Julie Kenner
Dämonen zum Frühstück
Die unglaublichen Abenteuer der Kate ConnorRoman
Deutsche
Erstausgabe Titel der amerikanischen
Originalausgabe CARPE DEMON
Deutsche Übersetzung von Franziska Heel
Deutsche Erstausgabe 07/2008
Redaktion: Uta Dahnke
Copyright © 2005 by Julie Kenner
Copyright © 2008 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne
Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
www.heyne.de
Printed in Germany 2008
Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München
Umschlagillustration: Natascha Römer, Die Kleinen Satz:
Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling Druck und Bindung: GGP Media GmbH,
Pößneck
FürAllison und Kim
Danke, dass ich Kate an der Hand nehmen und mit ihr loslaufen
durfte
EINS
Ich heiße Kate Connor und habe früher einmal hauptberuflich Dämonen gejagt.Schon oft habe ich mir genüsslich ausgemalt, wie ich mich mit diesem Spruch auf Partys vorstelle, doch mit einer Tochter im Teenageralter, einem Kleinkind und einem Ehemann im Schlepptau kann man mich nicht gerade als Partylöwin bezeichnen. Außerdem ist diese ganze Dämonenjägerei sowieso ein gewaltiges Geheimnis. Niemand weiß davon – weder meine Kinder noch mein Mann, von den Leuten auf irgendwelchen Partys ganz zu schweigen. Trotzdem male ich mir immer wieder gern aus, wie mir die attraktivsten Männer an den Lippen hängen, während ich ihnen ausführlich von meinen Jagden auf Dämonen, Vampire und Zombies erzähle.
Damals war ich tatsächlich verdammt gut. Heutzutage ist davon nicht mehr viel übrig. Ich fungiere im Grunde als ein etwas besserer Fahrdienst und darf meine Kinder zum Ballett oder in den Kindergarten chauffieren. Das hat natürlich deutlich weniger Sexappeal als mein früheres Draufgängertum, aber ich muss zugeben, dass ich es liebe. Ich würde meine Familie gegen nichts auf der Welt eintauschen. Nach vierzehn Jahren des Mami-Daseins sind meine Fähigkeiten in Sachen Dämonenjagd allerdings sowieso ziemlich eingerostet.
Das mag auch erklären, warum ich den Dämon, der sich in der Nähe der Tiernahrung im Supermarkt von San Diablo herumdrückte, nicht sofort erkannte und umlegte. Als mir ein Hauch seines verräterischen Gestanks in die Nase stieg, nahm ich stattdessen ganz selbstverständlich an, dass dieser vom Popo eines besonders griesgrämigen Zweijährigen stammte – meines Zweijährigen, um genau zu sein.
»Mami! Er hat es schon wieder gemacht. Was gibst du ihm bloß zu essen?« Diese Äußerung kam von Allison, meiner ebenfalls recht missmutig gestimmten vierzehnjährigen Tochter. Wenigstens ging von ihr kein Gestank aus.
»Innereien und Ziegenkacke«, erwiderte ich geistesabwesend. Ich schnüffelte noch einmal. Das war doch sicher nur Timmy, den ich da roch …
»Maaami.« Sie schaffte es, das Wort so klingen zu lassen, als würde es sich dabei um etwas besonders Anstrengendes handeln. »Du bist ekelig!«
»Sorry.« Ich konzentrierte mich auf meine Kinder und verdrängte entschlossen jeglichen Anflug eines Verdachts, der in mir aufstieg. Derartige Überlegungen waren wirklich unangebracht. San Diablo galt schon seit vielen Jahren als dämonenfreie Zone. Genau aus diesem Grund lebte ich auch hier.
Außerdem betrafen mich Dämonen und wo sie sich aufhielten inzwischen sowieso nicht mehr. Heutzutage spielten sich mein Leben und die damit verbundenen Schwierigkeiten eher im häuslichen als im dämonischen Bereich ab. Es ging meist um aufregende Dinge wie Lebensmitteleinkäufe, Rechnungsbegleichungen und unzählige Fahrten, um Flicken und Nähen, Putzen und Aufräumen, Kochen, Erziehen und tausend andere ähnlich spannende Beschäftigungen. All das Grundsätzliche, was eine Familie zusammenhält und von jedem auf dieser Welt als absolut selbstverständlich hingenommen wird, wenn er nicht gerade eine Ehefrau und Mutter ist. (Zwei Punkte für Sie, sollte Ihnen aufgefallen sein, dass mich dieses Thema etwas nervt. Zugegebenermaßen stinkt mir die ganze Angelegenheit immer wieder, denn ich arbeite hart – verdammt hart. Und Sie können mir glauben, dass mir harte Arbeit noch nie unvertraut war. Es gehörte nicht zu den leichtesten Aufgaben, zum Beispiel ein ganzes Nest von bösartigen, blutdürstigen übernatürlichen Kreaturen auszuheben, und das allein mithilfe einiger Holzpfähle, etwas Weihwasser und einer Dose Cola Light. Aber es ist mir noch jedes Mal gelungen. Außerdem war meine damalige Arbeit letztendlich viel einfacher als das, was ich heute mache. Versuchen Sie einmal, einen Teenager, einen Mann und ein Kleinkind am Morgen aus dem Haus zu bekommen! Das bedeutet wirklich eine Herausforderung, da können Sie Gift darauf nehmen.)
Während Timmy vor sich hin quengelte und maulte, machte ich mit dem Einkaufswagen eine Kehrtwendung, um in den hinteren Teil des Supermarkts zu steuern und dort im Wickelraum seine Windeln zu wechseln. Es wäre eine recht elegante, fließende Bewegung geworden, wenn Timmy nicht die Gelegenheit beim Schopf ergriffen und fröhlich seine kleinen Patschhände ausgestreckt hätte. Er stieß dabei an einen Stapel von Konservendosen, und der Turm kam bedrohlich ins Wanken. Ich ließ einen dieser überraschten, leisen Oh-Töne hören, die völlig sinnlos und ohne jegliche Wirkung sind. Es hatte mal eine Zeit gegeben, da waren meine Reflexe so schnell und perfekt trainiert, dass ich wahrscheinlich jede einzelne dieser Konserven aufgefangen hätte, ehe sie auf dem Boden aufschlug. Doch diese Kate stand nun leider nicht neben mir im Supermarkt, und so konnte ich nur hilflos zusehen, wie die Dosen, eine nach der anderen, auf den Boden krachten.
Wieder einmal das übliche Chaos …
Allison machte einen geschickten Satz zur Seite, als der
Konserventurm umstürzte, und betrachtete dann, noch schlechter
gelaunt als zuvor, das Durcheinander. Was den Schuldigen betraf, so
war dieser plötzlich bester Dinge, klatschte begeistert in die
Hände und rief: »Ganz laut! Ganz laut!«, während er sogleich die
anderen Konserventürme in seiner Nähe in Augenschein nahm. Ich
schob den Einkaufswagen samt Täter vorsichtshalber außer
Reichweite.
»Allie, würdest du? Ich muss ihm die Windeln wechseln.«
Sie warf mir einen dieser gequälten Blicke zu, die im Gencode jedes
Menschen verankert zu sein scheinen und sich zeigen, sobald dieser
in die Pubertät kommt.
»Du kannst es dir aussuchen«, sagte ich und versuchte dabei, so
gelassen wie möglich zu klingen. »Entweder du stapelst das
Katzenfutter, oder du wechselst die Windeln deines
Bruders.«
»Dann schon lieber die Dosen«, erwiderte sie in einem Tonfall, der
perfekt zu ihrer Miene passte.
Ich holte tief Luft und besann mich darauf, dass sie vierzehn war.
Die Hormone spielen da verrückt. Es sind diese schwierigen
Pubertätsjahre etc., die wahrscheinlich allerdings für mich
schwieriger waren als für meine Tochter. »Wie wäre es, wenn wir uns
danach in der Musikabteilung treffen? Du kannst dir eine CD
aussuchen, wenn du willst.«
Ihre Miene erhellte sich.
»Echt?«
»Klar, warum nicht?« Ja, ja, ich weiß schon, Sie müssen nichts
sagen: ein schlechtes Beispiel, keine Grenzen ziehen, blablabla.
Wie wäre es, wenn ich Ihnen dieses ganze besserwisserische Gelaber
vorbete, während Sie mit zwei Kindern und einer Liste, die so lang
wie ein Arm ist, durch WalMart stolpern? Wenn ich mir einen Tag der
Kooperation für 14,99 Dollar erkaufen kann, dann ist das ein Deal,
den ich garantiert nicht ausschlage. Ich werde mir beim Therapeuten
dann schon über die Folgen den Kopf zerbrechen, da müssen Sie sich
keine Sorgen machen. Aber erst dann. Mir stieg erneut dieser
Gestank in die Nase, ehe wir den Wickelraum erreichten. Aus alter
Gewohnheit blickte ich mich um. Ein mickrig aussehender alter Mann
sah mich über einen Prospekt hinweg an, doch außer ihm gab es sonst
niemanden in der Nähe. Nur Timmy und mich.
»Kacka«, sagte Timmy und grinste mir zahnlückig verschmitzt
zu.
Ich lächelte, während ich den Einkaufswagen vor der Damentoilette
parkte. Kacka war sein neues Lieblingswort. Gleich danach kam »Oh,
Mann!«, was er wahrscheinlich aus einem seiner Kinderbücher oder im
Kindergarten aufgeschnappt hatte. Was Kacka betraf, so lag die
Schuld allein bei meinem Mann, der sich noch nie darum gerissen
hat, schmutzige Windeln zu wechseln, und es in der kurzen Zeit von
Timmys Leben garantiert bereits geschafft hatte, dem Jungen einen
ziemlichen Komplex hinsichtlich seiner Darmtätigkeit zu
verpassen.
»Genau, du hast Kacka gemacht«, sagte ich und hob ihn auf den
kleinen, herunterklappbaren Wickeltisch. »Aber das haben wir
gleich. Wir machen dich sauber, pudern deinen Popo und verpassen
dir eine neue Windel. In einer Minute duftest du wieder wie eine
Rose, mein Süßer.«
»Rose«, plapperte er mir nach und fasste nach meinen Ohrringen,
während ich ihn auf den Rücken legte und ihm seine Hose
herunterzog.
Eine halbe Million Feuchttücher und eine frische Windel später saß
Timmy wieder im Einkaufswagen. Wir fanden Allie vor einer Wand mit
den CD-Neuerscheinungen. Sie kam auch mehr oder weniger willig
sogleich mit zur Kasse, die neueste Natalie-Imbruglia-CD
triumphierend in der Hand.
Weitere zehn Minuten und siebenundachtzig Dollar später schnallte
ich Timmy in seinem Kindersitz im Wagen fest, während Allie die
Einkaufstüten hinten in unserem Minivan verstaute. Dann manövrierte
ich uns an den vielen geparkten Wagen vorbei in Richtung Straße.
Dabei entdeckte ich erneut den alten Mann, der mir schon vorher
aufgefallen war. Diesmal stand er vor dem Geschäft zwischen einem
Getränkeautomaten und einem Plastik-Elefanten, auf dem ein Kind
fröhlich ritt, und starrte in unsere Richtung. Ich hielt an, um
auszusteigen und kurz ein paar Worte mit ihm zu wechseln, denn nun
wollte ich doch herausfinden, wonach sein Atem eigentlich
roch.
Ich hatte meine Tür schon halb geöffnet, als ein ohrenbetäubender
Lärm aus allen sechs Lautsprechern des Minivans ertönte. Es mussten
fast hundert Dezibel sein. Erschrocken riss ich den Kopf herum und
starrte Allie an, die bereits an dem Knopf herumdrehte, um die
Lautstärke zu drosseln. »Sorry.«
Ich schaltete den Motor ab, sodass die Surround-SoundSerenade von
Natalie Imbruglia ein abruptes Ende nahm. Leider konnte ich
dasselbe nicht mit Timmy machen, der nun seinerseits auf höchster
Lautstärke sein Bestes gab. Wahrscheinlich wollte er damit kundtun,
dass es um seine Trommelfelle fast geschehen gewesen wäre. Ich warf
Allie einen wütenden Blick zu, löste den Sicherheitsgurt und
kletterte auf die Rückbank, um mein Kind mit fröhlichen Geräuschen,
die ich wie auf Knopfdruck von mir geben konnte, zu
beruhigen.
»Es tut mir leid, Mami«, sagte Allie. Zugegebenermaßen klang es
ganz so, als ob sie es ernst meinte. »Ich wusste nicht, dass es so
laut eingestellt war.« Sie kletterte ebenfalls auf die Rückbank und
setzte sich auf die andere Seite von Timmy, um mit Boo Bear, einem
ziemlich mitgenommen aussehenden Bären, der Timmys ständiger
Begleiter war, Verstecken zu spielen. Zuerst ignorierte Timmy seine
Schwester, doch nach einer Weile ging er auf ihre Bemühungen ein,
und ich verspürte einen kurzen Anflug von Stolz auf meine
Tochter.
»Gut gemacht«, murmelte ich.
Sie zuckte mit den Achseln und küsste ihren Bruder auf die
Stirn.
Da fiel mir der alte Mann wieder ein, und ich fasste nach dem
Türgriff, um auszusteigen. Doch als ich zu der Stelle hinsah, wo er
vor Kurzem gestanden hatte, war er verschwunden.
»Was ist los?«, wollte Allie wissen.
Ohne es zu merken, hatte ich anscheinend die Stirn gerunzelt. Rasch
zwang ich mich zu einem Lächeln und bemühte mich darum, nicht
besorgt zu wirken. »Nichts«, sagte ich. Und dann wiederholte ich
noch einmal: »Gar nichts.« Schließlich entsprach das sogar der
Wahrheit.
Die nächsten drei Stunden verbrachten wir damit, von Geschäft zu
Geschäft zu fahren und die Liste abzuarbeiten, die ich mir für
diesen Tag gemacht hatte: große, Platz einnehmende Einkäufe bei
WalMart – abgehakt; Schuhe für meinen Sohn bei Payless – abgehakt;
ein Happy Meal für Timmy, um seine schlechte Laune zu bekämpfen –
abgehakt; neue Schuhe für Allie von DSW – abgehakt; neue Krawatten
für Stuart von T. J. Maxx – abgehakt. Als wir schließlich den
Supermarkt für die Lebensmittel erreichten, war das Happy Meal
schon lange vergessen, und sowohl Timmy als auch Allie befanden
sich zur Abwechslung einmal in schlechtester Laune. Auch ich war
nahe daran, die Nerven zu verlieren. Allerdings fehlte mir dazu die
Zeit.
Immer wieder musste ich an den alten Mann denken, was mich ärgerte.
Warum konnte ich das Ganze nicht einfach vergessen? Aber
irgendetwas an ihm gefiel mir nicht. Während ich den Einkaufswagen
am Kühlregal entlangschob, sagte ich mir, ich müsse wohl paranoid
sein. Zum einen befielen Dämonen normalerweise weder Alte noch
Schwache. (Durchaus verständlich, wenn man einmal genauer darüber
nachdenkt. Falls Sie die Wahl zwischen verschiedenen Körpern
hätten, würden Sie doch auch bestimmt einen jungen, kräftigen und
fitten bevorzugen.) Zum anderen war ich mir ziemlich sicher, dass
es sich nicht um Dämonengestank, sondern einfach nur um eine
besonders ätzende Kinderwindel gehandelt hatte. Das schloss
natürlich nicht automatisch die Anwesenheit eines Dämons aus. Alle
Dämonen, denen ich je begegnet bin, warfen sich Pfefferminzbonbons
ein, als ob es sich um eine besondere Delikatesse handelte; einem
gehörte sogar der Hauptanteil der Aktien einer Mundwasserfirma.
Nichtsdestotrotz – wenn ich in Ruhe darüber nachdachte, dann war
ich mir ziemlich sicher, dass es kein Dämon gewesen sein
konnte.
Außerdem konnte ich das Ganze sowieso getrost vergessen, weil es
ganz einfach nicht mehr mein Problem war. Ich mochte zwar einmal
vor langer Zeit eine Level-Vier-Dämonenjägerin gewesen sein, aber
das war fast fünfzehn Jahren her. Inzwischen war ich nicht mehr
berufstätig. Ich war aus dem Spiel. Und noch wichtiger – ich besaß
auch keine Übung mehr.
Ich bog in den Gang mit Keksen und Chips ein und gab mir die größte
Mühe, Timmy nicht sehen zu lassen, wie ich zwei große Tüten mit
Kartoffelchips in den Einkaufswagen warf. Im nächsten Gang blieb
Allie vor den Zerealien stehen. Ich konnte förmlich sehen, wie sie
zwischen einem hypergesunden Vollkorn-Dinkel-Müsli und ihren
geliebten Nougat-Bits hin und her schwankte. Währenddessen
versuchte ich mich auf meine Einkaufsliste zu konzentrieren. Hatten
wir wirklich schon die ganzen Haferflocken aufgebraucht? Aber meine
Gedanken kehrten immer wieder zu dem alten Mann zurück.
Benahm ich mich nicht tatsächlich paranoid? Ich meine, warum sollte
ein Dämon freiwillig nach San Diablo kommen? Die kleine Stadt lag
an der kalifornischen Küste und bot einen wunderbaren Blick auf den
Pazifik. Die kreuz und quer verlaufenden Straßen führten allesamt
zu St. Mary hinauf, unserer Kathedrale, die hoch über den Häusern
stand und das Zentrum des Ortes bildete. Sie war nicht nur
atemberaubend schön, sondern auch für ihre Reliquien berühmt und
zog zahlreiche Touristen und Pilger an. Die Gläubigen kamen aus
demselben Grund nach San Diablo, aus dem die Dämonen wegblieben –
die Kirche stand auf heiligem Boden. Das Böse war hier einfach
nicht willkommen.
Das war auch der eigentlich Grund für Eric und mich gewesen, uns in
San Diablo niederzulassen: ein herrlicher Blick aufs Meer, das
fantastische kalifornische Wetter und weder Dämonen noch andere
Ekelbrocken, die uns störten. San Diablo war der perfekte Ort, um
Kinder und Freunde zu haben und die Art von normalem Leben zu
führen, nach der wir uns beide so gesehnt hatten. Selbst jetzt bin
ich noch dankbar für die zehn wunderschönen Jahre, die wir hier
zusammen verlebten.
»Mami?« Allie nahm meine freie Hand, und ich bemerkte, dass ich
gedankenverloren in den nächsten Gang gewandert war, wo ich nun die
Tür zu einem Kühlregal offen hielt. Ich starrte auf eine Reihe
tiefgefrorener Pizzen. »Alles in Ordnung?« Die Art und Weise, wie
sie mich ansah, zeigte mir deutlich, dass sie wusste, in welche
Richtung meine Gedanken gewandert waren – nämlich zu ihrem
Vater.
»Klar, alles in Ordnung«, schwindelte ich und wischte mir die
Augen. »Ich war gerade dabei, mir zu überlegen, ob wir heute Abend
lieber Peperoni oder Salami auf unserer Pizza wollen. Und dann kam
ich auf die Idee, selbst wieder einmal eine zu machen.«
»Das letzte Mal blieb der Teig dabei aber an der Deckenlampe
hängen, und Stuart musste hinaufklettern und ihn wieder
herunterholen. Weißt du noch?«
»Danke, dass du mich daran erinnert hast.« Aber es hatte
funktioniert. Es war uns beiden gelungen, unseren Anflug von
Melancholie beiseitezuschieben. Eric war kurz nach Allies neuntem
Geburtstag gestorben, und obwohl sie und Stuart sich ausgezeichnet
verstanden, wusste ich, dass sie ihren Vater genauso vermisste wie
ich. Wir redeten manchmal über ihn und erinnerten uns entweder an
die schönen gemeinsamen Zeiten oder auch, wenn wir den Friedhof
besuchten, an das große Loch, das sein Tod bei uns hinterlassen
hatte. Aber dies war weder die richtige Zeit noch der Ort für
derartige Erinnerungen, und das wussten wir beide.
Ich erwiderte den Druck ihrer Hand. Mein kleines Mädchen wurde
allmählich erwachsen. Sie machte sich bereits Sorgen um mich, und
das war sowohl ausgesprochen lieb als auch herzzerreißend. »Was
meinst du?«, fragte ich. »Besser Peperoni?«
»Stuart mag die mit Salami lieber«, erwiderte sie.
»Dann nehmen wir beide«, entschied ich, da ich Allies Abneigung
gegen Pizza mit Salami kannte. »Wollen wir uns auf dem Weg nach
Hause vielleicht eine DVD ausleihen? Wir müssen uns zwar schnell
entscheiden, damit die Tiefkühlsachen nicht auftauen, aber da gibt
es doch sicher einen Film, den wir uns schon lange einmal anschauen
wollten.«
Ihre Augen funkelten begeistert. »Wir könnten einen
HarryPotter-Marathon veranstalten.«
Es gelang mir, keine Grimasse zu schneiden. »Warum nicht? Es muss
mindestens schon ein Monat seit unserem letzten vergangen
sein.«
Sie rollte mit den Augen, hob Timmys Schnabeltasse auf, die
heruntergefallen war, und setzte Boo Bear gerade hin. Ich wusste,
dass mir keine Wahl blieb.
In diesem Moment klingelte mein Handy Ich warf einen Blick auf das
Display, lehnte mich gegen den Einkaufswagen und hob ab. »Hallo,
Schatz.«
»Hier ist die absolute Hölle los«, erklärte Stuart und rief in mir
mit dieser Formulierung schon wieder den Gedanken an Dämonen wach.
»Und leider muss ich auch deinen restlichen Tag
ruinieren.«
»Ich kann es kaum erwarten.«
»Hast du vielleicht zufällig für heute Abend ein fantastisches
Essen geplant? Genug für acht Personen? Mit Aperitif und Häppchen?
Und einem atemberaubenden Dessert?«
»Ich hatte eher an Tiefkühlpizza und Harry Potter gedacht«,
entgegnete ich, obwohl ich genau wusste, worauf das Ganze
hinauslaufen würde.
»Ah«, sagte Stuart. Im Hintergrund konnte ich hören, wie er nervös
mit dem Radiergummi am Ende seines Bleistifts auf die
Schreibtischplatte klopfte. Neben mir tat Allie währenddessen so,
als ob sie mit dem Kopf gegen die Glastür des Tiefkühlschrankes
schlagen würde. »Das könnte vielleicht für acht reichen«, sagte er.
»Aber es hat nicht ganz die Klasse, die ich mir erhofft
hatte.«
»Es ist also wichtig?«
»Clark meint schon.« Clark Curtis hieß der ausgesprochen
langweilige Bezirksstaatsanwalt von San Diablo, der meinen Mann als
seinen Nachfolger auserkoren hatte. Bisher war Stuart politisch
noch nicht auf der großen Bühne angekommen. Er arbeitete für wenig
Geld als einer der stellvertretenden Bezirksstaatsanwälte in der
Immobilienabteilung, war aber nur noch wenige Monate davon
entfernt, sich offiziell als Kandidat aufstellen zu lassen. Wenn er
irgendeine Chance haben wollte, die Wahl zu gewinnen, so musste er
jetzt damit beginnen, das politische Spielchen – Hände schütteln,
sich gegenseitig Gefallen erweisen und Spenden eintreiben –
mitzumachen. Obwohl er etwas nervös war, freute er sich doch auch
auf die Kampagne und fühlte sich durch Clarks Zusage geehrt. Was
mich betraf, so fand ich die Vorstellung, die Frau eines Politikers
zu werden, ehrlich gesagt mehr als beunruhigend.
»Das Haus also voller Staatsanwälte«, sagte ich und dachte darüber
nach, was ich ihnen bloß auftischen konnte. Lieber wäre ich dem
Ganzen aus dem Weg gegangen.
Allie saß mittlerweile neben mir auf dem Boden, den Rücken gegen
den Gefrierschrank gelehnt, die Stirn auf die Knie
gepresst.
»Und Richter.«
»Oh, toll.« Diesen Teil meines Hausfrauendaseins genoss ich ganz
und gar nicht. Die gute Gastgeberin zu spielen war einfach nicht
mein Ding. Ehrlich gesagt, hasste ich es. Aber mein Mann, der
aufstrebende Politiker, liebte mich trotzdem. So etwas soll es
geben.
»Ich habe eine Idee. Ich bitte Joan, für uns einen CateringService
anzurufen. Dann musst du überhaupt nichts machen, außer um sechs zu
Hause zu sein, um das Essen in Empfang zu nehmen. Die Gäste kommen
dann um sieben, und ich bin spätestens um halb da, um dir zu
helfen.«
Sehen Sie? Genau das ist einer der Gründe, warum ich ihn liebe.
Aber ich konnte sein Angebot natürlich nicht annehmen. In mir
stiegen schon Schuldgefühle auf, wenn ich nur daran dachte.
Schließlich handelte es sich um den Mann, den ich liebte. Und dann
wollte ich mir nicht einmal die Mühe machen, eine kleine Einladung
selbst zu gestalten? Wie herzlos und zickig konnte ich eigentlich
sein?
»Wie wäre es mit Rigatoni?«, fragte ich und überlegte mir
währenddessen, was wohl schlimmer war – eine herzlose Zicke oder
ein sich schuldig fühlender Schleimer.
»Und mit einem Spinatsalat? Ich kann außerdem ein paar
Appetithäppchen machen und das Nötige für meinen Apfelkuchen
kaufen.« Damit war die Liste der Gerichte, die ich Gästen zumuten
konnte, auch schon mehr oder weniger erschöpft, und Stuart wusste
das.
»Klingt super«, meinte er. »Aber bist du dir sicher, dass du das
auch alles schaffst? Es ist schließlich schon fast vier.«
»Ich bin mir sicher«, erwiderte ich selbstbewusst, auch wenn das
überhaupt nicht stimmte. Aber schließlich und endlich war es ja
seine Karriere und nicht die meine, die aufgrund meiner
kulinarischen Fähigkeiten an einem seidenen Faden hing. Er musste
wissen, worauf er sich da einließ.
»Du bist einfach die Beste«, erklärte er zärtlich. »Und jetzt
möchte ich noch gern mit Allie sprechen.«
Ich reichte meiner Tochter das Handy; sie imitierte gerade jemanden
mit einer chronischen Depression und machte das so gut, dass man
den Eindruck gewann, sie musste dringend in eine geschlossene
Anstalt eingeliefert werden. Missmutig hob sie den Kopf, nahm mir
das Telefon ab und drückte es gegen ihr Ohr. »Ja?«
Während die beiden miteinander sprachen, richtete ich meine
Aufmerksamkeit wieder auf Timmy, der sich erstaunlich brav
verhalten hatte. »Nase«, plapperte er, als ich auf meine Nase
zeigte. »Ohr, Ohr!« Ich deutete auf mein anderes Ohr. »Mehr Ohr!«
Das Kind war sprachlich hochbegabt, das war nicht zu leugnen. Ich
beugte mich über ihn und gab ihm eine Reihe feucht schmatzender
Küsse auf seinen Hals, sodass er kichern musste und um sich zu
schlagen begann. Den Kopf zur Seite gelehnt, warf ich einen Blick
auf Allie, die auf einmal nicht mehr so missmutig wirkte.
Stattdessen sah sie ausgesprochen zufrieden aus. Ich fragte mich,
was sie und Stuart ausheckten, und vermutete, dass es irgendwie um
eine weitere Autofahrt mit einer ganzen Gruppe von Teenagern ins
Einkaufszentrum gehen könnte.
»Was ist?«, fragte ich Allie, nachdem sie ihr Gespräch beendet
hatte.
»Stuart meinte, dass ich heute bei Mindy übernachten kann. Darf
ich? Bitte!«
Ich strich mir die Haare aus dem Gesicht und unterdrückte mal
wieder den Wunsch, meinen Mann demnächst doch endgültig
umzubringen. Meine Vernunft versuchte mich davon zu überzeugen,
dass er mir ja nur helfen wollte. Meine Frustration hielt dem
entgegen, dass er mich stattdessen dazu verdammt hatte, Allie jetzt
auch noch zu ihrer Freundin zu bringen, um dann innerhalb von nicht
ganz zwei Stunden das gesamte Haus zu putzen sowie das Essen
vorzubereiten und mich dabei ohne jede Unterstützung um Timmy zu
kümmern.
»Biiiitte!«
»Klar, kein Problem. Tolle Idee.« Ich schob den Einkaufswagen
weiter, während Timmy irgendetwas Unverständliches vor sich hin
plapperte. »Du kannst dein Zeug zusammenpacken und dann zu Mindy
hinübergehen, sobald wir zu Hause sind.«
Sie führte einen begeisterten Tanz auf und schlang ihre Arme um
meinen Hals. »Danke, Mami! Du bist die Beste!«
»Mm. Hoffentlich vergisst du das auch nicht, wenn du das nächste
Mal Stubenarrest hast.«
Sie zeigte auf sich und machte ein betont unschuldiges Gesicht.
»Ich? Stubenarrest? Ich glaube, du verwechselst mich mit einer
anderen Tochter.«
Ich versuchte ein finsteres Gesicht zu machen, was mir allerdings
nicht so recht gelingen wollte. Allie wusste, dass sie mich
herumgekriegt hatte. Und wenn schon. Ich war eine Frau des neuen
Jahrtausends. Ich hatte Vampire gepfählt, Dämonen getötet und
Inkubi ins Jenseits befördert. Was bedeutete da schon eine
Einladung zum Abendessen in letzter Minute?
Mindy Dupont lebt nach hinten heraus uns gegenüber. Nachdem die Mädchen unzertrennlich geworden waren, taten Laura Dupont und ich es ihnen gleich, und seitdem ist Laura mehr wie eine Schwester als eine Nachbarin für mich. Ich wusste, dass es ihr nichts ausmachen würde, wenn Allie dort übernachtete, weshalb ich mir auch nicht die Mühe machte, sie telefonisch vorzuwarnen. Ich kaufte einen fertigen Schokoladenkuchen, um sie damit zu bestechen oder ihr vielmehr zu danken, und legte ihn oben auf Allies Stapel, ehe sie sich durch unsere miteinander verbundenen Hintergärten auf den Weg zu Lauras Veranda machte. (Früher waren die Gärten nicht miteinander verbunden. Ein unterirdischer Hauptabwasserkanal verläuft zwischen ihnen, und sie sind von hohen Zäunen umgeben. Im vergangenen Jahr überzeugte Stuart jedoch die Stadtverwaltung, dass sie zwei Gartentore anbringen müssten, damit mögliche Kanalarbeiter leichter durch unsere Gärten dorthin gelangen könnten. Ich habe noch nie einen Kanalarbeiter hinter meinem Haus gesehen, aber diese Gartentore haben das Leben für mich, Laura und die Mädchen um vieles vereinfacht. Habe ich schon erwähnt, dass ich den besten Ehemann der Welt habe?)
Weniger als zehn Minuten später hatte ich Timmy vor eine Kinder-DVD gesetzt und wischte mit einem Mopp unseren Parkettboden, wobei ich mich darum bemühte, all die winzig kleinen Ritzen und Spalten nicht zu übersehen, die einem Richter vielleicht ins Auge fallen konnten, der besonders pingelig war. Ich war mir ziemlich sicher, dass unter unserem Sofa die Staubmäuse mal wieder eine Vollversammlung abhielten, aber solange sie nicht begannen, sich im ganzen Haus zu verteilen, scherte mich das herzlich wenig.
Das Telefon klingelte, und ich stürzte an den Apparat.»Allie meinte, dass du heute Abend zu einer
Dinnerparty verdonnerte wurdest. Brauchst du Hilfe?«
Auch wenn sie mir wirklich ans Herz gewachsen war, so konnte man
Laura nicht als gute Hausfrau oder Köchin bezeichnen. Sie war oft
sogar noch chaotischer als ich. »Alles unter Kontrolle, vielen
Dank. Meine Klamotten sind herausgelegt, die Sauce köchelt vor sich
hin, die Häppchen für den Aperitif liegen bereits auf Backpapier
und warten darauf, in den Ofen geschoben zu werden, und ich habe
tatsächlich acht heile Weingläser gefunden.« Ich holte tief Luft.
»Erstaunlicherweise passen sie sogar zusammen.«
»Wow, du bist ja eine kleine Martha Stuart, als sie noch so perfekt
war, dass es einem unheimlich wurde. Und wie geht es dem kleinen
Mann?«
»Er sitzt bereits im Schlafanzug vor dem Fernseher.«
»Und ist er schon gebadet?«
»Heute gibt es mal kein Bad. Stattdessen einen Extrafilm.« Sie
stieß einen erleichterten Seufzer aus. »Also doch ein Makel. Dann
muss ich also nicht vor Neid erblassen.«
Ich lachte. »Du kannst gern vor Neid erblassen, weil ich das alles
innerhalb kürzester Zeit geschafft habe. Es ist ein Sieg, der
deinen Neid durchaus verdient.« Ich wies sie nicht darauf hin, dass
ich das Eigentliche noch vor mir hatte. Für mich würde dieser Abend
erst einen Erfolg bedeuten, wenn die Gäste glücklich nach Hause
gingen, sich zufrieden ihre Bäuche rieben und Stuart alle möglichen
politischen Gefallen versprachen. »Solange du mich nicht dafür
hasst, dass ich dir Allie aufs Auge gedrückt habe. Ich hoffe, das
ist okay?«
»Kein Problem. Sie haben sich in Mindys Zimmer verbarrikadiert und
probieren meine gesamten Clinique-Pröbchen aus. Wenn ihnen das zu
langweilig wird, holen wir uns ein Eis. Aber ich kann es mir kaum
vorstellen. In dieser Schachtel liegen Pröbchen, die ich über zwei
Jahre lang zusammengesammelt habe. Ich vermute, das gibt mir in
etwa vier Stunden Freizeit. Ich mache mir jetzt etwas Popcorn, lege
eines meiner alten Videos mit Cary Grant ein und warte gemütlich,
bis Paul nach Hause kommt.«
»Herzlichen Dank, genau das wollte ich hören«, entgegnete
ich.
Sie lachte. »Du hast doch deinen eigenen Cary Grant.«
»Der bald nach Hause kommt. Ich sollte weitermachen.«
Laura legte auf, nachdem ich ihr versprochen hatte, sie auf jeden
Fall anzurufen, falls ich doch noch etwas brauchen sollte. Zur
Abwechslung hatte ich aber tatsächlich alles unter Kontrolle. Der
reine Wahnsinn. Ich stellte den Mopp in die Speisekammer zurück und
ging dann ins Wohnzimmer, um einen letzten Blick auf mein Werk zu
werfen. Gemütlich und einladend. Man konnte es vielleicht sogar als
souverän elegant bezeichnen. Der tanzende Dinosaurier auf dem
Fernsehbildschirm verlieh dem Ambiente zwar nicht gerade den
letzten Schliff, aber ich wollte das Unterhaltungsprogramm für
Timmy sowieso bald beenden.
Zuerst jedoch musste ich das Essen fertig machen. Ich gab Timmy
einen Kuss auf die Wange, ohne eine Reaktion zu bekommen. Er
schaute fasziniert vier australischen Männern beim Tanzen zu. Wenn
er bereits fünfzehn gewesen wäre, hätte ich vielleicht nachgehakt.
Mit seinen fünfundzwanzig Monaten nahm ich allerdings an, dass
diese Faszination für tanzende Kerle nicht anhalten
würde.
Ich kehrte also in die Küche zurück und ging in Gedanken die Liste
der Dinge durch, die es noch zu erledigen gab. Eine rasche Bewegung
vor dem Küchenfenster ließ mich aufblicken. Mir fiel ein, dass ich
vergessen hatte, Kabit, unsere Katze, zu füttern.
Einen Moment überlegte ich mir, sie bis nach der Party warten zu
lassen, hielt das dann aber doch nicht für fair. Ich ging also zur
Frühstücksecke, wo neben dem Tisch auf einer kleinen Matte ihre
Schälchen stehen, und beugte mich hinunter, um die Wasserschale
aufzuheben. In diesem Moment erfüllte das Geräusch von
zersplitterndem Glas den Raum.
Sofort schnellte ich hoch, doch leider war ich nicht rasch genug.
Der alte Mann aus dem WalMart sprang – für einen Greis überraschend
agil – durch das zerschlagene Fenster und stürzte sich sofort auf
mich. Wir fielen zu Boden, rollten über die Fliesen in die Küche
hinüber, wo wir vor dem Herd liegen blieben. Er warf sich auf mich.
Seine knochigen Hände drückten meine Armgelenke nach unten, und
sein Gesicht befand sich knapp über dem meinen. Der Atem, der mir
entgegenschlug, stank nach fauligem Fleisch und verkochtem
Blumenkohl, und ich schwor mir, nie mehr meinen Instinkt zu
ignorieren.
»Zeit zu sterben, Jägerin«, ächzte er mit einer tiefen, rauen
Stimme, die so gar nicht nach einem alten Mann klang.
Ein Anflug von Panik erfasste mich. Woher wusste er, dass ich
Jägerin gewesen war? Ich hatte mich doch schon lange zurückgezogen,
hatte einen neuen Nachnamen, lebte in einer anderen Stadt. Das
waren keine guten Neuigkeiten – ganz und gar nicht gut. Seine Worte
beunruhigten mich wesentlich mehr als der fiebrige Ausdruck in
seinen Augen, der mir deutlich zeigte, dass er zum Töten bereit
war.
Mir blieb keine Zeit, lange über die Implikationen nachzudenken,
denn der Kerl begann nun seine Hände langsam auf meinen Hals
zuzubewegen. Ich hatte absolut keine Lust, mich gleich in einem
Würgegriff zu befinden, und musste deshalb rasch handeln.
Während er sein Gewicht verlagerte, um besser an meinen Hals zu
gelangen, rollte ich zur Seite und schaffte es, ein Bein
freizubekommen. Ich winkelte das Knie an und erwischte ihn damit in
seinen Weichteilen. Er heulte auf, ließ aber nicht los. Das ist
wirklich das Blöde bei Dämonen; wenn man ihnen einen Tritt in die
Eier versetzt, zeigt das leider nicht die Wirkung, die es zeigen
sollte. Was in diesem Fall bedeutete, dass ich mich noch immer
unter ihm befand, seinen stinkenden Atem riechen musste und mich
verdammt frustriert fühlte. Diesen Mist konnte ich jetzt wirklich
nicht gebrauchen. Schließlich gab es Wichtigeres zu
erledigen.
In diesem Moment rief Timmy aus dem Wohnzimmer: »Mami! Mami! Ganz
laut! Ganz laut!« Da wusste ich, dass sein Interesse für den Film
seiner Neugier gewichen war, was wohl hier in der Küche so ›ganz
laut‹ sein mochte.
Ich konnte mich nicht daran erinnern, ob ich nun das Babygatter
geschlossen hatte oder nicht, doch allein die Vorstellung, dass
mein Zweijähriger sehen könnte, wie seine Mami gegen einen Dämon
kämpft, ließ mich neue Kräfte entwickeln. Ich mochte vielleicht
nicht mehr in Übung sein, doch diese Motivation reichte.
»Ich bin gleich da!«, rief ich und holte dann alles aus meinem
Körper heraus, was noch in ihm steckte. Es gelang mir, den Opa auf
den Rücken zu werfen und mich nun meinerseits auf ihn zu hocken.
Wütend kratzte ich ihm über das Gesicht und versuchte dabei, seine
Augen zu erwischen, verletzte aber nur seine Haut.
Er stieß einen Schrei aus, der direkt aus der Hölle zu kommen
schien, und stürzte sich erneut auf mich. Mit einem Satz sprang ich
auf – überrascht und ziemlich begeistert davon, dass ich offenbar
in besserer Verfassung war als vermutet. Innerlich nahm ich mir
vor, jetzt öfter ins Fitnessstudio zu gehen, während ich mit dem
Fuß ausholte und ihn damit am Kinn erwischte. Meine Hüfte
schmerzte. Morgen früh würde ich bitter dafür zahlen
müssen.
Der Dämon stieß einen weiteren Schrei aus, der diesmal synchron mit
Timmys Heulen das Haus erfüllte. Mein kleiner Mann rüttelte wie ein
Verrückter am Babygatter, das zum Glück doch geschlossen war.
Dieser Opa rannte währenddessen wie ein Irrer gegen mich. Nun war
es an mir, aufzubrüllen, denn er schleuderte mich gegen die
granitene Arbeitsplatte. Eine Hand befand sich bereits an meinen
Hals, und ich rang verzweifelt nach Luft, während ich völlig
vergeblich um mich schlug.
Der Dämon lachte. In seinen Augen zeigte sich eine solche Lust an
der Qual, dass ich noch wütender wurde. »Nutzlose Schlampe«,
zischte er hasserfüllt und hauchte mir seinen fauligen Atem ins
Gesicht. »Du kannst genauso gut sterben, Jägerin. Das wirst du
sowieso, wenn sich die Armee meines Herrn und Meisters erhebt und
in seinem Namen den Sieg verkündet.«
Das klang nicht gut, ganz und gar nicht gut, aber momentan hatte
ich keine Zeit, weiter darüber nachzudenken. Der fehlende
Sauerstoff in meiner Lunge machte sich allmählich bemerkbar. Ich
wusste nicht mehr so recht, wo oben und unten war. Vor meinen Augen
begann sich alles zu drehen und wurde allmählich von einem dunklen
Lila überzogen. In diesem Augenblick verwandelte sich Timmys Heulen
in ein erbärmliches Wimmern. Ein erneuter Schub aus Zorn und Angst
gab mir die fehlende Kraft. Ich tastete mit der Hand über die
Arbeitsfläche, bis ich ein Weinglas fand. Meine Finger schlossen
sich darum, und ich knallte es auf die Arbeitsfläche, sodass der
Fuß abbrach. Die Küche begann sich erneut zu drehen. Ich brauchte
dringend Luft. Mir blieb nur eine einzige Chance. Mit aller Kraft
rammte ich den abgebrochenen Stiel des Weinglases in sein Gesicht.
Ich spürte, dass ich getroffen hatte, und meine Muskeln entspannten
sich. Das kaputte Glas durchfuhr das weiche Gewebe seines
Augapfels, ohne auf großen Widerstand zu stoßen.
Ein Zischen, und ich sah das mir nur allzu vertraute Flackern, als
der Dämon aus dem Körper des alten Mannes gesaugt wurde und dieser
leblos zu Boden stürzte. Erschöpft lehnte ich mich gegen die
Arbeitsplatte und holte tief Luft. Sobald ich mich stärker fühlte,
betrachtete ich die hässliche Leiche auf den frisch gewischten
Fliesen und seufzte. Leider lösen sich Dämonen nicht wie in den
Filmen in eine Rauchwolke oder in Asche auf. Was zum Teufel sollte
ich mit diesem Ding hier anfangen? Wie sollte ich den Leichnam
loswerden, ehe die Gäste kamen? Da hörte ich, wie die Verandatür
quietschte und kurz darauf Allies beunruhigte Stimme aus dem
Wohnzimmer ertönte. »Mami? Mami!«
Timmys Heulen wurde nun wieder lauter, damit er mit seiner
Schwester mithalten konnte. Ich schloss für einen Moment die Augen,
um nicht die Nerven zu verlieren.
»Komm hier nicht rein, meine Süße! Mir ist ein Glas kaputtgegangen,
und die Splitter liegen überall auf dem ganzen Boden.« Während ich
redete, packte ich meinen toten Gegner an den Armen und zerrte ihn
in die Speisekammer. Irgendwie gelang es mir, ihn in den kleinen
Raum zu bugsieren und die Tür zuzumachen.
»Was ist los?«, fragte Allie, die nun mit Timmy auf dem Arm um die
Ecke blickte.
Ich zählte innerlich bis fünf. Jetzt war wirklich nicht die
richtige Zeit, meiner Tochter eine Standpauke zu halten, weil sie
wieder einmal meine Anweisungen ignoriert hatte. »Ich habe doch
gesagt, dass du nicht hier rein kannst.« Rasch stellte ich mich ihr
in den Weg, damit sie nicht weiter kam. »In der ganzen Küche liegen
Glassplitter.«
»Mann, Mami.« Ihre Augen weiteten sich, als sie das Chaos
betrachtete. »Jetzt darfst du mich aber nicht mehr schimpfen, wenn
mein Zimmer mal nicht so ordentlich ist.«
Ich rollte mit den Augen.
Sie zeigte auf das große Panoramafenster, das sich hinter unserem
Frühstückstisch befand und nun keine Scheibe mehr hatte. »Was ist
denn passiert?«
»Ein Ball«, improvisierte ich hastig. »Ist einfach so durch das
Fenster geflogen.«
»Oh, Mann! Hat Brian endlich mal seinen Baseball
getroffen?«
»Sieht ganz so aus.« Der neunjährige Brian von nebenan spielt
ständig im Garten Baseball. Ich fühlte mich zwar nicht gerade
prächtig dabei, ihm das Ganze in die Schuhe zu schieben, aber damit
wollte ich mich später befassen.
»Ich hole den Besen.«
Allie setzte Timmy auf seinen Kinderstuhl und ging zur
Speisekammer. Gerade noch rechtzeitig erwischte ich sie am
Arm.
»Ich kümmere mich schon darum, Schätzchen.«
»Aber du musst doch das Essen machen!«
»Genau. Und deshalb brauche ich auch Ruhe und Konzentration.« Das
machte zwar nicht viel Sinn, was ich da gerade so von mir gab, aber
meine Tochter schien es nicht zu bemerken. »Hör zu, es wäre
wirklich toll, wenn du Timmy für mich ins Bett bringen könntest.
Und dann kannst du wieder zu Mindy. Ehrlich, ich komme schon
zurecht.«
Sie sah mich ein wenig verunsichert an. »Meinst du
wirklich?«
»Natürlich. Alles unter Kontrolle. Warum bist du eigentlich wieder
da?«
»Ich habe meine neue CD vergessen.«
Ich hätte es wissen müssen. Rasch hob ich Timmy hoch, der sich zum
Glück inzwischen wieder beruhigt hatte und nun die ganze Szene
interessiert beobachtete. »Wenn du den kleinen Racker für mich ins
Bett bringst, tust du mir einen Riesengefallen.«
Sie runzelte zwar noch immer die Stirn, widersprach aber nicht,
sondern nahm mir Timmy ab.
»Gute Nacht, mein Schätzchen«, sagte ich und gab sowohl Allie als
auch Timmy einen Kuss.
Meine Tochter wirkte weiterhin so, als ob sie nicht wüsste, was sie
von der ganzen Angelegenheit halten sollte, doch dann drehte sie
sich mit Timmy auf der Hüfte um und ging zur Treppe. Ich stieß
einen leisen Seufzer aus und warf einen Blick auf die Uhr. Es
blieben mir noch genau dreiundvierzig Minuten, um das Chaos in
meiner Küche zu beseitigen, einen toten Dämon zu entsorgen und die
Dinnerparty auf die Reihe zu bekommen. Danach konnte ich mich der
Frage widmen, was eigentlich diesen Dämon nach San Diablo
verschlagen hatte. Und vor allem, warum er gerade mich angreifen
wollte.
Aber zuerst die Rigatoni.
Ich wusste wirklich, wie man Prioritäten setzt, nicht wahr?
ZWEI
Die Häppchen befanden sich im Ofen, den Tisch hatte ich gedeckt, der Wein atmete, und ich zerrte gerade die Leiche eines Dämons über den Küchenboden, als ich unser automatisches Garagentor hörte. Langsam, quälend langsam fuhr es nach oben. Verdammt.
Ich hielt abrupt inne, und mein Blick schoss zur Küchenuhr. Achtzehn Uhr fünfundzwanzig. Er war früh dran. Der Mann, der selbst zehn Minuten zu spät zu unserer Hochzeit kam (und das, nachdem ich behauptet hatte, sie würde eine halbe Stunde früher beginnen, als sie es tatsächlich tat), hatte es geschafft, einmal rechtzeitig zu Hause zu sein.
Ich sah den Toten finster an. »Heute bin ich
wohl gegen keine Überraschung gefeit, was?«
Er antwortete nicht, was ich ziemlich beruhigend fand – bei Dämonen
kann man nie wissen. Ich begann also, ihn wieder zurück in die
Speisekammer zu zerren. So wie ich unser Garagentor kannte, hatte
ich noch mindestens zwei Minuten Zeit, ehe Stuart die Küche betrat.
Er nimmt sich immer wieder vor, bestimmte Reparaturen im Haus zu
erledigen, und ich bedränge ihn auch immer wieder, aber in diesem
Moment war ich mehr als dankbar, dass mein Mann mit zu den besten
Bummelanten der Welt gehörte.
Ursprünglich wollte ich die Leiche durch die Verandatür in das
Gartenhäuschen bringen, von dem ich wusste, dass weder Stuart noch
Allie je im Traum daran dachten, es zu betreten. Ich hatte bereits
eine Nachricht auf Padre Corlettis Anrufbeantworter hinterlassen
und ihm von dem Dämon und der rätselhaften teuflischen Armee
berichtet. Sobald er mich zurückrief, wollte ich ihn bitten, sofort
einen Trupp vorbeizuschicken, um den Dämon abzuholen.
Nun jedoch musste ich mich damit abfinden, ein Abendessen mit einem
vor sich hin rottenden Dämon in meiner Speisekammer zu geben. Ich
hörte, wie das Tor einrastete und Stuart seinen Wagen in die Garage
fuhr. Angestrengt lauschend, stieß ich die Dosen mit Katzenfutter
beiseite, um Platz für die Leiche zu schaffen.
Der Motor verstummte, und eine Wagentür wurde
zugeschlagen.
Ich schob den Dämon panisch in die Speisekammer und stellte die
Mülleimer davor, sodass man nicht gleich als Erstes die Leiche sah,
wenn man die Tür öffnete. Doch das nützte überhaupt nichts. Noch
immer waren sein weißes Hemd und die blaue Hose deutlich zu
erkennen.
Die Klinke wurde herabgedrückt. Wie immer knarzte die Tür, die von
der Garage in die Küche führt. Hektisch ergriff ich das Erstbeste,
was mir nützlich erschien – es war eine Rolle mit Mülltüten –, und
riss einige davon ab. Ich entfaltete sie und warf sie über den
leblosen Körper und die Mülleimer. Es war zwar nicht perfekt, aber
für den Moment musste das reichen.
»Katie?«
Mein Herz schlug bis zum Hals, als ich herumsprang, um Stuart zu
begrüßen. Wäre diese Bewegung nicht aus purer Verzweiflung
geschehen, wäre sie wahrscheinlich sogar als elegant durchgegangen.
Ich streckte den Kopf hinter der Speisekammertür hervor, lächelte
meinen Mann an und hoffte inbrünstig, dass ich glücklich
aussah.
»Ich bin hier, Schatz«, sagte ich. »Du bist aber früh
dran.«
Er schenkte mir sein berühmtes Lächeln, Marke Stuart
Connor.
»Du meinst wohl, dass ich pünktlich bin.«
Ich trat aus der Speisekammer und schloss die Tür hinter mir. »Bei
dir bedeutet das, dass du früh dran bist.« Mit diesen Worten küsste
ich ihn wie eine gute Ehefrau auf die Wange. Dann nahm ich seinen
Aktenkoffer, legte ihm sanft die Hand auf den Rücken und schob ihn
aus der Küche. »Du hattest doch bestimmt einen anstrengenden Tag«,
fuhr ich fort. »Wie wäre es erst einmal mit einem Glas
Wein?«
Er blieb stehen, drehte sich zu mir um und sah mich so an, als ob
er befürchtete, ich wäre von Dämonen besessen. »Kate, die Gäste
sind in einer halben Stunde hier.«
»Ich weiß. Und es ist ein wichtiger Abend für dich. Du solltest
dich entspannen.« Ich versuchte ihn weiterzudrängen. »Rot oder
weiß?«
Er rührte sich jedoch nicht von der Stelle. »Katie.«
»Was?«
»In einer halben Stunde«, wiederholte er. »Und du bist noch nicht
umgezogen und –« Seine Augen weiteten sich. Er schnappte hörbar
nach Luft, und ich wusste ziemlich genau, warum.
»Brian hat es anscheinend mit dem Baseball etwas wild getrieben«,
erklärte ich und zuckte lässig mit den Achseln. Innerlich fluchte
ich. Ich hatte zwar die Scherben zusammengekehrt und unsere dünnen
Vorhänge vorgezogen, um das Malheur zu verdecken, aber gegen die
leichte Brise, die hereinwehte und den feinen Stoff aufblähte,
konnte ich natürlich nichts machen.
Er sah mich fassungslos an. »Hast du einen Glaser
angerufen?«
Okay, jetzt war ich sauer. Ich zog eine Augenbraue hoch, stemmte
meine Hände in die Hüften und starrte ihn an. »Nein, Stuart, das
habe ich noch nicht. Ich war damit beschäftigt, in letzter Minute
ein Abendessen für deine Gäste zu organisieren.«
Er sah vom Fenster zu mir und dann wieder zum Fenster. »Mit den
Kindern alles in Ordnung?«
»Keiner befand sich in der Nähe, als es kaputtging«, schwindelte
ich.
»Wo ist Tim?«
»Im Bett«, antwortete ich. »Es geht ihm gut. Es geht uns allen
gut.«
Er betrachtete mich eine Minute länger und strich mir dann eine
Locke hinter das Ohr. Als er meine Schläfe streichelte, zuckte ich
zusammen.
»Das nennst du gut?«
Ich atmete langsam aus. Ich wusste nicht, ob ich vom Glas oder von
dem Dämon verletzt worden war. »Es ist nur ein kleiner Kratzer«,
meinte ich leichthin. »Nichts Großes.«
»Es hätte dich ins Auge treffen können.«
Ich zuckte die Schultern. Es hätte noch wesentlich Schlimmeres
passieren können.
Er drückte meine Hand. »Es tut mir wirklich leid wegen heute Abend.
Ich hatte ja keine Ahnung, dass du hier ein Katastrophengebiet
evakuieren musst, während du das Essen kochst. Soll ich dir
irgendwie helfen?«
Ich war vielleicht etwas verärgert über ihn gewesen, doch das
verschwand bei seinen Worten auf einen Schlag. »Ich habe alles
unter Kontrolle«, sagte ich. »Geh nur und mach das, was du noch
machen musst. Du bist schließlich heute Abend derjenige, der im
Mittelpunkt steht.«
Er zog mich in seine Arme. »Ich bin dir wirklich dankbar. Ich weiß,
dass ich es dir erst in letzter Minute gesagt habe, aber ich bin
mir sicher, dass es sich lohnen wird.«
»Spenden für deine Kampagne?«
»Vielleicht. Aber ich hoffe auch auf eine andere Art der
Unterstützung. Zwei Staats- und zwei Bundesrichter – das bedeutet
viel Einfluss und Macht.«
»Warum sollten sie auch nicht von dir beeindruckt sein?«, fragte
ich und legte den Kopf zurück, um ihn anzusehen. »Du bist wirklich
fantastisch.«
»Du bist fantastisch«, flüsterte er mit dieser sanften Stimme, die
er nicht benutzen sollte, wenn er nicht vorhatte, mich auf der
Stelle zum Bett zu tragen. Seine Lippen pressten sich auf die
meinen, und einige süße Sekunden lang vergaß ich Dämonen,
Dinnerpartys, Rigatoni und –
Die Häppchen!
Ich riss mich los. »Der Ofen!«, murmelte ich. »Ich muss die
Häppchen herausholen.« Schließlich konnte ich einem Bundesrichter
keine verbrannten Miniquiches vorsetzen. Das würde bestimmt sowohl
gesellschaftlich als auch politisch Selbstmord bedeuten.
»Das übernehme ich. Und dann muss ich irgendwie dieses Fenster
abdecken, es soll nämlich heute noch regnen.« Er betrachtete mich
aufmerksam von Kopf bis Fuß. »Ich bin schon fertig, aber du musst
dich noch umziehen. Sie werden bald hier sein, mein
Schatz.«
Als ob ich das hätte vergessen können.
Noch auf der Treppe zog ich mein T-Shirt und meinen BH aus und joggte dann im ersten Stock den Gang zur Schlafzimmertür entlang. Dort warf ich achtlos die Kleidungsstücke auf den Boden und riss mir meine verschwitzte Jogginghose vom Leib. Ich kickte das Bündel Klamotten beiseite und stürzte mich auf das Outfit, das ich bereits vor einer Weile auf das ungemachte Bett gelegt hatte. Für den Abend hatte ich mich für ein hübsches Sommerkleid mit Blumenmuster entschieden. Ich hatte es zu Beginn des Sommers erstanden (im selben Geschäft hatte es für Allie einen neuen Badeanzug und Shorts gegeben und für Timmy ein paar T-Shirts). Mit seinem eng anliegenden Oberteil, der schmal geschnittenen Taille und dem weich fließenden Rock wirkte es sowohl festlich als auch recht sexy Da ich mein Leben hauptsächlich in T-Shirts, Jeans oder Jogginghosen verbrachte, bot eine Party wie diese eine der wenigen Gelegenheiten, ein so hübsches Kleid einmal tragen zu können.
Ein Auge ständig auf dem Digitalwecker neben dem Bett, schlüpfte ich hastig in ein Paar hellblaue Mules, strich mir kurz mit einer Bürste durch die Haare und trug dann noch etwas Wimperntusche auf. Fertig.
So schnell war ich normalerweise nicht angezogen, aber heute stand einiges auf dem Spiel, und das Ganze dauerte weniger als drei Minuten. Doch selbst das war noch zu lang gewesen. In derselben Sekunde, in der ich außer Atem in der Küche ankam, wusste ich auch schon, dass ich zu lange gebraucht hatte. Viel zu lange.
»Was zum Teufel ist das?«, fragte mich Stuart. Er stand vor der offenen Speisekammer und blickte hinein. Sein Gesicht war von meinem Platz aus nicht zu sehen.
Der Klang seiner Stimme half mir leider auch nicht weiter. Er klang verblüfft, aber das konnte auch seine Reaktion auf eine neue Sorte Müsli sein und musste nicht unbedingt die Leiche hinter dem Katzenfutter betreffen. Wenn er nur meine Wahl von Rice Crispies statt Special K infrage stellte, wäre eine Antwort wie »Das ist nur ein toter Dämon, Liebling. Ich werde ihn bis morgen früh entsorgt haben« ziemlich unpassend gewesen.
Ich hastete also zu ihm und legte ihm erneut meine Hand (weiblich, unterstützend) auf den Rücken, um dann betont gelassen in die Speisekammer zu blicken. Soweit ich das von dort sagen konnte, war kein Dämon in Sicht. Nur Dutzende von Müllsäcken, die den kleinen Raum völlig verdeckten.
Puh.
»Was soll denn los sein?«
»Dieses Chaos«, sagte er.
»Ja, stimmt. Ziemliches Chaos.« Ich redete einfach drauflos
und stellte mich dabei gerader als sonst hin, als ob eine gute Haltung mein Gehirn mit mehr Sauerstoff versorgen würde. »Allie«, fuhr ich aufs Geratewohl fort und sprach damit den ersten, irgendwie sinnvoll erscheinenden Gedanken aus. Zuerst Brian, jetzt Allie. Besaß ich denn überhaupt kein Schamgefühl mehr? »Ich werde gleich morgen mit ihr ein ernstes Wörtchen reden.«
Es war klar, dass für Stuart damit die Angelegenheit noch nicht erledigt war – mein Mann ist nämlich ein ziemlicher Ordnungsfreak. Deshalb schubste ich ihn gnadenlos aus der Speisekammer und schlug vor seiner Nase die Tür zu. »Ich dachte, du wolltest dich um das Fenster kümmern.«
»Deshalb habe ich ja auch nach den Müllsäcken
gesucht«, erklärte er finster. »Wegen des Regens.«
»Ach ja, natürlich. Ich bringe dir gleich welche.« Ich zeigte auf
die Küchenuhr. »Noch dreißig Minuten – weißt du noch? Jetzt sind es
schon wieder weniger.«
Das veranlasste ihn zum Glück, sich endlich von der Stelle zu
bewegen. In einem Wirbelwind männlicher Effizienz gelang es ihm
auch tatsächlich, das kaputte Fenster in weniger als einer
Viertelstunde abzudecken. »Es ist zwar nicht schön«, gab er zu, als
er zu mir ins Wohnzimmer kam, wo ich gerade die kleinen Quiches auf
unseren besten orangefarbenen Serviertellern arrangierte. »Aber
zumindest regnet es jetzt nicht herein.«
Nur Dämonen hält es nicht ab. Ich ließ mir nicht anmerken, dass mir
ein Schauder über den Rücken lief, als ich gemeinsam mit Stuart
sein Werk betrachtete. Man sah nur noch eine Wand aus schwarzen
Mülltüten. Ich zog eine Grimasse. Jetzt nur nicht daran denken, wie
eine Horde von Dämonen auf dem Fensterbrett im Freien sitzt und nur
darauf wartet, ihren Kollegen zu rächen!
Ich zwang mich also dazu, meine Gedanken in eine andere Richtung zu
lenken, und kehrte ins Wohnzimmer zurück, wo ich erneut mein Werk
betrachtete. Gar nicht übel. »Okay«, verkündete ich. »Ich glaube,
die Schlacht kann beginnen. Wenn wir unsere Gäste hier im
Wohnzimmer und im Esszimmer unterhalten, sollte eigentlich alles in
Ordnung sein.«
»Oh«, entfuhr es Stuart. »Gut, klar. Beschränken wir uns auf diese
beiden Räume.«
In meinem Kopf gingen verschiedene Alarmglocken an. Ich dachte an
den Berg ungebügelter Wäsche, der in der Diele im oberen Stockwerk
lag, an das Katastrophengebiet, das Allie ihr Reich nannte, und an
die Mengen von Plüschtieren und kleinem Spielzeug, die den Boden
von Timmys Zimmer bedeckten. Ich war mir zudem sicher, dass das
Gesundheitsamt wahrscheinlich das Badezimmer der Kinder versiegeln
würde, um dort vielleicht ein Heilmittel gegen Krebs aus der bisher
unbekannten exotischen Unterart von Schimmelpilz zu gewinnen, die
um unsere Badewanne wucherte.
»Willst du denn den Gästen unser Haus zeigen?«, fragte ich im
gleichen Tonfall, mit dem ich mich erkundigt hätte, ob er vorhabe,
sich nach dem Nachtisch noch rasch einer Gehirnoperation zu
unterziehen.
»Nur Richter Larson«, erwiderte Stuart, dessen Stimme deutlich
unsicherer klang, nachdem er meine Miene bemerkt hatte. »Er sieht
sich gerade nach einem Haus hier in der Stadt um, und ich glaube,
ihm gefällt unser Viertel.« Er fuhr sich nervös mit der Zunge über
die Lippen, ohne den Blick von mir zu wenden. »Ich … äh … Ich bin
mir sicher, dass es ihm nichts ausmacht, wenn nicht alles picobello
ist.«
Ich zog eine Augenbraue nach oben und würdigte ihn keiner
Antwort.
»Oder ich könnte ihn auch ein anderes Mal hier
herumführen.«
»Sehr schön«, erwiderte ich sogleich mit einem gewinnenden Lächeln.
»Ein andermal wäre wunderbar.«
»Okay, kein Problem.«
Auch das liebe ich an Stuart: Er lernt schnell. »Und wer ist dieser
Richter Larson?«, wollte ich wissen. »Kenne ich ihn
schon?«
»Nein, das tust du nicht. Er ist gerade erst neu ans
Bundesbezirksgericht berufen worden«, erklärte Stuart, »und ist
erst vor Kurzem aus Los Angeles hierhergezogen.«
»Ach so.« Es stellt mehr oder weniger eine Unmöglichkeit dar, nicht
den Überblick über all die Richter und Staatsanwälte zu verlieren,
denen Stuart ständig begegnet. »Du kannst ihm ja die Küche und das
Arbeitszimmer zeigen, wenn dir das so wichtig ist. Aber führe ihn
bloß nicht nach oben.« Ich schob die Schale mit Obst ein wenig nach
links, damit sie hübsch in einer Linie mit den Gabeln stand, die
ich ebenfalls auf dem Beistelltisch aufgereiht hatte.
Weiter kamen wir in unserem Gespräch nicht, denn in diesem Moment
klingelte es an der Tür. »Geh schon«, sagte ich. »Ich muss noch
schnell die Weingläser herausstellen.« In meinem Kopf ging ich
eilig eine weitere Liste durch: Häppchen zum Aperitif – abgehakt;
Wein – abgehakt; Servietten –
Oh, verdammt. Die Servietten.
Ich wusste, dass ich irgendwo im Haus noch kleine
CocktailServietten hatte, konnte mich aber um alles in der Welt
nicht daran erinnern, wo. Und wie stand es mit den kleinen Tellern
für die Häppchen? Wie konnte ich das nur vergessen?
Mein Puls gewann wieder einmal an Geschwindigkeit und erreichte
allmählich den gleichen Rhythmus wie zuvor, als ich von dem Dämon
angegriffen worden war. Genau deshalb hasse ich es, Leute zum Essen
einzuladen. Ich vergesse immer irgendetwas. Nie läuft alles völlig
glatt. Stuart würde wahrscheinlich die Wahl verlieren, seine ganze
politische Misere vermutlich an genau diesem Abend ihren
Ausgangspunkt nehmen. In diesem Moment. An jenem Abend, an dem
seine Frau eine einfache Einladung zum Essen nicht auf die Reihe
brachte!
Ich konnte es mir gleich aus dem Kopf schlagen, Dämonen als Ausrede
zu benutzen. Nein, ich hatte ganz einfach die Servietten und die
Teller vergessen, und das wäre mir auch ohne den bösen Opa
passiert. So bin ich nun mal –
»Hallo.« Stuart stand plötzlich neben mir, und seine Lippen
strichen über mein Haar. Seine weiche Stimme riss mich aus meiner
Tirade gegen mich selbst. »Habe ich dir eigentlich schon gesagt,
wie fantastisch du bist? Wie ist es dir nur gelungen, all das so
kurzfristig aus dem Hut zu zaubern?«
Ich blickte zu ihm hoch, und die Liebe, die ich in seiner Miene
lesen konnte, ließ mich alles andere vergessen. »Ja«, sagte ich.
»Das hast du.«
»Das wollte ich auch.«
Ich blinzelte. Mein Mann mochte der süßeste Vertreter seines
Geschlechts auf diesem Planeten sein, aber ich hatte nicht vor,
meine Wimperntusche zu ruinieren. »Ich weiß nicht, wo die
Cocktail-Servietten sind«, gab ich mit einem leichten Schniefen in
der Stimme zu.
»Ich glaube, das werden wir überleben«, sagte er. Die Türklingel
ertönte ein zweites Mal. »Jetzt sammle dich lieber und dann komm
bitte an die Tür.«
Ich nickte. Allein der Gedanke, dass mein Mann mich liebte, obwohl
ich in hausfraulicher Hinsicht eine totale Katastrophe war,
beruhigte mich zutiefst.
»Kate«, rief er mir noch zu, als er in den Flur hinaustrat. »Schau
mal im Buffet nach, zweite Schublade links hinter dem silbernen
Salatbesteck.«
Clark traf natürlich wie immer als Erster ein. Während er und Stuart das typische männliche Politikergebaren praktizierten – also über die bevorstehende Wahlkampagne redeten, verschiedene, angeblich idiotische Regelungen des neu ernannten Stadtrates in den Schmutz zogen etc. pp. –, nahm ich die Gelegenheit wahr, schon einmal meine Rolle als perfekte Ehefrau und strahlende Göttin hinter dem Herd einzuüben.
Ich holte die Cocktail-Servietten heraus (sie lagen tatsächlich an der Stelle, wo Stuart gemeint hatte), stellte sieben Weingläser auf den Beistelltisch (das achte hatte ja beim Außergefechtsetzen des Dämons daran glauben müssen) und sah noch einmal nach, wie es meinem Dessert ging.
Währenddessen warf ich immer wieder einen raschen Blick auf das schlecht reparierte Fenster. Ich erwartete beinahe, jeden Augenblick einer Dämonen-Armee gegenüberzustehen, die unser Haus enterte. Aber alles blieb ruhig. Vielleicht zu ruhig?
Ich runzelte die Stirn. An einem normalen Tag hätte ich mich als melodramatisch beschimpft. Aber inzwischen wusste ich nicht mehr, was eigentlich normal bedeutete. Über vierzehn Jahre lang waren für mich Windeln und Haushaltswochen, Heilpraktiker und Elternabende normal gewesen. Dämonen – besonders die Sorte, die draufgängerisch genug war, um einfach ohne jede Vorwarnung anzugreifen – waren nicht normal. Ganz egal, von welcher Seite aus man die Sache betrachtete.
Trotzdem hatten sie vor vielen Jahren einen
wichtigen Teil meines Lebens ausgemacht.
Es war kein Leben, in das ich zurückkehren wollte. Es war kein
Leben, das mein Mann oder meine Kinder jemals kennenlernen
sollten.
Aber auf einmal war dieses Leben hier eingedrungen. Oder vielmehr
lag es dort drüben, in meiner Speisekammer, mausetot hinter dem
Katzenfutter.
Es war nicht der getötete Dämon, der mir Sorgen machte
(zugegebenermaßen entspricht diese Aussage vielleicht nicht ganz
der Wahrheit), sondern vielmehr das, was er gesagt hatte: Du kannst
genauso gut sterben, Jägerin. Das wirst du sowieso, wenn sich die
Armee meines Herrn und Meisters erhebt und in seinem Namen den Sieg
verkündet.
Ich rieb mir die nackten Oberarme, weil mich auf einmal eine
Gänsehaut überlief. Irgendetwas braute sich hier zusammen. Etwas,
wovon ich weder etwas wissen noch womit ich etwas zu tun haben
wollte. Aber ob ich wollte oder nicht – ich hatte das Gefühl, dass
ich bereits mitten drinsteckte.
»Katie?« Stuarts Stimme erklang aus dem Wohnzimmer. »Brauchst du
Hilfe, Liebling?« Elizabeth Needham, eine weitere stellvertretende
Bezirksstaatsanwältin aus Stuarts Umfeld, war vor wenigen Minuten
eingetroffen. Nun unterhielt sie sich mit Clark und Stuart über die
üblichen Geschichten aus dem Büro. Stuarts Angebot mir gegenüber
war bestimmt ernst gemeint. Aber der Tonfall seiner Stimme gab mir
auch zu verstehen, dass er mich aufforderte, mich endlich zu
bequemen, zu ihnen zu stoßen.
»Alles unter Kontrolle, Schatz«, rief ich. »Ich bin gleich da. Ich
rufe nur noch schnell Allie an und sage ihr Gute Nacht!«
Stuart antwortete nicht, sodass ich nicht wusste, ob er das seltsam
fand oder nicht. Ehrlich gesagt, war es seltsam. Allie übernachtete
schließlich nur bei Mindy. Und Mindy übernachtete genauso
regelmäßig bei uns. Laura und ich fungierten inzwischen mehr oder
weniger als Ersatzmütter für die jeweils andere Tochter. Falls
etwas Ungewöhnliches passierte, würde Laura anrufen.
In meiner momentanen Verfassung regierte jedoch nicht die Vernunft.
Ich wollte mit meiner Tochter sprechen, und zwar auf der Stelle und
sofort.
Also wählte ich Lauras Nummer und wartete. Einmal Klingeln. Zweimal
Klingeln. Dreimal – und dann hörte ich das vertraute Klicken von
Lauras Anrufbeantworter. Ich wartete, bis die Nachricht abgespielt
war, und trommelte dabei ungeduldig mit den Fingern auf die
Arbeitsplatte. Laura leierte alle wichtigen Angaben zu ihrer
Familie herunter – Name; Telefonnummer; niemand da, der gerade
antworten konnte; blablabla. Endlich hörte ich den hohen Piepston.
»Laura? Seid ihr da? Bitte reiß dich kurz von Cary Grant los und
heb ab. Ich möchte Allie etwas sagen.«
Ich wartete, während ich weiter ungeduldig vor mich hin trommelte.
»Laura?« Als mir auffiel, dass ich mir durch das Trommeln gerade
meine Nägel ruinierte, die sogar den Angriff eines Dämons
überstanden hatten, hörte ich abrupt auf.
Noch immer keine Antwort. Ich spürte, wie sich Furcht in mir
breitmachte. Die Dämonen hatten doch wohl nicht meine Tochter
…
»Komm schon, altes Mädchen«, sagte ich zu dem AB und bemühte mich,
nicht panisch zu klingen. »Ich brauche –«
Ich schloss Mund und Augen und atmete tief aus. Plötzlich wurde mir
klar, wie dumm ich mich gerade verhielt. Es waren keine Dämonen.
Sondern Eiscreme. Make-up mochte vielleicht Mindy für Stunden
beschäftigt halten, aber meine Tochter war aus anderem Holz
geschnitzt. Bei ihr dauerte das höchstens fünfundvierzig
Minuten.
»Macht nichts«, sagte ich in den Hörer. »Allie soll mich anrufen,
wenn ihr wieder zu Hause seid.«
Ich warf einen Blick auf die Uhr. Es war zehn nach sieben. Wenn sie
ins Einkaufszentrum gefahren waren, dann würden sie vor acht Uhr
bestimmt nicht zu Hause sein. Ich konnte also meinen Panikanfall um
mindestens fünfzig Minuten verschieben.
Stuart kam in die Küche, als ich gerade den Hörer auflegte. »Stimmt
etwas nicht?«
Er stellte die Frage in einem Tonfall, der deutlich machte, wie er
beinahe hoffte, eine schreckliche Tragödie wäre geschehen. Denn das
würde erklären, warum sich die Gastgeberin so lange in der Küche
versteckte und ihre Gäste völlig ignorierte.
»Tut mir leid.« Ich legte den Hörer beiseite. »Nur eine kurze
mütterliche Panikattacke.«
»Aber alles ist in Ordnung, oder?«
»Alles bestens«, erwiderte ich fröhlich. Er verlangte
offensichtlich nach einer Erklärung, die ich ihm nicht geben
konnte. Zum Glück klingelte in diesem Augenblick der Wecker am
Herd, und ich stürzte mich auf einen Topflappen. Von überbackenem
Brie gerettet …
Ich legte den Käse auf einen Teller und reichte ihn Stuart, als es
erneut an der Tür klingelte.
»Dann wollen wir uns lieber mal um unsere Gäste kümmern«, erklärte
ich.
Ich verließ als Erster die Küche, und mein verblüffter Göttergatte
folgte mir. Er stellte auf dem Weg zur Tür den Teller auf den
Beistelltisch im Wohnzimmer, während ich ihm voranschwebte, um mit
einem effizienten Gastgeber-Lächeln auf meinem leicht erstarrt
wirkenden Gesicht die Haustür zu öffnen.
Draußen stand einer der vornehmst aussehenden Männer, die ich
jemals gesehen hatte. Trotz seines Alters – ich vermutete, dass er
mindestens sechzig war – strahlte er das Selbstbewusstsein eines
erfolgreichen Vierzigjährigen aus. Sein grau meliertes Haar verlieh
ihm wahre Klasse, und ich hatte den Eindruck, vor mir stand ein
Mann, der eine einmal gefällte Entscheidung nie mehr infrage
stellte.
»Richter Larson«, begrüßte ihn Stuart hinter mir. »Ich freue mich
so, dass Sie kommen konnten.«
Ich trat einen Schritt beiseite und bat ihn herein. »Herzlich
willkommen. Ich bin Kate, Stuarts Frau.«
»Es freut mich, Sie kennenzulernen, meine Liebe«, sagte er. Seine
Stimme erinnerte an einen besonders rauchig klingenden Sean
Connery. Ich mag erst achtunddreißig sein, aber ich muss zugeben,
dass mir die lässige Eleganz solch distinguiert wirkender Herren
stets einen kleinen Kick versetzt. Hoffentlich wird Stuart auch
einmal so erotisch mondän wirken, wenn er die Sechzig
erreicht.
»Sie haben ein wunderschönes Haus«, fügte Richter Larson hinzu. Wir
befanden uns noch immer im Flur. Während er sprach, ging er an mir
vorüber, sodass ich deutlich das Eau de Cologne riechen konnte, in
dem er anscheinend gebadet hatte. Ich rümpfte die Nase. Er mochte
vielleicht verführerisch wirken, aber irgendwie musste sich sein
Alter doch auf seine Geruchsnerven ausgewirkt haben.
Und in diesem Moment roch ich es – einen faulen, knoblauchartigen
Gestank, der sich unter der Wolke von Old Spice nur mühsam verbarg.
Verdammte Scheiße.
Männliche Attraktivität und mondänes Auftreten konnte ich jetzt
getrost vergessen. Ebenso die Tatsache, dass ich eigentlich ein
Essen geben wollte.
Der Richter, der in unserem Flur stand, war ein Dämon – und es kam
für mich absolut nicht infrage, dass er mein Haus lebendig
verlassen würde.
DREI
In diesem Moment gewannen mein Instinkt und das lange ignorierte Training, das ich einmal genossen hatte, die Oberhand. Meine Muskeln spannten sich an. Ich beugte mich nach vorn und wollte gerade mit dem Fuß ausholen, um dem Dämon meinen Absatz in die Eingeweide zu rammen.
Aber es gelang mir nicht.
Im selben Augenblick, in dem mein linker Fuß den Boden verließ,
überwog wieder die inzwischen antrainierte Vernunft, und ich hielt
abrupt inne. Zu spät.
Ich verlor das Gleichgewicht und landete mit einem dumpfen Plumps
auf meinem Hinterteil. Die Keramikfliesen fühlten sich durch den
dünnen Stoff meines Sommerkleids angenehm kühl an.
Stuart rief entsetzt meinen Namen, aber es war Richter Larson, der
sich zu mir herabbeugte und mir die Hand entgegenstreckte. Ich
starrte ihn einigermaßen verwirrt an und versuchte mich darauf zu
besinnen, dass nicht zwangsläufig jeder, der dringend einmal eine
Mundspülung gebraucht hätte, zu Satans Gefolgsleuten
gehörte.
»Mrs. Connor? Ist alles in Ordnung?«
»Danke, ja. Es geht mir gut.« Widerwillig nahm ich seine Hand. Ich
fand es zumindest schon mal ganz beruhigend, dass er mich nicht
sofort zu sich hochriss und mir im nächsten Moment den Kopf von den
Schultern trennte. Das war doch kein schlechtes Zeichen,
oder?
Richter Larson packte mich stattdessen an der Hand, während Stuart
mich am Ellenbogen ergriff. Auf diese Weise zerrten mich die beiden
Männer auf meine Füße. »Es ist mir wirklich unangenehm«, murmelte
ich mit glühend heißen Wangen. »Ich muss ausgerutscht sein. Es ist
mir wirklich schrecklich peinlich.«
»Das muss es Ihnen aber nicht sein«, erwiderte der Richter
liebenswürdig. »Machen Sie sich doch deswegen bitte keine
Gedanken.«
Inzwischen waren auch Clark und Elizabeth aus dem Wohnzimmer zu uns
gestoßen, um zu sehen, was den ganzen Lärm verursacht hatte,
während zwei weitere Gäste vorn vor unserem Gartentor auftauchten.
Toll. Der ganze Trupp hatte sich also versammelt und konnte mich in
meiner Peinlichkeit ausführlich begutachten.
Ich löste meine Hand aus Larsons Griff und konzentrierte mich auf
meinen Mann. »Es ist wirklich alles in Ordnung. Keine
Sorge.«
Die Beunruhigung, die ich auf Stuarts Gesicht sah, ließ meine Sorge
fast zunichte werden, meine akrobatischen Vorführungen hätten den
Abend bereits jetzt zu einer Farce gemacht. »Bist du dir sicher?
Hast du dir vielleicht den Knöchel verstaucht?«
»Es geht mir wirklich gut«, erklärte ich erneut.
Natürlich ging es mir alles andere als gut. Es ging mir ganz und
gar nicht gut. Soweit ich das beurteilen konnte, würde ich in
wenigen Minuten meine berühmten Rigatoni einem Dämon servieren (die
Rigatoni hatten übrigens nur deshalb diese Berühmtheit erlangt,
weil sie das einzige Gericht waren, das ich gut konnte). Und
augenblicklich besaß ich keine Möglichkeit, Larsons Zugehörigkeit
zur menschlichen Rasse zu überprüfen.
Ich warf ihm einen Seitenblick zu, als uns Stuart ins Wohnzimmer
führte. Ich würde es aber bald herausfinden. Er konnte seine wahre
Identität nicht auf Dauer vor mir geheim halten.
Und wenn sich Larson tatsächlich als Dämon entpuppte, dann würde
hier die Hölle los sein.
»Noch etwas Brie?« Ich hielt Larson den Teller mit dem Käse hin und beugte mich dabei leicht nach vorn, als ob ich ihn mit meinem Dekolleté in Verwirrung bringen wollte. Wenn er kein Dämon war, nahm er jetzt wahrscheinlich an, dass ich mich an ihn heranmachte, während der liebe Stuart wohl vermutete, ich litte gerade unter einem psychotischen Anfall. Aber ich war entschlossen, noch einmal seinen Atem zu riechen. Das war schließlich momentan das Einzige, woran ich mich halten konnte.
»Nein, vielen Dank«, winkte er ab, während ich tief Luft holte. Es war sinnlos. Er hatte sich bereits ziemlich viel Käse genommen, und dessen Geruch überlagerte nun den Gestank, der sich vielleicht in seinem Atem verbarg.
Frustriert stellte ich den Teller mit Brie wieder auf den Beistelltisch und setzte mich neben Stuart. Er und Richter Robertson, der als einer der Letzten eingetroffen war, befanden sich gerade mitten in einer atemberaubend langweiligen Diskussion über das nur in Kalifornien geltende Gesetz, demzufolge man nach dem dritten Vergehen lebenslänglich ins Gefängnis muss.
»Was halten Sie denn von diesem Gesetz?«, erkundigte ich mich bei Richter Larson. »Ich bin völlig dafür«, fuhr ich fort, »außer wenn es sich um wirklich bösartige Kreaturen handelt, die es nicht anders verdienen, als sofort aus dem Verkehr gezogen zu werden – ganz gleich, mit welchem Aufwand das verbunden sein mag.« Aus dem Augenwinkel konnte ich sehen, wie mich Stuart verblüfft ansah. Seine Partei war zwar, was die Verbrechensbekämpfung betraf, ziemlich gnadenlos, aber nicht gleich so gnadenlos.
»Meinen Sie damit etwa Selbstjustiz?«, wollte
Larson wissen. »In gewissen Situationen – durchaus.«
»Katie …«In Stuarts Stimme schwang deutlich die Frage
Ich lächelte ihm zu, doch meine Worte richteten sich erneut an Richter Larson. »Ich spiele nur den Advocatus Diaboli, Schatz.«
»Kate kann wirklich ausgezeichnet argumentieren.« Stuart sah sich offenbar unseren Gästen gegenüber zu einer Erklärung verpflichtet. »Und sie hat sehr klare Vorstellungen, was die Bestrafung von Verbrechern betrifft.«
»Gut und böse«, sagte ich. »Schwarz und weiß –
ganz einfach.«
»Und gar keine Grautöne?«, fragte Elizabeth.
»Natürlich sind gewisse Dinge nicht so eindeutig«, gab ich mit
einem raschen Blick auf Larson zu. »Und diese Dinge finde ich
ausgesprochen frustrierend.«
Alle lachten.
»Vielleicht ist in Wahrheit ja Ihre Frau die Politikerin in der
Familie, Stuart«, meinte Richter Westin, ein neu gewählter
Bundesrichter. »Sie sollten sich in Acht nehmen, oder sie wird neue
Bezirksstaatsanwältin.«
Stuart streichelte mir über die Schulter, beugte sich dann nach
vorn und küsste mich leicht auf die Wange. »Sie würde jedenfalls
die Verbrecher an einer ziemlich kurzen Leine halten.« Er lächelte
die Gruppe betont fröhlich an, und ich wusste, dass der Politiker
in ihm zurückgekehrt war. »Ich natürlich auch.«
»Ich habe eigentlich bloß vor, meine Pasta an einer ziemlich kurzen
Leine zu halten.« Mit diesen Worten stand ich auf und bedeutete den
Gästen, sitzen zu bleiben. »Ich muss nur noch eben das Essen fertig
machen. Wenn Sie mich entschuldigen würden …«
In der Küche lehnte ich mich erschöpft gegen die Arbeitsplatte,
während mein Herz wild pochte. Früher hatte ich mich nie so
angestellt, wenn es um das Töten von Dämonen ging. Natürlich hatte
ich bisher auch noch keinen Dämon zum Abendessen gehabt. Früher war
mir einfach ein Auftrag erteilt worden, und ich hatte ihn
ausgeführt. Simpel. Ich musste nie selbst Dämonen lokalisieren;
mein alimentatore war für so etwas zuständig. Mir blieb dann nur
noch die Dreckarbeit.
So gefährlich und dreckig mein alter Job auch gewesen sein mochte,
irgendwie bevorzugte ich ihn gegenüber meiner momentanen
Lage.
Ich holte einen Kochlöffel aus der Schublade neben dem Herd und
rührte die Sauce, während ich mir den Kopf darüber zerbrach, warum
es mir nie gelang, die Rolle der liebenden Frau und guten
Gastgeberin so perfekt wie gewünscht zu spielen. Wenigstens war mir
die Soße gelungen. Vielleicht würde ein wirklich fantastisches
Essen die Tatsache aufwiegen, dass Stuarts Frau einige Schrauben
locker hatte. (Wie wichtig war es eigentlich, ob die Frau eines
Politikers geistig zurechnungsfähig war oder nicht?) Ich ging noch
einmal vor meinem inneren Auge die bisherigen Ereignisse des Abends
durch und kam zu dem Schluss, dass Stuarts Karriere noch nicht
ruiniert war. Unseren Gästen war wahrscheinlich nur aufgefallen,
dass ich gerötete Wangen hatte und mich klar gegen Verbrechen
aussprach. Damit konnte ich leben. Noch wichtiger war, dass auch
Stuart damit leben konnte. Wenn ich aber weiterhin wie ein Fall für
den Psychiater auftrat, würde ich seine Chancen verspielen, ehe er
auch nur seine Absicht zu kandidieren öffentlich gemacht
hatte.
Denk nach, Katie, denk nach. Es musste doch einen Weg geben, ganz
sicher herauszufinden, ob Larson ein Dämon war, ohne meine Ehe,
Stuarts politische Ambitionen oder die Dinnerparty aufs Spiel zu
setzen.
Ich drehte die Gasflamme unter dem Soßentopf kleiner und warf die
Nudeln in das kochende Wasser. Im Kopf ging ich meine Möglichkeiten
durch. Leider gab es nur sehr wenige todsichere Tests, um Dämonen
als solche zu identifizieren. Wenn ein Dämon von einem Menschen
Besitz ergriffen hat, während dieser noch lebt, ist es leicht. Dann
hat man nämlich eine Situation wie bei Regan MacNeil aus dem
Exorzisten, und in dem jeweiligen Menschen tobt ein wahnsinniger
Kampf zwischen Gut und Böse. Sehr eindeutig, wenn auch ziemlich
schrecklich. Und ganz und gar nicht mein Job. (Das heißt, mein
früherer.)
Wenn man besessen ist, ruft man keinen Jäger. Dafür braucht man
einen Priester. Es ist eine schmerzhafte, scheußliche und
unheimliche Prozedur, bei der es zu allerlei widerlichen
Beschimpfungen durch den Dämon, sehr viel Körperflüssigkeiten und
zur totalen Erschöpfung kommt. Ich weiß das, denn ich musste
während meiner Ausbildung an zwei Austreibungen teilnehmen. (Es
gibt nichts, was einen Jäger derart davon überzeugt, dass er die
richtige Berufswahl getroffen hat, wie ein von einem Dämon
besessener Mensch.) So etwas möchte ich nie mehr erleben
müssen.
Aber in Richter Larsons Innerem tobte kein Kampf. Nein, wenn ich
nicht danebenlag, war Larson nicht besessen. Stattdessen war er
selbst ein Dämon. Oder vielmehr war ein Dämon bei ihm eingezogen,
und die echte Seele Larsons hatte wie Elvis die sterbliche Hülle
schon lange verlassen.
Traurigerweise ist es eine Tatsache, dass unsere Welt von
zahlreichen Dämonen bewohnt wird. Zum Glück können die wenigsten
einem Menschen etwas antun oder sogar von ihm Besitz ergreifen. Sie
sind einfach nur irgendwo da draußen, schweben in einem körperlosen
Zustand umher und verbringen die Ewigkeit damit, sich nach einem
Körper umzusehen, in den sie hineinfahren könnten. Viele von ihnen
sehnen sich so sehr danach, eine menschliche Gestalt anzunehmen,
dass sie irgendwann von einem Menschen Besitz ergreifen.
Wesentlich größere Sorgen sollte man sich allerdings um diejenigen
machen, die mehr Geduld beweisen. Solche Dämonen ziehen nämlich im
Augenblick des Todes in einen Körper ein. Sobald die Seele eines
Menschen entweicht, gleitet der Dämon hinein – genauso wie bei dem
Opa in meiner Speisekammer. Sie haben doch bestimmt schon
Geschichten von Leuten gehört, die eigentlich unmöglich einen
Autounfall hätten überleben können, es aber trotzdem taten? Oder
von jemandem auf dem Operationstisch, dem es trotz aller
gegenteiligen Anzeichen gelungen ist, wieder aufzuwachen? Oder von
dem Opfer eines Herzinfarkts, das zusammenbrach … nur um schon im
nächsten Moment, ohne irgendeinen sichtbaren Schaden genommen zu
haben, wieder aufzustehen?
Jetzt wissen Sie Bescheid.
Natürlich ist es nicht ganz so einfach. Das Timing muss wirklich
genau stimmen. Sobald die Seele den Körper verlassen hat, ist der
Eingang verschlossen, und es gibt keine Möglichkeit mehr, noch
hineinzukommen. (Das stimmt nicht ganz. Auch später gibt es noch
einmal einen Zeitpunkt, zu dem der Körper für eine Übernahme reif
ist. Ich glaube, dass sich im Laufe der Verwesung ein Tor öffnet.
Allerdings bin ich keine Theologin. Ich weiß nur, dass zumindest
bereits die Totenstarre eingetreten sein muss oder sogar schon die
Würmer am Werk sind. Ganz selten wagen sich Dämonen dann noch
hinein. Auch ich habe während meiner beruflichen Laufbahn mit
einigen Zombies zu tun gehabt. Aber da Larson ganz offensichtlich
nicht zu dieser Spezies gehörte, war es sinnlos, sich weiter den
Kopf darüber zu zerbrechen.)
Wenn man als Dämon von einem menschlichen Körper Besitz ergreifen
will, ist es außerdem wichtig, zu wissen, dass das nicht bei allen
Menschen funktioniert. Viele Seelen kämpfen nämlich dagegen. Es ist
also nicht so, als ob ein Dämon einfach nur auf der Intensivstation
eines Krankenhauses darauf warten müsste, dass sich jemand auf den
Weg ins große Unbekannte macht. Der ganze Prozess ist wesentlich
schwieriger – eine Tatsache, die dann doch recht beruhigend ist,
finden Sie nicht? Auch wenn nun also gar nicht so viele Dämonen in
menschlicher Gestalt auf der Erde wandeln, wie sich das vielleicht
zuerst angehört haben mag, so ist es doch sehr schwer, sie zu
erkennen. Sie haben sich nämlich perfekt angepasst. (Natürlich gibt
es den schlechten Atem, aber wie viele Leute, die nicht Jäger sind,
erkennen darin einen Hinweis?) Und sie zur Strecke zu bringen ist
noch wesentlich schwieriger.
Dämonen haben trotzdem bestimmte Eigenheiten, die Jägern eine
Identifizierung erleichtern. Den Atemtest hatte ich an Larson ja
bereits ausprobiert. Auch wenn ich fand, dass er ihn nicht
bestanden hatte, so war es mir nicht gelungen, ihn ein zweites Mal
aus der Nähe zu riechen. Außerdem war es eigentlich kein
ausreichender Grund, gleich jemandem ins Auge zu stechen, nur weil
sein Atem so schlecht riecht, dass man aus den Schuhen kippt. Es
ist schwer genug, die Leiche eines garantiert echten Dämons
unbemerkt beiseitezuschaffen. Den Mord an einem nicht-dämonischen
Richter hätte ich wesentlich schwerer begründen können …
Das bedeutete also, dass ich einen weiteren Test durchführen
musste.
Der beste Test ist das Betreten heiligen Bodens. Ein
durchschnittlicher Dämon kann es nämlich nicht ertragen, in eine
Kirche zu gehen. Er schafft es zwar physisch durch die Tür, aber
allein das bringt ihn bereits fast um. Er erleidet irrsinnige
Schmerzen, die nur noch schlimmer werden, wenn er sich dem Altar
nähern muss. Und falls der Altar auch noch Heiligenreliquien
beherbergt (was ziemlich häufig der Fall ist), dann sprechen wir
von einer extrem höllischen Tortur. Wirklich kein hübscher Anblick.
Doch da ich garantiert weder Stuart, Larson noch die anderen Gäste
dazu überreden konnte, einen kleinen Ausflug in unsere Kathedrale
zu machen, half mir der Test in diesem Fall überhaupt nichts. Ich
runzelte die Stirn und drehte den Wasserhahn an, um mir die Hände
zu waschen und dann endlich das Abendessen zu servieren. Mein
Dämonenerkennungstest konnte bis nach dem Dessert warten.
In diesem Moment fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Natürlich:
Weihwasser. Die Antwort lag so klar auf der Hand, dass ich mir
idiotisch vorkam, nicht schon vorher daran gedacht zu haben. Genau
wie im Exorzisten verbrennt Weihwasser Dämonen die Haut. (Und ich
muss zugeben, dass es sehr weniges gibt, was befriedigender ist,
als zuzusehen, wie hässliche Brandblasen auf der Haut eines Dämons
entstehen, den man gerade verfolgt. Sie halten mich für
rachsüchtig? Da haben Sie recht. Ich kann verdammt rachsüchtig
sein.)
Der Küchenwecker klingelte. Die Nudeln waren also fertig. Ich goss
das Wasser über einem Sieb ab, vermischte die Rigatoni mit meiner
Geheimsoße in einer der eleganten Servierschüsseln, die wir zur
Hochzeit bekommen hatten, und trug diese ins Esszimmer. Für einen
Moment hielt ich jedoch inne und warf im Vorbeigehen einen raschen
Blick auf die Treppe. Meine Berufsausrüstung war in einer Truhe auf
dem Speicher verschlossen, aber jeder gute Jäger hat einige der
wichtigsten Dinge stets in seiner Nähe, sogar nach fast fünfzehn
Jahren. Ich war mir eigentlich ziemlich sicher, dass auch ich im
untersten Schubfach meiner Schmuckschatulle ein übergroßes Kruzifix
und eine kleine Flasche mit Weihwasser für den Fall der Fälle
versteckt hatte.
Zumindest hoffte ich das.
Gedankenverloren nagte ich an meiner Unterlippe. Würde es den
Gästen auffallen, wenn ich kurz nach oben verschwand? Doch bestimmt
nicht, oder? Schließlich würde ich nur einen Moment lang weg
sein.
Ich wollte das Risiko gerade in Kauf nehmen, als Elizabeth das
Esszimmer betrat. Sie sah in ihrem kleinen Schwarzen fantastisch
aus, das garantiert ein Monatsgehalt gekostet hatte. (Ihr Mann war
Partner bei McKay & Case, einer angesehenen Kanzlei. Sie waren
also nicht gerade darauf angewiesen, jeden Cent zweimal
umzudrehen.)
»Kann ich irgendwie helfen?«
Ich überlegte einen Moment, ob ich sie einfach bitten sollte, das
restliche Essen aufzutragen, während ich rasch nach oben rannte,
aber ein weiterer Anfall von Vernunft ließ mich diesen Plan
aufgeben. Ich benötigte das Weihwasser doch nicht sofort. Wenn
Larson tatsächlich ein Dämon sein sollte, würde ich das schon noch
früh genug erfahren. In der Zwischenzeit konnte er sich sowieso
nicht einfach verabschieden. (Was wollte ich eigentlich tun, wenn
er wirklich ein Dämon war? Ihn während des Essens umzubringen
konnte einen gesellschaftlichen Fauxpas bedeuten, von dem ich mich
vielleicht nie mehr erholen würde.)
Während ich also den Rest des Essens auf den Tisch trug, rief
Elizabeth die Männer. Als sich alle setzten, wählte ich bewusst
einen Platz neben Larson und tat so, als würde ich nicht bemerken,
dass Stuart extra einen Stuhl für mich herausgezogen
hatte.
Zuerst aßen wir den Salat. Es gelang mir sogar, mehr oder weniger
kohärent an der Unterhaltung teilzunehmen. (»Ja, ich habe auch
schon gehört, dass in der Third Street ein neues Einkaufszentrum
entstehen soll. Hoffentlich lehnt der Stadtrat das ab. Das ist doch
viel zu nahe am Strand.« – »Allie hat das Basilikum selbst
gezüchtet, Elizabeth. Ich richte ihr aus, dass es Ihnen so
geschmeckt hat.« – »Vielen Dank. Wir leben wirklich gern in diesem
Viertel.« Banal. Langweilig. Sie können sich das sicher gut
vorstellen.)
Normalerweise konzentrieren sich die Leute wesentlich mehr auf das
Essen, wenn sie erst einmal den Hauptgang vor sich haben. Man
vergisst den höflichen Small Talk und ist völlig beschäftigt.
Diesen Moment wusste ich diesmal zu nutzen. Ich legte den Kopf zur
Seite und sah stirnrunzelnd in die Runde. Dann lehnte ich mich vor
und blickte Stuart an. »Hast du das auch gehört?«
»Was denn?« Verwirrung und eine leichte Besorgnis spiegelten sich
auf seinem Gesicht wider.
Ich schob den Stuhl zurück und legte die Serviette auf meinen
Platz. »Wahrscheinlich ist es nichts«, sagte ich, während ich
bereits den Tisch umrundet hatte und auf die Tür zusteuerte. »Ich
dachte nur, dass ich Timmy gehört habe.« Entschuldigend lächelte
ich unseren Gästen zu. »Verzeihen Sie bitte. Ich bin gleich
zurück.«
Stuart hatte sich bereits halb erhoben. »Soll ich vielleicht
–«
»Nein, nein, mach dir bitte keine Mühe, Liebling. Wahrscheinlich
hat er schlecht geträumt. Ich will nur kurz nach ihm
sehen.«
Das beruhigte meinen Mann ein wenig, und ich konnte das Zimmer
unbehelligt verlassen. Kaum um die Ecke, lief ich, so schnell ich
konnte, die Treppe hinauf, immer zwei Stufen auf einmal
nehmend.
Ich holte kaum Luft, ehe ich das Schlafzimmer erreicht hatte. Dort
stürzte ich zu meiner Schmuckschatulle, wobei ich einfach die
Abkürzung über das Bett nahm – eine Tatsache, die Timmy sicher
begeistert hätte. Ich riss die unterste Schublade heraus und
schüttete ihren Inhalt, der aus verschiedensten Schmuckund
Erinnerungsstücken bestand, auf das zerknitterte
Betttuch.
Ein Bettelarmband, eine kaputte Taschenuhr, ein silbernes Kruzifix
in einem Samtschächtelchen, ein Döschen mit Allies Milchzähnen und
tatsächlich – eine kleine Flasche mit Weihwasser. Der Metalldeckel
saß noch ganz fest.
Gott sei Dank.
Ich hörte nicht einmal, wie Stuart das Zimmer betreten hatte und
hinter mich getreten war. »Kate?«
Erschreckt stieß ich einen leisen Schrei aus und schob das
Fläschchen hastig in den Ausschnitt meines Kleids, wo mein Herz wie
wild pochte. »Mann, Stuart! Du hast mir vielleicht einen Schrecken
eingejagt!« Ich stand auf, wagte aber nicht, ihm direkt in die
Augen zu sehen.
»Ich dachte, du wolltest nach Tim schauen.«
»Das habe ich auch. Er schläft.«
Stuart zog die Augenbrauen hoch und blickte vielsagend auf die
ganzen Dinge, die ich aus meinem Schmuckkästchen ausgekippt
hatte.
»Ich … äh … Mir fiel plötzlich auf, dass ich keine Ohrringe
anhabe.«
Schweigen.
Die Stille zog sich derart in die Länge, dass ich Angst hatte, er
würde gar nicht mehr antworten. Da trat er zu mir, strich mir über
die Wange und umfasste mein Kinn mit seiner Hand. Voll Zärtlichkeit
hob er sanft meinen Kopf an. »Liebling, geht es dir wirklich
gut?«
»Ja, klar«, antwortete ich. So gut es eben jemandem gehen konnte,
der gleichzeitig mit Dämonen und einer Dinnerparty fertig werden
musste und außerdem noch Geheimnisse vor seiner Familie hatte.
»Entschuldige bitte. Ich bin einfach nicht gut in solchen
Dingen.«
In diesem Augenblick wurde mir bewusst, dass wir uns beide im
ersten Stock befanden und die Küche leer stand. Was wäre, wenn
jemand etwas verschüttete? Nach einer Küchenrolle suchte? Was wäre,
wenn sie hinter die Dosen mit dem Katzenfutter schauten?
Ich fasste nach seiner Hand. »Ich habe mich wahrscheinlich nur ein
wenig unzulänglich gefühlt«, meinte ich, während ich ihn auf den
Gang hinausschob. »Weißt du, ich bin eben keine Jackie
Onassis.«
»Ich will auch gar keine Jackie Onassis«, erwiderte Stuart. »Du
hast das Ganze wirklich fantastisch gemeistert. Sei einfach nur du
selbst, und alle werden dich lieben. Ich jedenfalls
bestimmt.«
Ich zwang mich zu einem Lächeln, schaffte es aber nicht, etwas zu
sagen. In diesem Moment fiel es mir nämlich wie Schuppen von den
Augen: Mein Mann – also der Vater meines jüngsten Kindes und
derjenige, mit dem ich jede Nacht das Bett teilte – wusste im
Grunde überhaupt nichts von meinem früheren Leben.
Und wenn ich es irgendwie in der Hand hatte, sollte das auch so
bleiben.
Die Chance, auf die ich gewartet hatte, erhielt ich während des
Desserts. »Möchte jemand vielleicht etwas Wasser?«, fragte ich und
erhob mich. Niemand zeigte sich interessiert, aber ich ging
trotzdem in die Küche, holte das kleinste Glas heraus, das wir
hatten (eines mit lila Dinosauriern von Timmy) und goss das
Weihwasser hinein. Es waren nicht einmal zwei
Fingerbreit.
Ich warf einen Blick auf den Wasserhahn und überlegte, ob es wohl
ein Sakrileg bedeutete, Weihwasser mit dem Wasser von San Diablo zu
mischen. Noch wichtiger erschien mir allerdings die Frage, ob
dadurch das Weihwasser seine Wirkung verlieren würde.
Da sich das Risiko nicht zu lohnen schien, auf diese Weise meine
Seele oder auch meinen Plan in Gefahr zu bringen, kehrte ich mit
dem wenigen Wasser ins Esszimmer zurück. Stuart sah mich verblüfft
an, und ich zuckte mit den Achseln. »Wir scheinen irgendwie nie
genügend saubere Gläser zu haben«, gab ich als Erklärung.
Richter Larson betrachtete mich und das Glas in meiner Hand
belustigt. »Sie können aber nicht sehr durstig sein«, meinte er.
»Oder gönnen Sie sich rasch zwischendurch einen kleinen Schluck
Schnaps, während wir uns an Ihrem leckeren Apfelkuchen
laben?«
Ich lachte. »Ich war einfach nur besonders durstig«, schwindelte
ich, »und habe bereits das halbe Glas auf dem Weg zurück leer
getrunken.« Während ich sprach, ging ich zu meinem Stuhl. Ich hatte
vor, ins Stolpern zu kommen und so das Wasser auf Larson zu
schütten, sobald ich mich in seiner Reichweite befand.
In diesem Moment klingelte das Telefon. Stuart schob seinen Stuhl
zurück, um aufzustehen. Dadurch blockierte er mir den Weg und
vermasselte mir meinen Plan. »Das ist vielleicht Richterin
Serfass«, sagte er. Sie war als Einzige nicht gekommen, weil ihr
Flugzeug Verspätung hatte. Er hob ab. In seiner Miene zeigte sich
Verwirrung. »Ich kann Sie nicht hören«, rief er mit lauter Stimme.
»Ich kann leider kein einziges Wort verstehen!«
Einige Sekunden vergingen, während er den Kopf schüttelte und immer
frustrierter wirkte. Schließlich zuckte er mit den Achseln und
legte auf.
»Wer war das?«
»Keine Ahnung. Klang irgendwie ausländisch. Vielleicht italienisch.
Die Verbindung war furchtbar schlecht, aber wahrscheinlich war es
sowieso eine falsche Nummer.«
Padre Corletti.
Instinktiv drehte ich mich zu Larson und stellte fest, dass er mich
direkt ansah.
Jetzt oder nie! Ich drängte an Stuart vorbei, um meinen Stuhl zu
erreichen. Doch in diesem Moment stand der Richter auf. Er beugte
sich vor, als ob er den Stuhl für mich herausziehen wollte, doch
noch ehe ich ganz begriff, was geschah, traf er mich am Arm, und
das Glas segelte quer durch das Zimmer.
Das Wasser spritzte völlig wirkungslos auf den Boden. Nicht ein
einziger Tropfen erwischte den Kerl.
»Ach, das tut mir jetzt aber leid. Entschuldigen Sie bitte
vielmals«, sagte er. »Wie kann man nur so ungeschickt
sein.«
»Das haben Sie absichtlich gemacht«, zischte ich, während ich mich
bückte, um das Glas aufzuheben.
»Was?« Das war Stuart. Hoppla. Meine Bemerkung war nur für Larsons
Ohren bestimmt gewesen, war mir aber anscheinend lauter
herausgerutscht als geplant.
»Ich meinte nur, dass er wirklich für Überraschungen gut ist.« Ich
sah Larson an. Mein Lächeln war eisig. »Ist ja nichts weiter
passiert. Wasser ist schließlich ersetzbar. Leitungswasser,
Mineralwasser, Wasser aus der Flasche. Alle Arten von
Wasser.«
Er antwortete nicht. Das brauchte er auch nicht. Wir wussten beide,
dass diese Runde an ihn ging.
Eine weitere Stunde Geplauder und politisches Gerede, und endlich waren unsere Gäste bereit, sich wieder aus dem Staub zu machen. Einladungen enden oft damit, dass alle auf einmal nach ihren Taschen und Autoschlüsseln suchen, und auch die unsere war da keine Ausnahme. Wir gingen alle gemeinsam zur Haustür und standen ein Weilchen im Vorgarten, wo Hände geschüttelt wurden und man sich verabschiedete.
In dem ganzen Durcheinander nahm Larson auf einmal meine Hand; seine Haut strich rau über die meine. »Es war ein wunderbarer, erhellender Abend, Mrs. Connor. Ich bin mir sicher, dass wir uns recht bald wiedersehen werden.«
Seine Augen blickten mich intensiv an. Nicht unbedingt böse … Aber der Mann sah ganz so aus, als ob er meine Geheimnisse kennen würde.
Mir lief ein Schauder über den Rücken, und ich kämpfte gegen ein aufsteigendes Ekelgefühl und einen Anflug von Angst an. »Ja«, brachte ich mühsam hervor. »Ich bin mir sicher, dass sich unsere Wege wieder kreuzen werden.«
»Und es tut mir wirklich leid, dass ich nicht die Gelegenheit hatte, Ihre Tochter kennenzulernen. Ich nehme an, dass sie Ihnen wie aus dem Gesicht geschnitten ist.«
Mein Herz zog sich schmerzhaft zusammen, und ich hatte auf einmal das Gefühl, nicht mehr atmen zu können. Es war beinahe elf Uhr. Das Einkaufszentrum war seit einer Stunde geschlossen, und ich hatte noch kein Sterbenswörtchen von Laura oder Allie gehört.
Scheiße, Scheiße, Scheiße, Scheiße.
»Timmy weint«, murmelte ich und blickte demonstrativ in Stuarts
Richtung, wobei ich mir allerdings nicht mehr die Zeit ließ, zu
warten, ob er mich auch gehört hatte. Stattdessen rannte ich ins
Haus zurück und rief über die Schulter in alle Richtungen »Danke,
dass Sie gekommen sind!«, ehe ich aus dem Blickfeld der Gäste
verschwand.
»Heb ab, heb ab, heb ab!« Ich presste den Hörer gegen mein Ohr und
ging unruhig in der Küche auf und ab. Lauras Stimme, wieder diese
verdammte Nachricht, das Piepen und dann: »Allie? Laura? Wo seid
ihr? Hallo?«
Niemand antwortete, und ich war schon fast dabei, aufzulegen und zu
Lauras Verandatür zu rennen, als der Anrufbeantworter erneut piepte
und ich Mindys Stimme hörte, die von Kichern durchzogen war. »Mrs.
Connor?«
»Mindy.« Ich atmete tief aus und hatte das Gefühl, jeden Augenblick
umzukippen. Also ließ ich mich auf den Boden sinken, lehnte mich
gegen die Spülmaschine und schlang die Arme um meine Knie. »Wo ist
Allie?«
»Sie ist auf dem Laufband. Wir hatten beide eine doppelte Portion
Eis. Wir müssen jetzt also dreihundert Kalorien
loswerden.«
Ich schloss die Augen und entschied, meine Litanei über
Essstörungen ein anderes Mal zum Besten zu geben. »Kannst du sie
holen?«
Mindy machte sich nicht die Mühe zu antworten, aber ich hörte an
dem Klappern des Telefons, dass sie es weiterreichte. »Mami! Mrs.
Dupont hat uns in einen Film mit Adam Sandler eingeladen. Ist das
nicht cool? Er ist soooo witzig.«
»Mir war gar nicht klar, dass ihr so lange wegbleiben würdet«,
sagte ich. »Ich dachte, ihr wolltet nur ein Eis holen.«
Ich konnte geradezu hören, wie sie mit den Achseln zuckte. »Wir
haben ziemlich lange gebettelt. Aber es war ein fetter Film,
Mami.«
Ich vermutete, das bedeutete, er hatte ihr gefallen. »Und warum
hast du mich nicht angerufen, um mich wissen zu lassen, wo du
steckst?«
»Wieso? Ich war doch zusammen mit Mrs. Dupont unterwegs!«
Okay, ich verhielt mich nicht fair. »Tut mir leid. Ich habe mir nur
Sorgen gemacht, als ich dich nicht erreichen konnte.«
»Dann lass mich doch endlich ein Handy haben!«
Meine Tochter, die Pragmatikerin.
»Wie wäre es«, schlug ich vor, »wenn du und Mindy jetzt zu uns
herüberkommen würdet? Ich bin vom Kaffee noch hellwach. Wenn ihr
auch noch nicht müde seid, könnten wir uns doch jetzt diesen
Harry-Potter-Marathon antun.«
»Hmm …«
Nicht gerade die begeisterte Reaktion, auf die ich eigentlich
gehofft hatte. »Komm schon, Allie. Das wird bestimmt sehr lustig.
Ihr beide könnt auch so lange aufbleiben, wie ihr wollt.«
»Wirklich?« Pause. »Warum?« Sie klang misstrauisch. Nicht gerade
auf den Kopf gefallen, die Kleine.
»Weil du meine Tochter bist und ich mit dir Zeit verbringen
möchte.« Und weil ich dich beschützen will.
»Oh.« Ich hielt den Atem an, während sie nachdachte. »Wir haben die
Filme aber gar nicht da.«
»Ich bitte ganz einfach Stuart, sie schnell für uns zu
holen.«
»Und wir können uns wirklich alle hintereinander
ansehen?«
»Na klar.« Wenn ich einmal gesiegt hatte, konnte ich wirklich
großzügig sein.
»Cool.« Pause. Dann: »Mami?«
»Hm?« Ich war gerade in Gedanken damit beschäftigt, mir zu
überlegen, wie ich Stuart nun am besten dazu brachte, noch einmal
loszufahren und die DVDs zu holen.
»Ich glaube, dieser Typ von der Eisdiele mag mich.«
Jetzt galt meine ganze Aufmerksamkeit wieder meiner Tochter.
»Welcher? Der Blonde, der so aussieht, als ob er CollegeFootball
spielt?« Ich würde ihm den Hals umdrehen, wenn er mein kleines
Mädchen auch nur ansieht.
»Neiiin, doch nicht der!« Ich hörte deutlich, dass sie mit den
Augen rollte. »Der, den ich meine, ist so um die sechzehn, hat eine
Brille und dunkle Locken. Er ist eigentlich ganz süß.«
»Du brauchst noch keinen Freund, Allie«, sagte ich.»Das kannst du
mir glauben. Dafür bleibt dir später noch genug Zeit.«
»Oh, Maaami. Den möchte ich sowieso nicht als Freund!« Was
natürlich die Frage aufwarf, ob es einen Jungen gab, den sie
wollte. »Ich habe nur gesagt, dass er mich mag. Er ist zwar ganz
süß und so, aber auch ein bisschen schlapp. Außerdem hat er einen
wirklich ekeligen Mundgeruch.«
Jetzt gefror mir das Blut in den Adern. »Allie«, sagte ich mit
einer Stimme, die so scharf wie ein Messer klang. »Ich komme jetzt
sofort mit dem Auto zu euch und hole euch ab.« Um nicht allzu
panisch zu klingen, holte ich tief Luft. »Denn sonst«, fügte ich
noch hastig hinzu, »schauen wir bis morgen früh diese Filme
an.«
Trotz ihrer Begeisterung über unseren spontan angesetzten Filmmarathon hielten Allie und Mindy nur die erste Hälfte der Kammer des Schreckens durch. Ich ließ sie auf dem Boden im Arbeitszimmer schlafen und drehte meine Runde durch das Haus, um sicherzustellen, dass alle Türen und Fenster geschlossen und die Alarmanlage aktiviert war – einschließlich der Bewegungsmelder im Erdgeschoss. Wir stellen sie äußerst selten an (meist löst nämlich die Katze dann den Alarm aus), aber an diesem Abend hielt ich es für dringend geboten. Falls irgendjemand (oder irgendetwas) durch das Fenster eindrang, wollte ich darüber informiert sein.
Für einen Augenblick überlegte ich mir, die Leiche noch in dieser Nacht fortzuschaffen, aber ich befürchtete, die anderen dadurch vielleicht aufzuwecken. Es war besser, Mann und Kinder am morgigen Samstagvormittag mit einer Einkaufsliste aus dem Haus zu scheuchen, sodass ich genügend Zeit hatte, in Ruhe die Dreckarbeit zu erledigen. Wenn ich ihnen die Möglichkeit gab, sich zwischen Einkaufen und Badezimmerputz zu entscheiden, konnte ich ziemlich sicher sein, dass sie so rasch wie möglich das Weite suchen würden.
Ich hatte eigentlich vor, mich neben den Mädchen auf der Couch auszustrecken und zu schlafen. Doch als ich kurz nach Timmy sah, wachte Stuart auf. Er zog mich zu sich ins Bett. Wir schmiegten uns aneinander, so wie wir das schon seit Jahren tun, aber ich konnte keinen Schlaf finden. Alle möglichen und unmöglichen Gedanken schossen mir durch den Kopf. Ich versuchte einen davon zu packen und irgendwie einen Sinn in den Ereignissen des Tages zu entdecken, aber dazu war ich zu erschöpft.
Ehrlich gesagt machte all das bisher auch gar kein echten Sinn. Dafür hatte ich einfach noch nicht genügend Informationen.
Ich warf einen Blick auf die Uhr, deren digitale Ziffern vor meinen müden Augen verschwammen. Kurz nach vier. Vorsichtig löste ich mich von Stuart und setzte mich auf, um mich so lautlos wie möglich aus dem Bett zu schwingen. Auf leisen Sohlen schlich ich in unser Gästezimmer und schloss die Tür hinter mir.
Es war an der Zeit, einen Anruf zu
machen.
Selbst nach fünfzehn Jahren konnte ich die Nummer noch auswendig.
Ich wählte und wartete gespannt ab. Das leise Piepen und Zirpen in
der Leitung ließ mich daran denken, dass mich die europäischen
Telefone stets eher an Spielzeuge als an Telekommunikationsapparate
erinnert hatten. Nach viermal Klingeln wurde von der
Vermittlungsstelle im Vatikan abgenommen.
»Sono Kate Andrews. Posso parlare con Padre Corletti, per favore?«,
sagte ich, wobei ich meinen Mädchennamen benutzte. Natürlich kannte
mich der Padre auch unter dem Nachnamen meines ersten Mannes –
Crowe –, aber der Priester war stets wie ein Vater zu mir gewesen.
Für ihn war ich schon immer Katherine Andrews und blieb das
auch.
Der Mann von der Vermittlung stellte mich durch, und nach wenigen
Sekunden hob Padre Corletti ab. »Katherine?« Seine Stimme, die
früher so klar und entschlossen geklungen hatte, kam mir nun
irgendwie schwach und unsicher vor. »Katherine? Sei tu?«
»Si.« Ich schloss die Augen. Wenn mir nun nicht einmal Corletti
helfen konnte? Aber er musste! Wenn ich mich nicht mehr an die
Forza Scura wenden konnte, dann war ich wirklich
verloren.
»Ich freue mich so, dich zu hören«, sagte er mit seinem starken
Akzent. »Als ich dich vorhin nicht erreichen konnte, habe ich schon
das Schlimmste befürchtet.«
Ich fuhr mir mit der Zunge über die Lippen. »Erzählen Sie mir
bitte, was passiert ist.«
»Du bist es doch, die in San Diablo ist. Vielleicht solltest du mir
erst einmal sagen, was los ist.«
Das tat ich auch. Ich begann von Anfang an und wiederholte die
Ereignisse des vergangenen Tages in wesentlich genaueren
Einzelheiten, als ich das zuvor auf dem Anrufbeantworter getan
hatte. Ich schloss mit Larsons letztem Kommentar und Allies
Offenbarung, dass ein stinkender junger Mann ein Auge auf sie
geworfen hatte. »Die können doch nicht hinter meinem kleinen
Mädchen her sein«, flüsterte ich. »Bitte, Padre, das stimmt doch
nicht, oder?«
»Sie suchen irgendetwas«, sagte der Geistliche. »Und zwar in San
Diablo.«
»Sie haben meine Frage nicht beantwortet«, bohrte ich nach. »Ich
habe keine Antwort darauf, mein Kind.«
Ich schloss die Augen und kämpfte gegen die Tränen an. Ich würde es
nicht erlauben, dass man mir Allie nahm. Weder jetzt noch sonst
irgendwann. »Was wollen diese Kreaturen? Was?«
»Das wissen wir nicht.«
»Dann finden Sie es heraus«, rief ich. »Oder lösen Sie am besten
gleich das Problem. Es wird doch sicher bereits einige Jäger in der
Gegend geben.«
»Nein, Jäger sind keine da.«
»Dann schicken Sie welche«, gab ich zurück. Verzweifelt bemühte ich
mich darum, nicht die Beherrschung zu verlieren und ihn
anzubrüllen. Meine Nerven lagen blank, und ich hatte meine Gefühle
nicht mehr unter Kontrolle. Allein der Gedanke, dass meine Familie
schlief, hielt mich davon ab, laut zu werden.
»Ach, Katherine«, sagte Corletti.»Ich war vielleicht nicht deutlich
genug. No? Ich glaube, du hast mich nicht verstanden. Es gibt keine
Möglichkeit für uns, jemanden zu schicken.« Er holte tief Atem.
»Diesen Kampf musst du allein führen.«