlebt.)
»Im Kindergarten also«, sagte er. »Und in welchen geht
er?«
Ich blinzelte. Sein ruhiger Ton überraschte mich.»KidSpace«,
erwiderte ich. »Das ist der beim Einkaufszentrum.«
»Ist der in Ordnung?«
»Ja, ist er. Und die Kindergärtnerin ist wirklich nett«, beteuerte
ich.
»Und das hilft dir?«
»Ja. Es ist ja sowieso nur vorübergehend.« Ich stützte mich auf
meinen Ellenbogen und betrachtete eingehend sein Gesicht. »Stuart,
es tut mir wirklich leid. Ich weiß, dass ich es vorher mit dir
hätte besprechen sollen, aber es ist schwer, überhaupt einen Platz
in einer Kindertagesstätte zu ergattern. Dort hatten sie gerade
zufällig einen frei. Da musste ich einfach zuschlagen. Ich brauche
die Extrazeit –«
Er legte einen Finger auf meine Lippen. »Mach dir keine Sorgen,
mein Schatz.«
Ich brauchte mindestens zwei Sekunden, um seine Antwort zu
verdauen, und selbst dann glaubte ich kaum, meinen Ohren trauen zu
können. »Was?«
»Du sollst dir keine Sorgen machen. Du bist eine tolle Mutter, und
ich vertraue dir da völlig.«
»Oh.« Wieder runzelte ich die Stirn. Sein Lob freute mich
eigentlich gar nicht. »Dann ist es also okay?«
»Klar, kein Problem. Aber jetzt ist es schon nach eins. Ich muss
wirklich schlafen.« Er beugte sich zu mir herüber, küsste mich auf
die Wange und rollte sich dann auf seine Seite des Bettes. Ich
starrte auf sein weißes T-Shirt, das im Mondlicht
leuchtete.
Das war übel. Das war wirklich übel.
Bisher war es noch nie passiert, dass der Stuart, den ich kannte,
ruhig geblieben war, wenn ich ihn in Bezug auf Timmy einfach in
einer Entscheidung übergangen hatte. Der Mann, der das Bett mit mir
teilte, konnte nicht mehr der Stuart sein, den ich geheiratet
hatte.
Tränen brannten in meinen Augen, und ich drückte meinen Kopf in
mein Kissen. Nur ein Gedanke kreiste durch meine Gedanken: Mein
Mann, den ich liebte, musste wirklich für einen Dämon arbeiten.
Ich hatte schlecht geschlafen. Meine Träume wurden von dämonischen Bildern meines Mannes bevölkert, und immer wieder musste ich an die Lazarus-Knochen denken. Wahrscheinlich hatte mein Unterbewusstsein versucht, eine Lösung zu finden, doch es wäre hilfreicher gewesen, wenn sich mein Gehirn stattdessen zurückgelehnt und entspannt hätte. Ich war erschöpft, schlecht gelaunt und nicht in der Stimmung, mir von irgendjemand – ganz egal ob Mensch oder Dämon – etwas sagen zu lassen.
Laura, zuverlässig wie immer, hatte sich erneut einverstanden erklärt, auf meine zwei Mündel aufzupassen, sodass ich zu Larson ins Büro fahren konnte, um ihn noch vor neun Uhr, ehe er ins Gericht ging, zu sprechen. Timmy steckte bis zu den Ellenbogen in Haferbrei, als sie eintraf. Allie war bereits aus dem Haus gerannt, um von einer weiteren Mutter im Auto mitgenommen zu werden, und Eddie schlief noch. (Die Aufregungen des gestrigen Tages hatten ihn meiner Meinung nach doch erschöpft. Allerdings musste ich zugeben, dass sich dieser Zustand durchaus gelohnt hatte, wenn ich daran dachte, wie stolz er auf sein wirklich brillantes Manöver gewesen war.)
Ich ließ Laura mit dem Versprechen allein, um zehn Uhr zurückzukehren, damit ich sie von meiner Brut befreien konnte. Dann wollte ich Timmy in den Kindergarten bringen und Eddie mit mir in die Kathedrale nehmen. Mit etwas Glück würde er dort vielleicht sogar etwas entdecken, was ich bisher übersehen hatte.
Ich hatte Larson angerufen, um ihm mitzuteilen, dass es Neuigkeiten gab. Als ich bei ihm eintraf, wartete er bereits mit einer frisch aufgebrühten Kanne Kaffee auf mich.
»Die Lazarus-Knochen«, sagte ich, lehnte mich im Ledersessel zurück und nahm einen Schluck Kaffee. Ich hatte endlich eine Antwort auf unsere große Frage gefunden und fühlte mich dementsprechend stolz.
»Die Lazarus-Knochen«, wiederholte er ungerührt. »Sie meinen wohl die Knochen des Lazarus, der von Jesus von den Toten auferweckt wurde? Die Knochen, denen man nachsagt, dass sie Tote wieder zum Leben erwecken können?«
Ich starrte ihn verblüfft an. »Sie wissen davon?«»Das ist doch alles Humbug. Ein Ammenmärchen.
Reine Erfindung und sonst gar nichts.«
»Das glaube ich nicht«, entgegnete ich. »Eddie hat die Knochen
gesehen. Er wurde deswegen verraten.«
Der Zweifel, der zuvor Larsons Miene ausgezeichnet hatte, wich nun
neugierigem Interesse. »Wirklich? Also gut, dann schießen Sie mal
los.«
Das tat ich. Ich berichtete ihm alles, was Eddie mir erzählt
hatte.
»Interessant.« Larson saß an seinem Schreibtisch und spielte mit
seinen Fingern, während er nachdenklich die Lippen
schürzte.
»Eddie ist also nicht so verkalkt wie angenommen«, sagte ich.
»Vielleicht mag er exzentrisch sein, aber garantiert nicht
verkalkt.«
»Aber wir wissen immer noch nicht, wo sich die LazarusKnochen
befinden. Das konnte er Ihnen nicht verraten, oder?«, hakte Larson
nach.
Ich rutschte im Sessel hin und her. »Wir wissen, dass sie irgendwo
in der Kathedrale sein müssen.«
»Aber wir wissen nicht, wo.« Er schlug mit der Faust auf den Tisch
und sprang auf. »Verdammt, Kate! Wir müssen sie finden. Wir müssen
sie finden, ehe er es tut.«
Ich fuhr mir mit der Zunge über die Lippen. Eigentlich wollte ich
etwas sagen, aber ich war mir nicht sicher, wie Larson darauf
reagieren würde.
Er musterte mich bereits weniger erregt. »Was ist los?«
»Ich habe gerade an etwas gedacht, was Eddie sagte. Die Knochen
befinden sich momentan in Sicherheit. Ich meine, das müssen sie
doch, weil sie bisher keiner gefunden hat. Vielleicht sollten wir
sie einfach nur dort liegen lassen.«
»In Sicherheit?«, wiederholte er. »Glauben Sie das wirklich?« Er
begann unruhig durch sein Büro zu wandern. Ich beobachtete ihn. Er
schien mir allmählich die Nerven zu verlieren. »Wie können Sie das
behaupten, wenn Goramesh so scharf darauf ist, sie zu finden?
Denken Sie wirklich, dass der Dämon einfach so aufgibt, nur weil
sich die Suche als schwierig gestaltet? Kate, benutzen Sie Ihr
Gehirn!«
»Das tue ich doch!« Ich hatte meine Stimme erhoben, aber mein Zorn
richtete sich vor allem gegen mich selbst. Er hatte recht, verdammt
noch mal! »Aber ich weiß einfach nicht, wo sich die Knochen
befinden. Was soll ich tun? Ich weiß nur, dass Bruder Michael sie
nach San Diablo brachte und sich dann sein restliches Leben in
einem Kloster in Italien verbarg. Auf einmal entdeckten ihn die
Dämonen, und anstatt das Geheimnis zu verraten, sprang er lieber
aus dem Fenster. Das Geheimnis ist zusammen mit ihm begraben
worden, Larson. Daran lässt sich nichts ändern.« Ich war auch
aufgesprungen. Bei meinem letzten Satz hielt ich inne und spulte
ihn im Kopf noch einmal ab: Daran lässt sich nichts
ändern.
Oder vielleicht doch?
»Mike Florence«, flüsterte ich.
Larson schüttelte den Kopf. Seine Miene spiegelte seine Besorgnis
wider, dass ich allmählich vielleicht wirklich nicht mehr alle
Tassen im Schrank haben könnte.
»Mike – Michael – Florence«, sagte ich langsam.»Florenz, in
Italien.« Ich strich mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Wie
hatte ich nur so blind sein können? »Natürlich. Er hat der Kirche
etwas gespendet. Die Knochen befinden sich im Archiv, ohne dass sie
jemals katalogisiert wurden. In einer kleinen goldenen
Dose.«
»In einer goldenen Dose?«
»Genau«, erwiderte ich. »Etwa so groß.« Ich zeigte es ihm mit
meinen Händen. Die Dose an sich war nichts wert, sodass derjenige,
der die wertvollsten Reliquien archiviert hatte, nicht begriffen
haben konnte, wie wichtig ihr Inhalt in Wahrheit war. Ich runzelte
die Stirn. Auf einmal ließ meine Euphorie etwas nach. »Nein, das
kann nicht stimmen, wenn ich es mir recht überlege«, sagte ich. »Da
würden gar keine Knochen hineinpassen. Dafür ist die Dose viel zu
klein.«
»In ihrer ursprünglichen Größe vielleicht nicht«, gab Larson zu
bedenken. »Aber Knochen sind sehr brüchig.«
Ich hob den Kopf. »Sie meinen, dass sie möglicherweise zerfallen
sind?«
»Der Knochenstaub würde doch die gleichen Eigenschaften besitzen
wie die Knochen. Glauben Sie nicht?«
»Sie sind der Experte«, antwortete ich.
»Gehen Sie! Holen Sie die Dose. Bringen Sie das gute Stück mir, und
ich werde es dann sofort in den Vatikan schicken lassen.« Das
musste er mir nicht zweimal sagen. Ich befand mich bereits in der
Nähe der Tür, die Tasche über meine Schulter geworfen. »Kommen Sie
doch mit«, forderte ich ihn auf. »Wir bringen sie dann gemeinsam
zum Flughafen. Ich werde mich darum kümmern, dass Sie sicher an
Bord eines Flugzeugs nach Rom gelangen.«
»Ich kann nicht. Ich habe gleich einen wichtigen Gerichtstermin.«
Er rieb sich die Schläfen und warf einen Blick auf seine
Armbanduhr. »In frühestens einer Stunde kann ich mir irgendeine
Entschuldigung einfallen lassen und die Sitzung vertagen. Dann
können wir uns treffen.«
Am liebsten hätte ich ihm widersprochen. Ich wollte ihn darauf
hinweisen, dass sein Pflichtbewusstsein seinem Beruf gegenüber
nicht größer sein sollte als das meine im Hinblick auf meine
Familie. Doch mir blieb keine Zeit. Es wäre außerdem wohl auch kaum
ein Streit gewesen, den ich gewonnen hätte. »Kommen Sie zu mir nach
Hause«, sagte ich. »Ich muss Laura erlösen, und vielleicht kann
Eddie bestätigen, dass es sich um die richtigen Knochen handelt. Es
würde mir nicht gefallen, wenn wir aus Versehen dem Vatikan die
Asche des lieben Onkel Edgar bringen würden.«
»Sie haben recht.« Er zögerte einen Moment. Dann nickte er. »Also
bei Ihnen in einer Stunde. Los, jetzt gehen Sie endlich.«
Genau eine Stunde später drängten sich Larson, Eddie und ich um unseren Esstisch. Anstatt Timmy in den Kindergarten zu bringen, hatte ich Laura gebeten, bei sich zu Hause auf ihn aufzupassen. Ich wusste nicht, wie viel Zeit das Ganze in Anspruch nehmen würde und was wir alles machen mussten. Falls ich Larson tatsächlich zum Flughafen von Los Angeles bringen musste, würde ich Timmy nicht rechtzeitig aus der Kindertagesstätte abholen können.
Die Dose stand neben dem Salz- und dem Pfefferstreuer, und weder Eddie noch Larson machten den Anschein, als ob sie dieDose berühren wollten.
»Woher wissen wir eigentlich, ob es sich um das richtige
Pul
ver handelt?«, fragte ich. »Ich meine, wie können wir uns
sicher
sein?«
Larson und ich blickten Eddie an. »Irgendeine Idee?«,
wollte
der Richter wissen.
»Na ja. Also«, begann Eddie umständlich. »Ich habe sehr viele
Ideen.«
»Zu der Dose, Eddie«, sagte ich und gab ihm einen sanften
Stoß. Ich bezweifelte, dass Larson in der Laune war, sich
Eddies
endloses Gerede anzuhören. Ich jedenfalls war es ganz und
gar
nicht.
»Charlie hat Michael und mir nur einen Teil des Textes vorgelesen«,
erklärte Eddie. »War auch das Beste. War ein ziemlich
langes Dokument, wisst ihr?« Er blinzelte. Seine Augen
wirkten
hinter der Brille, die er sich auf die Nase geschoben hatte,
wie
die einer Eule. »In welchem Jahr war das noch mal? Nicht
in
den Sechzigern … Gab damals keine Hippies. Vielleicht in
den
Fünfzigern?«
»Eddie.«
Er winkte ab. »‘tschuldigung. Okay. Du hast ja recht.
Also,
dann.« Wieder blinzelte er und sah Larson verstohlen an.
»Worüber haben wir gerade gesprochen?«
Larson presste seine Hände auf die Tischplatte und rückte
ganz nahe an Eddie heran. »Wie prüfen wir, ob das hier
die
Lazarus-Knochen sind?«
»Ah ja, stimmt. Jetzt erinnere ich mich wieder. Klar. Mit
Weihwasser.«
Ich sah Larson an, der genauso verwirrt wie ich wirkte.
»Mit
Weihwasser? Wie soll das gehen?«
»Einfach ein bisschen daraufspritzen, und dann sollte man
die Flamme Gottes sehen. Ich kann mich nicht mehr an die
genaue Übersetzung erinnern, aber der Text sagte etwas
über
Anmaßung und dass die Flamme eine Warnung sei, wie man
die Knochen nicht verwenden durfte. Irgendein Hinweis.« »Ein
Hinweis?«, fragte ich.
»Matthäus 25,41«, erwiderte Eddie.
Ich schüttelte den Kopf. Ich hatte noch nie viele Stellen
aus
der Bibel auswendig gekonnt.
»Dann wird er auch sagen zu denen zur Linken: ›Weichet
von
mir, ihr Verfluchten, in das ewige Feuer, das bereitet ist
dem
Teufel und seinen Engeln.‹«
Ich nickte, ohne antworten zu können. Endlich begriff
ich,
was die Knochen darstellten. Ich wollte sie prüfen und dann
so
schnell wie möglich aus meinem Haus haben. Sie mussten
San
Diablo verlassen. Eddies kleine Flasche mit Weihwasser
stand
neben dem Salz. Ich reichte sie Larson. »Hier«, sagte ich.
»Die
Ehre gebührt Ihnen.«
Er schob meine Hand beiseite und nickte in Eddies
Richtung.
»Nach so vielen Jahren finde ich, dass Mr. Lohmann diese
Ehre
verdient hat.«
»Das finde ich aber auch.« Eddie holte tief Luft, sodass
sich
seine knochigen Schultern hoben. Dann zog er die Dose zu
sich
heran. Es gelang ihm problemlos, den Deckel zu öffnen. Gespannt
beobachtete ich, wie er den Sprühknopf auf den Staub
richtete. »Wie wäre es mit einem kleinen Trommelwirbel?« »Ich mag
vielleicht nicht Ihr alimentatore sein«, meinte Larson gereizt.
»Aber ich muss Ihnen trotzdem ein für alle Mal sagen: Hören Sie
endlich mit diesem Mist auf und kommen Sie
zur Sache!«
Eddie warf mir ein verstohlenes Grinsen zu. Seine dritten
Zähne schimmerten weiß. »Schon mal bemerkt, wie
ungeduldig
manche Mentoren sein können?«
»Der Test, Eddie«, mahnte ich.
»Ja, schon recht, schon recht.« Er schüttete ein wenig
von
dem Knochenstaub auf eine Serviette und sprühte dann
Wasser
darüber. Ein feiner Dunst hing in der Luft und legte sich auf
das
Knochenmehl.
Ich sprang automatisch auf, da ich erwartete, Flammen aufsteigen zu
sehen. Doch nichts geschah. Wir blickten nur auf ein
Häufchen feuchten Pulvers, das auf einer feuchten Serviette lag.
Neben mir gab Larson ein leises Geräusch der Enttäuschung
von sich. »Sind Sie sich sicher, dass wir es hier mit
Weihwasser
zu tun haben? Sie haben mir doch erzählt, dass die Pfleger
im
Altenheim seine Flasche immer mit normalem Leitungswasser
aufgefüllt haben.«
»Ich bin mir sicher«, entgegnete ich, wobei ich es lieber gehabt
hätte, wenn dem nicht so gewesen wäre. »Father Ben
erneuert das Weihwasser jeden Morgen, und ich habe Eddies
Flasche selbst für ihn gefüllt.«
»Na ja«, sagte Eddie. »Das wäre es dann. Ich nehme an,
dass
wir weitersuchen müssen.«
»Ja«, erwiderte Larson angespannt. »Das scheint mir allerdings auch
so.«
»Ich dachte wirklich, wir hätten sie endlich gefunden«, sagte ich. »Ich dachte, wir hätten das Rätsel endlich gelöst und das Ganze zu einem Abschluss gebracht.«
»So wie ich das sehe«, meinte Eddie, »werden
wir es nie zu einem Abschluss bringen.«
»Du vielleicht nicht. Aber ich werde damit wieder aufhören, sobald
die Lazarus-Knochen sicher im Vatikan liegen.«
»Ehrlich? Meinst du?« Er kaute nachdenklich auf einem
Kugelschreiber herum.
Ich dachte, er würde noch etwas hinzufügen, doch er schwieg. »Ich
muss einfach an meine Familie denken, Eddie. An Allie, Timmy und an
Stuart«, erklärte ich. Als ich den Namen Stuart aussprach, sah ich
bewusst woanders hin. Ich wollte Eddie nichts von meinem Verdacht
erzählen, solange ich mir nicht hundertprozentig sicher
war.
»Wir müssen alle tun, was wir tun müssen. Aber diese Stadt hat mehr
Probleme als nur Goramesh, das weißt du. Vielleicht hat er die
Dämonen ja hierhergelotst. Vielleicht aber auch nicht. Jedenfalls
wird keine dieser bösartigen Kreaturen verschwinden, bloß weil die
Knochen nicht mehr hier sind.«
»Es gibt noch andere Jäger«, entgegnete ich, auch wenn ich wusste,
dass das nicht stimmte. Padre Corletti hatte mir die
Personalsituation der Forza schließlich bereits erklärt. »Ich habe
mich zurückgezogen. Genau wie du, Eddie. Du willst doch auch nicht
wieder mit diesem ganzen Mist anfangen, oder?«
Er schnaubte belustigt. »Ich habe nie damit aufgehört,
Mädchen.«
»Was?« Ich blinzelte ihn verblüfft an. »Ich dachte, du wärst schon
lange in Rente.«
Sein Lachen klang harsch und nicht im Geringsten wie das eines
schwachen alten Mannes. Die Medikamente, die man ihm verabreicht
hatte und die ihn so gelähmt hatten, schienen allmählich weitgehend
abgebaut zu sein.
»Während der letzten fünfzig Jahre oder so habe ich mich an vielen
Orten aufgehalten, an denen ich eigentlich nicht sein wollte. Hast
du schon einmal fünfzehn Jahre ohne richtige Dusche verbracht?
Nicht gerade spaßig, Mädchen, aber so war das eben. Ich habe es für
die Forza gemacht. Und was das Essen betrifft … Ich musste oft die
schlimmsten Dinge zu mir nehmen, die man sich so vorstellen kann,
nur um zu überleben. Eigentlich gar keine echte Nahrung mehr,
sondern nur noch Abfall, Abfall mit –«
»Einen Augenblick.« Ich hielt eine Hand hoch, ehe Eddie wieder so
richtig in Fahrt geraten konnte. »Warte mal. Worum geht es hier
eigentlich?«
»Ich habe dir doch schon gesagt, worum es geht«, erwiderte er
leicht gereizt, während er weiterhin auf dem Kugelschreiber
herumbiss. »Ich wurde verfolgt. Ich habe mich nicht zurückgezogen.
Ich bin untergetaucht. Hatte keine andere Wahl. Ich habe gegen
Dämonen in Sri Lanka gekämpft und ein Nest von Vampiren in Nepal
ausgeräuchert. Einige Zeit verbrachte ich in einem Kloster in
Südamerika und versteckte mich dann für ein paar Jahre auf
Borneo.«
»Du hast dich versteckt? Seit den fünfziger Jahren?«
»Sie waren mir auf den Fersen. Ständig auf den Fersen.«
»Wer? Und warum?«
»Natürlich die Dämonen – wer sonst?«, erwiderte er. »Sie haben die
Lazarus-Knochen gesucht. Und das hieß, dass sie erst einmal mich
finden mussten.«
»Du hast dich also die ganze Zeit über in Verstecken aufgehalten?
Weshalb bist du dann nach San Diablo gekommen? Du wusstest doch,
dass die Knochen hier sind. Dachtest du nicht daran, dass die
Dämonen darauf kommen könnten, hier zu suchen?«
Eddie begann so heftig zu lachen, dass er sich verschluckte. Zuerst
wurde er knallrot und schließlich beinahe blau, was nicht gerade
sehr attraktiv aussah. Ich sprang auf und schlug ihm hastig auf den
Rücken, bis er eine Hand hochhielt und ich aufhörte. Er versuchte
zu sprechen, brachte aber zuerst kein Wort heraus. Also reichte ich
ihm ein Glas Wasser. Er nahm einen Schluck und probierte es erneut.
»Ich bin nicht freiwillig hierhergekommen, Mädchen. Man hat mich
hierhergebracht.«
»Was?«
»Vor etwa drei Monaten.«
»Zu dem Zeitpunkt, als Bruder Michael den Freitod wählte«, sagte
ich.
»Genau da.«
»Und? Wo warst du zuvor?«
»Sechs Monate davor war ich in Algier und arbeitete als Barkeeper,
während ich mich gleichzeitig um einige übernatürliche, bösartige
Kunden kümmerte. Ich habe dort auch Jäger ausgebildet. Natürlich
nicht offiziell. Das ist eigentlich sowieso die beste Art und
Weise, wenn du mich fragst. Die Forza ist viel zu langsam geworden,
obwohl die Gefahr ständig zunimmt. Man muss sich ihr stellen und
kämpfen. Man muss sich ihr stellen und –«
»Eddie!«
Sein ganzer Körper schien in sich zusammenzusinken. »Sie haben mich
dort gefunden. Die Dämonen, meine ich. Sie haben mich in irgendeine
Hütte in Inglewood geschleppt und mich dort mit Drogen vollgepumpt.
Haben mir Fragen gestellt und versucht, Antworten aus mir
herauszubekommen. Aber ich habe ihnen nichts gesagt, kein einziges
Wort.«
Mir war nach Heulen zumute, aber meine Augen blieben
überraschenderweise trocken. Eine neue Welle des Zorns rollte durch
meinen Körper. Ich wollte diesem alten Mann zeigen, dass es sich
lohnte, den Großteil des Lebens dafür herzugeben, ein wichtiges
Geheimnis zu bewahren. Mehr denn je wollte ich jedoch Goramesh
vernichten.
»Die Dämonen haben dich also hierhergebracht?«, fragte ich
ungläubig.
»Sie haben mir etwas weniger Drogen verabreicht, als ich hier
eintraf. Vielleicht dachten sie, dass ich mich wirklich an nichts
erinnern kann, weil ich inzwischen so verwirrt war. Keine Ahnung.
Und ich wusste auch nicht, was sie dazu brachte, mich nach San
Diablo zu bringen.« Er sah mich an. »Jedenfalls nicht, bis du mir
deine Geschichte erzählt hattest.«
»Sobald sie von Bruder Michael erfuhren, dass die Knochen hier
liegen, musstest auch du hierher gebracht werden.«
»Das nehme ich an, ja. Hat ihnen aber nicht viel genutzt«, erklärte
er mit einem zufriedenen Grinsen. »Ich habe nichts verraten. Kein
einziges Wort. Eines kann ich dir sagen: Die Droge oder die Medizin
muss erst noch erfunden werden, die den guten alten Eddie zum
Sprechen bringt, wenn er es nicht will.«
Ich sah ihn fragend an. »Du hast mit mir gesprochen«, sagte ich,
wobei ich fast flüsterte. »Warum? Warum hast du mir
vertraut?«
»Ist es falsch, dir zu vertrauen?«
»Nein.« Ich schüttelte den Kopf. »Nein, ganz und gar
nicht.«
Er grinste mich verschmitzt an. »Dann ist es doch egal, welche
Gründe ich hatte – oder nicht?«
ACHTZEHN
Mein Unterhaltungsspektrum reichte innerhalb von achtundfünfzig Stunden von der Prüfung eines feinen weißen Pulvers durch Weihwasser, um herauszufinden, ob es ApokalypsePotenzial besaß, bis zum Verkauf von Kuchen auf der Wiese vor der Kathedrale St. Mary.
Es ist die Abwechslung, die mein Leben so
aufregend macht. Ich wusste noch immer nicht, wo sich die
Lazarus-Knochen befanden oder wer sie aus der Kathedrale holen und
in Gorameshs Dämonenhände legen wollte. Zu behaupten, dass ich
frustriert war, wäre die Untertreibung des Jahres gewesen. Falls
mein Lächeln also ein wenig angespannter als sonst ausfiel, konnte
man das durchaus den Dämonen und ihren Machenschaften
zuschreiben.
»Mami!« Allie trat zu mir. Timmy saß gemütlich auf ihrer Hüfte.
»Muss ich ihn wirklich die ganze Zeit mitnehmen? Ich lerne
garantiert niemand Coolen kennen, wenn ich ständig meinen kleinen
Bruder mit mir rumschleppe.«
»Das hier ist ein Kirchenbasar, Liebling, und keine Party. Hier
wirst du so oder so keine coolen Jungs kennenlernen.«
Sie schnitt eine Grimasse. »Ich habe es dir doch bereits x-mal
gesagt«, maulte sie. »Ich denke nicht ständig nur an
Jungs.«
»Nur montags, mittwochs und freitags – oder sehe ich das
falsch?«
»Genau«, entgegnete sie und kicherte. »Und an jedem zweiten
Dienstag.«
»Heute ist Freitag«, gab ich zu bedenken. »Wer steht also auf
deiner Liste für heute ganz oben?«
»Keiner«, erwiderte sie mit einem tiefen Seufzer. »Die coolen Typen
sind irgendwie auch immer die seltsamsten, glaube ich.«
Ich wusste, dass sie an Stan dachte, und es tat mir in der Seele
weh. Am Morgen hatte ich in der Zeitung eine kleine Notiz entdeckt.
Todd Greer – der wie ein Wunder den Angriff eines bösartigen Hundes
wenige Tage zuvor überlebt hatte – war aus dem Einkaufszentrum
gestürzt und direkt von einem Bus erfasst worden. Er war dem
Bericht zufolge sofort tot. Obwohl ich wusste, dass er kein Mensch
mehr gewesen war, verspürte ich doch eine gewisse Traurigkeit, als
ich das las. Vermutlich wegen des Jungen, der er einmal gewesen
war.
Ich lächelte meine Tochter an. Wie sehr wünschte ich mir, sie vor
der Schlechtigkeit der Welt beschützen zu können! Wahrscheinlich
hätte ich ihr jetzt versichern müssen, dass es da draußen noch
viele Typen gab, die nicht seltsam waren. Aber ich schwieg. Das
würde sie sowieso bald genug selbst herausfinden.
»Wieso fragst du nicht Laura, ob sie auf Tim aufpassen kann?«,
schlug ich vor, nachdem ich einem Mann in einem TShirt von Allies
früherer Schule ein Stück Kuchen verkauft hatte.
»Ich habe sie schon gesucht. Sie ist nirgends zu finden.« Sie sah
mich mit ihrem bettelnden Hundeblick an. »Opa meint, dass er auch
auf Timmy aufpassen könnte.«
»Wenn du Tim bei Opa abstellst, gibst du mir auf der Stelle dein
Handy zurück.« Auch ich konnte hässlich werden, wenn es sein
musste.
Ein genervter Seufzer entschlüpfte ihr, gefolgt von einem »Wie auch
immer«.
»Warum wartest du nicht auf Stuart? Er wollte um halb sieben
sowieso da sein.«
»Wir haben erst sechs Uhr, Mami. Das bedeutet eine weitere halbe
Stunde!«
»Diese Qualen«, sagte ich.
»Wann kommst du hier weg?«
»Eigentlich jetzt, aber ich muss noch einige Dinge erledigen.« Wie
zum Beispiel ins Archiv hinunterschleichen und hoffen, dass ich
plötzlich eine Eingebung habe, fügte ich in Gedanken
hinzu.
»Mami! So werde ich doch nie jemanden kennenlernen
können.«
»Ich weiß. Ich bin böse.« Ich trat einen Schritt zurück, damit
Tracy Baker meinen Platz als Kuchen-Königin einnehmen konnte. Dann
kam ich um den Stand herum zu meiner Tochter. »Am besten versuchst
du es, wie gesagt, bei Laura. Ich bin mir sicher, dass sie sich
hier irgendwo mit Mindy herumtreibt. Meinst du nicht?«
Allies Seufzer nach zu urteilen, hätte man annehmen können, dass
sie gerade die Nachricht erhalten hatte, nur noch wenige Wochen zu
leben. »Ich weiß nicht. Dann suche ich eben nach ihr. Schon
wieder!«
Sie schlich missmutig davon, während Timmy fröhlich nach ihren
baumelnden Ohrringen fasste.
Allie mochte Laura vielleicht nicht gefunden haben, aber mir bereitete es kein Problem, sie zu orten. Obwohl Laura nicht katholisch ist, stellt der Kirchenbasar einen wichtigen Termin im Kalender dar, und wir beide besuchen ihn jedes Jahr. Gewöhnlich klappern wir die verschiedenen Stände ab und kaufen selbstgemachten Nippes und sinnlosen Plunder. Doch dieses Jahr hatten wir eine Aufgabe.
»Du weißt, dass ich dir helfen könnte«, sagte
Laura, während wir auf das Kirchengebäude zugingen.
»Ja, ich weiß. Aber nein danke. Falls Goramesh uns beobachtet, weiß
er wahrscheinlich sowieso bereits, dass du mir hilfst. Aber für den
Fall, dass er es noch nicht tut, möchte ich lieber die Illusion
aufrechterhalten, allein zu arbeiten.«
»Was kann ich dann tun?«
Ich verspürte zwar ein schlechtes Gewissen, aber ich wollte Allie
helfen. »Könntest du vielleicht Allie erlösen? Ihr Bruder stellt
nicht gerade das coolste Accessoire dar, das man sich so vorstellen
kann.«
»Für Allie tue ich alles.«
»Danke.«
»Kein Problem. Nur ein weiterer Nachtisch auf dem immer größer
werdenden Dessertwagen.«
Inzwischen waren wir vor der Kirchentür angekommen. Sie blieb
stehen und rieb sich die Oberarme, während sie kopfschüttelnd das
Gebäude betrachtete. »Irgendwie traurig und faszinierend zugleich –
findest du nicht?«
Ich konnte an nichts anderes als die Millionen von Kisten denken,
die noch immer darauf warteten, von mir durchgesehen zu werden.
Nachdem ich bereits dem Ziel so nahe zu sein schien, hatte ich
jetzt noch weniger Lust als zuvor, mich wieder in meine
Nachforschungen in diesem staubigen Keller zu stürzen.
»Kate?«
»Sorry. Was ist los?«
»Ich habe gerade über die Kathedrale nachgedacht. Über die Knochen
der Heiligen, die in den Mörtel gemischt wurden. Und mir fielen
diese fünf Märtyrer im Keller ein. Ich meine, einerseits ist so was
ja unglaublich inspirierend, aber andererseits auch irgendwie
seltsam und unheimlich.«
Ich stieß die Kirchentür auf. »Mich interessiert momentan weder
seltsam noch unheimlich oder inspirierend. Ich will nur noch diese
Knochen finden. Und anstatt die nächsten zwei Stunden damit zu
verbringen, mir gemeinsam mit dir Tücher und verrückte Ohrringe
anzusehen, muss ich mich wieder über diese von Ungeziefer
befallenen Kisten hermachen. Es tut mir leid, aber augenblicklich
bin ich wirklich nicht in der Stimmung, die historischen
Dimensionen des Gebäudes oder der alten Knochen da unten zu
goutieren.«
Ihre Lippen zuckten, doch sie nickte ernst. »Verstehe«, sagte sie.
»Dann an die Arbeit.«
Sie machte kehrt und begab sich zum Kirchenbasar zurück, während
ich noch für einen Moment im Foyer stehen blieb, um einen Kniefall
in Richtung Altar zu machen. Solche Kniefälle sind mir schon immer
schwergefallen (es tut mir leid, aber die Bewegung ist irgendwie
unnatürlich), und diesmal plumpste ich dabei sogar auf meinen
Hintern. Denn der Gedanke, der mir plötzlich durch den Kopf schoss,
brachte mich total aus dem Gleichgewicht.
Laura hatte von fünf Märtyrern gesprochen, aber in der Vitrine im
Keller befanden sich sechs Beutel mit Reliquien. Ein zusätzlicher
Beutel war also ausgestellt und damit unter den Augen aller
versteckt worden.
Wie ein heftiger Stromschlag durchfuhr mich die
Erkenntnis.
Ich wusste endlich, wo sich die Lazarus-Knochen befinden
mussten.
Wie von der Tarantel gestochen, rannte ich aus der Kirche und riss
mein Handy aus der Tasche. Dann lief ich aufgeregt hin und her und
versuchte, einen Empfang zu bekommen. Sobald mir das gelungen war,
wählte ich hastig Larsons Nummer. »Ich weiß, wo die Knochen sind«,
sagte ich, ohne mich lange mit höflichen Vorreden
aufzuhalten.
»Sind Sie sich sicher?« Seine Stimme klang erregt.
»Absolut. Ganz sicher … Glaube ich jedenfalls. Wo sind
Sie?«
»Etwa eineinhalb Kilometer von der Kathedrale entfernt. Gehen Sie
hinein, holen Sie die Knochen, und wir treffen uns dann auf dem
Parkplatz.«
»Ich kann warten«, sagte ich. »Es wäre mir lieber, wenn wir sie
zusammen holen würden.«
»Keine Zeit«, erwiderte er, als stünde er unter Druck. »Goramesh
hat seine Ohren überall. Sie hätten mich nicht einmal anrufen
sollen. Aber nachdem Sie es jetzt laut ausgesprochen haben, müssen
Sie die Knochen auf jeden Fall sofort holen.«
Ich spürte, dass mir die Wangen vor Scham brannten. Um mich zu
verteidigen, öffnete ich den Mund, doch ich brachte kein Wort
heraus. Hatte er recht? Hatte ich gerade mich – und die Knochen –
in Gefahr gebracht?
»Ich werde auf Sie warten, wenn Sie herauskommen, und dann bringen
wir sie gemeinsam zum Flughafen. Los, gehen Sie schon!«
Ich ging. Ich rannte durch das Kirchenschiff bis zum Altarraum, wo
ich die vier Stufen nach oben mit einem Sprung nahm. Dann riss ich
die Tür zur Sakristei auf und eilte die Treppe zum Keller
hinab.
Doch unten blieb ich abrupt stehen. Ich stieß einen leisen Schrei
aus, als ich sah, wer dort saß.
Stuart.
Um Himmels willen! Wartete er etwa auf mich?
Er saß an einem der langen Holztische. Ein übergroßes Buch mit
vergilbten Seiten und einer winzigen Schrift lag aufgeschlagen vor
ihm. Er blickte zu mir auf, und ich konnte deutlich die
Überraschung in seinem Gesicht erkennen. Was mich betraf, so
verspürte ich nur noch Angst, das Gefühl, betrogen worden zu sein,
und eine seltsame Hoffnung. War er noch immer mein Stuart? Oder war
er vielleicht hierhergekommen, um mir wehzutun?
Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr, runzelte die Stirn und
sah mich fragend an. »Habe ich mich verspätet? Ich dachte
eigentlich, dass du mich erst um halb sieben erwartest.«
»Was?« Seine Bemerkung warf mich etwas aus der Bahn. Ich verstand
nicht ganz, was er meinte.
»Bist du nicht deswegen gekommen? Hast du mich nicht
gesucht?«
»Ich … Nein, eigentlich nicht.«
Für einen Moment legte sich ein Schleier der Verwirrung auf seine
Miene, der jedoch gleich wieder verschwand. »Ach so. Du bist
natürlich hierhergekommen, um an deinem Projekt
weiterzuarbeiten.«
»So in etwa«, entgegnete ich, ohne mich von der Stelle zu rühren.
»Aber warum bist du hier?«
Er schlug das Buch mit einem lauten Knall zu. Eine Staubwolke stieg
in die Höhe. »Ist nicht wichtig. Es betrifft nur eine Sache, an der
ich gerade arbeite.«
Ich schüttelte den Kopf, denn trotz der seltsamen, unheimlichen
Umstände begann ich allmählich die Geduld zu verlieren. »Was ist
eigentlich los, Stuart? Sag es mir endlich. Sag mir die Wahrheit!«
Ich zog einen Stuhl ihm gegenüber heraus, setzte mich und fasste
dann über den Tisch, um seine Hand zu ergreifen. »Bitte. Was auch
immer es sein mag – ich werde damit fertig.«
»Du wirst damit fertig? Kate, was ist in letzter Zeit mit dir
los?«
Ich lehnte mich zurück und starrte ihn fassungslos an, meine Hände
wieder auf meiner Seite des Tisches. »Mit mir?«
»Du wirkst so seltsam abwesend. Du bringst irgendwelche alten
Männer mit nach Hause, ohne mich zu fragen, und meldest Tim einfach
im Kindergarten an, ebenfalls ohne mich zu fragen.«
»Ich dachte, du hättest nichts dagegen gehabt. Das hast du doch
gesagt.«
»Ich hatte auch nichts gegen deine Beurteilung der Situation, aber
du hast die ganze Angelegenheit kein einziges Mal vorher mit mir
besprochen.« Er schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, Schatz. Ich
kann meinen Finger nicht genau darauf legen, aber irgendetwas
stimmt hier nicht. Hat es vielleicht mit dem alten Mann zu tun?« Er
holte tief Luft. »Oder ist es Eric?«, fügte er hinzu, wobei seine
Stimme deutlich gequälter als zuvor klang.
»Es hat nichts mit Eric zu tun«, sagte ich. Ich biss mir auf die
Unterlippe. »Es hat mit dir zu tun.«
»Mit mir?«
»Ich habe dich hier im Archiv gesehen. Doch als ich dich danach
fragte, hast du mich belogen, Stuart. Was ist los? Du lügst mich
doch sonst nie an.«
Für einen Moment zeigte sich ein ironisches Lächeln auf seinen
Lippen. »Wollen wir jetzt damit anfangen, einander unsere Lügen
aufzulisten?«
Ich hatte nicht vor, mich auf ein solches Spiel der gegenseitigen
Beschuldigungen einzulassen. Ich wollte nur endlich wissen, woran
ich war. »Warum, Stuart? Warum bist du dir so sicher, dass du die
Wahl gewinnst?«
Diesmal lachte er laut auf. »Gütiger Himmel, Kate! Meinst du etwa,
dass ich mich bestechen lasse?«
»Ich …« Ich schloss den Mund, da ich nicht wusste, was ich sagen
sollte.
»Ich war nur aufgeregt. Und ich glaube, dass ich wirklich gute
Aussichten habe. Jeremy Thomas hat eine Stelle in Washington
bekommen, und Frank Caldwell hat mir nun seine Unterstützung
zugesagt. Ich wollte dir nichts sagen, ehe es nicht offiziell war,
falls sich in letzter Minute noch etwas ändern sollte. Aber jetzt
ist es sicher.«
Ich konnte meine Freude nicht verbergen. »Aber das ist ja
fantastisch!« Jeremy Thomas war der Staatsanwalt, der Stuarts
größter Gegner im Wettlauf um den Bezirksstaatsanwaltsposten
gewesen war. Bei Frank Caldwell handelte es sich um den zukünftigen
Vorgesetzten des Bezirksstaatsanwalts. Seine Unterstützung war Gold
wert.
»Ist doch super, oder?«
»Das kann man wohl sagen«, sagte ich. Ich hatte das Gefühl, als ob
mir eine riesige Last vom Herzen gefallen wäre. Doch als ich mich
umsah und mich daran erinnerte, wo wir uns befanden, verspürte ich
erneut eine Bedrückung. »Aber was tust du dann hier?«
»Es geht um den Kauf von Land«, sagte er. »Clark hat mir
geschworen, mich vierteilen zu lassen, wenn ich irgendjemandem –
einschließlich dir – etwas davon erzähle. Wenn das hier
herauskommt, könnten wir uns in einer sehr schlechten Position
befinden.«
Ich starrte ihn an. »Land. Du bist hier unten, weil du Land kaufen
willst?«
Er schlug das Buch auf, und ich begriff, worum es sich handelte. Es
war eine alte Auflistung der kirchlichen Immobilien. »Ich habe
versucht, die genaue Bezeichnung einer Kirchenimmobilie ausfindig
zu machen, die von der Stadt gekauft werden soll. Der Deal bringt
einige politische Komplikationen mit sich, weshalb wir das Ganze so
lange wir möglich unter Verschluss halten wollten.«
»Und das ist alles? Damit hast du dich die ganze Zeit über
beschäftigt?«
»Ja. Was hast du denn gedacht? Etwa, dass ich eine Affäre unter dem
Altar habe?«
»Nein, das nicht.«
Er stand auf und hielt seinen Schreibblock wie einen Schild vor
sich. Eigentlich erwartete ich, dass er mich nun fragte, was ich so
trieb, aber er sagte nichts. Vielleicht wollte er es gar nicht
wissen. Vielleicht wünschte ich mir auch so sehr, er würde nicht
nachhaken, dass er meine Bitte gehört hatte. Er verkündete
jedenfalls nur, dass er jetzt gehen müsse. »Ich weiß, dass ich
versprochen habe, dich und die Kinder um halb sieben zu treffen.
Aber ich glaube, dass ich gerade das gefunden habe, wonach wir
suchen, und jetzt würde ich wirklich gern –«
»Geh schon«, sagte ich.»Geh ins Büro zurück und grüße Clark von
mir.«
Er kam um den Tisch herum und gab mir einen Kuss auf die Wange. Ich
hatte ein derart schlechtes Gewissen, dass ich befürchtete, danach
zu schmecken. Zum Glück schien er nichts zu merken.
Er ging zur Tür, doch ich streckte den Arm aus und erwischte ihn
noch an der Hand. »Ist wieder alles in Ordnung zwischen
uns?«
Sein Lächeln wärmte mich von Kopf bis Fuß. »Ja, alles bestens«,
sagte er.
Ich hoffte, dass er recht hatte.
Ich sah ihm nach, bis er die Treppe hinauf verschwunden war, und
holte dann tief Luft, um nicht loszuheulen. Dafür hatte ich jetzt
wirklich keine Zeit. Ich musste die Knochen holen.
Zögernd trat ich an die Glasvitrine. Die Befürchtung, dass ich
falsch liegen könnte, verlangsamte meinen Schritt. Doch in dem
Moment, in dem ich einen Blick in die Vitrine warf, wusste ich,
dass ich recht hatte. Es waren fünf Märtyrer gewesen, und doch
lagen hier tatsächlich sechs Beutel mit Reliquien.
Ich öffnete einen nach dem anderen. Dunkle Asche, einige Haare,
Knochensplitter. In jedem Beutel. Und dann machte ich den letzten
auf. Auf dem beigelegten Schildchen stand »Reginald Talley«, aber
ich war mir sicher, dass ich keinen Reginald darin finden würde.
Ich zog die Schnüre auf und sah hinein. Reines Weiß. Knochen, die
zu feinstem Pulver zermalmt worden waren.
Lazarus.
Bruder Michael musste die Knochen gemahlen haben. Die goldene Dose,
die mit diesem weißen Pulver gefüllt gewesen war, sollte nicht in
die Irre führen, sondern vielmehr als ein Hinweis dienen. Als ein
Hinweis, der für Eddie bestimmt war. Der erste war der Name
gewesen: Mike Florence. Die Kurzform seines Vornamens und der
Nachname die italienische Stadt, damit Eddie verstehen würde, dass
diese Dose von seinem Freund stammen musste. Bruder Michael hatte
absichtlich weißes Pulver hineingetan, denn dieses Pulver war der
zweite Hinweis. Es verriet Eddie, dass die Knochen zermalmt worden
waren und er deshalb nach Knochenstaub und nicht mehr nach ganzen
Knochen suchen sollte.
Meine Vernunft sagte mir zwar, dass der Test gar nicht mehr nötig
war. Aber da ich bereits einmal falsch gelegen hatte, wollte ich
diesmal nicht mehr auf meine Vernunft hören. Ich holte das
Fläschchen mit Weihwasser heraus und stellte es vor mich auf den
Tisch. Dann zog ich aus meiner hinteren Hosentasche eine der
Servietten hervor, die ich am Kuchenstand eingesteckt hatte. Ich
breitete sie vor mir aus und schüttete ein bisschen Pulver darauf.
Schließlich öffnete ich das Fläschchen und ließ vorsichtig einen
einzigen Tropfen auf den Knochenstaub fallen.
Ich hielt den Atem an, während der Tropfen fiel. Als sich eine
Flamme reinsten Blaus entzündete, stellte ich das Fläschchen
beiseite. Ich bebte am ganzen Körper.
Das war es also. Die echten Knochen.
Mein Herz pochte heftig. Fasziniert starrte ich auf die Flamme, bis
sie von selbst ausging. In diesem Moment wurde ich Zeugin eines
ganz besonderen Ereignisses. Eine unglaubliche Macht war für einen
Augenblick anwesend. Ich zitterte, weil ich spürte, wie sie den
Raum erfüllte. Diese Macht hatte mich hierhergeführt, und jetzt
würde sie mich auch sicher hinausgeleiten.
Bis hierher war es einfach gewesen. Keine menschlichen
Dämonenanhänger hatten mich bedroht, und auch keine Höllenhunde
waren aufgetaucht, um mich anzufallen.
Nichts von all dem, was ich befürchtet hatte, war eingetreten. Und
obwohl ich hätte glücklich sein müssen, beunruhigte mich die
Situation doch ein wenig. Mein Instinkt funktionierte normalerweise
gut. Sogar sehr gut. Und ich war mir so sicher gewesen, dass
Goramesh einen Menschen schicken würde, der für ihn die Knochen
holte.
Wenn es nicht Stuart gewesen war – wer dann ?
In diesem Moment wusste ich es. Ich erkannte die volle Wahrheit,
die so schrecklich war, dass ich zu würgen begann.
Die ganze Zeit über war ich selbst es gewesen. Ich war die
menschliche Spielfigur, die Gorameshs Machtgier stillen
sollte.
Ich. Und sonst niemand.
NEUNZEHN
Ich hielt mich am Tisch fest, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Eine eisige Kälte begann sich in meinem Inneren auszubreiten.
Es war Goramesh beinahe gelungen, sein Ziel zu erreichen. Mit meiner Hilfe! Ich hielt die Lazarus-Knochen in meiner Hand und war gerade im Begriff gewesen, sie nach oben zu bringen und Larson zu übergeben.
Verdammt!
Ich hatte bereits am ersten Tag recht gehabt und hätte schon damals
meinem Instinkt vertrauen sollen. Larson war tatsächlich ein Dämon!
Er hatte gelogen, als er behauptete, Goramesh besäße keinen
Körper.
Natürlich hatte Goramesh einen Körper. Larson war
Goramesh.
Ich sank auf den staubigen Holzboden und umschlang meine Knie.
Entsetzen und Erleichterung wechselten sich in meinem Inneren ab,
und mir blieb für den Moment nichts anderes übrig, als automatisch
vor und zurück zu schaukeln. Ich hätte es beinahe nicht bemerkt.
Fast hätte ich alles für immer ruiniert.
Langsam wich der Schrecken einem kalten Zorn. Er wollte also die
Lazarus-Knochen? Dann konnte er verdammt noch mal selbst hier
herunterkommen und sie sich holen.
Ich zerknüllte die Serviette und steckte sie gemeinsam mit dem
Weihwasserfläschchen wieder in meine Hosentasche. Dann zog ich den
Beutel zu. Ich legte ihn in die Vitrine zurück, holte tief Luft, um
mir Mut zu machen, und ging die Treppe hinauf.
Ich war mir nicht ganz sicher, was ich tun sollte. Nur eines wusste
ich: Larson würde die Knochen nicht bekommen. Sobald ich die
Kathedrale verlassen und wieder Handyempfang hätte, wollte ich
Padre Corletti anrufen. Wenn er keine Jäger zur Verfügung hatte,
dann war das auch nicht schlimm. Sollte er eben die Schweizergarde
schicken. Aber ich würde so lange nicht locker lassen, bis die
Knochen San Diablo verlassen hatten und sich auf dem Weg zum
Vatikan befanden. Eddie konnte mir in der Zwischenzeit helfen, sie
zu bewachen. Auch Father Ben würde eine Hilfe sein, falls ich noch
einen Dritten brauchte.
Ich stürmte aus der Kathedrale und rannte fast in Laura hinein. »Wo
ist Larson?«
Sie blieb stehen und sah mich verblüfft an. Mein Tonfall
überraschte sie wahrscheinlich.
»Wo ist er?«, wollte ich wissen.
»Vermutlich beim Eis«, erwiderte sie. »Was ist denn los? Die Kinder
werden schon mal einen Abend mit ungesundem Essen
überstehen.«
Die Kinder? Ich verstand nicht, was sie meinte. Die Kinder? Doch
dann begriff ich.
Ich packte sie entsetzt an der Schulter. »Wo sind meine
Kinder?«
»Sie sind bei Larson.« Meine Freundin sah mich irritiert an. »Paul
kam wie versprochen vorbei, doch dann erklärte er, dass er nicht
lange bleiben könnte. Ich wurde so wütend, dass ich beinahe einen
Tobsuchtsanfall bekam. Aber ich riss mich zusammen, weil ich ja auf
die Kinder aufpassen sollte, doch ich glaube, dass Paul meine Laune
trotzdem nicht entgangen ist.«
Ich machte mit meiner Hand eine auffordernde, ungeduldige Bewegung,
um ihr zu bedeuten, dass sie endlich zum Punkt kommen
sollte.
»Da ist Larson eingesprungen und hat vorgeschlagen, mit den Kinder
zusammen ein Eis kaufen zu gehen.« Sie fuhr sich mit der Zunge über
die Lippen und schien sich nun auch Sorgen zu machen. »Er hat
behauptet, dass es mit dir abgesprochen sei. Stimmt das etwa
nicht?«
»Oh, nein! Das stimmt ganz und gar nicht.« Ich lief vor
Verzweiflung vor der Kirche hin und her. Dann stürmte ich los
Richtung Eis. Die Lazarus-Knochen waren für den Moment
vergessen.
Laura rannte mir hinterher. »Was ist geschehen?« Ich hörte, wie sie
schwer neben mir atmete, als wir vor dem Stand abrupt zum Stehen
kamen.
»Es ist Larson«, sagte ich. »Er ist Goramesh.«
Laura wurde kreidebleich, und ich fing sie gerade noch auf, als
ihre Beine nachgaben. »Oh, mein Gott – die Kinder. Mindy.« Ihre
Augen füllten sich mit Tränen. »Wenn ihnen irgendetwas passiert.
Wenn ihr –«
»Das wird es nicht«, erklärte ich ihr mit einer Stimme, die auf
einmal eisenhart klang.
»Was hast du vor?«
»Ihn in Grund und Boden zu prügeln«, sagte ich. Momentan war das
der einzige Plan, den ich hatte. Ehrlich gesagt, fand ich ihn auch
verdammt gut.
»Mama! Mama!«
Wir drehten uns um, als wir die Rufe hörten. »Mindy«, sagte Laura
mit einer solchen Erleichterung, dass ich schon befürchtete, sie
würde noch einmal umkippen.
Meine eigene Erleichterung vermischte sich mit der Angst um meine
eigenen Kinder, die noch immer nirgends zu sehen waren.
»Was ist passiert?«, fragte ich.
Ihr Gesicht an Lauras Brust gedrückt, die Arme um ihre Mutter
geschlungen, sah sie mich mit verweinten Augen an. »Er hat mich
einfach fortgestoßen«, erklärte sie. »Und Allie musste bei ihm
bleiben, weil er drohte, sonst Timmy etwas anzutun.«
Ich schloss die Augen und war vor Angst wie gelähmt.
Da läutete mein Handy.
Ich hob ab, ehe noch das erste Klingeln vorbei war.
»Bringen Sie mir die Knochen, Kate«, sagte Larson.
»Sie können mich mal.« Ich sprach die Worte aus, ohne den Mut zu
spüren, der sich darin widerzuspiegeln schien.
»Meine liebe Kate«, erwiderte er ruhig. »Lassen Sie mich das Ganze
so einfach wie möglich formulieren: Bringen Sie mir die
Lazarus-Knochen, oder Ihre Kinder sind tot.«
»Arschloch«, flüsterte ich, aber er hatte bereits
aufgelegt.
Ich hätte am liebsten auf etwas eingeprügelt, aber es standen nur
Laura und Mindy neben mir. Verzweifelnd schluchzend fiel ich meiner
Freundin in die Arme. Sie streichelte mir über den Rücken und gab
beruhigende Laute von sich, an die sie selbst bestimmt auch nicht
glaubte.
Die ganze Zeit über hatte mir Larson etwas vorgemacht. Doch jetzt
war die Maske gefallen. Larson war Goramesh – ein Dämon höherer
Ordnung. Der Dezimator. Und ich verspürte eine
Höllenangst.
Genug.
Ich löste mich von Laura und wischte mir die Augen.
»Kate?«
Ich antwortete nicht, denn ich hätte kein Wort herausgebracht.
Stattdessen drehte ich mich um und ging wieder auf die Kirche zu.
Tränen liefen mir über die Wangen, aber ich wusste, was ich zu tun
hatte.
Schließlich ging es um meine Kinder.
Ich hielt den Stoffbeutel fest an mich gedrückt, während ich die Kellertreppe wieder hinaufrannte. Innerlich tobte ich. Ich hätte es wissen müssen. Hätte die Hinweise richtig deuten müssen. Sie waren offensichtlich gewesen. Sein zögerliches Verhalten, als es darum ging, die Kathedrale zu betreten. Sein ständiges Kauen von Pfefferminzkaugummis. Seine Stärke, als wir in meinem Garten gekämpft hatten. Seine Fähigkeit, einen anderen Dämon zu erkennen und ein Messer derart geschickt und präzise zu werfen.
Es war das Weihwasser gewesen, das mich in die
Irre geführt hatte.
Doch als ich nun an dem Weihwasserbecken vorbeiging, verstand ich,
wie ihm auch diese Illusion gelungen war. Ein Dämon kann heiligen
Boden betreten, auch wenn ihm das Schmerzen bereitet. Die
Weihwasserbecken waren ziemlich weit vom Altarraum und dem mit
Reliquien durchsetzten Mörtel entfernt. Goramesh hatte einfach die
Schalen umgestoßen und sie mit normalem Leitungswasser wieder
aufgefüllt. Nun fiel mir auch wieder die Wasserpfütze auf dem Boden
ein, in die ich vor unserem zweiten Treffen gestiegen war. Da
wusste ich, dass ich bestimmt recht hatte.
Es hatte noch andere Hinweise gegeben. Ich wollte keine
Nachforschungen im Archiv anstellen, aber er hatte mich dazu
überredet. Und ich hatte zugestimmt, mit mehr Elan nach den
Reliquien zu suchen, falls es ein weiteres Anzeichen für Dämonen
geben sollte, die in San Diablo ihr Unwesen trieben. An jenem Abend
stattete mir prompt Todd Greer seinen kleinen Besuch ab. Das hatte
ich als deutlichen Hinweis verstanden, was es auch gewesen war –
nur hatte ich das Ganze falsch interpretiert. Larson hatte dem
Höllenhund befohlen, Todd Greer umzubringen, damit ein Dämon in
dessen Körper eindringen und mich überzeugen konnte, die Suche für
Larson zu übernehmen. Und dann hatte Larson den Dämon in der Gasse
getötet, um damit zu zeigen, dass wir auf der gleichen Seite
standen.
Ein hinterhältiger Teufel!
Dann war da noch Eddie gewesen. Larson hatte angeblich zufällig
Eddies Aufenthaltsort in unserer Nähe herausgefunden. Alles
gelogen.
Er hatte Eddie natürlich selbst hierhergebracht. Ich sollte Eddie
kennenlernen, weil der alte Jäger der Einzige war, der wusste, was
Goramesh suchte und wo es vielleicht zu finden war. Ich vermutete
sogar, dass Larson die Anweisung gegeben hatte, die Dosierung der
Medikamente herunterzuschrauben, damit Eddie wieder in der Lage
war, klarer zu denken. Denn nur so vermochte er mir von den Knochen
zu erzählen, sobald er verstanden hatte, dass man mir vertrauen
konnte. Und warum sollte man mir nicht vertrauen?
Ich war schließlich auch Jägerin und hatte selbst keine Ahnung,
dass ich als Köder diente.
Larson hatte sogar meine Ängste hinsichtlich Stuart geschürt, weil
er wahrscheinlich hoffte, dass ich dann genügend mit meinen eigenen
Problemen beschäftigt war und nicht auf die Idee kam, ihn zu
verdächtigen. Es hatte ja auch gut funktioniert.
Mit einem hasserfüllten Fluch stürzte ich aus der Kathedrale. All
diese Hinweise waren jetzt nur noch theoretisch interessant. Was
wirklich zählte, waren meine Kinder. Ich musste sie
wiederbekommen.
Die untergehende Sonne warf lange Schatten auf den Boden und
tauchte die Welt in eine unwirkliche Stimmung, die ausgezeichnet zu
meiner Verfassung passte. Ich bedeckte meine Augen mit einer Hand,
um nicht vom Licht geblendet zu werden, und sah mich um. Nirgends
konnte ich Laura oder Eddie entdecken. Ich klappte mein Handy auf
und begann gerade Lauras Nummer zu wählen, als ich hinter mir das
Quietschen von Reifen vernahm. Ich wirbelte herum. Larsons Wagen
raste über den beinahe leeren Parkplatz auf mich zu.
Ehe er mich erreicht hatte, trat der Fahrer auf die Bremse, und der
Wagen kam kreischend zum Stehen. Meine Muskeln spannten sich an.
Ich war bereit, auf ihn einzuschlagen. Da sein Wagen getönte
Scheiben hatte und mich zudem das Licht blendete, konnte ich Larson
nicht sehen. Ich raste zur Fahrertür und riss sie auf. »Steig aus,
du Hurensohn!«
»Mami!«
Es war nicht Larson. Es war Allie.
Sie sprang aus dem Wagen und stürzte in meine Arme. Ich brach unter
ihrem heftigen Ansturm zusammen, fiel auf den Boden und ließ meinen
Tränen nun freien Lauf. »Mein Liebes, ach, mein Liebes«, murmelte
ich, während sie ebenfalls heulte. Nach einer Weile hob ich ihr
Kinn an und schob sie ein wenig von mir weg, um sie genauer
betrachten zu können. »Hat er dir etwas angetan? Ist alles in
Ordnung?«
Sie konnte vor Weinen kaum sprechen, brachte aber ein schwaches
»Timmy« heraus. Mir gefror das Blut in den Adern. »Ich konnte ihn
nicht mitnehmen. Oh, Mami. Er hat noch immer Timmy.«
»Ist er verletzt? War er okay als du weggefahren bist?« Ich wäre am
liebsten auf der Stelle losgerannt. Ich wollte kämpfen, irgendetwas
machen, um die Situation zu verbessern. Adrenalin pumpte durch
meinen Körper, und ich spürte, wie sich eine betäubende Kälte in
mir ausbreitete. Ein kalter Pragmatismus ergriff von mir Besitz.
Keine Gefühle, Kate. Konzentriere dich nur auf das, was vor dir
liegt. Und rette Timmy.
»Er … Es ging ihm gut. Aber ich habe Angst, Mami, ich habe solche
Angst um ihn.«
Ich biss verzweifelt die Zähne zusammen. »Wohin hat er ihn
gebracht?«
»Auf den Friedhof«, sagte sie. Ihre Stimme zitterte noch immer,
auch wenn sie wieder etwas kräftiger klang.
»Er hat uns erzählt, dass du weg musstest und er uns ein Eis kaufen
und dann nach Hause bringen würde. Doch dann fuhr er in die andere
Richtung, und als er am Friedhof anhielt, hat er dich angerufen,
und ich hatte solche Angst.«
»Ich weiß, mein Liebling. Aber du hast das alles ganz toll
gemacht.«
»Er hat uns dazu gezwungen, mit ihm auszusteigen. Doch er ließ den
Schlüssel stecken. Und dann habe ich mich befreit, so wie Cutter
uns das gezeigt hat.«
Mir verkrampfte sich der Magen. Sie hatte großes Glück gehabt, und
wahrscheinlich hatte dabei der Überraschungseffekt keine geringe
Rolle gespielt. Larson hätte sie problemlos schnappen und ihr
einfach den Hals umdrehen können. Ich zog sie wieder an mich und
hielt sie ganz fest, nur um zu spüren, dass sie wirklich noch heil
und unversehrt war. »Das hast du wirklich fantastisch gemacht, mein
Liebes«, murmelte ich. Als ich aufstand, zog ich sie hoch. Der
Automotor lief noch. Ich starrte den Wagen finster an.
»Jetzt suchst du Laura und Opa und erzählst ihnen, was los ist.
Bleib bei ihnen. Verstanden? Weiche nicht von ihrer Seite – ganz
gleich, was passiert.«
Sie nickte, wobei ihr Kinn zitterte.
Ich setzte mich hinter das Steuer. »Wo genau auf dem
Friedhof?«
»Bei der großen Statue«, antwortete sie. »Bei dem großen Engel, du
weißt schon.«
Ich nickte. Ich wusste. was sie meinte. Der Engel befand sich in
einer der älteren Ecken des Friedhofs, weit von der Straße
entfernt. »Jetzt geh«, forderte ich meine Tochter auf. »Such Laura
und Opa. Es wird schon alles gut werden. Ich verspreche es dir. Ich
hole deinen Bruder zurück.« Sie lehnte sich in den Wagen und gab
mir einen Kuss auf die Wange. »Ich hab dich so lieb, Mami«, sagte
sie und rannte dann über den Parkplatz zum Kirchenbasar
zurück.
Ich stöhnte verzweifelt. Ich habe dich auch sehr lieb, mein
Kleines.
Und dann gab ich Gas.
Ich machte mir nicht die Mühe, über die Kieswege über den Friedhof
zu fahren. Stattdessen fuhr ich querfeldein in den südöstlichen
Teil des Friedhofs. Die meisten Gräber hatten schlichte
Grabplatten, einige jedoch, die noch aus früheren Zeiten stammten,
wiesen große Grabsteine auf, um die ich herumkurven
musste.
Endlich tauchte der Engel vor mir auf. Ich bremste abrupt, sodass
die Hinterachse des Wagens auf dem feuchten Gras zur Seite
rutschte. Dann sprang ich aus dem Wagen.
Larson saß zu Füßen des Engels und hatte meinen Sohn auf seinem
Knie. »Ein charmanter Junge«, sagte er gelassen. »Ich freue mich,
dass du kommen konntest. Es wäre schade gewesen, ihn töten zu
müssen.« Er schenkte mir ein bösartiges Grinsen. »Nein, das stimmt
nicht. Ich glaube, es hätte mir sogar großen Spaß
gemacht.«
Ich stand stocksteif da, die Hände zu Fäusten geballt. »Geben Sie
mir meinen Sohn.«
»Gib mir zuerst die Knochen.«
Ich zögerte.
»Ich bringe ihn um, Kate. Du solltest inzwischen doch wissen, dass
ich vor nichts zurückschrecke. Aber es gibt etwas, was ich noch
mehr will, als sein Blut fließen zu sehen. Gib mir die
Lazarus-Knochen, und du bekommst deinen Jungen zurück.«
Ich streckte ihm den Beutel entgegen.
»Kluges Mädchen.« Er wandte sich zur Seite und rief: »Doug. Nimm
das.«
Ein alter Mann trat hinter dem Engel hervor. Er schlurfte auf mich
zu und nahm mir den Beutel ab. Als ich sein Gesicht sah, zuckte ich
zusammen. Das letzte Mal, als ich Doug gesehen hatte, hatte er
gerade im Coastal-Mists-Altenheim Schach gespielt.
Ich sah Larson an. »Hurensohn.«
»Unsinn. Doug befindet sich bereits auf der nächsten Ebene. Warum
sollten wir da nicht seinen Körper verwenden? Er würde sonst nur
verrotten. So viel Verschwendung in diesem Altenheim«, sagte er
beinahe wehmütig. Dann sah er mir in die Augen. Sein Blick strahlte
reine Bosheit aus. »Aber keine Sorge. Von jetzt an wird es viel
weniger Verschwendung geben. Viel, viel weniger.«
»Nicht, wenn ich irgendetwas damit zu tun habe und es verhindern
kann.«
»Du wirst aber nichts damit zu tun haben. Arme Kate, du kannst dir
doch nicht einmal selbst helfen.«
»Geben Sie mir meinen Sohn.«
»Aber natürlich.« Er stand auf und stellte Timmy auf den Boden.
»Ich kann auch großzügig sein, wenn ich will«, erklärte er, während
mein Kind auf mich zurannte.
»Du wirst untergehen, Goramesh«, sagte ich. »Ich werde dich in
deine Hölle zurückschicken.«
»Alles unsinniges Gerede«, erwiderte er. »Und warum solltest du das
überhaupt tun, nachdem du mir so behilflich warst? Ohne dich wäre
Eddie niemals mit der Wahrheit herausgerückt. Ohne dich wäre es mir
niemals gelungen, an die Knochen zu kommen. Das weißt du
doch.«
Ich antwortete nicht, sondern hielt nur meinen Sohn fest an mich
gedrückt.
»Willst du nicht bleiben? Willst du nicht bleiben und sehen, wie
sich meine Armee erhebt? Ich verspreche dir, dass dein Ende ganz
schnell kommen wird.«
»Ich werde bleiben«, entgegnete ich. »Ich werde bleiben und dich
aufhalten, Goramesh.«
»Du bist aus der Übung, Kate. Hast du schon vergessen, dass wir
miteinander gekämpft haben? Ich kenne dich und deine Schwächen. Man
kann mich nicht besiegen.«
»Wann ist Larson gestorben? Wie ist es dir gelungen,
hierherzukommen?«
Er lachte mit einer solchen Ausgelassenheit, dass ich für einen
Moment ganz verwirrt war und meinen Zorn fast vergaß. »Gestorben?
Wer hat denn behauptet, dass Larson gestorben ist?«
»Aber … Oh, mein Gott!«
»Der hat sicher nichts damit zu tun. Larson ist hier bei mir. Er
ist mehr als kooperativ gewesen. Er wird dafür seine Belohnung
bekommen.«
»Warum hat er sich darauf eingelassen?«
»Krebs«, antwortete er, wobei seine Stimme jetzt ein wenig höher
klang. »Warum sollte ich ablehnen, wenn Goramesh mir so viel mehr
als den Tod bieten kann? Als ich von meinem Jäger in Italien von
den Lazarus-Knochen erfuhr, da hatte ich etwas, was ich ihm als
Gegenleistung bieten konnte. Goramesh wollte die Knochen. Und ich
wollte leben.«
»Sie werden noch heute Abend sterben, Larson.«
»Nein, Kate. Sie sind diejenige, die sterben wird. Dieser Teil von
mir bedauert das sogar. Ich mochte Sie. Vor langer Zeit einmal
genoss ich es sogar, für die Forza zu arbeiten. Aber es ging mir
nie um die eigentliche Arbeit. Es ging mir immer um etwas
anderes.«
»Um die schwarze Magie, nicht wahr?«, sagte ich, weil ich mich an
Larsons Worte erinnerte. »Sie haben sich mit den schwarzen Künsten
beschäftigt. Padre Corletti war nicht klar, dass Sie –«
»Machen Sie dem Padre keinen Vorwurf«, unterbrach er mich. »Ich
kann sehr überzeugend wirken, wenn ich will. Jetzt bin ich
natürlich sowohl überzeugend als auch mächtig.« Er holte tief Luft,
sodass sich sein Brustkasten weitete. Über seine Haut schienen
kleine Wellen wie auf der Oberfläche eines Teichs zu laufen.
Darunter konnte ich für einen Moment den wahren Dämon erkennen –
rot, schwarz und voll glühender Würmer. Seine Augen leuchteten vor
Hass.
Ich blinzelte, und die Vision verschwand. Nur der ätzende Gestank
nach Schwefel blieb in der Luft hängen und zeigte mir, dass es
keine Wahnvorstellung gewesen war.
Auch Timmy roch es und begann in meinen Armen zu wimmern. »Still,
Liebling«, sagte ich. »Es ist fast vorbei.«
»Das ist es«, erklärte Goramesh. »Bleib, Kate. Bleib hier und sieh
zu.«
Da ich nicht vorhatte, zu gehen, ohne den Dämon zu vernichten,
rührte ich mich nicht von der Stelle. Timmy hielt ich weiterhin
fest in meinen Armen.
Goramesh trat an ein frisch wirkendes Grab. Er breitete weit die
Arme aus und sah vor sich auf den Boden. Dann begann er lateinische
und altgriechische Worte von sich zu geben, wobei er so schnell und
leidenschaftlich sprach, dass ich nichts verstand.
Ich musste die Worte aber auch nicht verstehen. Ich wusste, was er
gerade tat. Das war mehr als eindeutig. Als er schließlich den
Beutel öffnete und hineingriff, um eine Handvoll Knochenstaub
herauszuholen, erstarrte ich vor Anspannung. Ich war zu weit von
ihm entfernt, um etwas tun zu können, aber vorsichtshalber steckte
ich die Hand in meine hintere Hosentasche. So hatte ich das
Weihwasser parat, wenn es so weit war.
Goramesh streute das Pulver über seinen ganzen Körper, während er
immer schneller seine Zaubersprüche sprach. Schließlich breitete er
erneut die Arme aus und rief: »Resurge, mortue!«
Diese Worte verstand ich. Er befahl den Toten, sich zu
erheben.
Ich hielt den Atem an und wartete. Die Gräber begannen nicht zu
erbeben und sich zu öffnen. Keine Toten kehrten ins Leben
zurück.
Ich hatte natürlich gewusst, dass sie das nicht tun würden, und so
konnte ich ein zufriedenes Lächeln nicht unterdrücken. Vorsichtig
stellte ich Timmy auf den Boden und drängte ihn sanft hinter mich.
Dann holte ich die Weihwasserflasche heraus.
»Es ist vorbei, Goramesh«, sagte ich. »Du bist
Geschichte.«
»Du einfältige Närrin«, zischte er zornig. »Was hast du
getan?«
Ich machte mir nicht die Mühe, ihm zu antworten, denn ich wusste
sowieso, dass ihm schon bald genug klar werden würde, was ich getan
hatte.
»Du verdammtes Miststück!«, heulte er laut auf, und sein Gesicht
begann sich zu verzerren. Ich grinste gehässig. Es hatte
begonnen.
Während ich zusah, fing seine Haut an, Blasen zu werfen, und seine
Haare fielen in Büscheln auf den Boden. Er schrie. Der Schrei
schien direkt aus den Eingeweiden der Hölle zu kommen. »Was hast du
getan? Was hast du mir angetan ?«
»Ich habe dir gar nichts angetan«, entgegnete ich. »Es war die
selige Maria Martinez, eine der fünf Märtyrer von San Diablo. Möge
sie bald heiliggesprochen werden.«
Die Blasen auf seiner Haut wurden immer größer und begannen
aufzuplatzen. Es würgte mich, als mir der Schwefelgeruch in die
Nase stieg. Maria Martinez war noch keine Heilige, aber sie war
bereits seliggesprochen worden. Ich wusste, dass ihre körperlichen
Überreste ihn nicht umbringen, ihm aber große Schmerzen zufügen
konnten. Und ich hoffte, dass mir das den Vorteil verschaffte, den
ich brauchte.
Ich öffnete das Fläschchen und wollte mich auf ihn
stürzen.
»Halte sie!«, rief Goramesh, und Doug warf sich auf mich. Mir blieb
fast die Luft weg, und ich fiel auf den Boden. Die Flasche mit dem
Weihwasser flog mir aus der Hand und zerschellte an einem
Grabstein. Weder Doug noch Larson wurden davon getroffen. Als Doug
nach mir fasste, trat ich blind zu und versuchte so, den rüstigen
Alten von mir abzuschütteln.
Er aber ließ nicht los. Ich wusste, dass Goramesh sich bald erholen
und ihm zu Hilfe eilen würde. Zwei gegen eine – vor allem wenn
einer der beiden ein Dämon höherer Ordnung war
– bedeutete nichts Gutes.
Als ich Timmys entsetzte Schreie vernahm, gab mir das die Kraft,
mich zur Seite zu drehen. So schaffte ich es, mich auf Doug zu
setzen. Er versuchte mit seinen feuchten Fingern nach meinem Hals
zu fassen, streifte ihn aber nur kurz mit den Fingerkuppen. Ich
wich ihm aus und griff verzweifelt nach einem Zweig in der
Nähe.
Meine Finger umschlossen das Gesuchte genau in dem Moment, in dem
sich seine Hände um meinen Hals legten. Doch es war bereits zu spät
für ihn. Ich wusste, dass ich gewonnen hatte, und rammte ihm den
Zweig durch das Auge.
Aus Doug wich auf einen Schlag alles Leben, und er blieb regungslos
liegen.
Ich sprang auf, bereit, nun Goramesh anzugreifen. Mein Zorn heizte
mich an. Doch das Siegesgefühl war nur von kurzer Dauer. Als ich
mich umdrehte, erwartete ich, mich dem Dämon gegenüberzusehen.
Stattdessen aber sah ich meinen Jungen. Larson hatte den Arm fest
um seinen Hals gelegt. Die Reliquien der Maria Martinez hatten
inzwischen offenbar ihre Wirkung verloren. Er war zwar noch immer
widerwärtig schmierig anzusehen, aber der Schmerz des brennenden
Fleisches lenkte ihn nicht länger ab.
»Du Närrin!«, rief er. »Glaubst du wirklich, dass du mich besiegen
kannst? Glaubst du, dass du mich hintergehen kannst? Dieser Junge
wird sterben, Kate. Bring mir die Knochen und vielleicht erwecke
ich ihn dann wieder zum Leben.« Er bewegte sich, und ich stürzte
auf ihn zu, wobei ich überhaupt nicht darüber nachdachte, was ich
da tat.
»Nein!«, schrie ich angsterfüllt.
Ich hatte ihn kaum erreicht, als Larson ein lautes Heulen vernehmen
ließ. Im selben Moment begriff ich, was geschehen war.
Timmy hatte ihn gebissen.
Larson riss den Arm hoch und ließ Timmy los. Gleichzeitig versetzte
er ihm mit der anderen Hand einen derart heftigen Schlag, dass mein
Liebling durch die Luft flog. Er stürzte auf den Boden, und sein
kleiner Körper rührte sich nicht mehr. Ich warf mich mit meinem
ganzen Gewicht auf Larson, sodass wir beide zu Boden gingen. Es
gelang ihm, sich auf mich zu rollen, und während er wieder
aufstand, packte er mich an den Haaren. Meine metallene Haarspange
kratzte über meinen Kopf, als er mich auf die Füße zerrte. Ich
zuckte zusammen, doch der Schmerz war sogleich vergessen. Mir wurde
nämlich klar, dass sich Timmy noch immer nicht bewegt hatte. Ich
holte zitternd Luft, bereits das Schlimmste befürchtend. Larson
wusste seinen Vorteil zu nutzen und stieß mich von sich, sodass ich
mit dem Rücken gegen die Engelstatue prallte. Ich schrie, riss mein
Bein hoch und versuchte ihn mit dem Knie in seine Weichteile zu
treffen. Doch seine Finger hatten sich bereits wie Klauen um meine
Oberarme gelegt, und ich hatte keine Chance mehr, mich zu
befreien.
Er war so verdammt stark. So wahnsinnig stark. Und sosehr ich es
auch versuchte, es gelang mir nicht, mich loszureißen.
»Er ist tot, Kate«, zischte er. Sein stinkender Atem schlug mir ins
Gesicht.
»Nein.« Ich konnte es nicht glauben. Ich wollte es nicht
glauben.
Er trat einen Schritt näher. »Gib mir die Knochen, und ich bringe
ihn dir vielleicht zurück.« Seine Stimme klang jetzt ruhig und
gelassen. »Du kannst deinen Kleinen zurückhaben, Katie. Er kann
wieder lebendig werden. Bring mir einfach die Knochen.«
Mir schwindelte, denn ich war kaum mehr in der Lage zu atmen. Er
hielt mich zwar nur an den Armen fest, aber er hätte mir genauso
gut die Luftröhre abschnüren können. Heiße Tränen liefen mir über
die Wangen. War mein kleiner Liebling wirklich tot? Und falls ja –
besaß ich die Kraft, die Knochen zu benutzen, um ihn wieder ins
Leben zurückzuholen? Oder vielmehr: Besaß ich die Kraft, es nicht
zu tun?
Für einen Moment schloss ich die Augen, um mich zu sammeln.
»Niemals«, flüsterte ich. »Ich werde dir niemals die Knochen
bringen.«
Seine Nasenflügel bebten, und kalte Wut zeigte sich in seinen
Augen. »Du gottverdammtes Miststück! Ich breche dir dein Genick und
lasse dich hier zurück!« Er kam noch näher an mich heran. Sein Mund
drängte gegen mein Ohr. »Eines will ich dir aber noch sagen, ehe du
stirbst. Ich werde den Jungen zum Leben erwecken, und er wird mir
gehören. Es ist vorbei, Kate. Mein Sieg wird jetzt sogar noch süßer
sein, als ich mir das vorgestellt habe.«
Ich versuchte, mich ihm zu entwinden, während meine Angst größer
wurde. Aber er hielt mich wie in einem Schraubstock fest und
lockerte seinen Griff um keinen Millimeter. Blankes Entsetzen hatte
mich ergriffen. Ich unterdrückte ein Schluchzen. Furcht und tiefes
Bedauern vermengten sich in mir. Ich hatte geschworen, dass ich
diesen Kampf nicht verlieren würde. Doch jetzt befürchtete ich, ein
Versprechen gegeben zu haben, das ich nicht halten
konnte.
Ich holte tief Luft und versuchte meine Lungen noch einmal mit
Sauerstoff zu füllen. Mein Herz schien fast zu bersten. In meinen
Ohren rauschte es so heftig, dass ich die hohen Sirenen, die auf
einmal ertönten, kaum hörte.
Sirenen ?
Hatte Laura etwa die Polizei gerufen? Hätte Eddie das
zugelassen?
Auch Goramesh hörte sie. »Jetzt ist es an der Zeit, Abschied zu
nehmen, Jägerin«, sagte er. »Wir wollen doch schließlich nicht,
dass die Polizei mein kleines Geheimnis erfährt, nicht
wahr?«
Er ließ meine Arme los und begann, mich umzudrehen. Ich wusste
genau, was er vorhatte. Jetzt wollte er mir den Hals
brechen.
»NEIN!«, schrie ich. Ich hatte keine Waffe. Ich hatte nichts, womit
ich ihm Einhalt gebieten konnte. Deshalb tat ich das Einzige, was
mir übrig blieb. Ich schlug seinen Arm beiseite, noch ehe er mich
am Hals packen konnte. Es funktionierte. Und in diesem Bruchteil
einer Sekunde riss ich mir die Haarspange aus den Haaren und stieß
damit zu.
Die Spange traf genau ins Schwarze. Sie fuhr wie ein heißes Messer
durch ein Stück Butter mitten in das Auge des Dämons. Er erzitterte
am ganzen Körper, und die Luft über ihm und mir begann sich zu
bewegen. Dann ertönte ein ohrenbetäubendes Tosen, als würde ein
Düsenjäger die Schallmauer durchbrechen. Sein Körper wurde leblos,
und ich war auf einmal frei. Ich fiel rücklings auf das nächste
Grab und landete direkt neben meinem Sohn.
Die Sirenen kamen immer näher. Ich rollte zur Seite und bekam vor
Angst kaum Luft. Was würde ich sehen müssen? Ich drehte meinen
kleinen Liebling auf den Rücken und gab ihm einen leichten Klaps
auf die Wange. Seine Augenlider begannen zu flattern. »Mami?«,
fragte er verwirrt.
Ich konnte ihm nicht antworten. Ich konnte ihn nur an mich pressen
und weinen.
Es war vorbei.
Und ich war müde. Unendlich müde.
Aber ich hatte gewonnen. Goramesh war verschwunden. Larson war
tot.
Als mein Junge seine kleinen Arme um meinen Hals schlang, hielt ich
ihn ganz fest und schloss die Augen.
EPILOG
Wie sich herausstellte, hatte Allie die Polizei gerufen. Es war ihr nicht gelungen, Eddie oder Laura sofort zu finden, weshalb sie den Notruf gewählt hatte (und so das Handy für genau den Zweck verwendete, der ihr von mir erlaubt worden war). Danach hatte sie Stuart angerufen. Als Laura und Eddie sie schließlich fanden, waren sie gemeinsam in Lauras Auto zum Friedhof gerast und dort nur wenige Sekunden nach der Polizei eingetroffen. Stuart kam kurz darauf.
Die Sanitäter brachten Timmy sofort in die Notaufnahme, von wo er schon wenige Stunden später als völlig gesund und unverletzt wieder entlassen werden konnte. In den ersten Nächten nach den schrecklichen Ereignissen auf dem Friedhof quälten ihn noch schlechte Träume, doch der Psychologe im Krankenhaus erklärte uns, dass dies mit der Zeit nachlassen würde. Inzwischen schläft er schon wieder ganz normal, weshalb ich mir keine Sorgen mehr mache. Es geht ihm offensichtlich wieder gut.
Ich verbrachte die folgenden Tage damit, meine Verletzungen zu pflegen und mit der Polizei zu sprechen. Schließlich hatte ich sowohl Larson als auch Doug umgebracht, und daran gab es keinen Zweifel. Doch zum Glück klärte sich schon bald, dass keine Anklage gegen mich erhoben werden würde. Allie und Lauras Aussagen bestätigten meine Geschichte, dass Larson meine Kinder entführt und dann gemeinsam mit Doug versucht hatte, mich zu umzubringen. Als die Polizei Larsons Auto untersuchte und dort Haare und andere Spuren im Kofferraum fand, die ihn in Verbindung mit dem Verschwinden eines weiteren Altenheimbewohners brachten, besiegelte dies Larsons Einstufung als mörderischer Schwerverbrecher.
Danach kehrte das Leben mehr oder weniger wieder in seine normalen Bahnen zurück. Natürlich gab es einige Veränderungen. Eddie ist nun zu einem dauerhaften Gast in unserem Haus geworden, und seine Verbindung zu Allie hat sich derart gefestigt, dass es wohl kaum etwas geben dürfte, was die beiden noch einmal auseinanderbringen könnte. Eines Tages werde ich ihr die Wahrheit erzählen. Aber jetzt nicht. Noch nicht.
Laura und die Mädchen besuchen noch immer zusammen mit mir den Selbstverteidigungskurs. Laura schwört, dass sie nur daran teilnimmt, um die Kalorien der ganzen Nachspeisen, die ich ihr als Zahlung für ihre mir erwiesenen Dienste ständig zuschiebe, zu verbrennen. Aber ich glaube viel eher, dass ihr die körperliche Anstrengung Spaß macht. Entweder das, oder sie sieht Cutter gern bei seinen Verrenkungen zu.
Zu Hause entwickelt sich Stuart gerade zum verwöhntesten Ehemann der Welt. Ein schlechtes Gewissen kann so etwas bewirken. Und wenn dieses schlechte Gewissen auch noch darauf zurückzuführen ist, dass Sie furchtbarerweise unterstellt hatten, dass sich Ihr Mann mit Dämonen eingelassen hat … Nun ja. Dann kann das Verwöhnen und Wiedergutmachen mehr oder weniger unendlich so weitergehen.
Was mich betrifft, so habe ich noch immer Geheimnisse vor meiner Familie. Aber was kann ich tun? Ich weiß, dass Goramesh zurückkehren wird. Sein Verschwinden ist nicht von Dauer, und das ist etwas, womit ich leben muss. Außerdem gibt es noch andere Dämonen in San Diablo. Zum Beispiel haben sie das Altenheim infiltriert, und sosehr es mich auch danach verlangt, Padre Corletti zu bitten, einen weiteren Dämonenjäger zu schicken, so weiß ich doch, dass ich ihn nicht anrufen werde.
Wollen Sie die Wahrheit wissen? Ich bin eine Verpflichtung eingegangen, als ich vor vielen Jahren Dämonenjägerin wurde, und jetzt kann ich diese Verpflichtung nicht einfach leugnen. Vor allem nicht, nachdem so viele dieser Kreaturen ihr Unwesen in unseren Straßen treiben.
San Diablo braucht einen Dämonenjäger, und ich bin vor Ort. Ich mag vielleicht ein wenig außer Übung sein. Das stimmt. Aber ich habe Cutter und Eddie, die mir helfen können. Außerdem gibt es einen Teil von mir, der diese Arbeit wirklich liebt.
Und wenn man sich die Sache einmal genau betrachtet: In welcher Familie gibt es denn nicht ein oder zwei kleine Geheimnisse?
DANKSAGUNG
Dass ich nicht Italienisch spreche, wurde schmerzhaft offensichtlich, als ich meinen nach Internetsuchen notdürftig zusammengesetzten Dialog der fabelhaften Eloisa James mit einem SOS in der Betreff-Leiste mailte und sie mir daraufhin sehr höflich mitteilte, dass er voller Fehler stecke. Sie war sogar so liebenswürdig, ihn gleich für mich zu korrigieren! Deshalb gebührt Eloisa ein besonderes Dankeschön, weil sie mich in der Hinsicht gerettet hat. (Falls es doch noch Fehler geben sollte, ist das aber nicht ihre, sondern allein meine Schuld!)
Dass ich kein Latein kann, wurde bereits in der Highschool unangenehm deutlich. Diesbezüglich habe ich es nicht einmal mit einer Internetrecherche versucht, sondern gleich eine SOSNachricht an den Novelists, Inc. E-Mail-Loop geschickt. Eve Gaddy schrieb mir auf der Stelle (sie vermochte meine Frage zwar nicht zu beantworten, stellte aber den Kontakt zu einem Mann her, der das konnte). Mein Dank gilt Dr. John Harris, der mir mit Latein half. Ich glaube nicht, dass ich je so viel Spaß hatte, jemandem dabei zuzusehen, wie er sich mit linguistischen Feinheiten auseinandersetzt – nur um die richtigen Worte zu finden, die Tote wieder zum Leben erwecken!
Dass ich wenig vom Fechten verstehe, war spätestens klar, als ich die Fechtszene mit mehr XXX gefüllt hatte als mit Text – ein dezenter Hinweis darauf, dass ich dringend einige Fachtermini benötigte. Mein Dank geht in diesem Fall an Stefan Leponis, der die Lücken für mich füllte und mir einen wunderbaren Einblick in die Welt des Fechtens bot. Und auch einen Dank an Helen, weil sie meine »Ich brauche dringend Fechtbegriffe«-Jammerei in meinem Blog ernst nahm und mir ihren Mann Stefan zur Rettung schickte!
Dass ich wenig über Kickboxen … Na ja, Sie wissen schon, worauf ich hinauswill. Mein besonderer Dank gilt der wunderbaren und talentierten Lexie, die mir mit den richtigen Outfits und anderen Details geholfen hat (und, wenn ich mich recht erinnere, dafür etwas länger als sonst aufbleiben durfte, indem sie mir über ihre Mutter ihre Antworten übermittelte), sowie Nancy Northcott, weil sie mir einige der Bewegungsabläufe, die sie beim Training gelernt hat, anschaulich erklärte.
Ich möchte mich auch bei Diakon Ron Walker von der Pfarrei St. Mary in Austin, Texas, bedanken, der mich bei der räumlichen Anordnung der Kathedrale und in katholischen Fragen beriet, obwohl ich das eigentlich hätte wissen müssen …
Auch hier gilt wieder der Hinweis: Falls es Fehler geben sollte, so stammen die alle von mir. Und sie sind reine Absicht. Ehrlich. Nennen Sie es einfach literarische Freiheit. Ehrlich …
Und schließlich geht mein ganz besonderer Dank an Don, Kim, Kassie, Allison, Dee und Kathleen, die Kate allesamt vom ersten Moment an ins Herz geschlossen haben. Und das war für mich das Allerwichtigste!