ZEHN

Nachdem ich mich von Father Ben verabschiedet hatte, fuhr ich als Erstes zur Tankstelle. Auf dem Weg dorthin hoffte ich inständig, dass die paar Tropfen Benzin, die noch im Tank waren, bis dahin reichen würden. Ich hatte Glück.

Ich war gerade dabei, die Zapfpistole in den Tankstutzen einzuführen, als mein Handy klingelte. »Hallo?«
»Mami! Wir sind fertig, wir sind fertig! Kannst du uns abholen?«
»Ihr seid schon fertig?« Ich starrte auf meine Armbanduhr. Es war noch nicht einmal Viertel vor drei. »Warum seid ihr schon fertig?«
»Ma-ami. Heute ging die Schule nur bis halb drei. Hast du das schon vergessen?«
Ich hatte es tatsächlich vergessen, aber ich hütete mich davor, Allie zu gestehen, dass ihre Mutter allmählich senil wurde. Stattdessen gab ich ein unverständliches Grunzen von mir, was Allie nicht weiter zu bemerken schien.
»Wir hatten bereits unser Cheerleader-Treffen, und ich habe eine Million Zettel, die du und Stuart unterschreiben müsst. Und wir haben sogar Hausaufgaben! Ich meine, heute ist doch der erste Tag! Und noch nicht einmal ein ganzer Tag! Was soll das?«
»Diese Schweine«, sagte ich.
»Genau. Also – kannst du uns jetzt abholen?«
»Klar. Ich bin in zehn Minuten da. Ihr müsst allerdings mit mir mitkommen, weil es noch einiges zu erledigen gibt.«
Ich konnte mehr oder weniger hören, wie sie ein Gesicht schnitt. »Wir warten dann im Wagen«, erklärte sie.
Ich lächelte. »Wie auch immer.«
Die Mädchen warteten auf den Stufen vor dem Haupteingang der Schule. Sie saßen dort mit drei Klassenkameradinnen, während eine Gruppe von vier Jungs ihnen gegenüber herumstand. Von meinem Wagen aus konnte ich beobachten, wie die Mädchen miteinander flüsterten und immer wieder zu den Jungs blickten, die sie aber nicht zu beachten schienen.
»Und? Wer sind die Typen?«, erkundigte ich mich, als Mindy und Allie in den Minivan kletterten.
»Wer?«, fragte Allie.
»Eure Kollegen da auf der Treppe«, sagte ich und deutete in ihre Richtung.
»Ach, die«, entgegnete sie und klang dabei für meinen Geschmack ein wenig zu gelangweilt. »Die sind aus einer höheren Klasse.«
»Und Football-Spieler«, fügte Mindy hinzu.
»Und sie wissen nicht einmal, dass es euch gibt, was?«, meinte ich.
Ich warf einen Blick in den Rückspiegel und beobachtete, wie sich die Mädchen ansahen. »Nein«, sagte Allie schließlich. »Die sprechen nicht mit Neulingen.«
Innerlich schlug ich drei Kreuze. Mein Mädchen war noch zu jung, um bereits mit Football-Spielern abzuhängen. Nach außen machte ich jedoch ein verständnisvolles Gesicht. »Ihr werdet nicht für immer Neulinge bleiben.«
Die Mädchen murmelten etwas. Ich unterdrückte ein Lächeln, während ich in Richtung unseres Viertels fuhr.
»Also – wohin fahren wir?«
»Erst einmal zum Kickboxen, um uns da anzumelden, und dann müssen wir noch einkaufen.«
»Oh, cool«, meinte Mindy
»Können wir schon heute mit dem Unterricht beginnen?«, wollte Allie wissen.
»Nein, heute noch nicht. Ich will erst einmal den passenden Kurs heraussuchen und uns anmelden.«
Ohne die Aussicht, auf der Stelle losboxen zu können, verloren die Mädchen das Interesse und steckten stattdessen ihre Nasen in eine Zeitschrift, die Allie aus ihrem Rucksack herausgeholt hatte.
Wahrscheinlich gibt es eine bessere Art und Weise, einen Selbstverteidigungskurs auszuwählen, aber ich verließ mich wieder einmal auf meine gute alte N&P-Methode – Nähe und Präsentation. Was ich wollte, war ein Studio, das man leicht erreichen konnte und das weder wie ein billiger Schuppen roch noch danach aussah.
Als Eric und ich nach San Diablo zogen, strahlte der Ort noch einen echten Kleinstadtcharakter aus. Vor allem gab es kleine nette Läden auf der Hauptstraße, wo jeden ersten Freitag im Monat ein Markt stattfand (den es noch immer gibt). Im Zentrum stehen auch heute noch viele große Bäume entlang der breiten Alleen und spenden einen angenehmen Schatten. Über die Jahre hatte man die heruntergekommenen Häuser renoviert, sodass sie nun wie kleine Juwelen wirkten – klein, aber strahlend.
Eric und ich hatten anfangs in einem solchen Juwel gelebt. Doch die räumliche Enge war uns immer stärker bewusst geworden, als Allies Spielzeuge mehr wurden (ganz zu schweigen von den Horden von Kindern aus der Nachbarschaft, die vorbeikamen, um mit unserer Tochter zu spielen), und wir begannen, neidisch in die grünen Vororte zu blicken. Etwa um die Zeit, als Eric ums Leben kam, hatten wir uns gerade ernsthaft überlegt, dorthin umzuziehen. Mein Leben in der Vorstadt begann allerdings erst ganz offiziell mit Stuart.
Während der alte Kern von San Diablo noch immer ein gewisses europäisches Flair besitzt, ist der Rest der Stadt ganz und gar kalifornisch geworden – mit einem Einkaufszentrum neben dem anderen und einem Coffeeshop an jeder Ecke. (Eine leichte Übertreibung. Da ich besonders gern in Coffeeshops gehe, sollte ich mich zudem nicht beschweren.)
Soweit ich das beurteilen kann, scheint es in den allgemeinen Regeln für die Erstellung eines Einkaufszentrums zu heißen, dass mindestens eine Reinigung, ein Versicherungsagent, eine Pizzeria und ein Selbstverteidigungsstudio dazugehören mussten. Soweit ich weiß, gibt es zwischen der Highschool und unserem Haus sechs solcher Einkaufszentren.
Während ich an den verschiedenen Studios vorbeifuhr, konnte ich mal wieder feststellen, dass sie alle irgendwie geklont wirkten. Mir stieß nichts Unangenehmes auf, aber auch nichts, was von einer herausragenden Qualität zeugte. Schließlich blieb mir nichts anderes übrig, als mich allein nach dem NähePrinzip zu entscheiden. Ich parkte also vor der Victor Leung Martial Arts Academy, die Wand an Wand mit meinem nächsten Supermarkt liegt. (Dort kennen sie mich nur zu gut. Hierher komme ich, wenn ich noch schnell Milch für Tim benötige oder während des Kochens feststelle, dass ich Butter oder Sahne oder irgendetwas anderes für ein Rezept brauche, was sich aber leider nicht in meinem Kühlschrank befindet.)
»Was meint ihr?«, fragte ich die Mädchen.
Allie zuckte mit den Achseln. Mindy murmelte etwas, was ich nicht verstand. Derartig begeistert stiegen wir also aus und gingen zur Eingangstür.
Von außen wirkte das Studio sauber, und durch die Scheibe, auf der in knallroter Farbe alles von Karate bis zum Kickboxen angepriesen wurde, konnte ich eine Gruppe von Kindern sehen, die gerade mit strahlenden Gesichtern ihre Sachen aus einem Berg von Schuhen und Rucksäcken herausfischten. Ich nahm die Anwesenheit von Kindern als ein gutes Zeichen; vielleicht hatte ich meine Hausaufgaben nicht gemacht, aber andere Mütter bestimmt. Heute wollte ich mich einmal ohne zu murren an deren Rockzipfel hängen.
Ich öffnete die Tür, wodurch eine kleine Glocke zum Klingeln gebracht wurde, und wir traten ein. Die Kinder und einige Erwachsene blickten in meine Richtung, doch keiner grüßte. Mindy und Allie gingen in den hinteren Teil des Studios, wo einige Schwarz-Weiß-Fotos hingen, die offenbar bei verschiedenen Wettkämpfen aufgenommen worden waren. Ich konnte zwar nicht alles hören, was sie sagten, aber ich vernahm deutlich ein »Oh, schau dir den mal an!« und ein »Glaubst du, so etwas lernen wir auch?«.
Ich lächelte. Sie konnten zwar so tun, als ob sie das Ganze nicht interessierte, aber ich wusste es besser. Die Mädchen freuten sich darauf. Und ich ehrlich gesagt auch.
Doch in diesem Moment war ich weniger aufgeregt als verärgert. Vergiss die Nähe – wenn nicht bald jemand kam, würden wir eben wieder gehen und einen anderen Kurs buchen. Ich wollte gerade die Mädchen rufen, als sich eine Schwingtür im hinteren Teil des Studios öffnete und ein Mann eintrat. Er war Mitte dreißig und trug ein Karate-Outfit mit einem schwarzen Gürtel. Seine Haare, die fast genauso dunkel wie der Gürtel waren, hatte er zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Er trug einen Dreitagebart und strahlte etwas kontrolliert Unberechenbaren aus. Er erinnerte mich irgendwie an Steven Seagal aus Alarmstufe Rot, einem von Stuarts Lieblingsfilmen. Am liebsten hätte ich ihn gefragt, ob er kochen konnte.
»Victor Leung?«, fragte ich, als er mit ausgestreckter Hand auf mich zukam.
»Nein, Sean Tyler«, sagte er.»Meine Freunde nennen mich Cutter«, fügte er mit einem Lächeln hinzu, während er mich von Kopf bis Fuß musterte. Seine Finger fühlten sich warm an, und ich bemerkte, dass ich errötete. Verdammt. Was war los mit mir?
Ich entzog ihm meine Hand. »Freut mich, Sie kennenzulernen, Mr. Tyler. Ich hätte allerdings gern mit dem Besitzer gesprochen.«
»Das tun Sie.« Ich musste wohl überrascht ausgesehen haben, denn er fuhr mit leiser Stimme fort, damit die anderen im Studio ihn nicht hören konnten: »Es gibt keinen Viktor Leung. Das ist alles –«
»PR. Ja, so etwas habe ich schon öfter erlebt.«
Er trat ein Schritt zurück. Seine dunklen Augen funkelten, und sein Mund deutete den Anflug eines Lächelns an, als ob ich ihn amüsieren würde. »Also – wie kann ich Ihnen helfen, Miss …?«
»Mrs.«, sagte ich vielleicht ein wenig zu hastig. »Kate Connor.« Ich richtete mich zu meiner vollen Größe auf. »Ich suche einen Lehrer.« Dann erklärte ich ihm, was ich wollte – zum einen Einzelunterricht und zum anderen einen Kurs, den ich gemeinsam mit Allie und Mindy belegen konnte. Ich zeigte ihm die Mädchen, die beide ebenfalls erröteten und miteinander zu flüstern begannen, um sich dann hastig wieder den Fotos zuzuwenden. Offensichtlich hatte ich recht – Cutter besaß SexAppeal.
Ich erwartete, eine Reihe von Kursen genannt zu bekommen. Stattdessen erkundigte er sich: »Werden Sie von jemand verfolgt?«
Auf diese Frage war ich nicht vorbereitet. Ich stammelte etwas, da ich im Grunde nicht wusste, was ich darauf antworten sollte, bis ich ein »Nicht so richtig« herausbrachte.
Er lachte. »Ist das wie nicht so richtig schwanger sein?«
Ich starrte ihn an. War er ein Kotzbrocken oder doch ein Charmeur? Bisher konnte ich das nicht mit Sicherheit beantworten.
»Keine Sorge«, erklärte er, als ob er meine Gedanken gelesen hätte. Er grinste, und seine weißen Zähne funkelten. »Sie werden sich schon an mich gewöhnen.«
Das glaubte ich ihm gern. Cutter wirkte wie ein Mann, der einem besser gefiel, je länger man ihn kannte. Ich folgte ihm zu einem schweren Schreibtisch aus Eiche, der voller Papiere war. Die anderen Eltern und Schüler waren inzwischen gegangen, sodass nur noch wir vier im Studio übrig blieben. »Also – erfahre ich Ihre Geschichte?«, fragte er. »Oder spielen Sie gern die Rolle der geheimnisvollen Schönen?«
(Ich sollte darauf hinweisen, dass ich nicht naiv bin. Er war ein attraktiver Mann – okay, er war sogar ziemlich heiß –, der ein Selbstverteidigungsstudio einen Kilometer von einem der besten Viertel der Stadt entfernt führte. Natürlich versuchte er mit seinem Charme, die Mütter der Umgebung zu becircen. Wenn er das nicht tat, würde ein anderer die Kinder des Viertels im Kicken, Springen und Boxen unterrichten. Dessen war ich mir wohl bewusst. Und trotzdem ließ mich sein Kommentar über meine »Schönheit« ein wenig aufblühen. Natürlich hätte ich das Ganze viel rationaler betrachten sollen, aber dazu hatte ich momentan keine Lust.)
Er sah mich auffordernd an.
»Vor vielen Jahren bin ich einmal ganz gut gewesen«, sagte ich leichthin, als ob das nichts Besonderes wäre. »Dann fiel mir vor Kurzem auf, wie sehr ich aus der Übung bin, und nun möchte ich das Ganze wieder auffrischen. Und ich will mit jemandem zusammen trainieren.«
»Und Ihre Töchter?«
»Das sind meine Tochter«, sagte ich, »und ihre beste Freundin.« Ich zuckte mit den Schultern. »Ich kann nicht immer dabei sein, um auf sie aufzupassen.« Es gelang mir nicht, mir meine Anspannung nicht anmerken zu lassen. Falls sie ihm jedoch auffiel, ließ er es mich nicht wissen.
»Verstehe«, sagte er. »Heute gebe ich keine Kurse mehr. Warum zeigen Sie mir also nicht erst einmal, was Sie bereits können?«
»Oh«, stammelte ich. Ich warf einen Blick auf meine Uhr. Ich hatte eigentlich erwartet, heute nur die Formalitäten zu regeln. Und außerdem gefiel mir die Idee, Cutter vor meiner Tochter zu zeigen, was ich draufhatte, ganz und gar nicht. »Ich glaube nicht, dass das so eine gute –«
»Legen Sie einfach Ihre Sachen dort drüben hin.« Er zeigte auf die Wand im hinteren Teil des Studios. »He, ihr beiden«, rief er. »Kommt doch mal hierher. Eure Mutter und ich wollen Euch etwas zeigen.«
»Cutter«, zischte ich.
»Was? Sie wollen doch schließlich gemeinsam mit Ihrer Tochter einen Kurs besuchen. Da darf es Ihnen nicht peinlich sein, vor ihren Augen zu kämpfen. Das würde einen Kurs recht merkwürdig gestalten.«
»Okay.« Ich warf ihm einen finsteren Blick zu. Irgendwie kam es mir so vor, als würden wir uns wie ein Ehepaar streiten. Allerdings ging es in meinen Auseinandersetzungen mit Stuart nie körperlich zur Sache.
»Dann fangen wir mal mit Schattenboxen an.«
Es gab wirklich keinen Grund, mich so zu sträuben. Auf diese Weise würde ich ein Gefühl für seine Fähigkeiten gewinnen und außerdem herausfinden, ob ich meine eigenen Bewegungsabläufe hinreichend unter Kontrolle halten konnte, um mit Allie zu kämpfen. Cutter hatte recht. Allie würde sowieso bald genug erfahren, wozu ihre Mutter fähig war.
Nachdem sich die Mädchen im Schneidersitz am Rand der Matte niedergelassen hatten, ging ich in den hinteren Teil des Studios, um dort Tasche und Schuhe abzustellen. Die Wände waren verspiegelt, sodass ich eigentlich keine Ausrede hatte, warum ich ihn nicht kommen sah. Ich war gerade an ihm vorbeigegangen, da wurde ich auch schon von ihm an der Taille gepackt, er presste mir eine Hand auf den Mund und hinderte mich so am Schreien.
Was zum Teufel …
Ich konnte hören, wie Allie im Hintergrund aufschrie, aber ich konnte mich ihr nicht zuwenden. Jeglicher vernünftige Gedanken war aus meinem Kopf verschwunden. Ich verspürte nur noch den Wunsch, Cutter zu zeigen, wer hier die Hosen anhatte. Ich dachte nicht nach, ich handelte nur noch, und ich muss zugeben, es fühlte sich wirklich gut an.
Ich griff mit beiden Händen nach der seinen, die noch immer auf meinen Mund gepresst war, und zerrte sie nach unten. Dadurch gelang es mir, ihm meine Zähne in den Handballen zu schlagen. Dabei wand ich mich, doch sein Arm hielt mich weiterhin kräftig fest, obwohl er protestierend aufheulte. Ich verpasste ihm mit meinem linken Ellenbogen einen Hieb in die Seite, sodass ich ihn unterhalb des Brustkastens traf. Ihm blieb fast die Luft weg. Sein Arm lockerte sich lange genug, dass ich mich seitlich drehen, mein Bein um das seine legen und ihn so rückwärts auf die Matte befördern konnte.
»Mami! Wow, Mami! Das war ja Wahnsinn!«
Eine Sekunde später saß ich auf ihm, hielt die Hände um seinen Hals gelegt und die Daumen auf seine Luftröhre gedrückt. »Was sollte das?«, knurrte ich ihn an, während Allie und Mindy zu uns gerannt kamen.
Das Blut pumpte durch meinen Körper. Obwohl ich meiner Tochter gern einen beruhigenden Blick zugeworfen hätte, merkte ich, dass ich dazu noch nicht in der Lage war. Meine Augen waren auf Cutter gerichtet. »Warum haben Sie mich angegriffen?«, verlangte ich zu wissen.
»Sie haben doch gemeint, dass Sie früher einmal gut waren«, erwiderte er. Ich spürte das Zittern seiner Stimmbänder unter meinen Daumen. »Ich wollte einfach nur wissen, wie gut. Tut mir leid – vielleicht hätte ich fragen sollen.«
»Das hätten Sie.« In letzter Zeit wurde ich ziemlich oft auf die Probe gestellt und getestet, und das gefiel mir ganz und gar nicht. Bisher war es mir allerdings besser als erwartet gelungen, die Prüfungen zu bestehen. Darauf konnte ich eigentlich stolz sein.
»Lassen Sie ihn jetzt wieder los, Mrs. Connor?«, fragte Mindy.
»Warum sollte sie?«, meinte Allie. »Sie hat ihm gezeigt, wo es langgeht. Das war echt cool.«
»Ziemlich cool«, gab auch Cutter zu. »Es ist zwar nicht ungemütlich hier unten, aber wenn Sie jetzt wieder aufstehen würden, könnten wir den beiden Mädchen vielleicht noch einige weitere Griffe zeigen.«
»Machst du weiter, Mami?«
»Heute nicht mehr, Schatz«, sagte ich. Ich spürte, wie das Adrenalin, das durch meinen Körper pumpte, langsam schwächer wurde. Allmählich begriff ich, dass ich noch immer auf dem Brustkasten eines ausgesprochen gut aussehenden Mannes saß. Zumindest hoffte ich, dass er ein Mann war. Jetzt war ich allerdings nicht mehr in der Laune, irgendetwas dem Zufall zu überlassen.
»Ach, komm schon, Mami!«
»Tut mir leid, Kleines. Als Nächstes müssen wir einkaufen fahren.«
»Oh, gut«, meinte Cutter. »Da habe ich ja noch mal Glück gehabt.«
Ich schnitt eine Grimasse, als Mindy sich zu Wort meldete. »Können Sie uns beibringen, wie man so etwas macht? Ich meine, Typen umwerfen?«
»Klar, kein Problem. Deshalb wollt ihr schließlich ja auch Unterricht haben – oder etwa nicht?«
Allie umkreiste mich und Cutter interessiert. Sie begutachtete den Mann mit einer ernsten Miene. »Ich weiß nicht, Mami. Sollen wir wirklich bei dem Stunden nehmen? Vielleicht sollten wir jemand besseren finden.«
»Also, jetzt reicht es«, begann Cutter. »Deine Mutter weiß einfach, wie sie sich verteidigen muss. Ich verspreche dir, dass ich euch das Gleiche beibringe.«
»Hm«, meinte Allie zögerlich. Ich versuchte meine Belustigung zu unterdrücken, als sie sich an Mindy wandte. »Was meinst du?«
Mindy zuckte mit den Schultern. »Er hat dahinten an der Wand alle möglichen Preise und so hängen. Wahrscheinlich ist er ganz okay.«
»Schwierige Kunden«, brummte Cutter. »Wie gesagt, es ist nicht ungemütlich, dass Sie auf mir sitzen. Aber würden Sie mich jetzt vielleicht mal wieder aufstehen lassen?«
Unsere Augen trafen sich. Die seinen funkelten belustigt, zeigten aber auch noch etwas, was ich nicht genauer analysieren wollte. »Oder wir könnten natürlich für immer und ewig so liegen bleiben.«
»Das hätten Sie wohl gern.« Ich stieg von ihm herunter, blieb aber vorsichtshalber noch immer in Abwehrstellung und beugte mich bedrohlich über ihn. Er sah mich amüsiert von unten herauf an. Ehrlich gesagt, wollte ich ihn dringend kurz allein sprechen. Ich wollte herausfinden, ob ich es vielleicht doch mit einem Dämon zu tun hatte. Das sollte meine Tochter nicht mitbekommen. »Mädels, könntet ihr so nett sein und mir schnell vom Supermarkt etwas zu trinken holen?«
»Etwas zu trinken?«, wiederholte Mindy.
»Sie will uns nur loswerden«, erklärte Allie. »Sie will ihm den Rest geben.«
»Kluges Mädchen«, sagte ich. »Ich treffe euch dann draußen.«
»Endlich allein«, meinte Cutter, sobald sich die Tür hinter den beiden geschlossen hatte.
Ich starrte ihn finster an.
»He, eine schöne Frau hat mich gerade vor den Augen der Welt besiegt. Was bleibt mir da anderes als mein Humor?«
Ich musste zugeben, dass er insgesamt recht umgänglich war. »Sie haben mich erschreckt«, sagte ich.
»Ja, das kann ich mir gut vorstellen. Und wie lange dauert es, bis Sie sich wieder erholt haben und aufhören, mich so grimmig anzustarren?«
Eine gute Frage. Natürlich konnte er ein Dämon sein, der nur darauf gewartet hatte, dass ich mich entschloss, in Victor Leungs oder vielmehr Cutters Studio zu trainieren; aber ich musste zugeben, dass das reichlich unwahrscheinlich war. Allerdings hätte ich vor drei Tagen auch noch behauptet, dass die Wahrscheinlichkeit, dass sich ein Dämon durch mein Fenster katapultiert, gleich null war …
Ich hatte also nicht vor, irgendwelche Risiken einzugehen.
Meine Tasche hing noch immer über meiner Schulter, und nun wühlte ich in ihren Tiefen herum. Nach einer Weile fand ich das Gesuchte – das Fläschchen mit Weihwasser – und vermochte es sogar einhändig zu öffnen, ohne es herausholen zu müssen. Ich befeuchtete meine Hand damit (ganz zu schweigen von meinem Scheckbuch, den Stiften, meinem Make-up und dem Geldbeutel). »Kommen Sie einmal her«, befahl ich.
Cutter sah mich verblüfft an, gehorchte aber. Sobald er nahe genug war, streckte ich die nasse Hand aus und berührte damit seine Wange. Nichts geschah. (Okay, das stimmt nicht ganz. Cutter fluchte und stellte die Frage in den Raum, ob ich vielleicht nicht doch eine Psychopathin wäre.)
Ich trat einen Schritt von ihm zurück. »Entschuldigen Sie bitte.«
Eigentlich erwartete ich, dass er mich nun hinauswerfen würde. Stattdessen wischte er sich das Wasser mit dem Handrücken von der Wange und starrte mich an. »Haben Sie vor, mir das zu erklären?«
»Haben Sie vor, mich zu trainieren?«, gab ich zurück. »Oder den Kurs meiner Tochter zu leiten?«
Ich hoffte es. Nachdem ich nun wusste, dass es sich bei Cutter um keinen Dämon handelte, konnte ich getrost zugeben, dass er mir gefiel. Er besaß das gewisse Etwas. Und es schien ihm nichts auszumachen (jedenfalls nicht allzu viel), dass ihn eine Frau besiegt hatte. Außerdem lag sein Studio wirklich erfreulich nahe, und sein Äußeres war ja auch nicht allzu übel (ja, ja, ich weiß, ich bin schrecklich oberflächlich).
»Lady, Sie sehen mir nicht gerade so aus, als ob Sie das Training brauchten.«
»Oh doch, das tue ich«, widersprach ich. »Meine Reflexe sind zwar besser, als ich gedacht hätte, aber mein Instinkt hat erheblich nachgelassen. Ich hätte merken müssen, dass Sie mich von hinten angreifen. Es hätte Ihnen nicht gelingen dürfen, Ihre Hand auf meinen Mund zu legen. Außerdem habe ich viel zu lange gebraucht, um Sie zu Fall zu bringen. Und von den blauen Flecken, die mein Körper abbekommen hat, will ich gar nicht erst sprechen.«
»Davon, dass Sie mich einmal auf die Matte gelegt haben?«
Ich gab ein unverständliches Brummeln von mir. Ich wollte ihm nicht erzählen, dass ich in nur drei Tagen in drei Kämpfe verwickelt gewesen war. Allie mochte vielleicht von meinen Fähigkeiten beeindruckt sein, einen Selbstverteidigungslehrer auf die Matte zu werfen, aber diese kleine Aktion hätte nie gereicht, einen echten Dämon zu vernichten. Ich musste wirklich wieder in Topform kommen, und bis dahin war es noch ein weiter Weg. »Ich bin noch nicht so gut, wie ich sein muss«, erklärte ich mit einem Achselzucken. So einfach war das.
»Sein muss«, wiederholte er. »Wofür?«
»Für mich.« Der Kampf mit Dämonen verlangt nur zum Teil bestimmte Fähigkeiten und Stärke; der andere Teil ist Selbstvertrauen. Meine Reflexe mochten noch gut sein und nur unter der Oberfläche verborgen liegen, aber ehe mein Kopf das nicht begriffen hatte, war ich angreifbar. »Ich muss einfach wieder wissen, wozu ich in der Lage bin.«

Ich wusste nicht, ob Cutter schließlich zustimmte, weil ich ihm keine andere Wahl ließ, weil er annahm, dass es mir ernst mit dem Training war, oder weil er mich für eine (möglicherweise gefährliche) Verrückte hielt, die er nicht verärgern wollte. Ehrlich gesagt, waren mir seine Gründe auch ziemlich egal. Ich war in dieses Studio gegangen, um uns dort anzumelden, und ich kam mit einem Trainingsprogramm für mich (täglich vormittags um halb zehn) und einem Dienstag- und Freitagnachmittagkurs für Allie, Mindy und mich wieder heraus.

Mission erfüllt. Ein weiterer Punkt, den ich von meiner Liste streichen konnte.
Natürlich hatte ich mich viel zu lange mit Cutter unterhalten. (Ich schob es auf seine männliche Unsicherheit. Während wir die notwendigen Formulare ausfüllten, begann er auf einmal seinen beruflichen Werdegang herunterzubeten und erzählte mir von seiner Zeit beim Militär, den unzähligen Preisen und Auszeichnungen, die er über die Jahre bei verschiedenen Wettbewerben gewonnen hatte, und so weiter. Es ließ sich nicht leugnen – der Bursche schien qualifiziert zu sein.) Die beiden Mädchen warteten vor dem Supermarkt auf mich. Sie saugten an zwei Fruchteistüten (»Die haben eigentlich überhaupt keine Kalorien«) und schwärmten davon, wie es mir gelungen war, Cutter auf die Matte zu werfen.
»Das war obercool, Mrs. Connor«, erklärte Mindy. »Ich glaube nicht, dass meine Mutter so was schaffen würde.«
»Wo meine Mutter hinschlägt, da wächst kein Gras mehr!«, erwiderte Allie stolz.
»Allie.« Ich setzte meine Geschockte-Mutter-Miene auf, aber insgeheim war ich sehr zufrieden. Meine Tochter fand mich cool! »Okay, ab ins Auto.« Als die Mädchen und ich in den Wagen gestiegen waren, warf ich einen Blick auf die Zeitanzeige. Es war bereits 15:35 Uhr. Ich überprüfte diese Zeitangabe mit einem Blick auf meine Armbanduhr (als ob ich irgendwo eine halbe Stunde in Reserve vermutete). Aber offenbar stimmten meine Uhren vollkommen miteinander überein.
So viel zu meiner Befähigung als Super-Mutter. Nun blieb mir nicht mehr genügend Zeit, um für die Cocktailparty einzukaufen und rechtzeitig nach Hause zu gelangen, um den Glaser hereinzulassen. Verdammter Mist.
Ich listete in Gedanken die Möglichkeiten auf, die mir nun blieben, während ich auf die Hauptstraße einbog. Sollte ich zu Laura, nach Hause oder zum Supermarkt fahren? Ich holte mein Handy heraus, wählte Lauras Nummer und blieb an einer roten Ampel stehen.
Ihr Anrufbeantworter schaltete sich ein, und ich fluchte laut. Ungeduldig wartete ich darauf, dass das blöde Ding piepte. »Laura? Heb ab. Ich bin es.«
Ich hörte, wie der Hörer klapperte und dann Laura atemlos antwortete: »Hi, sorry Ich habe gerade die Windeln gewechselt.«
»Ich habe Mindy und Allie abgeholt«, erklärte ich. »Aber könnte ich noch ein weiteres Kuchenstück auf deinen Teller laden?«
Ich glaubte, sie lächeln zu hören. »Worum geht es?«
Ich erklärte ihr die Sache mit dem Glaser und fragte sie, ob sie mit Timmy ihr Spiel in meinem Haus fortsetzen könnte.
»Klar, kein Problem.«
»Ich bin dir etwas schuldig«, sagte ich.
»Das kann man wohl behaupten«, erwiderte sie bester Dinge.
Nachdem ich dieses Problem also auch meisterhaft gelöst hatte, wendete ich den Wagen bei der nächsten Gelegenheit und fuhr in die andere Richtung zu Gelson’s (die Art von exklusivem Supermarkt, wo der Wagen für einen geparkt wird und man vielleicht sogar irgendeinen Star sieht – oder vielmehr den Butler eines Stars).
Normalerweise kaufe ich dort nicht ein.
Insgeheim beklagte ich mal wieder die Tatsache, dass wir nicht im Geld schwammen. Wenn ein überfließendes Bankkonto bedeutete, regelmäßig in einem solchen Geschäft einkaufen zu können, würde es mir vielleicht sogar gelingen, einige neue Gerichte zuzubereiten und nicht immer wieder auf die üblichen Verdächtigen wie Hackbraten und Huhn mit Reis zurückgreifen zu müssen.
Die Mädchen setzten sich sofort ab. Auf den ersten Blick sah es so aus, als ob sie sich für die Obst- und Gemüseabteilung interessierten, aber ich vermutete, dass sie schon bald vor der Theke mit Desserts stehen würden. Ich ging in den hinteren Teil des Supermarktes, wo eine Frau Mitte fünfzig mit einem Haarnetz auf dem Kopf fragte, ob sie mir behilflich sein könnte. Ich gab mich nicht schüchtern, sondern erklärte ihr sogleich meine traurige Lage (nämlich dass ich eine schrecklich schlechte Köchin sei und in etwa drei Stunden eine Cocktailparty geben müsse).
Lorraine (sie hatte ein Namensschildchen angesteckt) stellte sich der Herausforderung, und in weniger als zwanzig Minuten stand ich an der Kasse und zahlte für einen Klecks Kaviar (und dazu passend saure Sahne und kleine Windbeutel), Foie gras, irgendwelche teuren Chips, die ich mir sonst nie geleistet hätte, Käseblätterteigtaschen, einen Spinat-Dip in einer Schale aus Brotteig, Champagner-Trauben und ein Stück meines guten alten Brie. (Ein gesellschaftlicher Fauxpas, da ich den Käse bereits am Freitag serviert hatte, aber ich hoffte, die Schande zu überleben.) Außerdem hatte ich einige Flaschen Wein erstanden (vom Sommelier des Hauses empfohlen), die nötigen Zutaten für verschiedene Martini und zwei obszön große Schokoladenkuchenstücke, die sich die Mädchen als Belohnung für ihren ersten Tag auf der Highschool ausgesucht hatten.
Nachdem ich eine Summe hingelegt hatte, die in etwa unserer monatlichen Hypothek entsprach, folgte ich dem Angestellten zu unserem Auto, wo ich zusah, wie er meine Einkäufe einlud. Währenddessen dachte ich darüber nach, wie leicht ich mich doch an ein solches Leben gewöhnen könnte. Einige Minuten später bogen wir bereits in Lauras Auffahrt ein.
»Deine Mutter wird bald zurück sein«, erklärte ich Mindy, die nicht so aussah, als ob ihr das irgendetwas bedeutete. »Und du«, sagte ich zu Allie, »wirst heute hier nicht übernachten. Um zehn bist du wieder zu Hause.«
»Klar, Mami.«
Ich wartete, um sicherzugehen, dass die Mädchen auch ins Haus gingen, und fuhr dann eine Straße weiter zu unserem Haus. Ich parkte in der Garage und nahm gleich eine der Tüten mit, als ich ausstieg. Statt direkt in die Küche zu gehen, lief ich zu unserem Briefkasten am Anfang unserer Auffahrt und holte die Zeitung heraus. Dann ging ich zur Haustür. Laura begrüßte mich, als ich eintrat. Sie hielt mein Telefon an ihr Ohr gepresst.
Als ich an ihr vorbeigehen wollte, streckte sie den Zeigefinger in die Luft, um mir zu verstehen zu geben, dass ich warten sollte. »Es ist Stuart«, sagte sie.
Ich nahm ihr das Telefon ab und klemmte es zwischen Schulter und Ohr, während ich die Tüte neben dem Kühlschrank abstellte. Timmy hatte gehört, dass ich hereingekommen war, und stürzte nun mit lauten Mami-Schreien auf mich zu, sodass kaum mehr etwas anderes zu hören war.
»Was ist los, Schatz?«, rief ich. »Kannst du das noch einmal wiederholen?« Ich beugte mich herunter, um meinen Sohn in die Arme zu nehmen, und er fasste sogleich nach dem Hörer. »Timmy reden! Timmy reden!«
»Kate?«
»Schieß los.« Ich entriss Tim den Hörer und wimmelte ihn mit einem strengen »Nein, Mami redet jetzt« ab. Zu meinem Mann sagte ich: »Ich höre.«
»Ich rufe eigentlich nur an, um sicherzustellen, dass du meine Notiz gefunden hast. Halb sieben?«
»Alles in bester Ordnung«, erklärte ich. »Ich bin gerade vom Supermarkt zurückgekommen.« Hinter mir hörte ich, wie die Tür geöffnet und geschlossen wurde. Als ich mich umdrehte, sah ich Laura, die mit den restlichen Tüten hereinkam. Ich formte mit den Lippen ein stilles Danke.
»Du bist die Beste«, sagte Stuart. »Ich bin dann um sechs zurück, um dir zu helfen.«
»Klingt gut …« Ich warf einen Blick auf meine Uhr, während ich Timmy auf die andere Hüfte hievte. Was musste ich noch alles erledigen, um rechtzeitig für die Party fertig zu sein? Vielleicht sollte ich Stuart bitten, bereits um fünf nach Hause zu kommen. Zu spät. Noch ehe ich meine Worte zusammen hatte, erklärte er mir, dass er mich liebte, und legte auf.
Toll.
»Sie haben Schimmel in Ihrem Fensterrahmen.«
Es wurde immer noch toller.
Ich war, ohne mich umzusehen, in die Küche gestürzt. Als ich aufblickte, entdeckte ich einen hageren Mann, der einer Vogelscheuche ähnelte und Overall und Baseballmütze trug. Er war damit beschäftigt, den Fensterrahmen mit einem kleinen Messer zu attackieren.
»Oh«, antwortete ich einfallslos. Er blickte mich unverwandt an, sodass ich mich genötigt sah, noch etwas hinzuzufügen. »Wie bitte?«
Er seufzte (laut). »Also – soll ich etwas dagegen tun?«, wollte er wissen.
»Du redest, Mami?«, fragte Timmy »Du redest Telefon?«
»Nein, Liebling. Mami hat aufgehört, am Telefon zu reden.«
»Lady?«
»Einen Moment«, entgegnete ich. Ich ging ins Wohnzimmer und reichte auf dem Weg dorthin Laura meinen Sohn. Meine Freundin war damit beschäftigt, die Spielzeuge, die Timmy überall verteilt hatte, zusammenzusammeln.
»Wo sind die Mädchen?«
»Bei dir«, erklärte ich.
»Dachte es mir schon fast. Und du möchtest wahrscheinlich, dass ich Allie bei mir behalte, bis deine Party vorüber ist, oder?«
Nachdem ich Allie bereits etwas Ähnliches gesagt hatte, kam Lauras Angebot genau richtig. »Du bist eine Heilige – das weißt du doch, nicht wahr?«
Sie entdeckte Boo Bear unter einem auf dem Boden liegenden Sofakissen und reichte ihn Timmy, der seinen Freund begeistert begrüßte. »Schmeicheleien helfen immer weiter«, erwiderte sie grinsend.
»Ich werde es mir merken. Und ich glaube, inzwischen sind es schon vier Stück Käsekuchen geworden. Beim nächsten Gefallen, den du mir tust, bekommst du gleich noch eine Jahreskarte für ein Sportstudio.«
Sie schnitt eine Grimasse. »Und ich dachte, du würdest meine Hilfe zu schätzen wissen.«
Ich dankte ihr von Neuem. Dann verließ sie uns durch die Verandatür, um ein Auge auf die beiden Mädchen zu werfen, und ich kümmerte mich um Timmy. Er war gerade dabei, den Wäschekorb aufzusuchen, in den Laura seine Spielsachen geworfen hatte, um diese wieder herauszuholen. Nächster Punkt auf der Liste: das Haus aufräumen.
Ich kehrte in die Küche zurück. Zehn Minuten später wusste ich genau, was Schimmelpilze alles anrichten konnten. Nach einigen technischen Ausführungen, die mich so gar nicht interessierten, kamen wir schließlich zum Wesentlichen: Er konnte das Ganze für den Moment in Ordnung bringen, aber auf Dauer brauchten wir einen neuen Fensterrahmen. Dann würde auch die neue Scheibe besser abgedichtet werden. Der Typ erklärte mir natürlich, dass er den ganzen Auftrag gern übernehmen könnte, und versicherte mir, dass seine Preise höchst angemessen wären.
Ich überlegte mir, wie wahrscheinlich es war, dass Stuart genügend Zeit fand, das Ganze selbst in Angriff zu nehmen, oder ob er es stattdessen mir aufs Auge drücken würde. Vermutlich erwartete er wie immer, dass ich so viele Kostenvoranschläge wie möglich einholen würde, damit er am Schluss entscheiden konnte, welcher der beste war. Da ich aber momentan wirklich nicht die Zeit hatte, mich mit solchen Dingen herumzuschlagen, erklärte ich dem Handwerker, dass ich ihm gern den Auftrag erteilen würde. Was Stuart nicht weiß, macht ihn nicht heiß (und um zu garantieren, dass Stuart es tatsächlich nicht herausfand, nahm ich mir vor, während der nächsten zwei Monate die Rechnungen zu erledigen, obwohl eigentlich Stuart an der Reihe war).
Der Handwerker versprach mir, in einer Stunde die Scheibe eingesetzt zu haben, und ich eilte ins Wohnzimmer zurück, um mit dem Aufräumen zu beginnen. Zum Glück half mir Timmy, sodass alles viel, viel schneller vonstatten ging (für diejenigen, die es nicht gemerkt haben sollten: so etwas nennt man Sarkasmus).
Sobald das Spielzeug verstaut war, setzte ich Tim mit Boo Bear, seiner Mundharmonika, einem Malbuch und einigen (abwaschbaren) Farbstiften auf das Sofa und eilte dann nach oben, um mich umzuziehen. Da Stuart mir keinerlei Vorwarnung gegeben hatte, war es nicht schwer, mich zu entscheiden, was ich tragen wollte. Es gab nur ein einziges Outfit in meinem Kleiderschrank, das nicht verknittert war – ein marineblauer Hosenanzug, den ich in einer Laune erworben hatte, als er bereits um fünfundsiebzig Prozent heruntergesetzt war.
Ich legte hastig ein wenig Make-up auf, steckte mir das Haar mit einer Spange hoch, fixierte es mit Haarspray und besprühte mich mit einem nach Apfel duftenden Körperspray (um den Geruch des Haarsprays zu überdecken). Dann hastete ich wieder nach unten, um die Rechnung, die mir der Handwerker präsentierte, zu unterschreiben und der Atlas Glass Company einen hoffentlich gedeckten Scheck auszustellen (Notiz an mich selbst: Geld aus den Ersparnissen auf das Girokonto überweisen).
Danach widmete ich mich der wichtigsten Arbeit. Und zwar verteilte ich meine Einkäufe auf den verschiedenen Tellern und schob die Käseblätterteigtaschen in den Ofen, bis sie a) warm waren und b) die Küche so roch, als hätte ich darin gekocht. Nur um der Wirkung willen stellte ich auch ein paar Pfannen und Schüsseln heraus, räumte Schneebesen und Kochlöffel in die Spülmaschine und schaltete diese an. Falls jemand früher als erwartet kam, würde es so wirken, als ob ich gerade einen geschlagenen Tag mit Kochen in der Küche verbracht hätte.
Hinterhältig, ich weiß. Aber meine stete Sorge, die ganze politische Gesellschaft würde annehmen, Stuart hätte eine Niete geheiratet, wurde auf diese Weise ein wenig in Schach gehalten. (»Sie ist den ganzen Tag mit ihrem kleinen Jungen zu Hause, aber bei ihnen ist nie aufgeräumt, und kochen kann sie auch nicht. Also wirklich – was sieht er nur in ihr?«) Vielleicht leide ich unter Verfolgungswahn. Aber ich war gern bereit, das in Kauf zu nehmen und vorsichtshalber einmal so zu tun, als ob meine Sorgen tatsächlich zutrafen.
Um zehn nach sechs kehrte ich ins Haus zurück. Ich hatte Timmy bei Laura abgegeben, bis die Party vorüber war (sie ist wirklich eine Heilige). Eigentlich hatte ich erwartet, dass Stuart bereits zu Hause wäre und das Essen probierte, das er nicht anrühren sollte.
Aber kein Stuart. Ich runzelte die Stirn. Diesmal war ich mehr als nur irritiert. Schließlich war das seine Party. Das wenigste, was er tun konnte, war, zu dem Zeitpunkt einzutreffen, den er versprochen hatte.
Ich räumte noch einige Minuten lang ein paar Dinge weg, rückte die Tabletts mit Essen gerade und stellte die bereits geöffneten Weinflaschen auf dem Buffet so hin, dass die Etiketten in einer perfekten Linie verliefen. Sogar die CocktailServietten holte ich diesmal heraus (noch immer lagen einige dort, wo Stuart sie am vergangenen Freitag vermutet hatte). Der Wecker klingelte, und ich holte die Blätterteigtaschen heraus, um sie auf einer knallgelben Platte anzurichten.
Noch immer kein Stuart.
Ich schüttelte die Kissen auf der Couch aus und wollte gerade eine Fluse vom Teppich aufheben (Wie schrecklich! Wie schmutzig!), als ich hörte, wie es an der Haustür klapperte. Endlich! Ich eilte zur Haustür und öffnete sie.
Niemand zu sehen. Nur ein Werbezettel für einen Pizzaservice. Okay, gut. Ich versuchte, meine Wut im Zaum zu halten, indem ich mich daran erinnerte, dass eine rotfleckige Haut so gar nicht zu meinem perfekt aufgetragenen Make-up passte. Schließlich blieb noch eine Viertelstunde Zeit, ehe die Party beginnen sollte. Bestimmt würde Stuart gleich hier sein.
Um mich zu beruhigen und abzulenken, nahm ich den Herold aus dem Korb, der neben der Haustür steht. Während ich in die Küche zurückkehrte, schlug ich die Zeitung auf. Ich schenkte mir ein Glas Wein ein (um noch ruhiger zu werden) und breitete die Zeitung vor mir auf dem Tisch aus. Gedankenverloren überflog ich die Seiten.
Als ich zu den Lokalnachrichten kam, erstarrte ich. Mein Blick war regungslos auf die Seite gerichtet. Dort befand sich ein Farbfoto meines Dämons Richie Cunningham, der in die Kamera lächelte und sehr unschuldig wirkte. Unter dem Bild stand ein kurzer Artikel:
Nur knapp überlebte Todd Stanton Greer, Student der Literaturwissenschaften, am Samstag den Angriff eines bösartigen Hundes. »Es war furchtbar«, erklärte Kommilitonin Sarah Black, die Zeugin der Attacke wurde. »Der Hund kam einfach aus dem Nichts auf ihn zugerannt.« Die Tierheime vor Ort und die Stadtverwaltung hatten keine Erklärung, woher der Hund stammte. Falls jemand relevante Informationen hat, soll er sich bitte an die Polizei von San Diablo unter der Nummer 5553698 wenden. Greer wurde in einem kritischen Zustand in das Diablo County Medical Center eingeliefert, doch bereits am Abend konnte er wieder entlassen werden. »Es gab keinen Grund, ihn länger hierzubehalten«, erklärte Dr. Louis Sachs. »Er hat sich erstaunlich schnell erholt.«

Der Artikel war noch etwas länger, aber ich vermochte ihn nicht zu Ende zu lesen. Meine Hände zitterten einfach zu stark. Ein wild gewordener Hund – wer’s glaubt, wird selig. Die Polizei mochte vielleicht so etwas annehmen, aber ich wusste besser Bescheid. Der Hund war die Manifestation eines Dä

mons, bösartig und kaltblütig. Der einzige Grund, warum er durch die Straßen von San Diablo zog, war, um anzugreifen und zu töten. So konnte er eine menschliche Gestalt für den Dämon gewinnen, der ihn beherrschte.

Todd Greer hatte nicht überraschend überlebt. Er war Samstag gestorben. Und anschließend hatte ein Dämon das Krankenhaus verlassen, war zu mir gekommen und hatte mich bei meinen Mülltonnen angegriffen. So viel zu meinem angenehmen, sicheren Wohnviertel.
San Diablo war nicht mehr frei von Dämonen. Nein – vielmehr deutete alles daraufhin, dass eine höchst aggressive und heftige Invasion der Dämonen stattfand. Die Forza hätte eigentlich hier sein müssen, um den Kampf aufzunehmen. Aber momentan war ich die einzige Jägerin an der Front.

Und ich stand knietief in Blätterteigtaschen und Champagner-Trauben.

ELF

Einmal abgesehen davon, dass Stuart noch immer nicht da war, war die Party ein großer Erfolg. Die ursprüngliche Gästeliste war schon lange überschritten, und im Wohn- und Esszimmer tummelten sich Politiker aller Couleur. Überall plauderten die Leute über Fundraising und Kandidaten, während sie hier und da höflich meine Käseblätterteigtaschen lobten.

Ich lächelte und nickte und bemühte mich darum, nicht alle drei Minuten auf die Uhr zu sehen. Keine leichte Aufgabe. Als ich sah, wie Clark zum Buffet ging, folgte ich ihm und wartete geduldig, während er eine Unterhaltung mit einer streng aussehenden Frau in einem schwarzen Hosenanzug beendete. »Eine Enteignung ist nichts, womit man leichtfertig umgehen sollte«, erklärte sie. »Seien Sie vorsichtig, Mr. Curtis, oder wir werden uns vor Gericht wiedersehen.«

Wenn sie nicht so ernst geklungen hätte, wäre ich geneigt gewesen, sie als wichtigtuerisch abzutun. Doch ihre Miene und ihre Stimme sprachen eine andere Sprache.

»Worum ging es?«, fragte ich Clark, sobald sie verschwunden war.
»Die Stadt möchte mehr Grund erwerben, um die Uni auszubauen. Leider stehen auf dem Land, das wir wollen, bereits einige hübsche kleine Häuschen.« Er zündete sich eine Zigarette an und wirkte dabei so bedrückt, dass ich es nicht über das Herz brachte, ihn daran zu erinnern, dass wir in diesem Haus nicht rauchten. »Manchmal hasse ich meinen Beruf«, erklärte er.
»Ich hasse euren Beruf manchmal auch«, erwiderte ich. »Ist Stuart deshalb noch nicht hier? Muss er an irgendeinem Grundstücksdeal arbeiten?«
»Stuart ist mein Kandidat, Kate. Glaubst du wirklich, dass ich ihn von seiner eigenen Party fernhalten würde?«
Nein, das glaubte ich eigentlich nicht. Insgeheim hoffte ich es jedoch. Ansonsten wusste ich nicht, was ich denken sollte.
Ich mischte mich ein wenig unter die Gäste und bemühte mich darum, mein Frau-eines-Politikers-Lächeln zu wahren. Allerdings hörte ich nur mit halbem Ohr hin, worum die jeweiligen Gespräche gingen.
Als die Haustür geöffnet und wieder geschlossen wurde, eilte ich in der Hoffnung dorthin, Stuart zu sehen. Stattdessen war Larson eingetroffen.
»Zum Glück sind Sie hier«, sagte ich, während ich ihn in die leere Küche führte. »Ich drehe noch durch.«
»Was ist los?«
»Die Hölle ist los«, erklärte ich.
»So schlimm?«
»Stuart ist nicht da. Er hat sich bereits eine halbe Stunde verspätet, und das für seine eigene Party. Außerdem ziehen Horden von Dämonen durch die Straßen, wie ich gerade aus der Zeitung erfahren musste.«
»Oh«, sagte Larson. Er schenkte sich ein Glas Wein ein. »Jetzt einmal eins nach dem anderen. Haben Sie Ihren Mann bereits angerufen?«
»Natürlich, schon zwei Mal. Er hat seine Voicemail eingeschaltet.«
»Auf der 101 gab es einen Unfall. Vielleicht steckt er da ja fest.«
»Das hoffe ich für ihn, wenn ihm sein Leben lieb ist.« Diese Party zu geben war schrecklich genug für mich, ohne Stuart bedeutete es jedoch die reine Hölle.
»Und was meinten Sie mit den Horden von Dämonen?«, wollte Larson wissen.
»Ach ja«, sagte ich und versuchte, etwas leiser zu sprechen. »Sehen Sie sich das an.« Ich reichte ihm den Zeitungsartikel, den er las, während ich ein paar Teller zusammenräumte und weitere Blätterteigtaschen und Mini-Quiches auf ein Blech mit Backpapier legte, das ich in den Ofen schob.
Danach eilte ich, wie sich das für eine gute Gastgeberin gehörte, durch Wohn- und Esszimmer, um die Gläser mit einer neu geöffneten Flasche Rotwein wieder aufzufüllen. Alle schienen sich zu amüsieren; ich bemerkte jedenfalls niemand, der mit einem Stirnrunzeln einen heimlichen Blick auf seine Uhr warf. Zum Glück waren die Gäste zudem höflich genug, Stuarts Abwesenheit nicht laut zu beklagen. Als ich zu Larson zurückkehrte, stand er über die Zeitung gebeugt, die Hände auf den Küchentisch gestützt, und zitterte vor Zorn.
»Larson?« Meine Stimme klang kaum lauter als ein Flüstern, aber er hörte mich. Als er den Kopf hob, um mich anzusehen, ließ mich der Zorn in seinem Gesicht einen Schritt zurückweichen. »Was ist los? Haben Sie ihn gekannt?«
Er schüttelte den Kopf. Als er sprach, wirkte er deutlich ruhiger. »Nein. Nein, ich habe ihn nicht gekannt. Ich bin nur …« Er brach ab und ballte die Fäuste. Seine ganze Aufmerksamkeit war auf den Zeitungsartikel gerichtet, der vor ihm lag. »So etwas hätte nicht passieren dürfen.«
»Ich weiß«, sagte ich und seufzte. Ich hatte mich bereits genug darüber empört. Nun spürte ich, wie mich das kalte Gefühl der Unvermeidlichkeit ergriff. Ich war mir sicher, dass auch Larson bald ähnlich empfinden würde. »San Diablo war bisher immer dämonenfrei. Zumindest habe ich das geglaubt. Vielleicht war ich aber auch einfach nur blind.«
Larson winkte ab. »Das ist jetzt unwichtig. Was zählt, ist die Gegenwart. Hatten Sie im Archiv Glück? Haben Sie etwas gefunden?«
Ich schüttelte den Kopf. »Dort unten gibt es sehr viele Dokumente«, erklärte ich. »Es wird eine Weile dauern, bis ich sie alle durch habe.«
Er nickte, auch wenn ihm meine Aussage nicht zu gefallen schien. Mir gefiel das Ganze auch nicht. Schließlich musste ich mich dort unten mit Ungeziefer herumschlagen. »Wir müssen sehr schnell arbeiten«, meinte er. »Es ist äußerst wichtig, dass wir bald erfahren, wonach Goramesh sucht.«
Wir sprachen zwar leise miteinander, aber offensichtlich nicht leise genug. Ein Mann, den ich nicht kannte, kam in die Küche. Er hielt ein leeres Martini-Glas in der Hand. »Ich kenne keinen Goramesh. Ist der etwa auch hinter einem politischen Amt her? Stuart würde Dünnschiss bekommen, wenn er erfährt, dass er einen Gegner hat, von dem er noch nichts weiß.«
Ich starrte ihn an und wusste nicht, worüber ich mich mehr wundern sollte – über die Tatsache, dass er uns belauscht hatte, oder darüber, dass er auf einer Party Ausdrücke verwendete, die Allie auf der Stelle einen Monat Stubenarrest eingebracht hätten.
»Nein, es geht um etwas anderes«, erklärte ich ihm mit meiner höflichsten Gastgeber-Stimme, ehe ich ihn am Ellenbogen packte und ins Wohnzimmer zurückführte.
»Warten Sie, warten Sie«, protestierte er und hielt sein leeres Glas in die Höhe. »Gibt es noch Gin?«
»Klar, natürlich gibt es noch Gin.« Ich holte eine neue Flasche aus der Speisekammer und stellte sicher, dass der Mann zu den anderen Partygästen zurückkehrte. In Gedanken rechnete ich bereits die Kosten für die Taxis aus – für die Gäste, die etwas zu tief ins Glas geschaut hatten –, ehe ich Larson in die Garage führte. Hier würden wir zumindest nicht so schnell gestört werden.
»Ich muss mich sofort in den Kampf stürzen«, erklärte ich. »Oder die Forza muss es schaffen, noch mehr Jäger hierherzuschicken. Alles kann ich nicht allein bewältigen. Ich kann nicht gleichzeitig das Archiv der Kathedrale durchsuchen, die ganze Nacht dämonische Hunde jagen und meine Wäsche machen, die Kinder zur Schule bringen und meine Familie versorgen.« Ich hielt inne, allerdings nicht, weil ich bereits zu Ende gesprochen hatte, sondern weil ich Luft holen musste. »Das ist wirklich eine schreckliche Situation, Larson. Wirklich, wirklich schrecklich.«
»Tief durchatmen, Kate.«
Ich hielt eine Hand hoch. »Ja, ja. Alles in Ordnung. Ich bin nur so wütend! Dieser Junge kann nicht viel älter als achtzehn gewesen sein. In einigen Jahren hätte Allie vielleicht bereits mit ihm ausgehen können. So jemand sollte nicht von Dämonen zerfetzt werden! Er hätte sich mit Problemen wie Akne und Hausaufgaben herumschlagen müssen – nicht mit Dämonen!« Ich fuhr mir durch die Haare, was keine gute Idee war, da ich dadurch die Spange verschob, die sie zusammenhielt. Wahrscheinlich sah ich jetzt überhaupt nicht mehr partytauglich aus.
Ich holte tief Luft und schloss für einen Moment die Augen. Es hatte einmal eine Zeit gegeben, da hätte mich die Vorstellung, dass ein Teenager von wild gewordenen Dämonen einfach auf der Straße angefallen wurde, kaum dazu gebracht, die Augenbrauen hochzuziehen. Das alles hatte zu meinem täglichen Leben gehört. Aber diese Zeit war schon lange vorbei, und damals hatte ich auch noch keine Tochter im Teenager-Alter gehabt. Nun ließ mich die Idee, dass sich jemand – irgendjemand – an meinen Kindern vergreifen könnte, bis ins Innerste erzittern.
»Ich werde einmal kurz durch die Stadt fahren, wenn alle im Bett sind«, verkündete ich. »Es ist zwar nicht super, aber besser als nichts. Was meinen Sie? Und Sie sollten mit der Forza sprechen. Vielleicht kann Padre Corletti doch noch einen weiteren Jäger auftreiben. Uns bleibt nichts anderes übrig, als ihn anzuflehen. Gern auch einen Neuzugang. Mir ist alles recht. Erklären Sie ihm einfach, dass wir dringend Hilfe brauchen.«
»Kate.« Er hatte die Hand auf meine Schulter gelegt. »Konzentrieren wir uns auf das Wesentliche. Auf Goramesh. Sie müssen herausfinden, wonach er sucht. Darauf sollten Sie sich jetzt konzentrieren.«
Ich starrte ihn fassungslos an. »Sie machen Witze.«
»Nein, leider nicht.«
»Aber …« Ich wies mit dem Finger auf die Tür, die in meine Küche führte, um ihn an den Zeitungsartikel zu erinnern, der dort lag. »Höllenhunde! Dämonen in meiner Küche! Dämonen bei meinen Mülltonnen! Das ist wirklich bedrohlich, Larson. Und diese Bedrohung wird nicht einfach verschwinden. Ich kann mich nicht in den Keller der Kirche zurückziehen und dort irgendwelche schimmligen Papiere durchsuchen. Ich muss draußen sein. Ich muss etwas tun!«
»Kate, hören Sie zu.«
Seine Stimme klang plötzlich scharf und autoritär. Es funktionierte. Ich hörte ihm zu. »Es stimmt, Sie sind eine Jägerin – und noch dazu eine gute. Aber wollen Sie diese Arbeit wirklich wieder aufnehmen? Jetzt, da Sie Kinder und Mann haben? Die Forza hat Sie wegen einer konkreten Bedrohung um Hilfe gebeten – wegen Goramesh. Sind Sie wirklich bereit, Ihrer Familie den Rücken zu kehren und wieder als Jägerin zu arbeiten? In ein Leben zurückzukehren, von dem Ihre Familie niemals erfahren darf?«
»Ich … Aber … Nein.« Dazu war ich nicht gewillt. Allein der Gedanke daran ließ mich schwindlig werden. Doch vor vielen Jahren hatte ich diese Verpflichtung angenommen. Konnte ich sie nun einfach ablehnen, nur weil ich mich inzwischen zurückgezogen hatte? »Ich will es nicht«, sagte ich. »Aber wer sonst –«
»Katherine, bitte! Sie sollten besser als die meisten wissen, dass es immer Dämonen geben wird. Dämonen durchstreifen die Welt. Das haben sie schon immer getan, und das wird sich auch nicht ändern. Punktum.«
Ich starrte ihn an. »Was soll das heißen? Wollen Sie damit etwa sagen, dass ich aufgeben soll? Nachgeben? Das kommt überhaupt nicht infrage!«
»Nein. Ich will damit nur sagen, dass Sie die Aufgabe erfüllen sollen, für die Sie angeheuert wurden.«
»Ich wurde nicht angeheuert. Schon vergessen? Ein Dämon kam durch mein Küchenfenster geflogen.«
»Katherine …«
»In Ordnung. Sagen Sie schon, was Sie wollen.«
»Halten Sie Goramesh auf. Der Rest ergibt sich dann ganz von selbst. Sie müssen sich allein auf diese Aufgabe konzentrieren.«
»Und was ist mit diesen Kids?«
»Vielleicht war das nur ein einzelner Vorfall, der dazu dienen sollte, Goramesh schneller ans Ziel zu bringen.«
»Und vielleicht können Schweine fliegen.« Ja, ich weiß, ich benahm mich zickig. Aber schließlich hatte ich auch allen Grund dazu.
Larson gab nicht auf. »Selbst wenn es sich um keinen Einzelfall gehandelt haben sollte, dann ist es umso wichtiger, dass Sie Goramesh aufhalten. Sonst werden noch mehr sterben. Sind Sie wirklich dazu bereit, alles zu tun? Können Sie überhaupt alles tun?«
Ohne nachzudenken, hätte ich natürlich geantwortet, dass ich sowieso schon alles machte – wesentlich mehr, als ich ursprünglich angenommen und garantiert auch wesentlich mehr, als ich gewollt hatte. Aber das sagte ich nicht. Ich sagte überhaupt nichts mehr. Ich atmete nur tief durch und nickte dann. Er hatte recht. Es gefiel mir zwar nicht, aber ich begriff, was er meinte. Man muss sich seine Kriegsschauplätze aussuchen. Und man wählt sich diejenigen, die den größten Sieg verheißen. Und trotzdem – diese jungen Leute waren so verdammt verletzbar …
Ich öffnete den Mund, aber er ließ mich nicht zu Wort kommen.
»Kate«, sagte er. »Sie haben Ihr Herz am rechten Fleck. Aber die Forza braucht jemand, der nicht den Kopf verliert. Ich brauche jemand, der nicht den Kopf verliert.«
Uns wurde eine weitere Fortsetzung dieses Gesprächs erspart, da mit einem plötzlichen Klack das Garagentor aufzugehen begann. Stuart!
Ich rannte durch die Garage (nicht gerade ein leichtes Unterfangen auf fünf Zentimeter hohen Absätzen) und wartete ungeduldig darauf, dass das Tor ganz aufging. Sobald es einen knappen Meter über dem Boden war, duckte ich mich und stürzte hinaus. Ich riss die Beifahrertür des Autos auf und wollte Stuart gerade zornig den Kopf abreißen, als ich sein Gesicht sah.
»Mein Gott, Stuart! Was ist passiert?« Ich beugte mich zu ihm hinunter und legte meine Hand auf seine Brust. Sie war über und über von geronnenem Blut bedeckt. »Was um Himmels willen ist geschehen? Bist du schon bei einem Arzt gewesen? Warum hast du nicht angerufen?«
»Es ist nicht so schlimm, wie es aussieht«, erwiderte er mit ruhiger Stimme.
Das Garagentor hatte sich inzwischen ganz geöffnet. Stuart fuhr hinein, und das Licht in der Garage erhellte das Innere des Wagens.
»Es sieht furchtbar aus«, sagte ich.
Er schnitt eine Grimasse und wollte gerade die Autotür an seiner Seite öffnen. Ich fasste jedoch nach seinem Arm und zog ihn zurück. »Einen Moment, mein Lieber. Was glaubst du eigentlich, wohin du gehst?«
»Auf die Party«, sagte er. Obwohl er nicht benommen klang, stellte ich mir doch vor, wie er wankend und stammelnd in die Küche stolperte und seine politische Karriere mit diesem Auftritt den Bach hinunterging.
»Bleiben wir doch eine Minute hier sitzen, und du erzählst mir erst einmal, was passiert ist.« Ich warf einen Blick durch die Windschutzscheibe und stellte fest, dass Larson verschwunden war. Wahrscheinlich war er wieder ins Haus zurückgekehrt. Ich hoffte nur, dass er den anderen Gästen nichts von Stuarts Rückkehr erzählte. Es wäre sicher nicht passend gewesen, wenn die halbe politische Welt von San Diablo meinen Mann über und über mit Blut besudelt vorgefunden hätte.
Blut!
Wieder bemühte ich mich darum, Stuart zum Sprechen zu bringen. »Also von vorn. Was ist passiert?«
Ich musterte ihn rasch von oben bis unten und zuckte innerlich zusammen. »Dein Kopf, Liebling. Du musst genäht werden.«
Vorsichtig berührte er mit einem Finger die Wunde an seiner Stirn. »Es ist nicht tief. Kopfwunden bluten nur sehr stark.«
»Das sehe ich.« Ich drückte seine Hand. »Entweder du überzeugst mich jetzt davon, dass es dir einigermaßen gut geht, oder wir vergessen die Party, fahren den Wagen wieder aus der Garage und bringen dich ins Krankenhaus.«
»Zwei Sanitäter haben mich bereits untersucht. Es geht mir gut. Ehrlich, es sieht viel schlimmer aus, als es ist. Ein Schnitt auf meiner Stirn und eine blutige Nase.«
Ich glaubte ihm nicht ganz, aber zumindest wusste ich, dass es ihm gut genug ging. Ich musste ihn also nicht ins Krankenhaus bringen. »Okay. Und wie hast du dir den Schnitt und die blutige Nase zugezogen?«
»Mir ist jemand seitlich hineingefahren, als ich in die California Avenue einbiegen wollte«, erklärte er. »Auf der Fahrerseite ist eine ziemliche Beule. Ich weiß nicht, ob man das noch reparieren kann.«
»Was?« Ich sah mich um und bemerkte plötzlich, dass die Airbags vorn und an der Seite heraushingen und das Auto wie einen bizarren Leichenwagen aussehen ließen. Offensichtlich war ich zu wütend und zu besorgt gewesen, um das vorher wahrzunehmen. »Mein Gott, Stuart. Wie schnell ist der andere denn gefahren? Hast du dir sein Nummernschild gemerkt? Was ist mit der Versicherung? Und bist du dir wirklich sicher, dass es dir gut geht?«
Stuart nahm meine Hand, führte sie an seine Lippen und küsste meine Handinnenfläche. Normalerweise liebe ich es, wenn er das tut. Erogene Zone und so. An diesem Abend spürte ich es aber rein gar nicht. Ich fühlte mich dafür viel zu benommen.
»Stuart …«
»Sei bitte einen Moment still, mein Schatz. Es ist alles in Ordnung. Ehrlich, ich fühle mich gut. Ich habe mir nur einen hässlichen Schlag gegen den Kopf und eine blutige Nase zugezogen, und außerdem tut mir das Handgelenk weh. Aber alles in allem hatte ich Glück. Eine Zeit lang war mir ganz schwindlig, aber jetzt geht es mir wieder besser.«
Ich streckte die Hand aus und strich ihm über die Wange. »Wirklich? Warum hast du nicht angerufen?«
Er beugte sich nach vorn und hob die Hälfte eines aufklappbaren Handys auf, die vor mir auf dem Boden lag. »Kaputtgegangen.«
»Das sehe ich.«
Er rieb sich die Schläfe. »Ich habe gar nicht daran gedacht, dass dich die Sanitäter anrufen könnten.« Er lächelte mich ein wenig besorgt an. »Vergibst du mir?«
Ich hätte ihm am liebsten den Kopf abgerissen, weil er mich in solche Angst versetzt hatte, aber da er sich nun entschuldigt hatte, wäre das nicht sehr nett gewesen. Also entschloss ich mich, zumindest auf seine Frage nicht einzugehen. »Bist du dir wirklich sicher, dass es dir gut geht? Das muss ein ziemlich heftiger Unfall gewesen sein!«
»Der Sanitäter hat mich für gesund erklärt. Keine Gehirnerschütterung. Gar nichts. Wie gesagt, ich hatte Glück. So gut wie neu.«
Ich runzelte die Stirn, da ich noch nicht ganz bereit war, meine augenblickliche Verfassung der panischen Ehefrau aufzugeben. »Deine Kleidung ist es aber nicht«, sagte ich.
Er musste lachen. »Nein, wahrscheinlich nicht. Ich habe ein sauberes Hemd in meiner Aktentasche. Könntest du es mir bitte reichen?«
Ich überlegte einen Moment. Am liebsten hätte ich ihn bei mir in der Garage behalten. Aber ich spürte, dass er danach lechzte, wieder den Politiker spielen zu dürfen. Innerlich seufzte ich. Zumindest gab es keinen Zweifel daran, dass mein Mann es genoss, im Scheinwerferlicht zu stehen.
Ich kletterte also auf die Rückbank und holte seinen Aktenkoffer hervor. Dann stieg ich aus dem Wagen, öffnete die Tür zum Minivan und kehrte mit einer Packung Feuchttücher zurück, die ich dort immer für den Notfall aufbewahrte. Stuart stieg ebenfalls aus und entledigte sich seines Hemds. Ich wischte ihm das Gesicht ab, wobei ich zusammenzuckte, als ich mit dem Tuch über den Schnitt an seiner Stirn fuhr; ihn schien es allerdings gar nicht zu stören. Er zog sich das saubere Hemd an und knöpfte es zu. »Geht das so?«
Ich dachte einen Moment darüber nach, ob ich noch einmal versuchen sollte, ihm die Party auszureden. Aber ich entschied mich dagegen. Also lächelte ich und rückte ihm die Krawatte zurecht. »Ja«, sagte ich. »Das geht so.«
Mit dieser Ermutigung ging er ins Haus. Ich wartete noch ein Weilchen, ehe ich ihm folgte. Eines hatte mir dieser Unfall gezeigt: Selbst wenn ich alle Dämonen der Welt erledigen würde – ich konnte meine Familie doch nicht vor den Gefahren bewahren, die das tägliche Leben mit sich brachte. Das war die traurige Wahrheit.

Alles in allem verlief Stuarts Cocktailparty fantastisch, wenn man einmal von seinem Schädeltrauma absah. (Ja, ja, ich weiß. Es handelte sich nur um einen kleinen Schnitt. Sie haben mich also bei einer kleinen Übertreibung ertappt. Gratuliere.) Um mich nicht zu beunruhigen, trank Stuart den ganzen Abend lang keinen Alkohol. Als die Gäste gegangen waren, setzte er sich sogar hin und erlaubte mir, mit einer Taschenlampe in seine Augen zu leuchten. Die beiden Pupillen wurden klein und weiteten sich dann wieder, wie sie das sollten. Ich fühlte mich daraufhin deutlich besser.

Stuart lief wie ein bereits gekrönter König durch unser Haus. Alle Verletzungen schienen vergessen. Mindestens drei Leute, einschließlich eines sehr bekannten Restaurantbesitzers, hatten sich dazu verpflichtet, ihn zu unterstützen. Er schrieb das seiner beachtlichen politischen Präsenz und seinem Einfühlungsvermögen zu. Ich hingegen war mir ganz sicher, dass das Käsegebäck geholfen hatte.

Allie kam um zehn Uhr zurück. Sie schob einen schlafenden Timmy in seinem Kinderwagen vor sich her. Während ich ihn zu Bett brachte (er wachte einmal kurz auf, verlangte Boo Bear und schlummerte dann wieder ein), sammelten meine Tochter und Stuart das übrig gebliebene Essen zusammen und verstauten es in diesen Plastikdosen, die ein kleines Vermögen kosten, aber wirklich ihr Geld wert sind.

Das jedenfalls war der Plan. Als ich jedoch wieder zu ihnen stieß, waren die Dosen leer, und die zwei saßen am Tisch und hatten die ganze Palette Fingerfood vor sich ausgebreitet. »Ihr solltet das eigentlich wegräumen«, sagte ich ein wenig vorwurfsvoll.

»Wenn wir es essen, gibt es nichts mehr wegzuräumen«, erklärte Allie einleuchtend.
Ich dachte einen Moment darüber nach, sah ein, dass sie recht hatte, und schnappte mir eine Blätterteigtasche. Etwa eine halbe Stunde lang machten wir auf Familie: Allie berichtete uns ausführlich von ihrem ersten Tag in der Schule (für Vierzehnjährige ist der Begriff »ausführlich« ziemlich dehnbar), Stuart schilderte seinen Autounfall – begleitet von Allies »Oh«- und »Ah«-Rufen –, während ich mich zurücklehnte und darüber nachdachte, ob in den Straßen wieder Dämonenhunde unterwegs sein mochten. Aber was konnte ich schon dagegen unternehmen?
»Mami?«
Ich riss den Kopf hoch. »Hm?«
Allie lachte. »Schläfst du schon?«
»Es wird allmählich spät«, gab ich zu. »Und ich hatte einen langen Tag.« Ich sah sie scharf an. »Du übrigens auch. Meinst du nicht, dass es Zeit ist, sich langsam, aber sicher ins Bett zu begeben?«
»Nein«, entgegnete sie, musste dann aber doch gähnen, wodurch sie nicht sehr überzeugend wirkte. »Okay, vielleicht hast du recht.«
Sie gab uns beiden einen Gute-Nacht-Kuss und ging nach oben. Ich rief ihr noch mein übliches »Ruf aber nicht Mindy an« hinterher. Dann wandte ich mich an Stuart. »Du solltest auch ins Bett gehen. Wenn es hier jemanden gibt, der einen langen Tag hatte, dann dich. Und ich bin mir sicher, dass du dich morgen nicht krankmelden wirst – ganz egal, wie sehr ich dich darum bitte.«
»Da hast du recht«, erwiderte er. »Es geht um ein wichtiges Immobilienprojekt. Wenn ich mich krankmelde, hätte Clark viel zu viel zu tun. Und ich befürchte, dass ich dadurch nicht gerade einen Stein bei ihm im Brett hätte.«
»Du hattest einen Autounfall.«
»Und danach habe ich mich für zwei Stunden auf einer Cocktailparty getummelt.«
»Dann geh jetzt wenigstens zu Bett. Keine Nachrichten. Nichts. Geh einfach schlafen.«
Einen Moment lang glaubte ich, dass er mir widersprechen wollte, doch dann nickte er und gab mir einen Gute-NachtKuss. »Ich glaube, das ist keine schlechte Idee.«
»Endlich«, erklärte ich. »Die Stimme der Vernunft spricht.«
Ich begleitete ihn nach oben, wo sich mein Mann huldvoll meinen Bemühungen um ihn überließ. Noch einmal sah ich in seine Pupillen, legte die Hand auf seine Stirn, um zu kontrollieren, ob er Fieber hatte, tupfte die Wunde mit einem Antiseptikum ab (um sie dann mit einem Kinderpflaster zu versorgen), brachte ihm ein Glas Wasser und legte ihn schließlich ins Bett. Sein Mund zuckte, als ich mich vorbeugte, um ihm einen Kuss zu geben. »Sag jetzt nichts«, erklärte ich. »Tu mir einfach den Gefallen und schlafe.«
Er tat so, als ob er seinen Mund wie einen Reißverschluss zuziehen würde, nahm mich dann aber noch ein letztes Mal in die Arme und bedankte sich flüsternd. »Bleib du auch nicht zu lange auf«, meinte er.
»Das werde ich nicht«, erwiderte ich leichthin. »Ich will nur noch etwas aufräumen.«
Ich tröstete mich mit der Tatsache, dass ich ihn diesmal nicht angelogen hatte. Ich wollte tatsächlich aufräumen – mein Wohnzimmer ebenso wie in der gesamten Dämonenbevölkerung. Da ich Letzteres in einer Nacht bestimmt nicht schaffen würde, beschloss ich, mich erst einmal auf das Wohnzimmer und seine Umgebung zu konzentrieren. Ich räumte im ganzen Haus herum, bis ich mir ziemlich sicher war, dass sowohl Allie als auch Stuart schliefen. Dann ging ich ins Gästezimmer, wo ich mich ans Telefon setzte.
Eine Minute lang hielt ich den Hörer in der Hand, ohne zu wählen. Ich fragte mich, was ich eigentlich wollte. Larson hatte natürlich recht. Ich konnte nicht einfach wieder meine alte Arbeit aufnehmen und Dämonen in irgendwelchen dunklen Ecken der Stadt aufspüren. Ich hatte jetzt eine Familie, an die ich denken musste. Eine Familie, die mich gesund und lebendig brauchte.
Wenn es eine spezifische Bedrohung gab – wie zum Beispiel einen Dämon, der durch mein Fenster hereinstürzte –, dann musste ich diese natürlich aus dem Weg schaffen. Aber meine Aufgabe bestand nicht darin, mich bewusst nach Schwierigkeiten umzusehen.
Trotz dieser Überlegungen war ich auf einmal dabei, die Nummer der Polizei zu wählen.
»Polizei von San Diablo. Wie kann ich Ihnen helfen?«
Ich räusperte mich. Mir war nicht ganz wohl zumute. »Hallo. Ich möchte nur herausfinden, ob es irgendwelche Berichte über Hunde gibt, die frei durch die Straßen laufen.« Ich redete mir ein, dass ich mich einfach besser fühlen wollte. Wenn es keine Hunde gab, konnte das tatsächlich bedeuten, dass Todd Greer ein Einzelfall gewesen war. Nicht toll (vor allem nicht für Todd), aber zumindest würde ich ruhiger schlafen können, wenn ich wusste, dass keine Dämonenhorden durch die Straßen zogen.
»Einen Moment, bitte. Ich verbinde Sie.«
Ich stellte mir vor, wie ich mit einer DämonenhundeAbteilung verbunden wurde, eine törichte Idee, die ich auf meinen fehlenden Schlaf zurückführte. Ein Polizeibeamter meldete sich mit einem knappen »Sergeant Daley am Apparat«. Ich erklärte ihm den Grund für meinen Anruf und wartete darauf, dass er mich beruhigen würde. Aber da wartete ich umsonst. »Normalerweise würde ich Sie bitten, morgen früh im Tierheim anzurufen. Aber zufälligerweise habe ich gerade vor etwa zehn Minuten einen Bericht hereinbekommen.«
»Wirklich?« Zorn stieg in mir auf, gemischt mit einer gewissen Erregung. Die Dämonen waren also noch immer unterwegs. Das ist deine Aufgabe, flüsterte mir eine leise Stimme in meinem Inneren zu, und ich machte mir nicht die Mühe, sie zu korrigieren – das war tatsächlich meine Aufgabe. Ich holte tief Luft, ehe ich die nächste Frage stellte. »Können Sie mir sagen, wo das passiert ist?«
»Lady, warum interessieren Sie sich dafür?«
Ich schüttelte eine weitere Lüge aus dem Ärmel und behauptete, meine Schwester besäße einen aggressiven Hund, der sich losgerissen hätte. Ich würde nur versuchen, ihn zu finden.
Er knurrte missmutig. »Wenn das Ihr Hund ist, wird man ihn einschläfern müssen – das wissen Sie. Wir glauben, dass er vor einigen Tagen einen Studenten angefallen hat.«
»Sie können mir glauben«, erklärte ich. »Genau das haben wir auch vor.«
Er schien anzunehmen, dass ich im Grunde harmlos war, und nannte mir den Ort. Ein Professor musste mit Steinen auf einen tollwütigen Hund werfen, um nicht von ihm angefallen zu werden. Ich fragte mich, ob der Professor wusste, wie viel Glück er gehabt hatte.
Nachdem ich mich bedankt hatte, legte ich auf und zog das Kissen, das auf dem Bett neben mir lag, auf meinen Schoß. Vor zehn Minuten hatte ein Hund, auf den die Beschreibung der Dämonenkreatur passte, die Todd Greer angegriffen hatte, eine weitere Attacke in der Nähe der Universität gestartet. Er war zwar davon abgehalten worden, größeren Schaden anzurichten, aber das bedeutete nur, dass er es wieder versuchen würde.
Was sollte ich tun? Höchstwahrscheinlich konnte ich gar nichts tun. Vermutlich hatte der Hund bereits ein weiteres Opfer gefunden. Vielleicht schlief er in diesem Moment schon, ganz erschöpft von der Jagd, während ein neuer Dämon in Menschengestalt über den Campus wanderte.
Aber wenn das nicht der Fall war?
Wenn er noch immer durch die Straßen zog?
Und wenn ich ihn aufhalten könnte?
Verdammt.
Ich umschlang das Kissen und blickte auf die Tür. Was lag dahinter? Mein Mann, meine Tochter und mein kleiner Junge. Eine Faust schien sich um mein Herz zu ballen und fest zuzudrücken. Ich wusste, was ich tun musste. Ich musste zur Uni. Den Hund suchen. Sehen, ob ich vielleicht ein unschuldiges Opfer retten konnte. Schließlich war ich eine Jägerin. Ich trug Verantwortung.
Aber ich war auch eine Ehefrau und Mutter. Und diese Verantwortung wog um ein vieles schwerer. Mich nicht töten zu lassen stand also ziemlich weit oben auf meiner Prioritätenliste.
Aber dieser Hund war da draußen. Und keiner außer mir wusste, womit er es zu tun hatte. Ich schloss die Augen und zählte bis zehn. Allmählich begriff ich, dass mir keine Wahl blieb. Letztendlich würde ich mir nicht mehr in die Augen sehen können, wenn wieder irgendein junger Mensch starb, den ich vielleicht hätte retten können.
Ich ging leise in Tims Zimmer. Er schlief tief und fest, und ich drückte ihm einen sanften Kuss auf die Wange. Kurz bewegte er sich ein wenig unter der Decke, und für einen Moment befürchtete ich, er könnte aufwachen. Dem war aber nicht so, und so versprach ich ihm leise, bald wieder zurück zu sein, und schlich aus dem Zimmer. Allie und Stuart hatten einen leichteren Schlaf, weshalb ich es nicht riskieren wollte, auch ihnen einen Kuss zu geben. Stattdessen strich ich zärtlich über die geschlossenen Türen, hinter denen sie schliefen. Unten in der Garage drückte ich den Knopf, um das Tor zu öffnen. Das Ding war so laut, dass ich stocksteif stand und darauf wartete, jeden Augenblick von jemandem bei meinem nächtlichen Ausflug ertappt zu werden.
Als nichts geschah, kehrte ich in die Küche zurück, schrieb eine kurze Notiz für Stuart, in der ich ihm mitteilte, dass ich kurz Milch holen gefahren war (zuvor hatte ich die restliche Milch in den Ausguss geschüttet), und ging dann wieder in die Garage. Dort stieg ich in den Minivan und schaltete den Motor ein. Für einen Moment dachte ich darüber nach, ob ich Larson überhaupt anrufen sollte, entschloss mich dann aber doch dazu. Ich wusste zwar, dass er mit meinem Handeln bestimmt nicht einverstanden sein würde, aber er war mein alimentatore und musste wissen, was ich tat.
Ich ließ den Motor laufen, während das Telefon klingelte – einmal, zweimal, dreimal. Kein Anrufbeantworter schaltete sich ein. Ich runzelte die Stirn. Ärgerlich. Also legte ich auf und versuchte ihn über Handy zu erreichen. Wieder kein Larson, aber zumindest kam diesmal seine Voicemail dran. »Hi«, sagte ich. »Ich bin es – Kate. Ich … Äh … Ich wollte Ihnen nur mitteilen, dass ich jetzt zum Campus fahre. Ich habe erfahren, dass der Dämonenhund dort unterwegs sein könnte. Das war es auch schon. Also – tschüss.«
Ich legte auf. Ein bisschen fühlte ich mich wie ein Teenie, der noch auf war, obwohl er eigentlich schon lange hätte im Bett liegen müssen. Unruhig rutschte ich auf meinem Sitz hin und her und spielte mit dem Handy. Wie jeder gute Katholik habe ich auch eine besonders enge Beziehung zu meinem schlechten Gewissen, und mir gefiel die Vorstellung gar nicht, einfach ohne Larsons Zustimmung loszufahren. Noch weniger gefiel mir allerdings die Idee, nichts zu unternehmen. Wenn noch jemand zu Tode kommen sollte … Dann hätte ich wirklich schwer an meinem Schuldgefühl zu tragen.
Da der Richter nicht zu erreichen war, entschloss ich mich, den Vatikan anzurufen. (Das gehört zu den coolen Vorteilen eines Jägerdaseins. Wie viele Berufe gibt es, in denen man einfach mal so den Vatikan anrufen und um Hilfe bitten kann?) Ich hatte nicht daran gedacht, die Zeitverschiebung zu berechnen, aber die Dame an der Vermittlung stellte sofort die Verbindung zu Padre Corletti her. Wie erleichtert war ich, seine Stimme zu hören!
»Katherine, mia cara. Com’é bello sentire la tua voce!«
»Ich freue mich auch, Ihre Stimme zu hören, Padre.«
»Warum rufst du an? Ist etwas passiert?«
»Nein … Ja … Ich meine, nein, wir wissen noch nicht mehr über Goramesh, aber etwas ist passiert.« Ich erklärte ihm in groben Zügen, was vorgefallen war. »Ich weiß, dass ich mich nicht an die Regeln halte, wenn ich Sie anrufe, obwohl ich einen alimentatore habe, aber Larson geht nicht ans Telefon, und ich muss etwas unternehmen«, fuhr ich fort. »Ich möchte es tun, aber ich befürchte, dass Larson es für keine gute Idee halten wird. Oder zumindest für sinnlos.«
»Ich verstehe …« Er sprach nicht weiter. Ich kannte den Padre gut genug, um zu wissen, dass er sich mögliche Alternativen durch den Kopf gehen ließ. »Du darfst deinen Instinkt nicht missachten, mein Kind. Dein alimentatore ist dein Mentor, dein Berater, aber er steht nicht über dir. Letztendlich musst du deinen eigenen Weg gehen.«
Ich atmete auf. Moralische Unterstützung ist wirklich etwas Wunderbares. »Vielen Dank. Wilson hat mir das auch immer gesagt.«
Ich vernahm sein tiefes Lachen am anderen Ende der Leitung. »Auch dein jetziger alimentatore wäre bestimmt derselben Meinung.«
»Larson erzählte mir, dass sie sich kannten.«
»Das stimmt. Ihre berufliche Verbindung war sehr eng, aber noch enger war ihre Freundschaft.«
»Danke, dass Sie mir das gesagt haben.« Irgendwie brachte mich das Wissen, dass Larson meinem früheren alimentatore so verbunden gewesen war, dem Richter noch einmal ein ganzes Stück näher. Dumm, ich weiß, aber Gefühle sind nun einmal nicht rational.
»Aber da ich dich jetzt schon mal am Telefon habe, kannst du mir gleich noch sagen, ob sich Edward als nützlich erwiesen hat.«
Edward? »Wer zum Teu … Wer ist Edward?«
»Ein Jäger, der sich ebenfalls aus dem aktiven Dienst zurückgezogen hat«, erwiderte der Padre. Er klang überrascht. »Ein kluger Kopf mit genauso guten Fähigkeiten als Kämpfer. Er ist bereits seit einiger Zeit nicht mehr im Dienst gewesen. Aber ich hatte gehofft, dass er vielleicht ein paar Ideen hätte, die er zu der ganzen Angelegenheit mit Goramesh beisteuern könnte.« »Ein Jäger? Ich dachte, es gäbe hier keine weiteren Jäger.«
»Larson fand erst vor Kurzem heraus, dass Edward in eure Gegend gezogen ist. Er hat mich natürlich sofort informiert. Ich nahm an, dass du den Mann kennst. Aber anscheinend habe ich mich getäuscht.«
»Das haben Sie«, sagte ich, während sich mein Magen zusammenkrampfte. »Edward und ich sind einander noch nicht vorgestellt worden.« Momentan wollte ich allerdings nichts mehr, als diesen Mann kennenzulernen.

ZWÖLF

Wenn man bedenkt, wie angespannt ich war, ist es ein kleines Wunder, dass ich keinen Unfall baute, als ich mitten in der Nacht zum Campus raste. Noch ein Jäger? Warum hatte Larson mir das nicht erzählt?

Ich konnte mir keine Antwort auf diese Frage denken, weshalb sie mir ununterbrochen im Kopf herumging. Sie lenkte mich ab und erhöhte meinen Blutdruck um einiges. Zweimal noch versuchte ich, Larson sowohl auf seinem Handy als auch zu Hause zu erreichen, aber ich hatte wieder kein Glück. Diesmal sprang nicht einmal seine Voicemail an. Ich fühlte mich wie eine persona non grata, und es fiel mir schwer, mich zu sammeln. Ich wusste natürlich, wie wichtig gerade Konzentration in solchen Situationen war, aber ich konnte meine Wut nicht so leicht abschütteln. Doch was blieb mir schon anderes übrig? Wenn mir der verdammte Hund entkam, hätte ich genauso gut zu Hause bleiben können.

Komm schon, Kate. Hör auf, dich aufzuregen.
Ein guter Tipp. Schließlich konnte es zahlreiche Gründe geben, warum mich Larson noch nicht mit diesem Edward bekannt gemacht hatte. Vielleicht war Edward nach L. A. oder San Francisco oder an sonst einen Ort gezogen, der viel zu weit ab vom Schuss lag. Oder vielleicht wollte Edward auch nicht wieder seine Arbeit aufnehmen – ganz im Gegensatz zu mir – und hatte Larson erklärt, er solle sich davonscheren.
Was wusste ich schon? Vielleicht war dieser geheimnisvolle Edward ja auch bereits tot.
Ich fuhr die dunklen Straßen auf und ab, die den kleinen Universitätscampus umgeben. Das College liegt in einem alten Lagerhausviertel, weshalb vor allem nachts kaum Leben auf den Straßen ist. Ich schaltete einen Gang herunter, um die Gehsteige auf beiden Seiten der Straße absuchen zu können, während ich mich dazu zwang, an die vor mir liegende Aufgabe zu denken und das Geheimnis um Edward erst einmal zu vergessen.
Nach einer Weile ließ ich mein Fenster herunter und lauschte, ob ich irgendwelche Schreie, Heulen oder Schritte hören konnte. Nichts. Am Wochenende hätte ich wahrscheinlich ein tiefes Bassdröhnen vernommen, das von einer Kakofonie aus Studentenstimmen durchdrungen worden wäre. In den leer stehenden Lagerhallen fanden immer wieder Ravepartys statt. San Diablo mochte schläfrig wirken, war aber bestimmt nicht ausgestorben (von den jüngsten dämonischen Ereignissen einmal abgesehen). Doch in dieser Nacht hörte ich nicht einmal die Ratten in den kleinen Seitengassen rumoren. Wahrscheinlich hatte sich der Dämonenhund bereits aus dem Staub gemacht. Seit die Polizei den Bericht erhalten hatte, war einige Zeit vergangen. Der Hund konnte sich bereits im Norden der Stadt aufhalten oder auch sonst irgendwo untergetaucht sein.
Einerseits war ich erleichtert und andererseits irritiert. Nun hatte ich die Mühe auf mich genommen, bis hierher zu fahren, und fand nichts. Außerdem gefiel mir der Gedanke, dass irgendein Kid im Norden der Stadt vielleicht dem Dämon zum Opfer fallen konnte, überhaupt nicht. Doch leider ist es mir nicht vergönnt, an zwei Orten gleichzeitig sein zu können, und im Grunde hätte ich nicht einmal hier meine Runden drehen sollen. Mein Platz war zu Hause – bei meinem Mann und meinen Kindern.
Gerade als ich umdrehen und heimfahren wollte, hörte ich es
– ein leises Kratzen von Metall auf Metall. Und etwas weiter entfernt Stimmen. Vielleicht waren es Studenten? Die spät in einem Institut gearbeitet hatten und nun gemeinsam nach Hause gingen?
Keines der beiden Geräusche war besonders auffällig oder ungewöhnlich. Trotzdem kam mir die Luft auf einmal faulig vor. Verschmutzt. Böse. (Okay, okay, das klingt jetzt etwas melodramatisch. Aber ich hatte ganz einfach ein schlechtes Gefühl.) Es gab keinen spezifischen Grund, anzunehmen, dass sich der dämonische Hund noch immer in der Gegend aufhielt, aber ich hatte nicht vor, die jungen Leute ohne eine Warnung allein zu lassen. Ich wollte ihnen erklären, dass sie sich lieber woanders vergnügen sollten.
Also schob ich den Schalter des Innenlichts auf ›Aus‹; dann zog ich den Autoschlüssel heraus. Ich wollte schließlich nicht, dass der Minivan wie eine Geburtstagstorte aufleuchtete, und ebenso wenig, dass ein lautes Piepen verkündete, dass Kate Connor gerade die Straße betrat.
Nachdem ich meine kleine Flasche mit Weihwasser und einen Fleischspieß, den ich von unserem Grill im Garten mitgenommen hatte, herausgeholt hatte, schob ich meine Tasche unter den Sitz.
Dann öffnete ich leise die Tür und glitt hinaus. Zu Hause hatte ich mir noch rasch Jeans und Turnschuhe angezogen, was für solche Gelegenheiten das beste Outfit ist. Falls es tatsächlich einen Dämon geben sollte, wollte ich diesmal die Jägerin und nicht die Gejagte sein. Irgendwie freute ich mich fast darauf; allein der Gedanke an eine erregende Jagd ließ mein Herz schneller schlagen.
Zwei lange Reihen von Lagerhäusern, deren Fenster alle vernagelt waren, standen quer zur Straße. Dazwischen verlief eine schmale Gasse. In diese bog ich ein, angezogen von dem leisen Stimmengemurmel in der Ferne. Es war kurz nach Mitternacht, und wahrscheinlich saßen da irgendwo ein paar harmlose Studenten zusammen und feierten ein bisschen. Genau so etwas sollten Studenten auch tun können. Die ganze Nacht aufbleiben und trinken, sich über ihre bevorstehenden Examen Sorgen machen, noch schnell lernen und allgemein ein freies Leben führen – und all das ohne die Angst, von einer dämonischen Meute wilder Hunde angefallen zu werden.
Ich eilte die Gasse entlang. Eigentlich hatte ich nur vor, ihnen mit mütterlicher Strenge zu erklären, dass sie lieber nicht auf dunklen Straßen herumhängen sollten. Da meinte ich, Schritte hinter mir zu hören. Ich wollte mich gerade umdrehen, um zu sehen, wer oder was mir da folgte, als ich ein neues Geräusch vernahm. Ein tiefes, heiseres Heulen – wie von einem Wolf. Es folgten entsetzte Schreie. Ich rannte los, ohne auf denjenigen zu achten, der möglicherweise hinter mir war. Schon bald hatte ich die Quelle der Schreie erreicht. Drei Studenten kauerten hinter einer Mülltonne und wurden von einem riesigen schwarzen Mastiff, der seine Zähne fletschte, in Schach gehalten.
»Oh, Gott, Lady!«, rief einer der drei, wobei seine Stimme vor Angst heiser war. »Helfen Sie uns! Befreien Sie uns von dieser Bestie!« Der Hund hielt den Blick ausschließlich auf diesen Jungen gerichtet, der offenbar sein Hauptangriffsziel sein sollte. Vielleicht lag es daran, dass das Mädchen neben ihm eine Kette mit einem goldenen Kreuz trug. Das mochte nur ein ModeAccessoire sein, aber der Dämon wollte kein Risiko eingehen. Der andere Kerl presste sich so eng gegen die Wand, dass ich ihn kaum sehen konnte. Ich fragte mich, ob auch er ein Kreuz trug.
»Hierher, Hündchen«, rief ich mit einschmeichelnder Stimme. »Hierher! Kennst du mich nicht? Ich bin doch viel leckerer …« Natürlich sprach ich nicht mit dem Hund. Irgendwo da oben, im Äther über uns, schwebte sein dämonischer Meister. Sobald der Hund getötet hatte, würde der Dämon herunterkommen und von dem toten Körper Besitz ergreifen.
Der Hund drehte leicht den Kopf, damit er mich sehen konnte, ohne den drei Studenten die Möglichkeit zur Flucht zu lassen. Er fletschte die Zähne. Als ich seine Augen sah, begann mein Herz wie wild zu pochen. Adrenalin schoss durch meine Adern, und ich hatte das dringende Bedürfnis, diesen Ort auf der Stelle zu verlassen, zu fliehen, um mein Leben zu rennen.
Ein Blick in seine Augen vermittelte mir das Gefühl, in die Hölle geschaut zu haben. Rot auf Schwarz und dahinter ein Mahlstrom aus Bösartigkeit, der so dickflüssig war, dass man glaubte, es würde sich um eingedicktes Blut handeln. Innerlich entschuldigte ich mich bei allen Hunden dieser Welt. Das hier war kein Hund, das hier war einfach … böse. Kein Dämon an sich, aber die Manifestation des Bösen, hervorgerufen durch einen Dämon, für den dieses Wesen arbeitete.
Das Untier knurrte heiser, und ich sah, wie sich die Muskeln unter seinem geschmeidigen schwarzen Fell anspannten. Ich hielt die Flasche mit Weihwasser hoch, während ich versuchte, furchtlos zu wirken. Innerlich jedoch bebte ich vor Angst. Ich hatte sogar die Befürchtung, jeden Augenblick vor Panik etwas Dummes zu tun.
Als sich das Biest auf mich stürzte, wusste ich mit plötzlicher Klarheit, dass Larson recht hatte. Ich war noch nicht in der Verfassung zu kämpfen, und es war blödsinnig gewesen, so zu tun, als wäre ich wieder siebzehn.
Doch jetzt war es zu spät.
Ich tat einen Satz nach vorn. Mit einer Hand lockte ich den Hund zu mir heran, und mit der anderen versuchte ich, ihn mit dem Fleischspieß zu attackieren. Das Biest heulte, während Nebel sein Fell verhüllte, doch es gab nicht auf. Je näher es mir kam, desto klarer wurde mein Verlangen, am Leben zu bleiben und diese Kreatur zu töten. »Lauft!«, brüllte ich die Studenten an. »Verschwindet von hier! Jetzt!«
Mir blieb keine Zeit, nachzusehen, ob sie meinen Anweisungen folgten, denn ein zweihundert Pfund schwerer Hund warf sich auf mich. Das Fläschchen mit Weihwasser flog durch die Luft, und ich war nur noch damit beschäftigt, meine besonders verletzlichen Körperteile vor dem Hund zu schützen.
Als er zubeißen wollte, rollte ich nach rechts. Gerade noch rechtzeitig. Er schlug seine Zähne in meine Jeans statt in meine Fessel. Ich hob das andere Bein und trat nach ihm, doch das zeigte keine Wirkung, außer ihn noch mehr zu reizen. Das Tier knurrte und fletschte die Zähne. Es schnappte nach meinem Gesicht, während ich auf dem Asphalt auf dem Rücken rückwärts kroch und spürte, wie sich kleine Kieselsteine in meine Schultern bohrten.
Der weiche Bauch der Bestie drückte gegen meinen Fuß, und sein Gewicht schob mein Bein und Knie gegen meinen Brustkasten. Das Tier kam mir immer näher, obwohl ich mich verzweifelt bemühte, es von mir zu schieben. Ich kämpfte darum, mein Bein auszustrecken und den Hund wegzukicken, aber es gelang mir nicht. Nicht in dieser Position. Und leider auch nicht in der körperlichen Verfassung, in der ich mich derzeit befand.
Scheiße.
Ich hatte noch immer den Fleischspieß in der Hand und versuchte damit das Ungeheuer zu verletzen. Zumindest gelang es mir auf diese Weise, es nicht ganz an mich herankommen zu lassen; aber das würde nicht lange so bleiben. Ich musste näher an das Tier heran, um den Spieß in seinen Kopf, seinen Hals, irgendwohin zu bohren. Es war mir egal, welchen Körperteil ich traf. (Anders als bei einem Dämon war es bei einem solchen Hund nicht nötig, das Auge zu treffen oder ihn zu köpfen. Ich musste das Wesen einfach nur töten.)
Neben mir hörte ich auf einmal ein Rascheln. Was war das? Die Studenten mussten doch schon lange verschwunden sein. Ich fuchtelte wild mit dem Spieß herum, während ich gleichzeitig nach hinten rutschte und mit meinem freien Bein zutrat. Die Bestie wich zurück, sodass ich für den Bruchteil einer Sekunde einen Blick nach rechts werfen konnte. Das Mädchen war verschwunden, aber die zwei Jungs standen noch immer da. Ich sah, wie der eine dem anderen ein Messer auf die Brust setzte.
Scheiße, Scheiße, Scheiße!
»Deine Stunde hat geschlagen, Freundchen«, knurrte ich den Hund an und klang dabei tollkühner, als ich mich fühlte. Ich spürte deutlich, dass mir nur noch eine Gelegenheit blieb, das Ganze zu einem erfolgreichen Ende zu bringen, ehe mich die Kraft – und wahrscheinlich auch das Glück – verließ. Es musste einfach funktionieren.
Als sich die Bestie erneut auf mich stürzte, gelang es mir, nach vorn zu rollen und mich ihr so entgegenzustemmen. Von außen betrachtet wirkte das Ganze vermutlich wie ein perverser Tanz. Ich schaffte es, den Fleischspieß irgendwo tief in die Schnauze des Hundes zu bohren. Die Kreatur heulte auf und schüttelte heftig den Kopf, um den Spieß loszuwerden. Ich rutschte ein wenig zurück, zog beide Knie an und stieß dann mit aller Kraft die Beine von mir.
Ich erwischte das Ungeheuer an seiner Brust, und es fiel nach hinten. Der Spieß in seiner Nase hatte es offenbar geschwächt. Mühsam erhob ich mich. Ohne einen Moment zu vergeuden, warf ich mich nach vorn, um den Fleischspieß zu packen. Ich riss ihn heraus und stieß ihn erneut in den Hund – diesmal mitten durch sein Herz.
Kein Blut floss. Die Kreatur verlor stattdessen ein dickflüssiges Öl, das in schwarze und orangefarbene Flammen aufging. Innerhalb weniger Sekunden wurde die Bestie davon verschlungen, bis nur noch das Echo ihres Jaulens durch die Gassen hallte.
Heftig atmend rutschte ich auf dem Boden zurück, rollte zur Seite und wollte aufstehen, um mich den Männern zuzuwenden.
Zu spät.
Zu meinem Entsetzen sah ich, wie der Angreifer bereits das Messer hob, um es tief in den Brustkasten seines Opfers zu rammen. Ich schrie auf. Eine völlig nutzlose Reaktion. Wesentlich hilfreicher war die silberne Klinge, die auf einmal aus dem Nirgendwo durch die Luft geflogen kam. Eine Sekunde später durchdrang das Metall das Auge des Angreifers. Den Körper verließ alle Kraft, und ich sah, wie die Luft erzitterte, als der Dämon in den Äther verschwand.
Das Messer, das er gerade noch gehalten hatte, fiel klirrend zu Boden. Der unter Schock stehende Student rührte sich für einen Augenblick nicht von der Stelle. Nur heftiges Keuchen war zu hören. Dann sah er mich an, warf einen Blick auf den leblosen Körper, der vor ihm auf der Straße lag, und stürzte in die Nacht.
»Ein Dämon«, sagte ich laut zu mir selbst. »Der Kerl war ein Dämon.«
»Es wäre Ihnen sicher bald aufgefallen«, erklärte Larson, der aus der Dunkelheit trat. Er streckte die Hand aus, um mir aufzuhelfen. »Doch dann wäre der andere Junge wahrscheinlich schon tot gewesen, und sein Körper hätte als Gefäß für den Dämon fungiert, der die Bestie kontrollierte.«
Ich fasste nicht nach seiner Hand, sondern blieb erst einmal auf dem Boden sitzen. Meine Schenkel schmerzten ebenso wie mein angeschlagenes Selbstbewusstsein. »Ich hatte keine Zeit, ihn genauer zu betrachten. Der Hund hatte die drei in die Enge getrieben. Ich kam nicht einmal auf die Idee, an so etwas zu denken. Ich lag total daneben.« Eine Weile war ich damit beschäftigt, mich voller Selbsthass herunterzumachen. Wenn Larson nicht gewesen wäre, hätte dieser Junge keine Chance gehabt. Und ich höchstwahrscheinlich auch nicht. Bereits der Kampf mit dem besten Freund des Dämons hatte mich derart geschwächt, dass ich vermutlich nicht in der Lage gewesen wäre, den Dämon ins Jenseits zu befördern. Noch weniger wäre es mir gelungen, Dämon Nummer zwei zu überleben, wenn dieser in den toten Körper des Studenten gefahren wäre.
»Sie hatten anderweitig zu tun«, meinte Larson, der nun seelenruhig ein Stück Nikotinkaugummi auswickelte, um es sich in den Mund zu schieben. Ich schnitt eine Grimasse. Ich rauchte zwar nicht, aber nach diesem Vorfall hätte sogar ich eine Zigarette vertragen können.
Mit einem lauten Ächzen stand ich auf und klopfte mir den Staub aus der Hose.
»Ehrlich gesagt, kann ich auch von mir nicht behaupten, dass ich bisher eine besondere Fähigkeit zur Entlarvung von Dämonen an den Tag gelegt hätte«, erklärte er.
Ich musste lächeln. Der Mann war wirklich nicht unsympathisch. »Na ja, aber mehr als ich.«
»Der Dämon hat sich gezeigt.«
Das ließ mich aufhorchen. »Was?« Sobald ein Dämon im Körper eines Menschen steckt, ist normalerweise nicht zu erkennen, dass es sich um ein Ungeheuer handelt. (Sie wissen schon – an solchen Anzeichen wie Hörnern oder glühenden Augen oder einer Schweineschnauze. Die Anstrengung, die es für einen Dämon bedeutet, seinen wahren Kern auf die Weise zu zeigen, ist viel zu groß, als dass er sich die Mühe machen würde. Nur an besonders unheimlichen Orten geschieht das manchmal – wie zum Beispiel in einem Haus, wo es spukt, weil es über einem Eingangstor zur Hölle errichtet wurde. Ein Dämon, der sich anderweitig offenbart, ist gewöhnlich ein besonders schwaches Exemplar, und wenn man ihn dann erwischt, kann man ihn wirklich töten oder vielmehr auslöschen.)
»Warum hat er sich gezeigt?«, fragte ich.
»Tut mir leid«, erwiderte Larson. »Ich habe nicht nachgefragt, ehe ich ihn tötete. Vielleicht war das sein erster Auftrag, und die Aufregung, zum ersten Mal töten zu dürfen, war mehr, als er ertragen konnte. Vielleicht hat er sich auch aus Versehen gezeigt. Oder er hatte die Kontrolle über den Mastiff, wusste aber noch nicht, wie er in seiner menschlichen Form mit ihm kommunizieren soll. Das nächste Mal, wenn wir uns in einer solchen Lage befinden, werde ich nicht vergessen nachzufragen. Dann können wir hoffentlich Ihre Neugierde befriedigen.«
»Danke. Das wäre nett.«
»Aber wir werden nicht mehr in eine solche Lage kommen – nicht wahr, Kate?«
Mein verletzter Stolz erholte sich allmählich, vor allem, nachdem Larson mich nun daran erinnerte, warum ich eigentlich hierhergekommen war. »Nein«, sagte ich. »Das werden wir nicht. In Zukunft werde ich Sie besser informieren und Sie mich ebenfalls. Das werden Sie doch, oder?«
Er zog die Augenbrauen hoch, während er mich intensiv betrachtete. »Sie meinen damit wohl Mr. Lohmann, oder?«
»Edward Lohmann? Jäger im Ruhestand? Jetzt mit Wohnsitz in San Diablo? Genau«, entgegnete ich schnippisch. »Den meine ich.«
»Fahren Sie nach Hause, Kate«, sagte Larson. Nicht gerade die Antwort, die ich erwartet hatte. »Ich kann Ihnen versichern, dass ich Ihnen keine wichtigen Informationen vorenthalten habe.«
»Larson –«
Er hielt die Hand hoch, und ich schloss den Mund. Doch meinen finsteren Blick wandte ich nicht von ihm, auch wenn ich mich ein wenig wie ein störrisches Kind fühlte.
»Ich werde Ihnen morgen alles erzählen, was ich über Eddie Lohmann weiß. Jetzt ist es einfach zu spät. Um neun muss ich im Gericht sein, und ich möchte noch ein paar Dinge klären, ehe ich ins Bett gehe. Außerdem haben Sie eine Familie, um die Sie sich morgen früh kümmern müssen. Ich nehme an, dass Sie auch ein bisschen Schlaf gebrauchen könnten.«
Ich verschränkte die Arme. Er hatte natürlich recht, aber das wollte ich nicht zugeben.
»Vertrauen Sie mir, Kate«, sagte er. »Edward Lohmann ist mindestens vierzig Jahre älter als Sie, schwach und für niemanden von Nutzen. Auch für sich selbst nicht mehr. Ich kann Ihnen gern genauere Einzelheiten erzählen, aber für den Moment ist es das Wichtigste, dass wir nach Hause fahren.« Ich nickte zögerlich, wenn auch noch immer ein wenig störrisch.
»Gut. Ich muss wohl nicht betonen, dass Sie heute Nacht nicht hätten herkommen sollen. Dass Ihre Fähigkeiten noch nicht ausreichen, um so etwas zu meistern, und dass Sie in echter Lebensgefahr schwebten.«
»Nein«, erklärte ich. »Das müssen Sie nicht.«
Trotz der Dunkelheit bin ich mir ziemlich sicher, dass ich ihn lächeln sah.
Ich nickte in Richtung des Dämonenkörpers. »Was sollen wir damit machen?«
Er winkte ab. »Ich werde mich darum kümmern. Jetzt gehen Sie schon. Fahren Sie nach Hause, Kate.«
Ich unterdrückte mein Verlangen, weiterzudiskutieren. Irgendwie wusste ich nicht mehr, was ich sagen sollte. Also ließ ich Larson mit dem Leichnam zurück und ging durch die Dunkelheit zu meinem Auto. Wie auf Autopilot fuhr ich nach Hause. Als ich zwanzig Minuten später in unserer Garage den Motor abschaltete, hallten die Worte des Richters noch immer in meinem Kopf wider.
Er hatte natürlich recht. Meine Fähigkeiten ließen wirklich ziemlich zu wünschen übrig (obwohl ich fand, dass ich mich recht gut geschlagen hatte). Aber mir war keine andere Wahl geblieben. Mit dem Wissen, dass dort draußen ein Hund frei herumlief und Leute anfiel, hätte ich nicht ruhig schlafen können.
Ich griff nach meiner Handtasche, als mir plötzlich klar wurde, dass ich völlig vergessen hatte, noch Milch zu holen, um den Liter, den ich weggegossen hatte, zu ersetzen. Verdammt. Ich wollte gerade wieder den Motor anlassen und zum Supermarkt fahren, der die ganze Nacht geöffnet hatte, als jemand auf der Beifahrerseite an die Scheibe klopfte. Ich stieß einen leisen Schrei aus, während ich mich panisch fragte, welche Lüge ich Stuart diesmal auftischen konnte.
Wie sich herausstellte, musste ich mir gar nichts einfallen lassen. Laura, und nicht Stuart, stand neben dem Minivan. Ich warf einen Blick über meine Schulter und entdeckte ihren Wagen auf der anderen Seite der Straße. Seit wann wartete sie bereits auf mich?
Ich öffnete die Verriegelung und ließ sie einsteigen. Ihre Miene machte mir Sorgen. Sie spiegelte weder Zorn noch Angst wider. Ging es vielleicht um Verrat? »Laura? Was ist los?«
Sie sah mich an, und für einen Moment blieb mir fast das Herz stehen.
»Dieser Junge«, flüsterte sie, und da begriff ich, dass sie mir gefolgt war. »Oh, mein Gott, Kate. Richter Larson hat den Jungen umgebracht!«

Sobald ich Laura dazu gebracht hatte, mich in Stuarts Arbeitszimmer zu begleiten und sich dort erst einmal auf das Sofa zu setzen, schenkte ich uns beiden jeweils ein Glas Rotwein ein und schloss die Tür. Zuvor lauschte ich. Im Haus war alles ruhig. Gut. Ich drehte mich zu meiner Freundin um und reichte ihr ein volles Glas. Sie trank es in einem Zug zur Hälfte leer und schloss dann die Augen. Für einen Moment glaubte ich, dass sie eingenickt war (schließlich war es beinahe zwei Uhr in der Frühe), doch nach einer Weile hob sie den Kopf und holte tief Luft. »Was ist hier los, Kate?«

»Es ist ein bisschen kompliziert.« Ich sah sie an. »Warum warst du dort?«
»Kate! Ich sah, wie dieser Junge umgebracht wurde. Was zum Teufel geht hier vor sich?«
»Okay«, beruhigte ich sie. »Du hast recht.« Ich spielte mit meinen Haaren und wusste nicht, wie ich beginnen sollte. »Warum erzählst du mir nicht als Erstes einmal, was du genau gesehen hast?«
Sie schüttelte vehement den Kopf. »Oh, nein. Ich will die ganze Geschichte hören. Ich kann mich nicht einfach zurücklehnen und –«
»Die wirst du auch bekommen«, unterbrach ich sie. »Versprochen.« Das meinte ich auch so. Nachdem ich den ersten Schreck abgeschüttelt hatte, war mir klar geworden, dass ich ihr alles erzählen wollte. Ich hatte sogar das Gefühl, dass ich es ihr erzählen musste. Ich brauchte einen Vertrauten, einen Freund. Larson konnte diese Rolle nicht auch noch übernehmen, und aus verschiedenen Gründen mochte ich mich nicht an Stuart wenden. Ich wollte nicht, dass er mich ansah und dabei eine Frau erblickte, die mit Dämonen kämpfte. Ich wollte ganz einfach nur seine Ehefrau sein.
Laura wirkte wenig überzeugt. Ich setzte mich neben sie und nahm ihre Hand. »Versprochen«, wiederholte ich in demselben gelassenen und beruhigenden Ton, den ich angeschlagen hatte, als ich mit Allie über Sex gesprochen hatte. »Ich muss einfach nur wissen, wo ich anfangen soll. Warum warst du überhaupt dort?«
»Ich bin dir gefolgt«, erklärte sie nach einem kurzen Zögern.
»Das hatte ich schon fast vermutet«, sagte ich. »Aber wieso?«
Sie wandte sich ab, als ob sie plötzlich die Sammlung von Blechspielzeug, die Stuart am anderen Ende seines Schreibtischs aufgebaut hatte, wahnsinnig faszinieren würde. »Ich weiß es nicht genau. Du hast dich in letzter Zeit irgendwie komisch benommen. Dieses Fechten mit dem Richter. Und dass du mehr und mehr an Eric gedacht hast und …« Sie brach mit einem Achselzucken ab. »Ich weiß nicht. Ist auch egal.« Ich hielt es zwar nicht für so unwichtig, aber ich wollte sie nicht unterbrechen. »Doch als ich vorhin vorbeikam und sah, wie du aus der Garage fuhrst –«
»Einen Moment.« Ich hielt die Hand hoch. »Du kamst hier vorbei? Mitten in der Nacht? Warum?«
Sie errötete. »Ich war auf dem Weg zum Supermarkt, um Eiscreme zu kaufen.« Sie vermied es, mir in die Augen zu sehen. Ihre Wangen schienen noch röter als zuvor zu werden. »Da entschloss ich mich, kurz bei dir vorbeizuschauen und zu sehen, ob bei euch noch die Lichter an sind. Gerade, als ich vor eurem Haus parken wollte, kamst du herausgefahren. Ich dachte, dass du vielleicht auch noch einkaufen willst, und bin dir gefolgt. Als du immer weiterfuhrst, war meine Neugierde geweckt. Mindy und Paul waren bereits im Bett, und deshalb hielt ich es für keine schlechte Idee, herauszufinden, was du so treibst.«
Ich unterdrückte ein Stöhnen. Wenn ich nicht so sehr an Eddie Lohmann gedacht hätte, wäre mir bestimmt ihr Wagen aufgefallen. Vermutlich waren es Lauras Schritte, die ich in der Gasse gehört hatte – und die mir sogleich aus dem Sinn gekommen waren, als ich die Schreie vernahm.
»Okay«, sagte ich. »Jetzt verstehe ich zwar, wie du dorthin gelangt bist, aber ich begreife immer noch nicht, warum du mir überhaupt gefolgt bist.«
Sie antwortete mir so leise, dass ich sie nicht verstehen konnte.
»Komm schon, Laura. Du weißt doch, dass du mir alles sagen kannst. Spuck es einfach aus.«
»Ich-habe-angenommen-du-hast-eine-Affäre«, ratterte sie so schnell herunter, dass es fast nach einer fremden Sprache klang.
»Eine Affäre?« Ich dachte einen Moment lang darüber nach. »Was ist los mit dir? Das sagst du mir nun schon zum zweiten Mal, und ich kann nur wiederholen: Habe ich nicht. Wie kommst du auf solche Ideen?«
Sie zupfte an einer abgeriebenen Stelle ihrer Jeans. »Du gehst spätnachts noch weg. Du verhältst dich irgendwie anders … Na ja, du weißt schon.«
»Du hast mich einmal dabei gesehen, wie ich gekämpft habe. Du hast mich einmal dabei beobachtet, wie ich spätnachts das Haus verlasse.« Ich merkte, dass meine Stimme plötzlich schriller geworden war, doch es gelang mir nicht, das abzustellen. »Daraus kann man doch noch nichts schließen. Warum fällt dir in diesem Zusammenhang gleich eine Affäre ein? Es ist doch nicht so, als ob …«
In diesem Augenblick begriff ich es. Ich lehnte mich zurück. »Oh nein, das darf doch nicht wahr sein! Hat Paul etwa …?« Ich brach ab, denn ich brachte es nicht über mich, die Frage auszuformulieren.
»Ich glaube schon«, flüsterte sie. Sie holte tief Luft und rieb sich mit dem Handrücken eine Träne aus dem Auge. Dann lächelte sie mich unsicher an. »Natürlich ist es mir bisher noch nicht gelungen, den Mistkerl dabei zu erwischen. Er ist viel zu geschickt. Aber als Frau spürt man so etwas.«
»Du könntest dich auch irren«, gab ich zu bedenken. »Schließlich hast du dich auch bei mir geirrt.«
»Das schon, aber mit dir schlafe ich ja auch nicht.« Ihr Lachen klang harsch. »Natürlich schlafe ich auch nicht mehr mit Paul. Und was dich betrifft, so magst du vielleicht keine Affäre haben, aber irgendetwas führst du im Schilde. Fragt sich nur, was.«
»Laura, komm schon.« Ich schlug ein Bein über das andere und wandte mich ihr ganz zu. »Ich habe schon gesagt, dass ich es dir erzähle – und das werde ich auch. Aber wenn du über das Ganze sprechen möchtest …«
»Nein.« Sie schüttelte den Kopf, als ob sie sich selbst davon überzeugen müsste. »Nein, ich glaube nicht, dass ich das möchte. Ich habe schon bis zum Erbrechen mit mir selbst darüber geredet. Jetzt will ich, ehrlich gesagt, einfach nicht mehr daran denken. Und die Geschichte, die sich hinter dem Mord eines Bundesrichters an einem Jugendlichen in einer dunklen Gasse verbirgt, könnte es durchaus schaffen, mich abzulenken. Wenn man noch die Tatsache hinzufügt, dass meine beste Freundin einen wirklich gruseligen Hund zur Strecke gebracht hat, könnte ich mir vorstellen, dass ich während der nächsten zwölf Stunden weder an Paul noch an seine Affäre denken werde.«
»Um ehrlich zu sein«, erklärte ich, »hat der Richter keinen Menschen ermordet. Es war etwas ganz anderes. Ich glaube, dass dich meine Geschichte vielleicht volle vierundzwanzig Stunden davon abhalten wird, an Paul zu denken. Möglicherweise sogar länger.«
»Endlich einmal gute Nachrichten«, meinte Laura. »Dann schieß los.« Zum ersten Mal in jener Nacht schenkte Laura mir ein echtes Lächeln.

Als ich schließlich meine Geschichte erzählt hatte, lächelte meine Freundin nicht mehr. Sie wirkte vielmehr so, als würde sie unter Schock stehen. Gleichzeitig sah sie recht neugierig aus. »Du machst Scherze, oder?« Ich schüttelte den Kopf. »Tut mir leid.«

Sie schloss die Augen und atmete tief durch.
»Laura?«
»Es geht mir gut. Ich …« Sie schüttelte erneut den Kopf.

»Dieses Schimmern, das ich über dem Jungen gesehen habe – war das der Dämon, der seinen Körper verlassen hat?« Ich nickte.
»Wow.« Sie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Als

dieser Hund oder vielmehr dieses Ding starb … Ich glaube, da wusste ich, dass irgendetwas nicht mit rechten Dingen zugehen konnte.«

Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich trage dieses Wissen schon fast mein ganzes Leben lang mit mir herum, und bis zu dieser Nacht hatte ich noch nie jemanden in meine Geheimnisse eingeweiht. Für mich war das alles normal. Und auch wenn ich mich darum bemühte, diese neue Wirklichkeit durch Lauras Augen zu betrachten, so war ich mir doch keinesfalls sicher, ob es mir auch nur annähernd gelang.

Sie zog ihre Füße hoch und umschlang ihre Knie. »Dann ist Richter Larson also auch ein Dämonenjäger?«
»Nicht ganz. Er fungiert eher als Mentor. Er stellt Nachforschungen an, und ich mache dann die Dreckarbeit.« Ich schnitt eine Grimasse, als ich an das Ungeziefer im Kellergewölbe der Kathedrale denken musste. Solange Larson gleichzeitig als Richter arbeitete, umfasste meine »Dreckarbeit« zugegebenermaßen ganz neue Aspekte.
Sie zog die Augenbrauen hoch. »Heute Nacht wirkte er aber ziemlich zupackend.«
Da hatte sie recht. »Einige alimentatori sind nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch ausgebildet. Ich nehme an, Larson gehört dazu.«
»Du nimmst es an? Habt ihr denn früher nie zusammengearbeitet?«
Ich schüttelte den Kopf. »Ich habe ihn erst kennengelernt, nachdem der Dämon durch mein Fenster gesprungen war.« Ich sah sie entschuldigend an. »Es tut mir leid, dass ich dich angelogen habe. Soweit ich weiß, hat Eric den Richter nie getroffen.«
Diese Lüge schien sie nicht weiter zu stören. »Okay. Der Typ, den Larson umbrachte, war also ein Dämon, der im Körper eines Toten steckte?«
»Genau.« Ich hatte ihr vorhin kurz erklärt, wie das Ganze funktionierte, und nun schien sie mir demonstrieren zu wollen, dass sie alles begriffen hatte – ganz die brave Musterschülerin.
»Und womit genau hast du gekämpft?«
»In der Mythologie werden solche Wesen als Höllenhunde bezeichnet. Riesige Mastiffs, die für einen Dämon unterwegs sind. Ekelerregende Kreaturen. Sie riechen auch ziemlich schlecht.«
»Als du den Hund erstochen hast …« Sie brach ab, um sich zu schütteln.
»Laura?«
»Alles in Ordnung.« Langsam trank sie ihr Glas leer, das ich sogleich wieder auffüllte. »Es ist nur alles ein bisschen viel auf einmal.«
»Für mich auch, das kann ich dir sagen«, entgegnete ich. »Ich hatte angenommen, dass ich mich in diesem Jahr vor allem mit Allies Verehrern herumschlagen und Timmy von den Windeln abbringen müsste.«
»Mein Gott, ich weiß ja nicht, was schlimmer ist: Dämonen oder zu versuchen, ein Kind trocken zu kriegen, ohne dabei durchzudrehen.« Sie lachte kurz auf, wurde dann aber sofort wieder ernst. »Dieser Hund … Äh … Wohin ist er eigentlich verschwunden, nachdem er … nachdem er …« Sie fuchtelte in der Luft herum. »Du weißt schon. Nachdem er sich in Luft aufgelöst hatte.«
Ich wusste, was sie meinte. Der Hund war in einem Flammenmeer verschwunden. Weder Asche noch verbrannte Knochen waren am Boden zurückgeblieben. Er hatte sich tatsächlich einfach in Luft aufgelöst. »Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich in die Hölle zurück. Zum Glück habe ich in dieser Hinsicht noch keine Erfahrung gesammelt.«
Sie lachte nervös auf. »Ja, ein Glück.«
»Laura.« Ich nahm einen Schluck Wein, ehe ich tief durchatmete. »Ist jetzt alles zwischen uns geklärt? Ich meine, Stuart weiß nichts von alldem, weil … Na ja, weil es eigentlich verboten ist, anderen davon zu erzählen. Offensichtlich halte ich mich natürlich nicht an die Regeln, wenn ich dir davon erzähle. Ich will einfach nicht, dass er mich sozusagen als eine Art von Ninja-Kämpferin betrachtet. Verstehst du, was ich meine? Und ich will auch nicht, dass du mich so siehst. Du bist schließlich meine beste Freundin. Ohne dich hätte ich tagsüber niemanden, mit dem ich sprechen könnte, und meine kulturellen Diskussionen würden sich auf Disney und die Sesamstraße beschränken.«
»Schön zu wissen, wo ich auf deiner Skala stehe«, entgegnete sie trocken, lächelte jedoch.
»Du weißt schon, was ich meine.«
»Keine Angst, wir haben wirklich alles geklärt«, sagte sie. Dann nahm sie meine Hand und drückte sie. »Ich werde mich zwar daran gewöhnen müssen, aber du bist noch immer die alte Kate. Obwohl …«
»Was?«, fragte ich sogleich beunruhigt.
Ihr Lächeln wirkte diesmal ein wenig verschlagen. »Du bist jetzt nicht mehr nur Hausfrau und Mutter. Kate Connor, du hast jetzt einen Job, der dich tagsüber beschäftigt.« Sie runzelte die Stirn. »Oder vielleicht auch nachts. Ich bin mir noch nicht ganz darüber im Klaren.«
»Ich auch nicht«, entgegnete ich. »Dämonen tauchen durchaus auch während des Tages auf, aber sie mögen die Nächte lieber. Außerdem bin ich tagsüber damit beschäftigt, Nachforschungen anzustellen.«
»Stimmt. Herauszufinden, wonach Gildamesh sucht.«
»Goramesh.«
»Ja, genau. Der. Hast du schon irgendwelche Hinweise entdecken können?«
»Noch nichts Konkretes. Wir kennen die anderen Orte, wo Goramesh gewütet hat, weil er etwas finden wollte. Und wir glauben, dass es um Knochen gehen könnte. Wir wissen aber einfach noch nicht genau, was er beabsichtigt.«
»Ich könnte helfen.«
Ich zog die Augenbrauen hoch. »Wie bitte? Und wie soll das gehen? Und überhaupt – warum?«
»Weil ich will«, erklärte sie. »Ich brauche auch eine Aufgabe. Ansonsten würde ich wahrscheinlich den ganzen Tag dasitzen und mir überlegen, auf welche Weise ich Paul kastrieren kann.«
Sie hatte recht. »Ich weiß nicht, was du tun könntest«, sagte ich. »Ich könnte dich natürlich bei meinen Nachforschungen brauchen, aber wenn du mit mir ins Archiv kommst, befürchte ich …« Ich zuckte hilflos mit den Achseln, da ich meiner Angst nicht Ausdruck verleihen wollte.
»Was?«
Ich antwortete nicht gleich, sondern erst einmal holte ich tief Luft. »Dann würde er vielleicht merken, dass du mir hilfst. Und davor habe ich Angst. Dass er dann versuchen würde, dir auch etwas anzutun.«
Sie nickte nachdenklich. »Ich kann aber trotzdem helfen«, entgegnete sie. »Sogar von zu Hause aus. Niemand muss wissen, dass ich an der Sache dran bin. Ich könnte versuchen, hinter den Kulissen zu agieren, ohne dass es jemand merkt – am Rechner, genau wie dieses zehnjährige Kind, das Kim Possible auf alle ihre Missionen schickt.«
Ich wusste nicht, ob ich über die Tatsache eher lachen oder doch besser weinen sollte, dass sie mein Leben gerade mit dem fiktiven Dasein einer Zeichentrickfigur verglichen hatte. »Äh –«
»Ich meine es ernst. Ich könnte Anrufe machen, in die Bücherei gehen. Und ich kann im Internet suchen. Ich kann versuchen, etwas über die Kirchen und Klöster herauszufinden, die er zerstört hat. Vielleicht stoße ich ja auf etwas Interessantes.«
Ich musste zugeben, dass mir die Idee nicht schlecht gefiel. Trotzdem hasste ich die Vorstellung, sie da mit hineinzuziehen. »Ich weiß nicht«, erwiderte ich ausweichend. »Ich will nicht, dass dir etwas passiert.«
»Ich auch nicht«, versicherte sie mir. »Aber nach dem zu urteilen, was du mir erzählt hast, könnte meine Tochter bald einen Kinderteller für diesen Goramesh abgeben. Und das will ich noch weniger. Ich möchte helfen, Kate. Ich will dir helfen, ihn aufzuhalten. Ich kann fast alles von zu Hause aus machen, und wenn ich in die Bücherei gehe, dann sollte das auch nicht verdächtig wirken.«
Ich muss zugeben, dass es nicht schwer war, mich zu überzeugen. Ich sagte mir, dass es für Laura gut sein würde, nicht ständig an Paul denken zu müssen. In Wahrheit war ich wohl nicht so selbstlos. Aber ich hatte nicht vor, meine Motive genau zu analysieren. Vor allem nicht, nachdem ihr Vorschlag nahezu perfekt war. Schließlich brauchte ich wirklich dringend Hilfe bei den Nachforschungen. »Bist du dir sicher, dass du mitmachen willst?«
»Natürlich. Ich verbringe Stunden damit, im Internet zu surfen. Ich bin ziemlich gut, wenn es darum geht, Sachen ausfindig zu machen.«
Ich sah sie scharf an.
»Stimmt wirklich«, sagte sie. »Ich habe Paul zum Beispiel geholfen, bestimmte Örtlichkeiten zu finden. Ich kenne mich mit Google, Dogpile, Vivisimo und Dutzenden anderer Suchmaschinen aus. Komm schon. Zumindest kann ich die Orte eingeben, wo es bisher Angriffe gab. Zum Beispiel Larnaca, nicht wahr?«
Ich nickte. »Ich weiß nicht, wie die Orte in Mexiko und in der Toskana hießen, aber ich kann es morgen herausfinden.«
»Dann kann ich also mitmachen?«
Nachdem ich bereits nicht mehr wusste, welche Suchmaschinen sie nach Google genannt hatte, hielt ich sie für genügend qualifiziert. »Okay«, sagte ich.»Ich werde darüber nachdenken.« Ich runzelte die Stirn.»Lass mich heute Nacht darüber schlafen. Es ist spät, und mein Kopf ist schon ganz wirr.« Aber ich wusste, dass ich zusagen würde. Ich glaube, sie wusste es auch.
Ich brachte Laura an die Tür und umarmte sie. »Alles in Ordnung?« Ich bezog mich eigentlich auf Paul, aber wollte auch allgemein wissen, wie es ihr ging.
»Ja, danke. Es ist hart, aber wir werden es schon hinter uns bringen. Vor allem Mindy tut mir leid. Wenn er eine Affäre hat … Na ja, ich werde mir darüber Sorgen machen, wenn ich weiß, dass es tatsächlich so ist. Aber genug, du musst jetzt schlafen.«
Sie hatte recht. Ich sollte am nächsten Vormittag mit Cutter trainieren und musste Timmy zuvor in der Kindertagesstätte abliefern. Er sollte zwar nicht vor Mittwoch beginnen, aber ich hoffte, dass ein wenig Betteln meinerseits die Kindergärtnerinnen überzeugen könnte, ihn schon morgen aufzunehmen. Ich war optimistisch. Wie ich bereits öfter feststellen konnte, hilft es hier und da, sich vor jemanden in den Staub zu werfen. Und ich hatte vor, mich so oft in den Staub zu werfen, wie es nötig war.
Ich öffnete Laura die Tür, doch sie blieb noch einen Moment auf der Schwelle stehen. »Da draußen gibt es also Dämonen …«
Ich stand hinter ihr und schaute auf die Einfahrt und die mir so vertraute Straße. Es fiel mir schwer, die Welt aus ihrer neuen Perspektive zu betrachten. »Ich begleite dich«, sagte ich.
»Oh, nein. Ist schon in Ordnung. Das musst du nicht tun. Ehrlich nicht.«
Ich hatte nicht vor, sie diese Strecke allein zurücklegen zu lassen. Jedenfalls nicht heute Nacht, wenn ich wusste, dass sie hinter jeder Ecke einen Dämon vermutete.
»Doch, das tue ich«, sagte ich. Sie wandte sich zu mir, und ich zuckte mit den Schultern. »Außerdem brauche ich auch ein wenig Milch von dir.«

DREIZEHN

Der Montag war so seltsam verlaufen, dass es mir ganz eigenartig vorkam, am Dienstagmorgen ganz normal aufzuwachen. Normal, wenn man davon absah, dass ich nur drei Stunden geschlafen hatte und sich mein ganzer Körper anfühlte, als wäre er von einem Boxer in die Mangel genommen worden. Es ging mir also nicht gerade super.

Der Wecker zwitscherte fröhlich um sechs Uhr früh. Ich rollte zur Seite und fluchte über die verdammten Elternpflichten. Dann schlug ich auf den Snooze-Knopf, um noch etwas weiterzuschlafen. Ha, auch ich konnte meine Pflichten vernachlässigen!

Neben mir murmelte Stuart etwas, was sich so ähnlich wie »Noch ein Bissen enger« anhörte, was ich als »Noch ein bisschen länger« übersetzte. Ich murmelte meine Zustimmung, zog die Decke ans Kinn und schmiegte mich an ihn. Eine Nanosekunde später schrillte der Wecker von Neuem. (Auf der digitalen Anzeige wurde behauptet, dass volle sieben Minuten vergangen waren. Ich war da anderer Meinung.)

Wie eine Besessene schlug ich auf den Wecker ein und drehte mich dann zu Stuart, um ihn an der Schulter zu packen. »Auf«, sagte ich. »Los, geh Geld verdienen.« Das war mein Beitrag, um sicherzustellen, dass unser Bankberater keinen Nervenzusammenbruch bekam.
Stuart ächzte erneut und drehte sich dann zu mir um. Langsam öffnete er die Augen. Noch langsamer brachte er ein Lächeln zustande. »Hallo, Schöne.«

Da ich morgens so gar nicht dem Bild einer Schönen entspreche, sind mir solche Zärtlichkeiten ausgesprochen peinlich. Ich wandte mich mit einem unverständlichen Murmeln von ihm ab.

Stuart rückte daraufhin näher zu mir, legte den Arm um meine Hüfte und zog mich zu sich, bis er an meinem Hals knabbern konnte. Selbst in diesem halben Komazustand wusste ich, dass ich ein solches Knabbern nicht einfach ignorieren sollte. »Du bist heute Morgen aber gut gelaunt«, sagte ich.

»Warum auch nicht?« Er drehte mich zu sich, sodass er sich über mich beugen und mit dem Finger den Ausschnitt des weißen T-Shirts, das ich im Bett trug, nachfahren konnte. »Ich habe einen Autounfall überlebt, verschiedene Zusagen für meine Kampagne bekommen und bin neben einer schönen Frau aufgewacht.«

Wieder biss er mich spielerisch in den Nacken, und ich lachte. »Du bist wirklich der geborene Politiker.«
»Ein Diener des Volkes«, gab er zurück. Er grinste und schien sich über seine Entgegnung selbst am meisten zu amüsieren.
»Was?«, wollte ich belustigt wissen.
»Nichts.« Sein Lächeln wurde breiter. »Nur so viel – ich habe gestern Abend eine Menge Zuversicht gewonnen.«
»Auf der Party?« Sie war eigentlich ganz gut verlaufen, wenn man die ganzen Umstände bedachte.
»Ja, auf der Party«, bestätigte er. »Und …«
»Und was?«
Er rutschte ein wenig zur Seite, um mit der Fingerspitze über meinen Arm fahren zu können. »Nichts Wichtiges. Ich habe nur eine neue Perspektive hinzugewonnen, die ich vorher noch nicht hatte. Ich bin jetzt optimistischer und sicher, dass ich die Wahl gewinnen werde.« Er strich eine Haarsträhne aus meinem Gesicht. »Du hast den nächsten Bezirksstaatsanwalt vor dir, Liebling. Das weiß ich jetzt.«
»Ich habe das keine Minute lang bezweifelt. Warum sollten die Wähler jemand anderen wollen? Du bist der perfekte Kandidat.«
»Ein Mann für das Volk«, erklärte er. Seine Augen wanderten über meinen Körper, und sein Blick wirkte auf einmal erhitzt. »Ein Mann für eine Frau …«
Er küsste mich lange und intensiv. Ich versuchte mich an den Gedanken zu gewöhnen, dass mein normalerweise aus-der-Türzur-Arbeit-stürzender Mann morgens Sex haben wollte. (Er hatte auch keinen so tollen Atem, was für Stuart ungewöhnlich war, aber ich führte das auf das Essen am Abend zuvor zurück.) Jegliches kleines Liebesabenteuer fiel jedoch in sich zusammen, als Timmys Rufe durch das Babyfon, das auf unserer Frisierkommode stand, ertönten. »Mami, Mami, Mami. Wo bist du, Mami?«
»Er wird sich noch einige Minuten gedulden müssen«, murmelte Stuart mit erotischer Stimme.
»MAMI!«
»Er klingt recht wild entschlossen«, erwiderte ich. Und ich war froh darüber (wenn ich zur Abwechslung ganz ehrlich bin). Nicht nur mein ganzer Körper schmerzte und quälte mich, sondern auch mein Verstand beschäftigte sich bereits mit den Dingen, die an diesem Tag vor mir lagen – den ganzen kleinen Details, die ich bewältigen musste, um mein Doppelleben (einigermaßen) über die Bühne zu bringen. »Ich sollte ihn wohl besser holen.«
Stuart murmelte etwas Unverständliches, rollte aber zur Seite, sodass ich mich aufsetzen konnte. Ich schwang die Beine aus dem Bett und griff nach meiner Jogginghose. Während ich über den Flur zu der heulenden Frucht meiner Lenden eilte, zog ich sie an.
Ich brauchte gute zwanzig Minuten, um dem kleinen Mann ein paar Klamotten überzuziehen und mich selbst in Jeans und ein T-Shirt des San-Diablo-Junior-HighElternbeirats zu werfen. Als ich schließlich in die Küche kam, war Stuart bereits fertig fürs Büro. Seine Haare waren noch von der Dusche feucht, und der Duft des Aftershave umgab ihn auf eine Weise, die mir einerseits vertraut war, aber andererseits auch etwas aufregend Erotisches ausstrahlte. Ich verdrängte ein Bedauern, seinem morgendlichen Vorschlag, uns zu vergnügen, nicht nachgegeben zu haben.
In diesem Moment rannte Allie in die Küche, soweit sie das in ihrer hautengen Jeans und mit den hohen Absätzen konnte. Ich warf einen tadelnden Blick auf ihre Schuhe und sah sie dann streng an. »Oh, Mami«, sagte sie. »Jenny Marston trägt auch Absätze in die Schule.«
Es gab bereits einiges an Jenny Marston, was Allie meiner Meinung nach nicht nachmachen musste. Jetzt konnte ich auch noch Schuhe zu der Liste hinzufügen. Ich zeigte auf die Treppe. »Ab nach oben«, sagte ich. »Zieh dich um.«
Sie gab ein derart lautes Stöhnen von sich, dass Timmy überrascht aufblickte. Er begann sogleich seine Backen aufzublasen und die Luft mit einem lauten Wusch-Wusch entweichen zu lassen.
»Allie«, sagte ich und klang diesmal bereits drohender.
»Hör auf deine Mutter«, warf Stuart ein, der hinter seiner Zeitung vergraben war.
»Okay Wie auch immer«, erwiderte sie und stürzte wütend davon.
Ich sah Timmy an. »Wenigstens werden wir mit dir niemals Schuhprobleme haben«, erklärte ich.
»Es sei denn, er möchte irgendwelche coolen Turnschuhe, nur weil die gerade von irgendeinem Star getragen werden«, gab Stuart zu bedenken.
Ich schnitt eine Grimasse und stellte mir eine Zukunft vor, in der ich zwar Dämonen besiegen konnte, aber von den heimtückischen Schuhbedürfnissen meiner Kinder geschlagen wurde. Keine hübsche Vorstellung.
Nach zwei weiteren Tassen Kaffee gab Stuart mir und Timmy einen Kuss, verabschiedete sich von Allie, indem er zu ihr nach oben rief, und ging in die Garage. Wenige Sekunden später hörte ich, wie das Garagentor ächzend aufging. Ich rief Allie zu, dass sie sich beeilen solle oder sonst ihre Mitfahrgelegenheit versäumen würde. Sie kam die Treppe heruntergepoltert und blieb mit einem lauten Quietschen vor dem Kühlschrank stehen. Diesmal trug sie neonpinke Turnschuhe mit Plateauabsätzen und ein dazu passendes T-Shirt. Wie meine Tochter sagen würde: Wie auch immer.
»Mittagessen oder Geld?«, fragte sie.
Da ich in der Nacht zuvor eine wilde Jagd auf einen Dämon veranstaltet hatte, anstatt zu Hause zu bleiben und mich um meine Familie zu kümmern (mein schlechtes Gewissen ließ grüßen), hatte ich nichts für ihr Lunchpaket hergerichtet. Ich holte meine Tasche und suchte darin herum, bis ich eine Zwanzig-Dollar-Note herausfischte, die ich ihr reichte. Ihre Augen weiteten sich für einen Moment, doch sie war klug genug, nichts zu sagen.
Sie gab mir einen raschen Kuss auf die Wange und stürzte zur Haustür, wo Emilys Mutter gerade auf die Hupe drückte. Als die Tür hinter ihr ins Schloss fiel, wurde mir klar, dass ich etwas vergessen hatte. Aber als ich auf die Straße hinausrannte, war der Wagen bereits verschwunden. Verdammt.
Es war mir entfallen, Allie mitzuteilen, dass wir unsere erste Stunde mit Cutter am späten Dienstagnachmittag hatten und sie sich deshalb diese Zeit freihalten sollte. Jetzt musste ich in der Schule anrufen und dort eine Nachricht hinterlassen. Das Prozedere war bereits in der Junior-High sehr umständlich gewesen, und ich nahm nicht an, dass es nun einfacher war. Allie schien mir ins Ohr zu flüstern: Ma-ami … Kauf mir endlich ein Handy! Einverstanden, sagte ich zu der Stimme. Ich werde dir noch heute eines besorgen.
Normalerweise gebe ich nicht dem Willen irgendwelcher Stimmen in meinem Kopf nach, aber die Sache mit dem Handy stand auf Allies Prioritätenliste an oberster Stelle. Sie hatte mich immer wieder darauf hingewiesen, dass sie dringend eines bräuchte, und ich hatte sie ebenso klar darauf hingewiesen, dass dies nicht der Fall wäre. Nachdem ich nun jedoch wusste, dass Dämonen die Stadt unsicher machten, hatte ich meine Meinung um einhundertachtzig Grad geändert. Ich wollte alles tun, um meine Kleine in Sicherheit zu wissen. Und wenn das bedeutete, dass ich ihr ein Handy in die Hand drücken musste, damit sie jederzeit die Polizei oder den Notruf anrufen konnte – nun gut, dann musste das eben sein.
»Allie zur Arbeit?«, fragte Timmy, als ich in die Küche zurückkehrte und mich neben ihn an den Tisch setzte. In einer seiner dicken kleinen Hände hielt er einen Löffel, mit dem er ununterbrochen in einem Becher mit Pfirsichjoghurt herumpanschte.
»Allie ist in die Schule gegangen«, sagte ich. »Papi ist zur Arbeit gegangen.«
»Mami zur Arbeit?«
»Ja, das stimmt – Mami geht auch zur Arbeit.« Ich nahm den Löffel (zu meiner Verblüffung löste das kein lautes Geheule aus) und versuchte, ihm etwas Joghurt zu geben. »Will Timmy auch wie Allie in die Schule gehen?«
»Nein«, sagte er und sah mich aus süßen kleinen Hundeaugen an. Er schüttelte dabei so heftig den Kopf, dass ihm der Joghurt wieder aus dem Mund flog. »Nicht Schule.« Ein Anflug von Klagen war in seiner Stimme zu vernehmen, und mir verkrampfte sich das Herz. Bleib stark, sagte ich mir. Es ist nur vorübergehend. Tausende von Kindern sind täglich im Kindergarten oder in der Krippe, ohne dass es ihnen oder den Eltern schadet.
Trotzdem …
Ich bemühte mich darum, mein fröhliches Lächeln nicht zu verlieren. »Keine Schule?«, fragte ich und tat so, als ob ich überrascht wäre. »Aber Kindergarten ist etwas Tolles! Du darfst mit solchen Sachen wie mit Farben spielen, und du wirst ganz viele Freunde haben. Außerdem gibt es dort viele Lieder zu singen«, erklärte ich und dachte darüber nach, was ihn noch überzeugen könnte. »Ich bin mir sicher, dass sie dort ständig solche Lieder wie Alle meine Entchen singen.«
»Nein, Mami«, sagte er. Wieder schüttelte er den Kopf. »Du gehst.«
»Ich wünschte, ich dürfte das, mein Schatz.« Ich gab Tim einen letzten Löffel Joghurt und holte dann ein Stück Küchenkrepp, um ihm das restliche Frühstück vom Kinn zu wischen. Da ich schon einmal dabei war, kümmerte ich mich auch gleich noch um den Joghurt, der auf dem Tisch und dem Boden gelandet war. »Willst du es nicht versuchen?«, fragte ich. »Für Mami? Kindergarten ist etwas ganz Tolles, ganz viel Spaß, und da gibt es auch viele neue Spiele.«
Da ich den Löffel hatte, steckte er nun seinen Finger in den Joghurt und malte damit eine Linie auf die Oberfläche des Tisches. Komm schon, Tim, drängte ich ihn in Gedanken. Sag endlich Ja und erlöse Mami von ihrem schlechten Gewissen.
»Na, mein Kleiner?«, wollte ich wissen. »Was meinst du dazu?«
»Okay, Mami.« Er klang auf einmal viel fröhlicher, und ich fragte mich, ob er sich in seinem kleinen, zweijährigen Gehirn bereits mit etwas ganz anderem beschäftigte. Ich wollte es lieber gar nicht wissen. Seine Zusage (wenn man das so nennen konnte) beruhigte mich ein wenig, und ich ging ins Wohnzimmer, um dort ein paar Sachen zusammenzusuchen.
Timmy war wie so oft bester Dinge, als wir schließlich in die Kindertagesstätte fuhren. Ich setzte ein glückliches Gesicht auf und erklärte ihm, dass es nun in seinen Kindergarten ginge, wo er den ganzen Tag über wundervolle und aufregende Dinge tun konnte. Er sah mich ein wenig misstrauisch an und steckte den Daumen in den Mund, was mir zeigte, dass er vielleicht doch nicht so begeistert war, wie ich das gern gehabt hätte.
Ich parkte vor dem Kindergarten, stieg aus und ging um den Wagen herum, um die hintere Tür für meinen Sohn zu öffnen. Er saß in seinem Sitz und saugte versunken an seinem Daumen. »Das wird dir bestimmt viel Spaß machen«, versicherte ich ihm. »Nicht wahr, mein Kleiner?«
Er zog den Daumen heraus, nickte kurz und erklärte dann: »Okay, Mami.« Innerlich verbuchte ich das als einen kleinen Erfolg, während ich ihn von seinem Gurt befreite. Ich hob ihn heraus und hielt ihn an der Hand fest, als wir in den Kindergarten gingen. So weit, so gut.
Nadine stand im Eingangsbereich hinter der Theke. Ich hatte sie von unterwegs aus angerufen und gebeten, ob Timmy bereits heute statt morgen bei ihnen beginnen könnte. Sie hatte mir versprochen, alles Nötige zu veranlassen. Als ich eintraf, reichte sie mir tatsächlich einen Stapel von Papieren, die ich unterschreiben musste, und bat mich, das Geld für den ersten Monat zu bezahlen. Timmy verhielt sich währenddessen völlig ruhig. Aber im selben Moment, in dem ich ihr den Scheck reichte, fing er an zu heulen. Vielleicht hatte er eine Weile gebraucht, um zu begreifen, was eigentlich vor sich ging, aber jetzt hatte er es verstanden, und ganz offensichtlich wollte er nichts damit zu tun haben.
»Nein!«, heulte er. »Nicht Kindergarten. Nicht – nicht Kindergarten! Heimgehen. Heimgehen.« Große Tränen kullerten über seine Wangen, und ich versuchte, nicht die Nerven zu verlieren, sondern daran zu denken, dass es auch für sein Wohlergehen das Beste war. Ohne die Kindertagesstätte würden vielleicht schon bald Dämonen die Herrschaft in der Stadt an sich reißen. Und was würde dann mit uns geschehen?
Ich spürte, wie sich meine Wangen röteten, und ich kämpfte gegen das plötzliche Bedürfnis an, mein Kind hochzuheben und es in die Arme zu schließen. Nadine hatte solche Szenen natürlich schon oft erlebt. Sie reichte Tim einen kleinen LKW, während sie mich aufmunternd anlächelte. »Er wird in der Gruppe der kleinen Forscher bei Miss Sally sein. Sie sind gerade draußen auf dem Spielplatz. Ich wette, Tim wird schon bald seine Ängste verlieren.«
Wie sich herausstellte, hatte sie recht. Nach einigen Minuten des Klammerns und Schreiens in höchster Lautstärke entdeckte Tim den Sandkasten und begann, gemeinsam mit einem kleinen Jungen in einem Bob-der-Baumeister-Overall mit dem Sand zu spielen.
Nadine nahm mich am Arm. »Wir sollten hineingehen, während er beschäftigt ist.« Ich nickte, rührte mich aber nicht von der Stelle. Ich hatte das Gefühl, mir würde das Herz aus dem Leib gerissen. Wie konnte ich ihn hier zurücklassen? Was für eine Mutter war ich eigentlich?
Eine Mutter, die einen Dämon davon abhalten muss, eine Armee zu rekrutieren und die Bevölkerung von San Diablo zu töten, antwortete ich mir selbst.
In diesem Moment jedoch ließ ich meinen kleinen Jungen in den Händen von Fremden zurück – und nur das schien zu zählen.
Ich verdrängte mein schlechtes Gewissen beim Training mit Cutter. Wir begannen mit einigen einfachen Stretchübungen, gelangten dann jedoch schnell in medias res, indem wir uns auf Jab und Cross, Abwehrkick und Boxschlag und meinen Favoriten, den Roundhouse Kick, konzentrierten.
Diesmal war Cutter vorbereitet, und ich musste mich ziemlich anstrengen, um nicht völlig geschlagen zu werden. Ich hatte noch immer vor, es ihm so richtig zu zeigen, wollte jedoch auf eine günstige Gelegenheit warten.
»Sie sind gut«, sagte ich, als ich einen wirklich ausgezeichnet ausgeführten Sidekick parierte. »Ich bin offensichtlich an den Richtigen geraten.«
»Nur, weil ich motiviert bin«, entgegnete er. »Schließlich kann ich mich nicht ein zweites Mal von einer Puppe schlagen lassen.«
»Einer Puppe? Wer sind Sie – Philip Marlowe?«
»Ich bin Ihr größter Albtraum, Schätzchen«, entgegnete er mit einer Stimme, die deutlich an Humphrey Bogart erinnerte. Ich musste lachen, und er nutzte die Chance, auszuholen und mich flach auf den Boden zu werfen. »Konzentration, Connor. Mehr Konzentration, wenn ich bitten darf.«
Ich starrte ihn finster von meiner schmählichen Position auf der Matte aus an. »Ich werde daran denken«, knurrte ich. Ich streckte die Hand aus, und er nahm sie sogleich, um mir auf die Beine zu helfen. So ein Idiot! Ich riss ihn mit einem Ruck nach unten und sprang auf, während er meinen Platz auf dem Boden einnahm.
»Nicht schlecht«, erklärte er aus seiner neuen Perspektive.
»Ich habe noch einige Tricks auf Lager.«
Er stand auf und musterte mich von Kopf bis Fuß. »Ja, das glaube ich gern.«
Ich bemühte mich, seinem Blick standzuhalten, ohne mich abzuwenden. Nicht sehr einfach. Ich war mir ziemlich sicher, dass jeder Zentimeter meines Körpers mit blauen Flecken übersät war (ein weiterer Grund, warum es ratsam gewesen war, ein romantisches Tête-à-tête mit Stuart bei Tageslicht zu vermeiden). Außerdem hasste ich es, mich so ausgeliefert zu fühlen. »Wir haben noch immer eine gute Dreiviertelstunde Zeit«, erklärte ich. »Sie wollen doch nicht schon aufgeben, oder etwa doch?«
Er grinste mich selbstbewusst an. »So leicht kommen Sie mir nicht davon, Connor.« Er streckte den Arm aus und lockte mich im Matrix-Stil zu sich heran. »Bereit?«
»Immer«, erwiderte ich.
Während des Rests der Stunde beschäftigten wir uns mit weiteren Bewegungsabläufen und Abwehrübungen. So bekam ich die Möglichkeit, die ganze Vielfalt von Kampfstellungen auszuprobieren – sowohl die defensiven als auch die offensiven. Als wir schließlich aufhörten, wünschte ich mir, ich hätte Stuart nicht davon abgehalten, einen Whirlpool in unserem Garten aufzustellen. Doch obwohl mir alles wehtat, fühlte ich mich verdammt gut. Selbst nach so vielen Jahren des Faulenzens hatte ich mich wirklich nicht schlecht angestellt.
Atemlos zog ich ein Handtuch aus meinem Sportsack und legte es mir um den Hals.
»Gut gemacht«, sagte Cutter. »Wir sehen uns dann morgen mit Ihrer Tochter.« Er nahm einen Schluck Wasser und wischte sich den Mund ab. »Es wird Spaß machen, der Klasse zu zeigen, was Sie so draufhaben.«
Ich schüttelte den Kopf. »Morgen werden Sie eine deutlich abgespeckte Version von mir zu Gesicht bekommen. Wenn Sie mich verraten, verspreche ich Ihnen, es Ihnen das nächste Mal heimzuzahlen.«
»Warnung erhalten und verstanden.« Er starrte mich einen Moment lang an, und in seinen Augen konnte ich den Marineoffizier erkennen, der er früher einmal gewesen war. »Werden Sie mir eigentlich jemals Ihre Geschichte erzählen?«, wollte er wissen.
»Sie sollten nicht darauf warten«, erklärte ich. Als er lächelte, wusste ich, dass mich Cutter meiner Geheimnisse wegen nicht verurteilen würde. Und zudem war mir klar, dass er weiterhin versuchen würde, herauszufinden, wer ich eigentlich war.

Die Vorstellung, im Gewölbe der Kathedrale zu sitzen und weitere Hunderte von Dokumenten durchzusehen, übte wenig Reiz auf mich aus, aber ich wusste, dass mir nichts anderes übrig blieb, als meine Recherchearbeit in Angriff zu nehmen. Gleichzeitig fragte ich mich, wer wohl dieser Eddie war, auch wenn Larson versichert hatte, dass der ehemalige Jäger keinen Nutzen mehr für uns darstellte. Letztendlich gewannen Faulheit und Neugierde das Rennen gegen Ungeziefer und Verantwortungsbewusstsein, und ich rief Larson vom Wagen aus in seinem Büro an, um ihm mitzuteilen, dass ich kurz bei ihm vorbeischauen würde.

Nachdem mir seine Sekretärin am Telefon mitgeteilt hatte, dass er noch mindestens eine Stunde im Gerichtssaal beschäftigt war, entschloss ich mich, die Zeit zu nutzen und ein paar Dinge zu erledigen. So konnte ich zumindest so tun, als ob mein Leben ganz normal und banal vor sich hin plätscherte, wie es das so lange getan hatte. Ich ging zur Reinigung, zur Bank und auf die Post und entschloss mich dann, Allie tatsächlich ein Handy zu kaufen, ehe ich mich auf den Weg zum Gerichtshof machte.

Als ich schließlich den Wagen vor dem Gerichtsgebäude parkte, fühlte ich mich gut. Irgendwie in mir ruhend. Mein Jäger-Dasein hatte sich zwar wieder heimlich in mein jetziges Leben geschlichen, aber das bedeutete noch lange nicht, dass meine Familie kein Bargeld, Briefmarken oder gereinigte Kleidung bekommen würde.

Ich war schon Dutzende Male im Gerichtshof gewesen, um Stuart zum Mittagessen zu treffen. Doch mein Mann arbeitete im Büro des Bezirksstaatsanwaltes, während sich Richter Larson im eigentlichen Gerichtsgebäude befand. Irgendwie verlief ich mich jedoch und geriet in jenen Teil des Hauses, in dem Stuart arbeitete.

Ich wollte gerade meinen Kopf in ein Büro stecken und nach dem Weg fragen, als ich Stuarts Stimme hörte. Ich erstarrte.
»Ich habe die Vorschläge für die veränderte Gebietsaufteilung auf meinem Tisch«, sagte er. Seine Stimme wurde lauter, je näher er kam. Entsetzt sprang ich in das erste Büro, das ich sah. Mein Herz klopfte heftig. Es gab keinen Grund für mich, hier zu sein. Was sollte ich Stuart sagen, wenn er mich sah? Ich hatte ihm noch nicht einmal von meinem neuen Arrangement hinsichtlich Timmys erzählt, und ich konnte ihm sicher auch kein Treffen mit Richter Larson um die Mittagszeit plausibel machen.
In Panik presste ich mein Ohr gegen die geschlossene Tür und hörte, wie sich Schritte näherten und dann allmählich entfernten. Erst als ich nichts weiter vernahm, atmete ich erleichtert auf.
»Entschuldigen Sie«, sagte eine Stimme hinter mir. »Kann ich Ihnen helfen?«
Ich wirbelte herum, wobei ich mir unglaublich doof vorkam. Hinter mir saß an einem Schreibtisch eine Frau und starrte mich verwirrt und leicht besorgt an.
»Alles in Ordnung?« Ihrem Tonfall nach zu urteilen, nahm sie an, dass ich gerade vor einem Serienmörder auf der Flucht war. Oder sie hielt mich selbst für einen und vermutete, dass ich mich vor der Polizei versteckte.
»Sorry«, sagte ich. »Mein Chef. Ich darf eigentlich keine Pause machen, und ich wollte nicht, dass er mich dabei erwischt.«
Wenn man bedenkt, dass ich eine Sporthose, Turnschuhe und ein blaues T-Shirt trug, war es ziemlich überraschend, dass mir die Frau glaubte. Aber sie schien meine Behauptung nicht anzuzweifeln (vielleicht wollte sie ja auch nur, dass ich so rasch wie möglich wieder verschwand). Also verließ ich das Büro ohne weitere Zwischenfälle. Erst als ich mich einige Schritte entfernt hatte, fiel mir ein, dass ich noch immer nicht wusste, wo Larson zu finden war.
Nach weiteren Irrwegen durch die langen Gänge traf ich eine Büroangestellte, die mir die Richtung weisen konnte. Ich kam vor Larsons Gerichtssaal an, als er gerade dabei war, irgendein Beweisverfahren abzuschließen. Ich setzte mich auf eine Bank auf der Galerie, um ihm bei seiner Arbeit zuzusehen. Es war schwer, sich vorzustellen, dass dieser Mann, der dort unten einen Antrag auf Beweisführung abschmetterte, mein alimentatore war. Noch schwerer fiel es mir jedoch, denselben Mann als Dämonenkiller zu sehen.
Staatsanwalt und Verteidiger beendeten endlich ihre Auseinandersetzung, und der Gerichtsdiener sprach sein übliches »Erheben Sie sich«. Als Larson aufstand, um hinauszugehen, entdeckte er mich und nickte mir kaum merklich zu. Sobald er in seinem Dienstzimmer verschwunden war, ging ich zum Gerichtsdiener. Weniger als eine Minute später wurde ich auf den Gang hinausgeleitet.
Im Vergleich zu dem imposanten, blitzsauberen Bundesgerichtssaal wirkten die Hinterzimmer richtiggehend verwahrlost. Larsons Büro schien zwar etwas gehobener – hier standen ein großer Mahagonischreibtisch und ein dazu passender Aktenschrank, einige in Gold gerahmte Fotografien und sogar eine Schale von Waterford, in der vertrocknet aussehende Kekse lagen –, aber selbst dieser Raum war so sehr mit Dokumenten und Akten zugebaut, dass der Richter erst einmal einen Stuhl freiräumen musste, um mir Platz zu machen. Zumindest wusste ich jetzt, warum er keine Zeit hatte, sich durch die Papiere im Kirchenarchiv zu kämpfen.
»Sie wollen also mehr über Eddie wissen«, sagte er, wobei ein leichtes Lächeln um seine Lippen spielte.
Ich zuckte mit den Schultern. »Was kann ich sagen? Ich lasse nicht so schnell locker.«
»Eine Ihrer guten Eigenschaften«, erwiderte er. »Ich habe Ihnen ja bereits erklärt, dass er nicht mehr ganz auf der Höhe ist. Aber wenn ich jetzt so darüber nachdenke, wäre es vielleicht doch nicht schlecht, einmal mit ihm zu sprechen. Es kann jedenfalls nicht schaden. Und Sie als Jägerin könnten ihn möglicherweise sogar wieder aus seiner Lethargie reißen.« Er blickte mich nachdenklich an. »Vielleicht hat Eddie ein paar Ideen, vielleicht aber auch nicht. Man sollte es jedenfalls versuchen, nicht wahr?«
»Sicher«, antwortete ich. So wie er den alten Mann schilderte, hegte ich allerdings nicht allzu große Hoffnungen.
Larson ging um seinen Schreibtisch herum und setzte sich mir gegenüber halb auf die Tischkante. Er sah mich stirnrunzelnd an. »Wie geht es übrigens Stuart?«
»Ganz gut. Es gefiel ihm zwar nicht, von mir derart umsorgt zu werden, aber er wird es schon überleben. Nachdem ich das getrocknete Blut abgetupft hatte, konnte ich sehen, dass es darunter tatsächlich nicht viel mehr als einige Kratzer und Flecken gab.«
»Als er gestern Abend in die Garage fuhr, wollten Sie mir gerade erzählen, was Sie im Archiv entdeckt haben.«
Ich unterdrückte ein missmutiges Lachen. »Sie meinen wohl, was ich nicht entdeckt habe. Dort unten stehen etwa achtzig Millionen Kisten voller Papiere und nicht katalogisierter Geschenke. Nur ein Bruchteil davon ist bisher geordnet worden, sodass ich noch eine Weile brauchen werde, um mich zurechtzufinden.« Ich erklärte ihm, was ich bisher gemacht hatte, und hätte auch gern erzählt, dass mir Laura helfen wollte, doch ich entschied mich dagegen. Ich hatte die Regeln der Forza verletzt, indem ich sie in mein Geheimnis eingeweiht hatte, und diesen Fehler wollte ich nicht zugeben. Falls Laura etwas Außergewöhnliches entdecken sollte, konnte ich es Larson immer noch gestehen. In der Zwischenzeit hielt ich mich an den altbekannten Spruch »Was er nicht weiß, macht ihn nicht heiß«.
Der Richter rieb sich nachdenklich das Kinn. »Das klingt nicht leicht. Die Finanzamts-Listen sind in manchen Fällen zwar ganz hilfreich, aber insgesamt natürlich nicht von großem Nutzen.«
»Genauso wenig wie die Asseln«, fügte ich hinzu.
»Mir dem Ungeziefer kann ich Ihnen natürlich nicht helfen, aber ich habe selbst ein paar Nachforschungen angestellt und glaube, dass ich Ihre Suche etwas eingrenzen kann.«
»Das wäre toll«, sagte ich. »Und wie?«
»Anscheinend war der Mönch, dessen Zelle am stärksten zerstört wurde, Bruder Michael.«
»Sollte mir das etwas sagen?«
»Nein, aber Bruder Michael war auch derjenige, der sich das Leben nahm.«
»Das ist tatsächlich interessant«, meinte ich. »Ich kann noch immer nicht begreifen, warum sich ein Mönch umbringen sollte.« Ich sprach mehr zu mir selbst als zu Larson und gab mir auch gleich die Antwort. »Das würde er doch niemals tun. Es sei denn, er hätte seinen Glauben verloren oder er nahm an, dass sein Selbstmord der Kirche irgendwie von Nutzen sein könnte. Vielleicht war sein Tod ja auch nur ein Versehen, und er hatte gar nicht vorgehabt, sich umzubringen. So wie jemand, der in ein brennendes Haus läuft, um ein Baby zu retten, obwohl er weiß, dass er wahrscheinlich nicht mehr lebend herauskommt.« Ich sah Larson an. »Oder jemand, der aus einem Gebäude springt, weil er vor einem Dämon auf der Flucht ist. Das könnte es doch sein, oder?«
»Ja, könnte es«, stimmte er zu.
»Oder vielleicht war er doch aktiv an seinem Freitod beteiligt«, fuhr ich fort. »Vielleicht hatte Goramesh das, was er suchte, nicht in Bruder Michaels Zelle gefunden. Und vielleicht hatte der Mönch Angst, das Versteck zu verraten, wenn er gefoltert würde.«
»Und dann hat er sich lieber selbst umgebracht, anstatt das Geheimnis zu enthüllen?« Larson runzelte nachdenklich die Stirn. »Möglich ist es. Sogar wahrscheinlich.«
»Ja«, erwiderte ich. Diese Erklärung kam mir auch am plausibelsten vor. »Der Dämon hat ihn gefoltert, und Bruder Michael konnte sich nicht mehr dagegen wehren. Er hat San Diablo genannt. Doch um nicht das ganze Geheimnis zu enthüllen, stürzte er sich lieber aus dem Fenster.«
»Sehr gut«, meinte Larson und nickte erneut. »Ja … Ich glaube, Sie könnten recht haben.«
Ich seufzte und fühlte mich sowohl ein wenig stolz als auch frustriert. »Aber das reicht noch nicht. Wir wussten ja bereits, dass sich das Gesuchte in San Diablo befinden muss, aber wir sind noch immer nicht weitergekommen, worum es sich handeln könnte.«
»Geduld, Kate. Wenn Sie das nächste Mal im Archiv sind, sollten Sie besonders auf Spenden aus Italien achten. Oder auf irgendetwas, was eine Verbindung zu Bruder Michael haben könnte.«
»In Ordnung«, antwortete ich und setzte den Vorschlag in Gedanken auf meine Liste: Benediktiner, Florenz, Klöster. Ich musste herausfinden, wie der Nachname des Mönchs lautete, während Laura versuchen konnte, irgendwelche möglichen Verwandten in Kalifornien ausfindig zu machen oder zu sehen, ob Bruder Michael eine Verbindung zu Larnaca oder zu der Kathedrale in Mexiko gehabt hatte. Schließlich konnte man nie wissen. »Zumindest haben wir jetzt schon einmal mehrere Anhaltspunkte.« Mir gefiel die Tatsache, dass ich detektivischen Spürsinn beweisen musste, zwar noch immer nicht, aber zumindest war ein gewisser Fortschritt zu erkennen.
Er warf einen Blick auf seine Uhr. »Wir sollten uns jetzt verabschieden. Ich habe in einer Viertelstunde einen Gerichtstermin.«
»Gut«, sagte ich. »Kein Problem. Aber Sie haben mir noch immer nicht erklärt, wo sich Eddie aufhält.«
»Ach, ja – natürlich. Das hätte ich beinahe vergessen«, erwiderte Larson. »Er lebt seit einiger Zeit im Altenheim CoastalMists.« Ein Schatten huschte über seine Miene. War es vielleicht Sorge? »Ich hoffe wirklich, dass er uns behilflich sein kann, aber ich glaube es eigentlich nicht. Soweit ich verstanden habe, redet er an schlechten Tagen völlig unverständliches Zeug, während er an guten Tagen ununterbrochen erzählt, wie er in seiner Jugend Dämonen enthauptet hat. Die Pfleger halten ihn natürlich für verrückt.« Der Richter sah mich an. »Ich persönlich nehme ja eher an, dass er unter Alzheimer leidet und in die Erinnerung an seine besten Jahre eingetaucht ist.«
Ich antwortete nicht, fühlte mich aber auf seltsame Weise bedrückt. Larson hatte mir bereits erzählt, dass Eddie schwach war; in dieser Hinsicht hatte sich also nichts geändert. Aber auf einmal tauchte bei seiner Schilderung des früheren Dämonenjägers ein schreckliches Bild vor mir auf. Würde ich eines Tages auch so enden? Allein am Ende meines Lebens, senil und nur noch an meine früheren Zeiten mit Eric denkend?
Nein. Ich hatte eine Familie. Ich hatte Kinder. Ich hatte einen Mann, der mich liebte. Im Gegensatz zu Eddie Lohmann war ich nicht allein. Ich schloss die Augen und dachte für einen Moment an den alten Mann in seinem traurigen Heim. Wir hatten uns zwar noch nicht kennengelernt, aber etwas verband uns miteinander.
Ich nahm mir vor, ihn zu besuchen. Das war das wenigste, was ich tun konnte.

VIERZEHN

Ich sah kurz bei Laura vorbei, ehe ich mich auf den Weg zum Altenheim machen wollte. Sie saß an ihrem Küchentisch, den Laptop vor sich aufgeklappt, und war damit beschäftigt, wild auf die Tastatur einzuhämmern. Ich trat hinter sie und sah, dass sie sich auf der Website der Touristeninformation von Larnaca befand.

»Ich versuche dich mit meinen Einfällen zu beeindrucken«, sagte sie. »Habe ich schon Glück?«
»Nicht schlecht.«
»Gut. Denn der einzige Ort, den du mir nanntest, war Larnaca. Danach weiß ich leider nicht weiter. Allerdings habe ich heute Vormittag bereits einiges über die Kathedrale herausgefunden.«
Ich hatte begonnen, über ihre Schulter hinweg zu lesen (auf der Seite wurde von Larnacas lockerer Atmosphäre und seinen faszinierenden Spuren der Vergangenheit geschwärmt), doch nun horchte ich auf. »Über St. Mary?«
»Genau. Da du gemeint hast, dass Goramesh hier etwas sucht, hielt ich es für das Beste, erst einmal die Kathedrale genauer unter die Lupe zu nehmen.«
»Sie hat eine ziemlich interessante Geschichte, findest du nicht?«, fragte ich. »Hast du von der Asche der Heiligen gelesen, die in den Mörtel gemischt wurde?«
Ihr klappte förmlich die Kinnlade herunter. »Das weißt du schon? Ich hatte gedacht, dass ich dir etwas Neues mitteilen könnte.«
»Sorry. Das ist nichts Neues für mich. Aus diesem Grund sind Eric und ich hierhergezogen. Wir dachten nämlich, dass diese Stadt deshalb dämonenfrei ist.« Ich lachte verächtlich. »Tolle Theorie.«
»Dämonenfrei oder nicht – die Kathedrale hat jedenfalls viele Tragödien miterlebt.«
»Tragödien? Welche Tragödien?«
»Fünf der ursprünglichen Missionare wurden ermordet. Wurden zu Märtyrern, wie das wohl bei euch Katholiken heißt. Sie wurden auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Einfach schrecklich, nicht wahr?«
»Interessant«, sagte ich. »Das wusste ich nicht.«
»Wirklich nicht?« Ihre Miene hellte sich sichtlich auf. »Das hast du nicht gewusst?«
»Nein, das habe ich wirklich nicht gewusst. Aber jetzt erzähl schon.«
»Also, der schlimme Teil der Geschichte ist die Tatsache, dass sie verbrannt wurden. Aber das Faszinierende daran ist, dass sich ihre Überreste noch immer in der Kathedrale befinden. Die Kirche hob ihre Asche in kleinen Säckchen auf, falls die Männer irgendwann einmal heiliggesprochen werden.«
»Ich habe die Säckchen gesehen«, erklärte ich und dachte an die Beutel in der Größe von je einem halben Pfund Kaffee. »Wurde einer von ihnen denn heiliggesprochen?«
Laura schüttelte den Kopf. »Nein, aber einer wurde seliggesprochen. Das ist doch der erste Schritt zur Heiligsprechung, oder?«
Ich nickte. »Ich bezweifle allerdings, dass uns das weiterbringt. Die Märtyrerasche gehört zur bereits katalogisierten Sammlung der Kathedrale. Man kann sie schon seit einer halben Ewigkeit im Internet finden. Wenn es Goramesh um die Asche dieser Männer gegangen wäre, dann hätte er keine Schwierigkeiten gehabt, sie sich zu holen.«
»Oh.« Sie lehnte sich zurück. Ihre Begeisterung hatte deutlich nachgelassen. »Zumindest ist es eine spannende Geschichte.«
»Komm schon, Laura. Ich habe dir noch nicht einmal mein Okay gegeben, dass du mithelfen kannst, und du hast bereits einiges zutage gefördert.« Ich sprach mit derselben Stimme, die ich manchmal verwendete, wenn ich Allie für ihre Mathematikaufgaben Mut zusprechen wollte. Sowenig mir die Idee ursprünglich gefallen hatte, dass Laura mitmachte, sosehr sagte sie mir inzwischen zu. Ich wollte nicht, dass sie bereits jetzt entmutigt war und sich stattdessen an solche zeitaufwendigen Dinge wie das Reorganisieren des Kleiderschrankes oder das Jagen von Staubmäusen machte.
»Ja, kann schon sein.«
»Jetzt erzähl mir von Larnaca«, forderte ich sie auf, wobei ich fröhlicher klang, als ich mich fühlte. Ich zeigte auf die Website.
»Ich habe sie gerade erst aufgemacht«, erklärte sie. »Bisher habe ich noch gar nichts gelesen.«
»Sieh mal«, sagte ich, denn mir war gerade ein Paragraph in der Mitte der Seite ins Auge gestochen. »Hier heißt es, dass Lazarus in Larnaca gelebt hat.«
»Der Lazarus, der von den Toten auferstanden ist?«
»Ich glaube schon.« Ich beugte mich über sie und wies auf einen Link, der ›Sehenswürdigkeiten‹ hieß. »Klick mal da drauf.«
Sie tat es, und eine Liste von Touristenattraktionen öffnete sich.
»Da«, meinte ich. »Lazarus kam nach Larnaca, nachdem er wieder zum Leben erweckt worden war. Eine Kirche wurde an der Stelle errichtet, an der man seine Gebeine gefunden haben will.«
»Eine Kirche«, wiederholte Laura. »Glaubst du, dass sich dort der Schrein befand? Der Schrein, der mit Graffiti verunstaltet wurde?«
»Könnte sein.«
»Aber welche Verbindung besteht zu Mexiko oder Italien? Oder auch zu San Diablo?«
»Ich weiß es nicht.« Ich kaute an meiner Unterlippe und begann in ihrer Küche auf und ab zu gehen. Mir war eine Idee gekommen. »Beide Dämonen, die mich angegriffen haben, sprachen von einer Armee. Vielleicht war die Entweihung des Schreins und der anderen Sakralbauten eine symbolische Handlung. Jesus und Lazarus sind durch die Macht Gottes von den Toten auferstanden, und die Dämonen erheben sich durch die Macht Satans.« Es klang zwar wie aus einem schlechten Film, aber das war die einzige Idee, die ich hatte.
»Vielleicht«, meinte Laura. Ihr kam das Ganze wohl genauso vage vor wie mir.
»Das ist alles so frustrierend«, sagte ich. »Und was hat das bitteschön mit Knochen zu tun?«
»Die könnten doch auch symbolisch sein. Du weißt schon, wie in diesem Lied ›Them Bones Gonna Rise Again‹.« Ich starrte sie an. Sie holte tief Luft. »Du weißt schon«, sagte sie. »Dieses alte Lied.«
Ich wusste es nicht und sagte ihr das auch.
»Bist du denn nie ins Jugendlager gefahren?«
Offenbar hatte Laura die Beschreibung meiner Kindheit noch nicht ganz in sich aufgenommen. »Ich habe im Vatikan gelebt, Laura«, erinnerte ich sie.»Da gab es kein Lagerfeuer, um das man singend herumhüpfte.«
»Ach so, klar. Hatte ich ganz vergessen.« Sie lachte nervös. Offenbar würde es eine Weile dauern, bis sie das neue Bild von mir verarbeitet hatte. »Dann hast du wahrscheinlich auch nicht mit anderen Dämonenjägern zusammengesessen, und ihr habt euch Gespenstergeschichten erzählt, oder?«
»Doch, das haben wir«, erwiderte ich. »Allerdings waren es keine erfundenen Geschichten. Es handelte sich um Unterrichtsstunden für das Überlebenstraining.« Ich konnte mich noch lebhaft daran erinnern, wie Eric, Katrina, Devin und ich uns in dem Alkoven zwischen dem Schlafsaal der Jungen und der Mädchen versteckten. Wir erzählten uns von unseren Eskapaden oder wiederholten die Geschichten älterer, erfahrenerer Jäger. So wie Allie das inzwischen bei ihren Pyjama-Partys tat, blieben auch wir bis in die frühen Morgenstunden wach und redeten miteinander. Aber das geschah nicht aus Spaß. Es war Arbeit. Es ging ums Überleben, denn schließlich bedeutet Wissen Macht.
»Deine Kindheit klingt furchtbar«, sagte Laura.
»War sie auch.« Aber obwohl das stimmte, so wusste ich doch insgeheim: Hätte ich noch einmal die Wahl, ich hätte kein anderes Leben führen wollen.
»Jetzt verstehe ich auch, warum du dich so früh aus dem Berufsleben zurückgezogen hast«, meinte meine Freundin. »Wahrscheinlich ist deine Lebenserwartung dadurch um mehrere Jahrzehnte gestiegen.«
Ich antwortete nicht. Ich musste an Eric denken. Der Rückzug aus dem Beruf hatte ihm nicht das Leben gerettet. Der Tod hatte ihn bereits auf seine Liste gesetzt und ihn nicht gestrichen. Trotz der kämpferischen Fähigkeiten, die Eric stets bewiesen hatte, war es ihm nicht gelungen, seinen letzten Kampf um Leben und Tod zu gewinnen.
»Alles in Ordnung?«
Ich schüttelte mich, um meinen Kopf wieder klar zu bekommen. »Was?«
»Ich habe dich gefragt, ob alles in Ordnung ist.«
»Ja, danke«, erwiderte ich. Ich trat an den Tisch und nahm meine Handtasche. »Ich habe einige weitere Informationen, die du googeln kannst«, sagte ich. »Hast du übrigens Lust, jetzt mit mir Eddie Lohmann zu besuchen? Ich erkläre dir dann alles Weitere auf dem Weg.«
Sie zog die Augenbrauen hoch. »Mit dir mitkommen? Du meinst als dein Watson? Nichts lieber als das.«
»Gewöhne dich besser nicht daran«, entgegnete ich mit einem strengen Blick. Ich war mir allerdings ziemlich sicher, dass mein Lächeln die Wirkung zerstörte.
Sobald wir uns auf dem Weg zum Altenheim befanden, erzählte ich ihr von meiner Unterhaltung mit Larson und nannte ihr die Suchbegriffe, auf die sie sich in nächster Zeit konzentrieren sollte. Ich berichtete vor allem von Bruder Michael und erklärte auch, was Larson über Eddies Zustand gesagt hatte.
»Das ist traurig«, sagte sie. »Ich hatte gehofft, dass du etwas Hilfe bekommen könntest.«
»Ich habe doch dich«, gab ich zu bedenken.
»Ich dachte eigentlich eher an eine Hilfe, die nicht wie ein Mädchen kreischt und in die entgegengesetzte Richtung läuft, sobald sie eine Spinne sieht – von einem Dämon ganz zu schweigen.« Ihr Lächeln zeigte jedoch, dass meine Bemerkung sie gefreut hatte. »Wo ist die Abzweigung?«
Wir verbrachten die nächsten zehn Minuten damit, die schlecht ausgeschilderte Straße zum Altenheim und Eddie Lohmann zu finden. Ich versuchte, nicht mehr an Laura, die Kathedrale und Lazarus zu denken, sondern mich ganz und gar auf mein neues Ziel zu konzentrieren: mich um einen geriatrischen Jäger zu kümmern.
»Was wollen wir hier eigentlich?«, fragte Laura, als ich auf einem der zahlreichen leeren Parkplätze den Wagen abstellte. Ich hatte das Gefühl, dass die Bewohner von Coastal Mists nicht gerade von Besuchern überrannt wurden.
»Ich bin mir nicht sicher.« Falls er noch alle Tassen im Schrank hatte, wollte ich Eddie die Situation schildern und seine Meinung dazu hören. Aber von Goramesh einmal abgesehen, war ich auch daran interessiert, diesen alten Jäger zu treffen. Obwohl wir uns bisher nicht kannten, hatte ich doch schon das Gefühl, eine Verbindung würde zwischen uns bestehen. Wahrscheinlich nur aus Melancholie und Nostalgie. In meinem Leben gab es keine anderen Jäger mehr. Eddie aber war ein Jäger. Ergo – ich sprang auf ihn an.
Ziemlich platte Populärpsychologie, ich weiß, aber manchmal enthält die offensichtlichste Antwort die größte Wahrheit.
Vor dem Gebäude war ein hübscher Garten angelegt worden. Pflanzen in großen Kübeln säumten den Weg, der auf den Eingang zuführte, und verliehen dem Ort den Anschein eines exquisiten Hotels. Doch sobald man das Gebäude betrat, löste sich diese Illusion schnöde in Luft auf. Dort roch es antiseptisch und nach Krankenhaus, als ob die Verwaltung zu sehr darum bemüht wäre, die Tatsache zu verschleiern, dass man in dieses Haus kam, um zu sterben.
Plötzlich bemerkte ich, dass ich im Foyer stehen geblieben war und die Arme in einer Geste der Verzweiflung um mich schlang. Laura, die neben mir stand, wirkte im Gegensatz zu mir überhaupt nicht verstört. Ich rügte mich innerlich für mein Verhalten. Schließlich hatte ich schon alle möglichen Arten des Sterbens erlebt und viele Dämonen bekämpft. Wenn der Geruch eines Altenheims Laura nicht aus der Fassung brachte, konnte auch ich mir nicht erlauben, derart die Nerven zu verlieren.
Wir befanden uns in einer großen Eingangshalle, deren Mittelpunkt eine runde Theke bildete, wo sich Pfleger und Schwestern sammelten und sich die Besucher anzumelden hatten. Eine Frau in einer altmodischen Schwesternuniform samt gestärkter Haube begrüßte uns mit einem schmallippigen Lächeln. »Kann ich Ihnen helfen?«, fragte sie, noch ehe wir die Theke erreicht hatten.
Ihr Tonfall überraschte mich, und ich zuckte unerwartet heftig zusammen. Als ich Laura ansah, bemerkte ich, dass sich auch ihre Augen ein wenig geweitet hatten. Es war also nicht nur meine Einbildung gewesen. »Wir sind hier, um Eddie Lohmann zu besuchen. Können Sie mir sagen, in welchem Zimmer er zu finden ist?«
Sie starrte mich derart lange schweigend an, dass ich mich schon zu fragen begann, ob ich etwas Unappetitliches in meinem Gesicht hatte. Gerade wollte ich mein Anliegen wiederholen (ich bin schließlich von Natur aus optimistisch veranlagt), als sie mich über ihre Brille hinweg ansah und leise schnaubte.
»Ihr Name.« Sie schob widerstrebend ein Gästebuch in meine Richtung.
»Kate Connor«, sagte ich. »Und das ist Laura Dupont.« Ich begann, unsere Namen einzutragen.
»Verwandte?«
»Angeheiratet«, erklärte ich, ohne mit der Wimper zu zucken.
Ich warf Laura einen Blick zu und sah, wie sich kaum merklich ihre Augenbrauen hoben. Dann reichte ich der Frau, die mich an Schwester Ratched aus Einer flog über das Kuckucksnest erinnerte, das Besucherbuch. Sie schürzte die Lippen, während sie unsere Namen las, hob das Kinn und betrachtete mich aus schmalen Augen. Ich begann mich sofort sehr unwohl zu fühlen und konnte wirklich nicht behaupten, dass mir diese scharfe Musterung zusagte.
»Angeheiratet«, wiederholte sie.
»Genau. Er ist mit meinem Mann verwandt«, erwiderte ich und war wieder einmal verblüfft, wie leicht mir doch Schwindeleien über die Lippen gingen. »Warum? Gibt es da etwa ein Problem?«
»Die Besuchszeiten für Nicht-Verwandte enden in fünf Minuten. Wenn Sie jedoch zur Familie gehören –«
»Das tun wir«, unterbrach ich sie entschlossen.
Ich erwartete, dass sie das nicht auf sich beruhen lassen würde. Doch stattdessen hob sie eine Hand und winkte ein etwa zwanzigjähriges Mädchen in einer gestreiften Uniform zu uns heran. Ihr Namensschild zeigte, dass wir es mit Jenny zu tun hatten. »Führe diese Damen doch bitte in den Fernsehraum. Sie besuchen Mr. Lohmann.« An uns gewandt meinte sie: »Es überrascht mich, dass wir Sie noch nie zuvor bei uns gesehen haben.«
»Eine lange Geschichte«, erklärte ich leichthin. »Wir haben gerade erst erfahren, dass Eddie hier ist.«
»Hm. Nun, ich hoffe, dass Sie mehr Glück mit ihm haben als wir.« Und mit dieser rätselhaften Bemerkung wandte sie ihre Aufmerksamkeit wieder den Papieren zu, die vor ihr lagen. Laura und ich folgten dem Mädchen, das uns einen langen, schlecht erleuchteten Gang entlangführte.
Die meisten Türen standen offen. In den Zimmern waren Doppelbetten und lieblos zusammengewürfelte Möbel zu erkennen. Die Räume erinnerten mich an die winzig kleinen Mönchszellen, die in meiner Jugend als Schlafkammern fungiert hatten, und ich fragte mich, ob sich für Eddie in diesem Altenheim nicht ein Kreis geschlossen hatte.
Mir fiel auf, dass die meisten Zimmer leer standen. Als ich mich deswegen bei Jenny erkundigte, erklärte sie, dass sich die Bewohner im Fernsehraum aufhielten, wohin auch wir unterwegs waren. »Ich freue mich, dass Sie ihn besuchen«, sagte das Mädchen. »Er bekommt sonst nie Besuch. Das ist wirklich schade.«
»Seit wann ist er denn hier?«
»Seit etwa zwei Monaten. Zuerst schien er gar nicht zu verstehen, was mit ihm geschah, doch inzwischen glaube ich, dass er sich an sein neues Zuhause gewöhnt hat. Er wirkt klarer, wenn Sie wissen, was ich meine.«
»Gut zu hören«, erwiderte ich, auch wenn ich in Gedanken ganz woanders war. Seltsam, dass der Vatikan gerade erst erfahren hatte, wo Eddie steckte. Außerdem überraschte es mich, dass die Diözese keine Freiwilligen vorbeischickte, die regelmäßig mit ihm plauderten, oder einen Priester, der ihm am Sonntag die Kommunion gab.
Mir blieb jedoch keine Zeit, länger über diese Dinge nachzudenken. Inzwischen waren wir am Fernsehzimmer angekommen. Der Gang öffnete sich in ein zweites Foyer, das früher vermutlich einmal zu einem zweiten Eingang gehört hatte. Doch inzwischen standen hier abgewetzte Sofas und ein kleiner Fernsehapparat, auf dem gerade ein kaum verständlicher Jerry Springer in Schwarz-Weiß zu sehen war. Was war das hier? Das Mittelalter?
Die Heimbewohner saßen auf den zwei Sofas. Ein alter Mann rief immer wieder: »Zeig es ihnen, Jerry!« Die beiden anderen zuckten mit keiner Wimper, sodass ich vermutete, dieses Verhalten gehörte hier zur Tagesordnung. In dem Raum befanden sich noch zwei Spieltische (um die vier alte Männer saßen und Karten spielten) und ein einzelner Schaukelstuhl. Eine alte Frau mit lila gefärbten Haaren und einem Buckel stand neben dem Stuhl und schlug rhythmisch mit dem Ende ihres Stocks auf den Schenkel des alten Mannes ein, der dort saß. Dabei murmelte sie irgendetwas Unverständliches vor sich hin. (Als ich sie von der anderen Seite sah, wurde mir der Grund für ihr Murmeln klar: Sie hatte ihre dritten Zähne herausgenommen.) Der alte Mann ignorierte sie und starrte nur regungslos auf den Fernsehapparat.
Ich beugte mich zu Jenny. »Welcher ist Eddie?«
»DÄMONEN!«
Ich zuckte erschrocken zusammen. Das Brüllen kam von demselben alten Mann, der Jerry Springer ebenso energisch angefeuert hatte. Jetzt drohte er dem Fernseher mit der Faust. Ich blickte auf die Mattscheibe und musste zugeben, dass seine Beurteilung der Situation nicht ganz falsch zu sein schien. Der Typ, den Jerry Springer gerade interviewte, hatte so viele Sicherheitsnadeln und Tattoos an seinem Körper, dass er direkt aus dem Film Hellraiser zu stammen schien.
»SIE SIND ÜBERALL. IM FERNSEHEN, UNTER DEN BETTEN, IN MEINEN RICE-CRISPIES. KNACK-KNIRSCH, SAGEN SIE, KNACK-KNIRSCH!« Plötzlich riss er einen Zerstäuber aus der Tasche, schüttelte das Fläschchen kräftig und besprühte den Fernseher, wobei er jedoch vor allem Jenny traf, die sich ihm vorsichtig genähert hatte.
Laura trat einen Schritt zurück. Ich fasste sie am Arm. Schließlich war sie freiwillig mitgekommen, und ich hatte keine Lust, mich allein mit Eddie herumzuschlagen. (Ich gebe es ja zu: Für einen Moment überlegte ich mir auch, leise wieder zu verschwinden. Aber ich war gekommen, um Eddie kennenzulernen – und das würde ich auch tun.)
»Beruhigen Sie sich doch, Mr. Lohmann. Wir können Sie auch hören, ohne dass Sie schreien.« Jenny ging vor ihm in die Hocke, während ich mich vorsichtig neben ihn stellte, um einen Blick auf sein Gesicht werfen zu können.
Der Mann sah aus, als wäre er um die fünfundachtzig Jahre alt. Sein zerknittertes Gesicht wirkte ebenso fahl wie das ungepflegte Haar auf seinem Kopf. Mit dem Alter waren seine Lippen verschwunden, sodass der ungeschnittene graue Schnurrbart, den er trug, ohne Verankerung in seinem Gesicht zu schweben schien. Seine Haut war ledrig. Wie ich nun so sein Gesicht sah, wusste ich, dass ich Eddie Lohmann auch ohne Jennys Hilfe erkannt hätte. Dieser Mann hatte bereits viele Kämpfe hinter sich. Er hatte gekämpft und gewonnen. Jetzt allerdings fragte ich mich, ob er gerade zum ersten Mal dabei war, einen Kampf zu verlieren.
Plötzlich hob er das Kinn und sah mich von unten herauf an. Seine schweren Lider verdeckten den Großteil seiner Augen, aber ich konnte trotzdem die wache Intelligenz darin erkennen. Eddie Lohmann mochte sich vielleicht seltsam benehmen, aber ich war mir absolut sicher, dass er nicht senil war. Zumindest noch nicht.
»Wer ist denn die da?«, fragte er Jenny und nickte in meine Richtung.
»Sie ist hier, um Sie zu besuchen«, erwiderte das Mädchen. »Könnten Sie nicht ein bisschen freundlicher sein, Mr. Lohmann?«
Er rümpfte die Nase. »Ist sie ein Dämon?«
Die anderen Heimbewohner blickten geschlossen hoch und starrten mich an. Ich richtete mich zu meiner vollen Größe auf. Am liebsten hätte ich an meiner Bluse gezupft, um so makellos wie möglich zu wirken.
Jenny seufzte und rollte die Augen in meine Richtung, was ihre Meinung zu dieser ganzen Dämonengeschichte klar verriet. Zum Glück schien niemand Eddies Geschrei und Geschimpfe ernst zu nehmen. Trotzdem gefiel mir die Tatsache überhaupt nicht, dass er das seit Jahrhunderten gehütete Geheimnis des Vatikans in alle Welt hinausposaunte.
Jenny wandte noch immer ihre ganze Aufmerksamkeit dem alten Mann zu. Sie wirkte ruhig und geduldig. »Sie ist kein Dämon. Hier gibt es keine Dämonen – haben Sie das schon wieder vergessen? Wir gießen Weihwasser in unsere Putzeimer. Unsere Böden könnten Dämonen gar nicht betreten.« Diesmal zwinkerte sie mir zu.
»Diese verdammten widerwärtigen Kreaturen«, murmelte Eddie. Er sah mich aus scharfen Augen an und winkte mich dann mit seinen knochigen Fingern zu sich heran. »Sie da. Kommen Sie mal her.«
Hinter mir hörte ich, wie Laura ein paar Schritte in Richtung Tür machte. Ihr Wunsch, hier so schnell wie möglich wegzukommen, lag geradezu greifbar in der Luft. Vorsichtig näherte ich mich dem Alten. Als jedoch einer der anderen Männer (er war während Eddies Brüllanfall die ganze Zeit über ruhig geblieben) mich anfuhr, aus dem Bild zu gehen, da er mich sonst mit seinem Stock versohlen würde, legte ich doch einen Zahn zu. Sympathischer Kerl. Nicht gerade der Typ »liebenswerter Großvater«. Ich blieb vor Eddie stehen, sodass er mich betrachten konnte. Mit zittriger Hand holte er eine Brille aus der Hemdtasche und setzte sie auf. Während Jenny sich zurückzog, verharrte ich regungslos und wartete darauf, dass er mir ein Signal geben würde.
»Ich kenne Sie nicht«, sagte er schließlich. Er zeigte mit einem knochigen Finger auf mich. »Verschwinde aus dieser Welt, Satansbrut!«
Mir stellten sich vor Empörung die Nackenhaare auf. Ich unterdrückte das Bedürfnis, ihn auf der Stelle davon in Kenntnis zu setzen, wer ich wirklich war. Als ich Laura einen raschen Blick zuwarf, zuckte sie hilflos mit den Schultern. Eddie hatte seine Aufmerksamkeit inzwischen wieder dem Fernseher zugewendet. Ich wartete auf die nächste Werbepause und versuchte es dann erneut.
»Mr. Lohmann?«
Er sah mich an, und in seinen Augen zeigte sich keinerlei Anzeichen dafür, dass er mich wiedererkannte. »Bist du die Neue, die er jetzt ausprobiert?« Seine Augen wurden schmal, und er schürzte die Lippen. »Von mir bekommst du nichts, nur dass du es weißt.«
»Ich heiße Kate«, erklärte ich und bemühte mich darum, sanft und ruhig zu klingen. Dann wies ich in die Ecke des Raumes, wohin sich Laura inzwischen verzogen hatte. »Das da ist Laura. Wir wollten Sie besuchen.«
Er hielt die Augen weiterhin nachdenklich auf mich gerichtet und würdigte Laura keines Blicks. »Bist du auch eine von denen?«
Auf einmal wirkte er wie ein freundlicher Großvater, und dennoch konnte ich in seinen Augen den kühlen Kopf erkennen, den er behielt. Mir fiel auch auf, dass sich seine Muskeln angespannt hatten, als ich näher kam, als ob er noch immer die Kraft besäße, sich zu verteidigen, falls ich ihn angreifen wollte.
Wieder lockte er mich mit dem Finger zu sich heran. Ich beugte mich zu ihm herab und war keineswegs überrascht, als er zu schnüffeln begann. »Ist mein Atem in Ordnung?«, fragte ich.
Er schnaubte. »Könnte eine Falle sein«, sagte er. Dann fasste er in seine Tasche, holte seinen Zerstäuber heraus und sprühte mir damit direkt ins Gesicht. Ich prustete und wischte mir das Wasser aus den Augen, wodurch ich wahrscheinlich meine Wimperntusche verschmierte. Er lehnte sich zurück. Offensichtlich war er mit dem Ergebnis zufrieden. »Du bist in Ordnung«, sagte er. »Es sei denn, du arbeitest für sie.« Erneut beugte er sich vor und sah mich misstrauisch an.
»Tue ich nicht«, erwiderte ich trocken und kämpfte erneut gegen eine gewisse Entrüstung an.
Er starrte mich derart lange an, dass ich schon befürchtete, er hätte vergessen, wer ich war, und dass wir wieder von vorn beginnen müssten. Endlich sprach er. »Was willst du von mir?«
Ich warf einen Blick auf die anderen Heimbewohner. Dies war nicht gerade der geeignete Ort, um darüber zu sprechen. »Ich hätte gern mit Ihnen geredet. Könnten wir irgendwo hingehen, wo wir ungestört sind?«
Er zeigte missmutig auf den Fernseher. »Jerry Springer. Noch fünf Minuten.«
Ich wollte bereits widersprechen, als mir klar wurde, dass es überhaupt keinen Sinn hatte, ihn zu irgendetwas überreden zu wollen, was ihm nicht zusagte. Also setzte ich mich neben ihn auf die Armlehne des Sofas, und wir sahen uns gemeinsam das Ende und die letzten Worte Jerry Springers an (»Wir müssen uns darum bemühen, einander wirklich zuzuhören« – falls Sie es genau wissen wollen). Als die Sendung vorbei war, stand Eddie mithilfe eines kunstvoll verzierten Holzstocks auf und begann in den hinteren Teil des Raumes zu humpeln. Ich folgte ihm und forderte auch Laura durch einen Blick auf, dasselbe zu tun.
Da wir uns wie die Schnecken vorwärtsbewegten, brauchten wir für knappe fünfzig Meter etwa fünf Minuten. Endlich kamen wir vor Eddies Zimmer an. Er führte uns hinein. Ich schloss die Tür, und der alte Mann sank auf einen schmuddeligen grauen Lehnstuhl, der so aussah, als ob er ursprünglich einmal eine andere Farbe gehabt hätte.
»Kennen wir uns?«, fragte er mit unsicherem Blick. »Woher kommen Sie?«
»Wir haben uns gerade im Fernsehraum kennengelernt«, erklärte ich geduldig. »Ich arbeite für die Forza.« Ich wusste nicht, welche Reaktion ich erwartete, aber es überraschte mich, dass er überhaupt nicht reagierte. Weder ein Blinzeln noch ein Zucken oder ein nervöser Tick verrieten, was in ihm vorging. Er starrte mich nur an und sah dann gelassen zu Laura.
»Und die da?«
»Sie ist eine Freundin. Keine Jägerin, aber sie weiß Bescheid.«
Seine Finger zuckten, als ob er wieder die Flasche herausholen wollte, die noch in seiner Tasche steckte, doch dann hielt er inne. Er sah mich scharf an. »Sie bürgen also für sie?«
»Mit meinem Leben«, erklärte ich.
Seine Finger wurden ruhig, und er faltete die Hände in seinem Schoß. »Dann kann sie bleiben.«
Ich wusste nicht, was ich als Nächstes sagen sollte. Ich war zwar hierhergekommen, um diesen alten Jäger kennenzulernen, aber was wollte ich eigentlich von ihm? Nachdem ich ihm nun gegenüberstand, hatte ich keine Ahnung, wie ich meine Gefühle und Gedanken in Worte fassen sollte. Das Ganze kam mir wie eine Situation aus einem dieser Träume vor, wo man plötzlich nackt auf einer Bühne steht und das Publikum darauf wartet, dass man eine Arie singt oder ein akrobatisches Wunder vollbringt.
»Sind Sie hierhergekommen, um sie zu töten?«, fragte er. »Ich würde es ja gern selbst tun, aber mein alter Körper funktioniert einfach nicht mehr so wie früher.«
»Sie töten?«, wiederholte ich. »Wen töten?«
»Na, die Dämonen.« In diesem Moment öffnete sich die Tür, und eine Krankenschwester in einer Uniform mit Teddybärenmuster betrat den Raum. »Überall sind Dämonen.«
»Also, also, Mr. Lohmann«, sagte sie. »Fangen Sie doch nicht schon wieder damit an.« Sie balancierte ein Tablett, auf dem das Mittagessen für Eddie stand, und stellte es auf dem Tisch ab. »Er ist nämlich Dämonenjäger, müssen Sie wissen«, erklärte sie mir in einem Tonfall, der sowohl belustigt als auch verächtlich klang.
»Oh«, erwiderte ich einfallslos. »Wie schön.«
Die Schwester blickte von ihrem Tablett auf und zwinkerte mir zu. »Das finden wir auch. Ein wirklich interessanter Beruf. Und die Geschichten, die er erzählt. Er hat schon viele Abenteuer bestanden, kann ich Ihnen sagen.«
Sie ging zu Eddie und schaltete neben seinem Stuhl die Lampe an. Das harsche Licht der Glühbirne ließ ihn kleiner wirken. Seine Gesichtszüge kamen mir nun noch verschrumpelter vor – ganz so, als ob seine Energie aufgesogen würde. »Haben Sie heute schon ein paar Dämonen gesehen, Eddie?«, wollte sie wissen.
»Sie sind überall«, erwiderte er, aber seiner Stimme fehlte auf einmal die Überzeugung.
»Nun, dann ist es wahrscheinlich das Beste, wenn ich wieder Ihr Weihwasser auffülle«, meinte die Schwester. »Wir möchten schließlich nicht, dass hier jemand eindringt, wenn Sie gerade einmal nicht aufpassen.«
Sie nahm seinen kleinen Zerstäuber, zwinkerte mir erneut zu und ging damit ins Badezimmer. Ich hörte, wie sie den Wasserhahn aufdrehte. Dann kehrte sie mit einer vollen Flasche zu uns zurück und steckte diese Eddie in die Tasche. »Hier, bitte schön. Das sollte diese schrecklichen Dämonen erst einmal in Schach halten.«
»Gute Melinda«, sagte er, »Sie sind die Einzige hier, die nett zu mir ist.«
»Machen Sie das jeden Tag für ihn?«
»Ja«, antwortete sie. »Sonst könnten ihn doch die Dämonen fressen.«
»Sie versteht mich«, erklärte Eddie. »Melinda glaubt mir.«
»Jetzt ist es aber Zeit für Ihre Medizin.« Sie sah uns fragend an. »Sind Sie noch lange hier? Ich kann warten, wenn Sie möchten. Die Medikamente haben nämlich eine ziemlich starke Wirkung.«
»Ist schon in Ordnung«, sagte ich.»Wir wollten gerade gehen.« Das stimmte zwar nicht ganz, aber ich musste mich tatsächlich bald wieder auf den Weg machen.
Sie schüttete sich eine Ladung bunter Pillen aus einem kleinen Messbecher in die Hand und streckte diese Eddie hin. Der nahm die Medikamente ohne Murren entgegen. Er schluckte sie hinunter und streckte dann seinen Arm aus, damit ihm Melinda eine Spritze geben konnte. Sobald sie die Nadel herausgezogen hatte, fiel sein Kopf zurück. Ich sah, wie sich seine Muskeln entspannten.
»Eddie?«
Er blickte auf, doch den Eddie Lohmann, den ich im Fernsehzimmer kennengelernt hatte, gab es nicht mehr.
»Ich-kenne-Sie-nicht«, murmelte er beinahe unverständlich. »Kenne-ich-Sie?«
»Wir haben uns gerade kennengelernt«, erwiderte ich mit sanfter Stimme. »Aber wir kommen ein anderes Mal wieder.« Es war im Grunde egal, was ich sagte, denn er döste bereits dumpf vor sich hin.
Laura und ich folgten Melinda aus dem Zimmer. »Warum braucht er solche Hämmer?«, erkundigte ich mich.
Melindas Wangen röteten sich. »Oje«, sagte sie. »Sie haben ihn doch gehört. Ständig spricht er von Dämonen oder Vampiren, wenn wir ihn nicht mit Medikamenten vollpumpen. Heute hat er bereits seine erste Ration Pillen wieder ausgespuckt, weshalb Dr. Parker beschloss, dass er diese Spritze bekommen sollte.« Sie beugte sich zu mir. »Es ist ziemlich unheimlich. Ich glaube, dass er all das, was er da so sagt, für die Wahrheit hält.«
»Ehrlich?«, entgegnete ich und versuchte, so besorgt wie möglich zu klingen,
»Ja, ganz ehrlich«, versicherte sie mir. »Ich glaube nicht, dass er gefährlich oder so ist, aber …« Sie brach ab und blickte stirnrunzelnd vor sich hin.
»Aber was?«
»Na ja, vielleicht ist er es ja doch. Einmal hat er sogar einen anderen Heimbewohner angegriffen. Der arme Kerl hatte in der Nacht zuvor einen heftigen Herzanfall gehabt. Das war vielleicht ein Theater! Eddie hat sich auf einmal auf Sam gestürzt und ihn mit einem Zungenspachtel attackiert. Er wollte ihm den ins Auge stoßen. Zwei Pfleger und Mrs. Tabor schafften es kaum ihn zu bändigen.«
»Wahnsinn«, sagte ich. »Und das haben Sie alles mit angesehen?«
»Ja. War ziemlich unheimlich.«
»Und wie geht es diesem Sam?«, wollte Laura wissen.
»Sehr gut«, erklärte sie. »Es ist eigentlich kaum zu glauben. Zwei Tage nach seinem Herzanfall setzte er uns plötzlich davon in Kenntnis, dass er sich in Sun City ein Appartement nehmen würde.«
Ich schnitt eine Grimasse. Vielleicht irrte ich mich ja, aber ich vermutete, dass Sam der alte Kerl war, der durch mein Fenster geflogen kam und inzwischen auf der Müllhalde seine letzte Ruhe gefunden hatte. »Sam ist also einfach so gegangen?«, fragte ich. »Und das stellte kein Problem für Sie dar?«
»Nein, ganz und gar nicht«, antwortete die Schwester. »Die Heimbewohner sind schließlich alle freiwillig hier. Keiner wurde hier eingeliefert oder so. Für die meisten gibt es einfach keinen anderen Ort, wo sie hin könnten. Oder ihre Familien können sich nicht mehr um sie kümmern. Einige von ihnen sind Pflegefälle. Zum Beispiel Eddie. Stellen Sie sich nur vor, wenn Sie ihn mit nach Hause nehmen würden, und er würde sich dort auf einmal einbilden, dass Sie ein Dämon oder sonst was sind?«
Sie sah mich eindringlich an. »Sie gehören doch zur Familie, oder nicht?«
»Doch, natürlich«, erwiderte ich.
»Es ist schwer, mitansehen zu müssen, wie sich der Zustand eines Familienmitgliedes derart verschlechtert«, sagte sie. »Ich kann das wirklich nachvollziehen.« Sie schüttelte den Kopf. »Dämonen«, meinte sie verächtlich. »Wie kommt er nur auf solche Ideen.«

Ich lieferte Laura zu Hause ab und fuhr dann zur Kathedrale. Auf dem Weg zurück nach San Diablo hatten wir beide geschwiegen. Wie ich dachte auch sie wahrscheinlich an Eddie, der in diesem Altenheim gefangen saß und darauf achtgab, dass sich keine Dämonen in seinen Rice Crispies befanden.

Die Sache war die: Ich glaubte ihm. (Na ja, natürlich nicht, was die Rice Crispies betrifft.) Vor allem nach der Geschichte mit Sam wäre ich dumm gewesen, es nicht zu tun. Aber was konnte ich tun? Was die alten Leute im Heim und ihre Besessenheit betraf, mussten wir uns wahrlich nicht allzu große Sorgen im Hinblick auf das Schicksal der Welt machen. Keiner von ihnen schien sich besonders für die Anwesenheit einer Jägerin in ihrer Nähe zu interessieren. Sie wirkten vielmehr so, als ob sie sich nur noch für ihr Skatspiel und Jerry Springer erwärmten. Persönlich wäre es sicher nicht meine erste Wahl gewesen, auf diese Weise die Zeit totzuschlagen, aber als dämonisch konnte man es wirklich nicht unbedingt bezeichnen.

Ich war noch immer tief in Gedanken an Eddie versunken, als ich das schwere Holztor der Kathedrale aufstieß. Im Inneren hatte ich eigentlich Stille erwartet, doch zu meiner Überraschung hörte ich ein knarzendes Geräusch. Ich lauschte. Es klang wie eine Tür, die an rostigen Scharnieren hängt. Niemand war zu sehen, aber ich vermutete, dass Father Ben gerade aus der Sakristei kam. Ich beeilte mich, um ihn zu erwischen, da ich mit ihm über die Möglichkeit sprechen wollte, wie ich meine Suche optimieren konnte. (Alles war besser, als in dieses Kellergewölbe zurück zu müssen!) Doch als die Person, deren Schritte ich inzwischen ebenfalls hören konnte, den Altarraum betrat, blieb ich abrupt stehen. Es handelte sich nicht um Father Ben. Es war Stuart.

Ich erstarrte. Sogleich meldete sich mein schlechtes Gewissen zu Wort. Wahrscheinlich suchte er mich. Und wenn er mich ohne Timmy fand … Nun, dann musste ich ihm entweder die Wahrheit erzählen oder mir rasch eine verdammt plausible Geschichte ausdenken.

Da ich weder das eine noch das andere tun wollte, machte ich einen kurzen Kniefall und senkte den Kopf, während ich mich bekreuzigte. Dann trat ich in eine Kirchenbank, klappte die Kniebank herunter, kniete mich hin und verbarg mein Gesicht in meinen Händen – das perfekte Bild einer frommen Frau, die ins Gebet versunken war. Mit etwas Glück würde er mich gar nicht bemerken.

Seine Schritte wurden lauter und klangen hastiger, als er die Stufen vom Altarraum herunterkam und durch das Kirchenschiff eilte. Bald hörte ich, wie die schwere Tür hinter ihm ins Schloss fiel.

Eine Weile rührte ich mich nicht von der Stelle, bis sich plötzlich eine Hand auf meine Schulter legte. Ich schrie entsetzt auf.

»Oh, Kate. Entschuldigen Sie vielmals!«

Ich sackte leicht in mich zusammen, und mein Herz schien wieder in seiner normalen Geschwindigkeit zu schlagen. Es war Father Ben. »Entschuldigen Sie bitte, Father. Sie haben mich zu

Tode erschreckt.«
»Ich muss mich entschuldigen. Ich wollte Ihnen eigentlich
nur sagen, dass wir heute und morgen früher schließen, damit
der Boden abgeschliffen werden kann. Ich dachte, dass Sie das
vielleicht wissen möchten, damit Sie sich Ihre Zeit im Archiv
besser einteilen können.«
»Oh, vielen Dank«, entgegnete ich. »Sehr freundlich von Ihnen.« Ich stand auf. »Ich habe vorhin Stuart hier von ferne
gesehen«, fügte ich so beiläufig wie möglich hinzu. »Hat er mich
gesucht?«
»Ich glaube nicht. Soweit ich weiß, verfolgt er sein eigenes
Projekt.«
»Oh.« Das war nicht die Antwort, die ich erwartet hatte, und
ich konnte mir auch nicht vorstellen, weshalb sich mein nicht
sonderlich religiös orientierter Ehemann für staubige alte
Kirchendokumente interessieren könnte. »Wissen Sie, womit er
sich beschäftigt?«
»Ich habe keine Ahnung. Er hat irgendetwas mit dem Bischof
vereinbart – das ist alles, was ich weiß.«
Ich blinzelte verwirrt. Das wurde ja immer spannender. Aber
das wollte ich dem Priester natürlich nicht direkt unter die Nase
reiben. »Na ja, kein Problem«, sagte ich. »Ich frage ihn einfach
heute Abend.« Wir befanden uns inzwischen vor der Tür zur
Sakristei, die ich nun öffnete.
»Da Sie durch die Bauarbeiten heute und morgen sicherlich
erheblich beeinträchtigen sei werden, wollte ich wissen, ob Sie
vielleicht am Freitagabend nach dem Kirchenbasar noch einmal
ins Archiv möchten.«
»Dem Kirchenbasar?«, wiederholte ich, denn ich hatte keine
Ahnung, wovon er sprach.
»Ich dachte, ich hätte Sie auf der Liste der Helferinnen gesehen.«
»Oh, natürlich. Klar.« Wie peinlich. Das hatte ich völlig vergessen. »Ja, ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie das Archiv
abends für mich offen lassen könnten.« Ich lächelte und hoffte,
so charmant und hilfreich wie nur möglich zu wirken, während
ich in Gedanken einen weiteren Punkt auf meine Liste setzte:
Herausfinden, wozu du dich verpflichtet hast.
Ich hielt den Priester noch einige Minuten länger fest, da ich
wissen wollte, ob sich die gestifteten Sachen im Keller bereits in
einer Art von Ordnung befanden. Leider war das nicht der Fall.
Was ich dort unten sah, war alles, was es gab. Das bedeutete,
dass ich im Grunde noch immer ganz am Anfang stand. Diesmal konnte ich allerdings wenigstens versuchen, einen örtlichen
Bezug herzustellen.
Im Keller setzte ich mich an einen der Tische und öffnete die
erste Kiste (und zwar ziemlich vorsichtig, falls es noch mehr
Ungeziefer gab). Also weiter mit diesem erfreulichen Projekt!
Eine Stunde später konnte ich leider nur mit Rückenschmerzen
und sonst gar nichts aufwarten. Okay, das stimmte nicht ganz.
Einige Dinge hatte ich herausgefunden. Zum Beispiel wusste ich
nun, dass Cecil Curtis der Vater von Clark Curtis war, was
bedeutete, dass ich Dokumente über die Familie von Stuarts
Chef entdeckt hatte. (Was meine Aufgabe zumindest etwas
interessanter machte. Ganz normale Neugierde, würde ich
sagen.) Wie ich am Tag zuvor erfahren hatte, war der alte Curtis
so großzügig gewesen, seinen ganzen Grund und Boden (und
wir sprechen hier von sehr, sehr viel Grund und Boden) sowie seine sonstigen weltlichen Güter der Kirche zu vermachen. Er hatte sogar ausdrücklich vermerkt, dass seine »Gattin und Nachkommenschaft« nichts, aber auch rein gar nichts, bekommen sollten – eine Tatsache, die Clark vermutlich verdammt gewurmt haben dürfte (von seiner Mutter und seinen Ge
schwistern einmal abgesehen).
Ich fand zudem heraus, dass Thomas Petrie ein Kirchenstipendium erhalten hatte und auf das St.-Thomas- AquinasCollege geschickt worden war. Später verfasste er Romane, in
denen ein Priester komplizierte Kriminalfälle löste. Nachdem er
immer wieder auf der Bestsellerliste der New York Times gestanden hatte, war auch er vom Großmut gepackt worden und
hatte der Kirche einige generöse Geschenke gemacht. Da die
Spenden kein Geld beinhalteten (einmal stiftete er zum Beispiel
eine alte Holzmadonna), vermutete ich, dass er Dinge hergab,
die er während seiner Recherchen für seine Romane angeschafft
hatte.
Ich überflog die anderen Wohltäter, doch mir stach kein weiterer ins Auge. Nur ein gewisser Mike Florence fiel mir auf, da
er wie die Stadt in Italien hieß; aber soweit das ersichtlich war,
hatte er nichts als eine kleine Golddose mit einem wunderschönen Kruzifix auf dem Deckel gestiftet. Ich fand auch den Beleg
dafür, und falls sich Goramesh nicht gerade auf der Suche nach
einer Dose befand, die in den fünfziger Jahren bei Macy’s erworben worden war, dann bezweifelte ich, dass ich mich auf der
richtigen Fährte befand (zugegebenermaßen hätte ich mich für
das Aussehen der Dose interessiert, aber sie befand sich offenbar ganz unten in der hintersten Kiste und somit an einem Ort,
den wir Archivare als »geografisch ungünstig« bezeichnen). Mit einem resignierten Seufzen schob ich die letzte Liste beiseite. Nun blieb mir entweder die Möglichkeit, jedes Dokument der Stifter einzeln durchzugehen oder mit den wesentlich cooleren Dingen in den Kisten zu beginnen. Da ich bezweifelte, dass ich irgendetwas erkennen würde, wenn ich es vor mir hatte, wäre es bestimmt das Beste gewesen, als Erstes die Korrespondenz zwischen Kirche und Wohltätern anzusehen. Doch mir blieb nur noch eine halbe Stunde Zeit, mir schmerzten die
Augen, und ich langweilte mich schrecklich.
Außerdem war ich mir sicher, dass wir nicht mehr viel Zeit
hatten. Es erschien mir also als das Geschickteste, wieder einmal
auf mein Bauchgefühl zu hören und mir die Gegenstände
anzusehen.
Ich zog die nächste Kiste an den Tisch heran, hievte sie aber
nicht hoch. Sie schien nämlich eine Tonne zu wiegen. Stattdessen ließ ich sie neben mir stehen und hob den Deckel. Ich
achtete darauf, dass ich mich in gebührender Entfernung befand, falls eine Schar von Minibiestern über mich herfallen
würde.
Nichts geschah. Ich warf einen ersten neugierigen Blick in
die Kiste. Zu meiner Enttäuschung musste ich feststellen, dass
sie voll abgegriffener, in Leder gebundener Bibeln war. Tausende von Seiten, auf denen sich überall eine wichtige Notiz für
mich befinden konnte! Jede Bibel begann mit unzähligen Eintragungen der jeweiligen Familiengeschichte, die meist in einer
schrecklichen Schrift hineingekritzelt worden waren und die ich
nun entziffern sollte.
Halleluja!
Ich holte die erste Bibel heraus, unterdrückte ein Niesen und wusste wieder einmal, warum ich niemals selbst ein derartiges Familienerbstück angelegt hatte. Solche Bücher wurden alt, brüchig oder begannen zu schimmeln. Und was sollte man dann mit ihnen anfangen? Falls man allerdings zur Familie Oliveiras gehörte, schien man sie der Kirche zu stiften, damit eine Idiotin wie ich später einmal das Vergnügen hatte, sie durchforsten zu können. Warum auch nicht? Schließlich konnte man so etwas wohl kaum auf den Müll werfen. Natürlich gibt es diesbezüglich kein Gesetz, aber eine Bibel auf diese Weise zu entsorgen würde wahrscheinlich nicht gerade gut bei dem da
oben ankommen.
Es gelang mir, den Stammbaum zu entziffern (nichts Interessantes). Dann blätterte ich langsam durch das Buch (weder eine
handschriftliche Bemerkung noch unterstrichene Verse waren
zu finden). Ich achtete besonders auf Johannes 11,17, auf den
Vers, in dem es um Lazarus geht. Doch nirgends fand ich eine
Notiz, ein eingeschobenes Blatt Papier oder auch Anzeichen
einer Nachricht in unsichtbarer Tinte. Ich begutachtete sogar
eingehend den Ledereinband und suchte nach Schatzkarten, die
im Buchrücken versteckt sein mochten. Nichts. Soweit ich das
sehen konnte, handelte es sich um eine ganz gewöhnliche
Familienbibel ohne weitere Geheimnisse.
Als ich das Buch beiseitelegte, war es bereits fast vier. Die Kathedrale wurde gleich geschlossen. Außerdem musste ich dringend Timmy abholen. Sobald ich in die reale Welt zurückkehrte, erinnerte ich mich natürlich auch wieder an die realen
Probleme, mit denen ich mich augenblicklich herumzuschlagen
hatte. Während ich mich im Keller der Kirche befunden hatte,
waren Eddie und Stuart vergessen gewesen. Doch jetzt rückten sie dafür umso aufdringlicher ins Zentrum meiner Aufmerk
samkeit.
Ich vermutete, dass Stuart einen guten Grund gehabt hatte,
hierherzukommen. Wenn ich nicht so getan hätte, als wäre ich
auf einmal die frommste Katholikin aller Zeiten, hätte er mich
wahrscheinlich bemerkt und alles erklärt. Da es dumm war, mir
Gedanken über etwas zu machen, wovon ich keine Ahnung
hatte, zwang ich mich dazu, für den Moment nicht weiter
darüber nachzudenken. Er würde mir sicherlich heute Abend
alles erzählen. Und falls er es nicht tat … Nun gut, dann musste
ich ihn eben fragen.
Was Eddie betraf, so sah die Sache schon schwieriger aus. Als
ich auf den Parkplatz vor Timmys Kindertagesstätte einbog,
wusste ich noch immer nicht, was ich mit dem alten Mann
anfangen sollte. Ich verstand nicht einmal so recht, warum ich
mir Gedanken darüber machte, überhaupt etwas mit ihm
anzufangen.
Momentan stellte Eddie nämlich das geringste meiner Probleme dar. Hinter diesen Türen befand sich ein Zweijähriger, der
hoffentlich nicht zu Tode erschrocken war, weil er sich zum
ersten Mal außerhalb der gewohnten elterlichen Obhut befunden hatte.
Ich parkte den Wagen und stieg aus. Erst da fiel mir auf, dass
mir der Magen knurrte. Ich hatte den ganzen Tag über das
Handy eingeschaltet gelassen, ohne einen panischen Anruf von
Nadine oder Miss Sally zu erhalten. So hegte ich zumindest die
Hoffnung, dass mein Kind in der Zwischenzeit in keinen
schrecklichen Unfall oder sonst etwas verwickelt worden war. In Grunde machte ich mir auch weniger Sorgen um einen Unfall als vielmehr um den Ausdruck, den ich als Erstes in seinen Augen sehen würde. Einen Ausdruck, der besagte: »Wo bist du gewesen, Mami? Warum hast du mich bei Fremden
zurückgelassen?«
Als Dämonenjägerin hätte ich eine gute Antwort parat gehabt. Als Mutter aber würde ich nicht wissen, was ich sagen
sollte.
»Es lief ganz toll«, erklärte Nadine, als ich an der Rezeption
vorbei zu dem Raum ging, in dem die Gruppe der kleinen
Forscher untergebracht war. Beinahe wäre ich stehen geblieben,
um sie einem Kreuzverhör zu unterziehen (Was heißt »toll
gelaufen«? Sagen Sie das nur, damit ich mich besser fühle? Wird
mir mein Sohn jemals vergeben, dass ich ihn hier bei Ihnen
gelassen habe?). Aber ich unterdrückte das Bedürfnis und
marschierte tapfer weiter.
Das Angenehme an KidSpace war die Tatsache, dass man
durch große Fensterscheiben in die Spielzimmer sehen konnte.
Für mich als Mutter war das ausgesprochen toll, und so nutzte
ich die Gelegenheit, meinen süßen Racker ein Weilchen zu
beobachten. Da saß er, der kleine Mann, und spielte mit einem
Plastiklaster auf dem Fußboden. Neben ihm hockte ein anderer
Junge, der einen Dinosaurier in einem Schubkarren hin und her
rollen ließ.
Timmy lächelte. Er war glücklich. Für mich bedeutete das ein
kleines Wunder. Ich hatte eine gute Entscheidung getroffen.
Mein Kleiner war nicht traumatisiert. Er brauchte keine Therapie. In zwanzig Jahren würde er nicht bei Oprah Winfrey im
Fernsehen auftreten und eine Hasstirade gegen mich loslassen.
Er schien vielmehr seine Zeit hier genossen zu haben. Das Leben war gut.
Ich öffnete die Tür und streckte meine Arme aus … um dann
voll Verzweiflung zu beobachten, wie Timmy bei meinem
Anblick sogleich in Tränen ausbrach.
»Mamimamimamimami!« Der Lastwagen war vergessen,
und er stürzte auf mich zu. Ich schloss ihn in die Arme, hob ihn
hoch und klopfte ihm beruhigend auf den Rücken. So viel zu
meinem Eigenlob, was meine elterlichen Entscheidungen betraf.
Ich hatte es hier ganz offensichtlich mit einem sehr gestressten
kleinen Junge zu tun.
»Er hat sich heute den ganzen Tag über wirklich wohlgefühlt«, erklärte Miss Sally, während ich über seine Schultern
strich und beruhigend auf ihn einredete. »Das ist absolut normal.«
Ich glaubte ihr (mehr oder weniger), aber das minderte nicht
mein schlechtes Gewissen. Ich hielt Timmy etwas von mir weg,
um sein Gesicht sehen zu können. »He, kleiner Mann. Bist du
bereit, nach Hause zu gehen?«
Er nickte, wobei er den Daumen nicht mehr aus dem Mund
nahm.
»Hat es dir heute Spaß gemacht?«
Ein weiteres widerstrebendes Nicken, aber zumindest fühlte
ich mich dadurch nicht mehr ganz so schlecht.
»Bevor Sie gehen, müssen Sie noch dieses Formular unterschreiben.« Sally hielt mir ein Schreibbrett unter die Nase. Ich
schob Timmy auf meine Hüfte und überflog das vorgedruckte
Formular. Oben stand in großen Buchstaben »Unfallbericht«
geschrieben.
»Was ist passiert? Ist er verletzt?« Ich sah Timmy an. »Bist du
verletzt?«
»Nein, Mami«, sagte er. »Nicht Cody beißen. Nein. Nicht
beißen.«
Meine Wangen glühten. »Er hat jemanden gebissen?« »Nicht sehr schlimm«, versicherte mir Sally. »Der Zahnabdruck ist bereits wieder verschwunden, und er und Cody haben
danach den ganzen Nachmittag zusammen gespielt.« »Er hat so fest zugebissen, dass es einen Abdruck gab?« Ich
merkte, dass ich lauter geworden war, aber es fiel mir schwer,
das zu akzeptieren. Mein Sohn gehörte zu den Beißern? Mein
kleiner Junge war ein Problemkind? »Aber Nadine hat doch
gesagt, dass es ganz toll lief.«
»Oh, das tat es auch. Wirklich. So ein Verhalten ist für Kinder, die neu hier sind, nichts Ungewöhnliches. Und es wird
auch kein Problem geben, wenn es nicht wieder passiert. Und
wenn sich Codys Eltern nicht beschweren.« Sie hob eine Hand,
um mich zu beruhigen. »Aber das werden sie nicht. Cody war
selbst auch einmal ein Beißer.«
Da war es. Die Schublade: Beißer. Ich hatte einen Beißer
großgezogen.
Nachdem Sally einige Minuten lang beruhigend auf mich
eingeredet hatte, begann ich allmählich zu glauben, dass der
Tag bisher doch keine völlige Katastrophe darstellte. Timmy
hatte nämlich nicht nur seinen neuen Spielkameraden gebissen,
sondern er hatte auch Freunde gewonnen, Lieder gesungen und
eine ganze Stunde mit Fingerfarben verbracht. Was konnte ein
kleines Kind mehr verlangen?
Schließlich gingen wir Hand in Hand zum Ausgang. Als wir
die Tür erreichten, hob er sein kleines Gesicht und sah mich aus seinen großen braunen Augen an. »Ich hab’ dich lieb, Mami«, sagte er. Ich schmolz dahin. Er mochte vielleicht ein Beißer sein, aber er war auch mein süßes Baby. »Nach Hause, Mami?
Gehen wir nach Hause?«
»Bald, junger Mann«, erklärte ich. »Aber vorher müssen wir
noch schnell etwas erledigen.« Ich hatte nicht bemerkt, dass ich
mich bereits entschieden hatte, ehe ich diese Worte aussprach.
Aber als ich Timmy so von ihm fremden Menschen umgeben
gesehen hatte, war ich auf einmal entschlossen: Ich konnte
Eddie nicht allein lassen. In seinem Zustand würde er vielleicht
die Geheimnisse der Forza verraten, und das durfte nicht geschehen.
Außerdem befürchtete ich, dass Eddie recht hatte. Es gab bestimmt Dämonen im Altenheim Coastal-Mists. Und jeder von
diesen düsteren Kreaturen wäre mehr als interessiert, genau zu
erfahren, was sich hinter der Forza verbarg und was in Eddies
Gedächtnis vergraben war. Es war ein Wissen, das Eddie oder
auch mich und meine Familie in Todesgefahr bringen konnte.
Außerdem beschützten Jäger ihre Kollegen. An diese Regel
hatte ich mich immer gehalten, und selbst jetzt, obwohl ich
mich aus dem aktiven Berufsleben zurückgezogen hatte, konnte
ich mein Pflichtgefühl nicht einfach ignorieren. Ich musste
diesem Mann helfen.
Also fuhren Timmy und ich zum Altenheim zurück, um
meinen Kollegen zu holen. Was ich mit ihm tun würde, wenn
ich ihn erst einmal von dort befreit hatte … Na ja, so genau
wusste ich das auch noch nicht.

FÜNFZEHN

»Wer ist er?« Obwohl Stuart flüsterte, schien seine Stimme in der ganzen Küche widerzuhallen. Ich bat ihn wild gestikulierend, still zu sein, und hoffte, dass Eddie ihn nicht gehört hatte.

Doch so viel Glück hatte ich nicht.
»Ich bin dein Großvater, Bursche«, rief Eddie laut aus dem Wohnzimmer. (Zumindest wussten wir nun, dass sein Gehör funktionierte.) »Und ein bisschen mehr Manieren, wenn ich bitten darf.«
Während mich Stuart aus großen Augen ansah, schloss ich die meinen und zählte bis zehn. Dann öffnete ich sie wieder und hoffte, dass mein Wunsch in Erfüllung gegangen war und unser Leben ruhig und wundervoll dahinplätscherte, meine Probleme gelöst waren und meine Familie (die echte und die vorgebliche) in harmonischem Frieden miteinander lebte.
Aber natürlich hatte ich wieder kein Glück.
»Kate.« Stuarts Stimme klang ruhig, wenn auch angespannt. Ich seufzte und wusste, dass ich ihm zumindest einen Teil der Wahrheit sagen musste.
»Er war in einem Altenheim«, erklärte ich. (Wahr.) »Und sie haben ihn da mit Medikamenten vollgepumpt.« (Auch wahr.) »Außerdem glaube ich, dass er Alzheimer hat.« (Halb wahr. Ich war mir nicht sicher, was Eddie fehlte. Ich wusste nur von der kurzen Zeit, die ich bisher mit ihm verbracht hatte, dass sich in seinem Kopf Wahrheit und Fiktion miteinander vermischten und entweder das eine oder das andere ohne Vorwarnung aus ihm herausgesprudelt kam.)
»Das tut mit leid«, sagte Stuart. »Aber warum sitzt er jetzt in unserem Wohnzimmer? Beide meine Großväter sind schon seit Jahren tot. Und der Mann, der gerade Kartoffelchips auf unseren Teppich bröselt, wirkt ziemlich lebendig auf mich. Bisher zumindest noch.«
»Stimmt«, sagte ich. »Das ist er auch nicht. Tot, meine ich.«
(Bedeutungsvolle Pause.)
»Kate …«
Ein weiteres Fuchteln von meiner Seite. Ich hätte das Ganze wirklich besser planen müssen. Als ich nach Coastal-Mists zurückkehrte, sollte Eddie gerade eine weitere Dosis Medikamente einnehmen. Er war mehr oder weniger klar im Kopf, und als ich erklärte, dass ich ihn mit mir nach Hause nehmen wollte, erwartete ich, von einer Lawine von Formularen und Dokumenten überrollt zu werden. Stattdessen ging das Ganze völlig problemlos über die Bühne, als ob für mich die Regeln, die normalerweise für Kranke, Heimbewohner und ihre Angehörigen zutrafen, außer Kraft gesetzt waren.
Ich half ihm packen (obwohl ich eigentlich eher damit beschäftigt war, seine Besitztümer aus den Fingern meines kleinen Sohnes zu retten). Dann machten wir uns auf den Weg zum Ausgang.
Unterwegs trafen wir Melinda. »Mr. Lohmann«, sagte sie verblüfft. »Sie verlassen uns?«
Er sah sie aus schmalen Augen an und wies dann mit seinem knochigen Finger auf mich. »Sie bringt dem Kleinen bei, wie man Dämonen jagt«, sagte er. »Da muss ich helfen.«
Ich verdrehte natürlich die Augen und fügte hinzu (weil ich eine Idiotin bin, aus keinem anderen Grund): »Er zieht jetzt zu uns.«
»Ihr Sohn wird sich freuen«, sagte Melinda daraufhin zu Eddie.
»Mein was?«
Melinda sah mich verwirrt an, was ich verstehen konnte, da ich zuvor ja des Langen und Breiten erklärt hatte, dass er mit meinem Mann verwandt sei. Im Nachhinein betrachtet, wäre es wahrscheinlich besser gewesen, das Ganze auf sich beruhen zu lassen, aber da Stuart einen Vater hat, der noch höchst lebendig und bei Sinnen ist, und ich nicht wusste, ob dieser, Desmond Connor, nicht zufälligerweise ein enger Freund des Altenheimleiters war, erklärte ich, dass Eddie der Großvater meines ersten Mannes wäre. So bestand also keinerlei Verbindung zu Stuart. »Natürlich möchte ich ihn zu mir nach Hause holen«, sagte ich. »Meine Tochter will ihren Urgroßvater kennenlernen, und ich könnte auch nicht mehr schlafen, wenn ich nicht alles in meiner Macht Stehende getan hätte, um mich um Erics Großvater zu kümmern.«
Melinda gab mir daraufhin zu verstehen, wie unglaublich reizend sie mich doch fand. Während ich bescheiden den Blick senkte und versuchte, so wenig wie möglich wie eine altruistische Märtyrerin auszusehen, ging Eddie in die Hocke, um mit Timmy zu sprechen. »Du kannst mich gern Opa nennen«, sagte er. Timmy streckte die Hand aus und riss an einer von Eddies Augenbrauen.
»Raupe«, sagte er. »Raupe Nimmersatt.«
Da ich nicht ganz auf den Kopf gefallen bin, war mir klar, dass wir uns nun am besten verdrücken sollten. Wir sammelten also Eddies Gepäckstücke zusammen, unterzeichneten die notwendigen Papiere und eilten zum Ausgang.
Zu meiner Erleichterung war Schwester Ratched nirgends zu sehen. Ich stellte mir vor, wie sie hinter uns her rennen und uns verbieten würde, das Grundstück zu verlassen; wie sich Horden von Dämonen auf uns stürzen, uns umbringen und unsere Leichen im Keller vergraben würden. Ich sagte mir, dass ich wirklich paranoid sei, aber im Grunde wusste ich, dass das nicht stimmte. Inzwischen hegte ich keinen Zweifel mehr daran, dass mein geriatrischer Dämon ein Bewohner des Altenheims gewesen war. Das wollte ich so schnell wie möglich Larson mitteilen, damit er es der Forza melden konnte. Das Ganze war nämlich nicht mein Problem. Mein Problem sah anders aus. Es zählte etwa fünfundachtzig Lenze, wog achtzig Kilo, hatte einen grauen Stoppelbart und Augenbrauen, die Timmy an Raupen erinnerten.
Ich schaffte es, beide meine Probleme in den Wagen zu laden. (Für diejenigen unter Ihnen, die auf dem Laufenden bleiben möchten, will ich noch einmal daran erinnern, dass Eddie Problem Nummer eins darstellte. Timmy als Kleinkind erweist sich automatisch als ein Problem in jeder Situation, in der man sich von Punkt A nach Punkt B bewegen will.)
Ich hatte die Geschichte, dass Eddie Erics Großvater war, nur erzählt, um unseren Abschied von Coastal-Mists einfacher zu gestalten. Es war mir, ehrlich gesagt, gar nicht in den Sinn gekommen, dass der alte Mann diese Erfindung tatsächlich für bare Münze nehmen könnte. Ich wusste auch nicht, ob er mir tatsächlich glaubte. Ich wusste nur, dass er es sich, sobald wir zu Hause eintrafen, gemütlich machte (wie sich zum Beispiel an der Tüte Kartoffelchips erkennen ließ), Timmy auf den Schoß nahm (der sofort erneut die Augenbrauen-Tiere unter die Lupe nahm) und Allie erklärte, dass sie ihrer Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten ähnelte. Und ob ich sie wohl gut trainieren würde.
Ich rechne es Allie hoch an, dass sie sich den Schock, den es für sie bedeuten musste, auf einmal einen alten Mann in unserem Wohnzimmer vorzufinden, nicht anmerken ließ. Damit sie seine Fragen nicht zu beantworten hatte, schickte ich sie mit der Aufgabe nach oben, noch vor dem Abendessen die Hausaufgaben zu machen. Eddie und ich mussten miteinander reden, so viel war klar.
Leider kehrte Stuart nach Hause zurück, ehe wir ins Gespräch kommen konnten. (Falls Sie sich fragen sollten, ob es eine gute Idee ist, dem Ehegatten Schwiegereltern reiferen Alters unerwartet vor die Nase zu setzen, lautet die Antwort ganz klar: Nein. Vor allem nicht, wenn Sie noch dazu den Vorschlag machen, alle auf unbestimmte Zeit zusammenzuleben. Solche Ankündigungen sorgen nicht gerade für einen entspannten Abend, so viel kann ich Ihnen verraten.)
Wie immer kam Stuart durch die Küche herein. Er hatte bereits seine Krawatte gelockert, und wie immer schien der Aktenkoffer schwer an ihm zu hängen. Ich konnte seinem Gesicht deutlich ansehen, dass er die Sachen einfach nur in seinem Arbeitszimmer abstellen und dann in Jeans und T-Shirt schlüpfen wollte. Leider ließ ich ihn nicht an mir vorbei.
Ich drängte ihn vielmehr in die Ecke neben dem Kühlschrank. Er warf mir einen »Später, Schatz«-Blick zu und schob mich sanft beiseite, um weiterzugehen. Ich zählte bis fünf, und tatsächlich kehrte er, sobald er um die Ecke gebogen war und Eddie mit Tim auf dem Sofa gesehen hatte, eilig zu mir in die Küche zurück. »Okay«, sagte er. »Wer ist das?«
Also begann ich, ihm die Geschichte von dem schon lange verschollenen Großvater meines früheren Mannes aufzutischen. Ich hatte nicht erwartet, dass Eddie erklären würde, Stuarts Großvater zu sein, und dass mir deshalb nichts andere übrig bleiben würde, als ihn sanft auf seinen Fehler hinzuweisen. »Nein, Opa. Eric ist dein Enkel. Weißt du noch? Stuart ist mein zweiter Mann.«
All das wäre nicht allzu schlimm gewesen, wenn nicht Allie das Ganze mit angehört hätte. »Papas Großvater?« Ihr aufgeregtes Flüstern traf mich mitten ins Mark. Ich hielt den Atem an. Als ich mich umdrehte, sah ich, wie sie sich vor ihn hinkniete und seine alte Hand in die ihre nahm. »Du bist Papas Großvater?«
Meine Augen füllten sich mit Tränen. Als ich Stuart einen Blick zuwarf, konnte ich auch in seinem Gesicht erkennen, wie sehr ihn diese Szene mitnahm. Seine Eltern sind immer hinreißend zu Allie gewesen, und ich weiß, dass sie die beiden sehr liebt; aber hier ging es um Blutsbande. Es ging um eine Verbindung zur Vergangenheit, von der sie bisher nichts gewusst hatte (vor allem natürlich deshalb, weil es sie in Wirklichkeit gar nicht gab). Ich musste ihr die Wahrheit sagen. Eric und ich waren beide Waisen gewesen. Wir wussten nicht, wer unsere Eltern waren, und noch weniger kannten wir unsere Großeltern. Doch als ich einen Schritt auf sie zuging, zögerte ich. Allies Augen leuchteten, ihre Wangen waren gerötet, und als Eddie ihr sagte, dass sie die Augen ihres Vaters geerbt hatte (er musste früher einmal ein rechter Charmeur gewesen sein), konnte ich förmlich sehen, wie sehr sie das freute.
Stimmt. Es war eine Lüge. Aber war das wirklich so schlimm? Allie sehnte sich nach einem Erbe, nach echten Familienbanden, und das war etwas, was ich ihr in puncto Eric nie geben konnte. Dennoch war es mir auf einmal gelungen. Ich hatte eine Familiengeschichte mit nach Hause gebracht. Und wenn es eine Illusion war? Na und.
Außerdem wusste ich ja nicht, ob Eddie nicht vielleicht tatsächlich Erics Großvater war. Es sind schon seltsamere Dinge passiert. Ich weiß das. Denn mir passieren sie am laufenden Band.

Nachdem Allie und Eddie sicher (wie ich hoffte) im Wohnzimmer untergebracht waren, hielt es Stuart für das Beste, seine Befragung fortzusetzen. »Also noch einmal«, sagte er. »Wie lange soll Opa unser Gast bleiben? Und warum kann er nicht in einem Hotel wohnen?«

»Eine komplizierte Geschichte«, erwiderte ich und fügte dann ein Psst hinzu. »Willst du, dass Allie dich hört?« So etwas nennt man Ablenkungsmanöver.

»Lenk nicht ab«, sagte er. (Als Anwalt fällt es Stuart nicht schwer, ein Ablenkungsmanöver als ein solches zu enttarnen. Ziemlich blöd für mich.)

Ich seufzte. »Ich habe versucht, dich anzurufen«, erklärte ich. »Kurz nach der Mittagspause. Deine Sekretärin meinte, dass du weggegangen wärst.« Die war der Zeitpunkt, an dem ich erwartete, von ihm eine Erklärung zu erhalten, warum er in der Kathedrale gewesen war.

»Hast du denn auch versucht, mich über Handy zu erreichen?«
»Äh … Nein«, antwortete ich. Das war nicht die Antwort, die ich von Stuart erhofft hatte, auch wenn sie mich daran erinnerte, dass für Allie ein neues Handy im Kofferraum des Wagens lag. Aber zuerst musste ich mich um Stuart kümmern und mir eine vernünftig klingende Erklärung einfallen lassen. »Mein Akku war leer.« Ich wusste, dass er mich verstehen würde. Ich mache mir nie die Mühe, mir Telefonnummern zu merken, sondern speichere sie einfach in meinem Handy Wenn das keinen Saft mehr hatte, gab es für mich keine Möglichkeit, Stuart oder auch jemand anderen anzurufen. Ich finde, mir ist es bereits hoch anzurechnen, dass ich mir jeden Tag die zahlreichen Termine meiner Kinder merke. Mir auch noch Telefonnummern einzuprägen wäre unnötig grausam und unsinnig gewesen.
»Ich ging spät zu Mittag«, sagte er. »Ich habe mich mit einigen Mitgliedern des Immobilien-Komitees getroffen, und ein paar davon schienen sich für meine politische Zukunft zu interessieren.«
»Ach, wirklich?«, erwiderte ich. Ich stellte mich auf die Zehenspitzen und küsste ihn auf die Wange. »Mein Liebling – immer am Ball.« Meine Stimme mochte fröhlich geklungen haben, aber dabei verkrampften sich mir die Eingeweide. Mein Mann hatte nicht nur nichts von seinem Besuch in der Kirche erzählt, sondern er hatte mich sogar offensichtlich bewusst angelogen.
Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte.
Aber ich wusste verdammt gut, dass mir das ganz und gar nicht gefiel.

Die nächsten zwei Stunden verbrachte ich damit, meine um ein weiteres Mitglied vergrößerte Familie zu bekochen und über meine eigene Scheinheiligkeit nachzudenken. Nachdem der Hackbraten verschwunden und die grünen Bohnen verschlungen (oder in Timmys Fall in kleine Stückchen zerteilt und methodisch auf dem ganzen Boden verteilt) worden waren, war ich zu der Schlussfolgerung gelangt, dass ich zu Schwindeleien durchaus berechtigt war, mein Mann aber garantiert nicht.

Diese Schlussfolgerung ließ mich natürlich noch frustrierter werden.
Stuart war mit keiner weiteren Information herausgerückt, und auch meine vorsichtigen Bemühungen, sie ihm zu entlocken (»Warum kommst du am Sonntag nicht mit zur Messe, Liebling? Du solltest wirklich jede Woche in die Kirche gehen«), hatten überhaupt nichts gebracht. Ich hätte ihn bestimmt einfach direkt fragen sollen. Aber irgendetwas in mir sträubte sich dagegen. Die Antwort hätte mir möglicherweise nicht gefallen.
Eddie aß nichts außer Kartoffelbrei, während Allie ihren Teller innerhalb weniger Minuten leer räumte, um dann den Rest der Mahlzeit auf ihren neu gefundenen Urgroßvater zu starren. Zwischendurch zwickte Eddie sie einmal freundlich in den Oberarm. Als Allie quietschte, grunzte der alte Mann zufrieden. »Die kann einem Dämon jederzeit ein paar verpassen. Darauf kannst du wetten. Sie hat Feuer im Hintern, die Kleine « Er schnalzte anerkennend mit der Zunge, wobei seine Augen irgendwo in die Ferne blickten. »Ich kannte mal jemanden, der auch Feuer im Hintern hatte. Erinnert mich irgendwie an unsere Allie. Lange braune Haare, tödliche Hände. Und Beine, die einen Mann zum –«
»Eddie.«
Er schnaubte belustigt, sprach aber nicht weiter. Allie sah jetzt natürlich sowohl zufrieden als auch ziemlich neugierig aus.
Toll.
»Dämonen?«, hakte Stuart nach. »Wovon sprechen Sie eigentlich?«
»Eddie war früher einmal Polizist«, erklärte ich. Das Lügen war mir schon fast zur zweiten Natur geworden. »Er und seine Freunde nannten die Verbrecher, die sie jagten, immer Dämonen.«
»Dämonen sind viel schlimmer als Verbrecher«, meinte Eddie. »Und du kannst mir glauben, dass ich einigen wirklich bösen über den Weg gelaufen bin.«
Ich öffnete den Mund, um ihn zu unterbrechen, aber Eddie redete einfach weiter.
»Widerwärtige Wesen. Und der Gestank! Mann, der kann einen wirklich umhauen …« Er machte eine Bewegung, als ob er den Geruch mit der Hand vertreiben wollte.
Stuart sah mich an und formte mit den Lippen die Frage Wie lange? (Nicht gerade feinfühlig.)
Ich ignorierte ihn ganz einfach und blickte auf Eddie. »Du bist nicht mehr in der Force, Opa«, sagte ich. »Und Allie schon gar nicht.«
Eddie starrte mich aus schmalen Augen an. Ein Klecks Kartoffelbrei klebte an seinem Mund. »Wer sind Sie? Wo bin ich? WO IST MEIN WEIHWASSER?«
Allies Augen weiteten sich, und ich lächelte ihr beruhigend zu. »Opa wird alt, Liebling. Manchmal ist er ein bisschen verwirrt.«
»Also ein Polizist?«, sagte Stuart, der sich jetzt offenbar darum bemühte, die Stimmung etwas aufzulockern.
Allies Augen wanderten von Eddie zu mir und wieder zu ihm zurück. Auf ihrem Gesicht war deutlich eine Beunruhigung zu erkennen. »Ich könnte später mal Cop werden«, meinte sie ein wenig unsicher. »Das ist schon cool. Morgen will mir Cutter auch zeigen, wie ich einen Typen über die Schulter werfen kann.« Sie gewann allmählich wieder die Fassung zurück und wirkte weniger verängstigt. »Stimmt doch, Mami, oder?«
»Klar«, erwiderte ich. Um Eddie nicht wieder auf das Thema Dämonen zu bringen, fügte ich noch erklärend »Selbstverteidigungskurs« hinzu.
Eddie streckte die Hand aus und klopfte Allie beruhigend auf den Arm. »Du wirst sie alle zur Strecke bringen, kleines Mädchen.« Als er sie angrinste, zuckte ich zusammen. Wenn es nach mir ging, würde Allie überhaupt niemanden zur Strecke bringen, und auch sie würde von niemandem zur Strecke gebracht werden.
Aber Eddies Bemerkung hatte trotzdem ins Schwarze getroffen. Ich konnte sehen, dass Allie nun wieder ganz entspannt war. Sie rückte sogar ihren Stuhl ein wenig näher zu ihm heran. »Hast du schon mal jemanden über die Schulter geworfen, Opa?«
Er winkte ab (leider hielt er gerade eine Gabel mit Kartoffelbrei in der Hand). »Schon oft«, sagte er. »Fast täglich.«
Beinahe wollte ich auch diese Unterhaltung zu einem abrupten Ende bringen, doch dann hielt ich sie für harmlos genug. Ich konzentrierte mich also stattdessen darauf, Timmy zu füttern, und hörte nur noch mit halbem Ohr Eddie und Allie zu, die sich wirklich erstaunlich schnell anzufreunden schienen. Sie waren in ihrer eigenen kleinen Welt versunken, und Stuart, Timmy und ich schienen ganz vergessen. Eddie gab Allie alle möglichen Tipps, wie man widerliche Typen am besten über die Schulter schleudern konnte.
Stuart warf mir einen Du-hast-uns-das-eingebrocktBlick zu, aber ich lächelte und tat so, als wäre das alles das Normalste der Welt.
Nach dem Essen sah Eddie seiner vermeintlichen Urenkelin zu, wie sie den Tisch abräumte, und Stuart führte mich am Ellenbogen in sein Arbeitszimmer.
»Du hast mir noch immer nicht geantwortet. Warum?«, fragte er. »Und wie lange?«
Die Wahrheit konnte ich ihm schlecht erzählen – à la Ich glaube, er weiß etwas über Goramesh, und ich kann nicht riskieren, dass ihn deshalb Dämonen umbringen –, weshalb ich ihm eine weitere Lüge auftischte. »Weil ich musste. Sie haben ihn in dem Altenheim die ganze Zeit mit Medikamenten vollgepumpt. Ich konnte ihn doch nicht einfach zurücklassen.« Was die Frage nach dem ›Wie lange‹ betraf, so hatte ich darauf auch keine Antwort.
Stuart sah mich eine Weile aufmerksam an und nahm dann mein Gesicht in seine Hände. Sanft hob er es an, bis ich ihm in die Augen blickte. »Das bedeutet dir wirklich sehr viel, nicht wahr?«
Ich nickte und musste dabei etwas blinzeln, da ich auf einmal Tränen in den Augen hatte.
»Also gut. Dann werden wir versuchen, ein besseres Heim für ihn zu finden. Und bis dahin kann er hierbleiben.« Er drehte sich ein wenig von mir ab und warf einen Blick in Richtung Küche, ich wusste, dass er an Allie dachte, was mir das Herz schmelzen ließ. Stuart mochte mir zwar nicht erzählt haben, dass er in der Kathedrale gewesen war, aber dass er seine Familie liebte, war sicher.
»Danke«, flüsterte ich.
»Du musst mir nicht danken«, sagte er. »Wir sind ein Team. Ich vertraue deinen Entscheidungen. Ich wünschte nur, dass ich davon gewusst hätte, ehe ich nach Hause kam und ihn auf unserer Couch vorfand.«
»Verstehe«, erwiderte ich. »Klar, tut mir leid.« (Zu diesem Zeitpunkt hätten Sie vielleicht erwartet, dass ich ihm von Timmy und dem Kindergarten erzählen würde. Wegen dieses ganzen Wir-sind-ein-TeamGeredes und so. Aber tat ich das? Nein, ich tat es nicht. Die Tatsache, dass ich seinen Sohn in einer Kindertagesstätte untergebracht hatte, würde eine viel heftigere Reaktion auslösen als das Auftauchen eines alten Dämonenjägers in unserem Haus. Und ich muss zugeben, dass ich mich dem noch nicht stellen wollte. Noch nicht. Wenigstens fasste ich den Entschluss, es ihm am nächsten Tag zu gestehen. Oder spätestens am übernächsten. Und vielleicht würde das Goramesh-Problem bis dahin ja bereits gelöst sein, und KidSpace und wir würden wieder getrennter Wege gehen. Dieser Illusion durfte ich mich doch hingeben, oder?)
Wir kehrten in die Küche zurück, wobei ich es eiliger hatte als Stuart. (Ich befürchtete eigentlich nicht, dass Eddie allzu viel verraten würde. Selbst wenn er etwas sagte, würde ihm Allie sowieso nicht glauben. Aber trotzdem wollte ich für den Fall der Fälle in der Nähe sein.) Stuart öffnete die Tür zur Küche und grinste mich an.
»Ich bin froh, dass Allie in diesen Selbstverteidigungskurs geht«, sagte er. »Ich finde es irgendwie beruhigend, dass sie sich dann gegen Dämonen schützen kann.«
Ich erstarrte und blickte ihn mit offenem Mund an.
Stuart zwinkerte mir zu und schüttelte dann belustigt den Kopf. »Dämonen«, murmelte er. »Eines muss man dem Typen lassen: er hat wirklich eine tolle Fantasie.«

»Dann hat er also zugestimmt, dass Eddie bleiben kann?«, fragte Laura. Sie stand gegen das Waschbecken im Badezimmer gelehnt, während ich auf der geschlossenen Toilette saß und meine Finger tief im Shampooschaum auf Timmys Kopf vergraben waren.

»Blasen, Mami, mehr Blasen.«
»Warte eine Sekunde, Junge«, sagte ich zu Timmy. An Laura gewandt, meinte ich: »Ja, er hatte nichts dagegen. Zumindest nicht für den Moment.«
»Und was ist mit dem Kindergarten? Hat ihn das auch nicht gestört?«
Ich konzentrierte mich darauf, aus Timmys eingeschäumten Haaren eine Mohikanerfrisur zu formen. Laura, die nicht auf den Kopf gefallen war, lehnte sich zurück und stieß einen leisen Pfiff aus. »Du lebst gefährlich.«
Ich warf ihr einen raschen Blick zu. »In mehr als einer Hinsicht – ich weiß.«
»Das kann man wohl sagen. Irgendwelche Dämonen in letzter Zeit erwischt?«
»Irgendwie hat mich Schwester Ratched ja etwas stutzig werden lassen … Aber wenn du damit meinst, ob in letzter Zeit wieder Dämonen durchs Fenster geflogen kamen, dann kann ich deine Frage zum Glück verneinen.«
»Was willst du jetzt eigentlich tun? Wieder so richtig in deinen Beruf zurückkehren und unter den Dämonen gehörig aufräumen?«
Ich schüttelte den Kopf, ohne meine Aufmerksamkeit von Timmy abzuwenden, der gerade das Lied »Alle meine Entchen« in höchster Lautstärke von sich gab. »Nein«, sagte ich. »Ich habe mich nur aus einem einzigen Grund wieder darauf eingelassen. Ich werde alles tun, was in meiner Macht steht, um Goramesh aufzuhalten, und ich will Larson meine Erkenntnisse mitteilen, damit er sie weiterleiten kann. Aber danach lasse ich das Dämonen-Geschäft wieder hinter mir.« Ich nahm einen Waschlappen und seifte meinen Jungen damit ein. »Sie werden einen anderen Jäger finden müssen«, fuhr ich fort. »Es wird ihnen nichts anderes übrig bleiben. Das hier ist jetzt mein Leben, und das will ich nicht aufgeben.«
Laura drehte sich um und begann nachdenklich die Gegenstände auf der Ablage über dem Waschbecken zu ordnen. »Verstehe. Hast du heute eigentlich etwas im Archiv entdecken können?«
Ich fasste kurz zusammen, worauf ich gestoßen war. »Nicht gerade viel, womit sich arbeiten lässt, was?«
»Nicht in puncto Dämonen, aber was Klatsch betrifft, bist du ja ziemlich erfolgreich gewesen.«
Inzwischen war ich dabei, Timmy abzutrocknen. Dann hob ich ihn hoch und trug ihn in sein Zimmer. »Du meinst Clark Curtis?« Laura war mir gefolgt. Ich setzte den kleinen Burschen auf den Wickeltisch und beugte mich hinunter, um eine Windel aus der untersten Schublade herauszuholen.
»Genau. Wahnsinn, oder? Vor einiger Zeit machte das Gerücht die Runde, dass er seinen Posten aufgeben und für den Senat kandidieren wollte. Aber das hat er nie gemacht, sondern ist in die Lokalpolitik eingestiegen.«
Ich zuckte mit den Achseln. »Und was ist daran Wahnsinn?« Ich hatte eigentlich etwas Saftigeres erwartet. Klatsch braucht meiner Meinung nach ein wenig mehr Substanz.
»Was Wahnsinn daran ist? Na ja, sein Vater hat oft verkündet, dass Clark einmal sein ganzes Vermögen erben würde, und dann hinterlässt er alles der Kirche. Das klingt doch geradezu nach Seifenoper!«
»Stimmt«, musste ich zugeben. Ich hatte mir etwas Ähnliches auch schon überlegt. »Aber er scheint inzwischen ganz zufrieden zu sein«, fügte ich hinzu. Schließlich war er ja trotz allem in die Politik eingestiegen und schien in diesem Bereich auch erfolgreich zu sein.
»Hm.« Laura lehnte sich neben mir gegen den Wickeltisch, und ich konzentrierte mich auf den Popo meines Kleinen. Im Haus war es still. Stuart befand sich in seinem Arbeitszimmer, und Allie und Mindy saßen am Küchentisch und machten Allies Hausaufgaben. Um meine Familie an sich machte ich mir gerade keine Sorgen. Aber ich wusste nicht, wie ich die Dinge, die ich morgen zu erledigen hatte, mit einem Fünfundachtzigjährigen im Schlepptau auf die Reihe bringen sollte.
»Laura«, sagte ich bittend.
»Oje«, erwiderte sie. »Was gibt es denn jetzt schon wieder?«
»Du hast dich doch einverstanden erklärt, zwei Tage lang auf Timmy aufzupassen. Und heute habe ich ihn doch bereits ins KidSpace gebracht, um ihn dir abzunehmen.«
Sie verschränkte die Arme und zog eine Augenbraue hoch. »Und?«
»Na ja. Ich habe mich gefragt, ob ich diesen zweiten Tag vielleicht noch in Anspruch nehmen könnte.«
»Vermutlich sprechen wir diesmal nicht von einem Zweijährigen, oder?«
»Nein, eher von einem, der vierzigmal älter ist«, entgegnete ich.
»Eddie.«
»Genau – Eddie«, bestätigte ich und versuchte, Timmys strampelnde Füße in eine Schlafanzughose zu bekommen. »Ich kann ihn unmöglich allein hierlassen.«
Laura half mir und ließ ein Spielzeug über Timmys Kopf hin und her kreisen. Er hörte mit dem Strampeln auf und fasste interessiert danach. »Also – was soll ich machen?«
»Du wolltest doch morgen einen Großteil des Tages im Internet verbringen. Kannst du das auch von hier aus tun? Mit meinem Laptop am Küchentisch?«
»Das könnte ich schon«, sagte sie. »Und was springt dabei für mich heraus?«
Ich zog Timmy ein Schlafanzugoberteil mit einem Bild von Bob dem Baumeister an, wobei ich es schaffte, ihm das Teil so schnell über den Kopf zu ziehen, dass ihm keine Zeit blieb, loszubrüllen. »Meine Liebe und Bewunderung«, erklärte ich Laura großspurig. »Plus lebenslang umsonst Nachtisch.«
»Verkauft«, entgegnete sie. »Aber wenn er mich wieder mit Weihwasser bespritzt, wirst du es bitter bereuen.«
Ich stellte Timmy auf den Boden und gab seinem kleinen Po einen Klaps. Er ging zur Treppe, da er wusste, dass es nun Zeit für seine Gute-Nacht-Geschichte auf der Couch war. Laura und ich folgten ihm. »Der arme Kerl. Da glaubt er, Weihwasser zu bekommen, und stattdessen haben ihm die Schwestern nur Leitungswasser gegeben.« Sie runzelte die Stirn. »Meinst du, dass sie den alten Mann einfach nur beruhigen wollten? Oder könnten sie auch Dämonen sein?«
Ihre Worte trafen mich wie ein Donnerschlag. Ich packte sie am Arm und zog sie in Timmys Zimmer zurück, während ich Allie zurief, dass sie sich um ihren Bruder kümmern sollte, bis ich da wäre.
In Timmys Zimmer zog ich die Tür hinter uns zu. Ich hatte das Gefühl, vor Aufregung platzen zu müssen. Lauras Gesicht zeigte eine ähnliche Spannung. »Was ist?«, wollte sie wissen. »Jetzt sag schon!«
»Die Krankenschwestern sind keine Dämonen«, antwortete ich. »Sie sind vielmehr Marionetten. Oder zumindest einige von ihnen.«
»Marionetten?«, wiederholte sie.
»Mehr oder weniger«, antwortete ich. »Allerdings eher weniger.«
»Kate – soll ich hier graue Haare bekommen oder was –«
»Entschuldige.« Ich strich mir eine Strähne aus dem Gesicht und begann, unruhig in Timmys Zimmer auf und ab zu gehen. »Das hätte mir schon früher klar sein müssen. Wir müssen nicht nur nach Gorameshs mysteriösem Gegenstand suchen. Wir müssen auch nach all denjenigen suchen, die probieren, ihn für ihn ausfindig zu machen.«
Laura blinzelte, was mir zeigte, dass ich etwas ausholen musste.
»Okay«, sagte ich. »Es geht um Folgendes: Dämonen benutzen Menschen. Sie können von uns Besitz ergreifen, kurz nachdem wir gestorben sind oder während wir noch leben. Sie ziehen also sozusagen neben uns in unseren Körper ein.«
»Klingt ja grauenvoll.«
»Ich weiß. Einen Dämon als Untermieter. Ganz prima.« Ich winkte ungeduldig ab, weil ich mich damit momentan nicht aufhalten wollte. »Aber darum geht es gar nicht. Es geht darum, dass Dämonen nicht immer von Menschen Besitz ergreifen. Manchmal heuern sie auch Menschen an, die für sie die Dreckarbeit erledigen sollen.«
»Warum?«, wollte meine Freundin wissen.
»Aus vielerlei Gründen. Manchmal benötigen sie zum Beispiel eine Reliquie aus einer Kirche, um sie in einem dämonischen Ritual zu verwenden.«
»Und dann schicken sie einen Menschen, um sie für sie zu stehlen?«
»Genau«, sagte ich. »Und ich wette mit dir, dass die Angestellten im Schwesternheim menschlich sind – zumindest die meisten. Wahrscheinlich wissen sie gar nicht, dass etwas Seltsames passiert. Aber die anderen –«
»Wie Schwester Ratched.«
Ich nickte. »Genau. Die anderen sind dämonische Gefolgsleute.«
Laura sah mich entsetzt an. »Wieso?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Wer weiß? Vielleicht hat sie die Macht verführt? Oder das Versprechen der Unsterblichkeit? Dämonen sind gute Lügner. Sie könnten sie mit allem Möglichen geködert haben. Jedenfalls arbeiten sie für die Dämonen. Sie erledigen Dinge für sie, die diese Monster nicht selbst machen können.«
»Aber …«
Ich sah in ihrem Gesicht, dass sie auf einmal begriff, was ich zu erklären versuchte.
»Oh! Du meinst also, dass Goramesh jemanden haben muss, der für ihn in die Kathedrale geht und das holt, wonach wir suchen.«
»Ganz genau.«
»Hast du schon eine Idee, wer das sein könnte?«
»Nein.« Ich runzelte die Stirn. »Na ja. Jedenfalls keine offizielle.«
»Eine inoffizielle würde mir auch reichen«, entgegnete sie.
Auch mir hätte das fürs Erste gereicht. Da ich keine konkreten Anhaltspunkte besaß, blieb mir nichts anderes übrig, als meiner Fantasie freien Lauf zu lassen. Ich holte also tief Luft. »Ich musste gerade an Clark denken. Wenn er tatsächlich erwartet hatte, das ganze Vermögen zu erben, sein Vater dann aber sein Geld der Kirche vermacht hat …«
Ich brach ab, da ich mir sicher war, dass Laura verstand, worauf ich hinauswollte.
Sie enttäuschte mich nicht. »Du weißt ja, was man über Politiker sagt: Für eine Stimme würden sie sogar ihre Seele verkaufen.« Sobald sie den Satz ausgesprochen hatte, zuckte sie zusammen und hielt sich eine Hand vor den Mund. »Oh, Mist, Kate. Ich wollte nicht –«
Ich schüttelte den Kopf. Der nach Harmonie verlangende Teil von mir wollte ihr auf die Schulter klopfen und beteuern, dass es schon in Ordnung sei. Aber ich tat es nicht. Stattdessen stand ich da, und ihre Bemerkung über Politiker hallte in meinen Ohren wider.
Stuart. Der Autounfall, den er überlebt hatte. Seine plötzliche Gewissheit, dass er die Wahl gewinnen würde. Und sein geheimnisvolles Auftauchen in der Kathedrale.
Mir lief es kalt den Rücken hinunter. Ich schloss die Augen. Das konnte nicht stimmen. Mein Mann konnte sich nicht auf einen Dämon eingelassen haben.
Oder vielleicht doch?