Das Land der
Masken
von
JACK VANCE
Das Hausboot entsprach vollkommen dem hohen Niveau der Handwerkskunst auf Sirene – das heißt, soweit ein terranisches Auge das abschätzen konnte.
Die Planken des dunkel polierten Holzes gingen fugenlos ineinander über. Befestigt waren sie mit flachgeschliffenen Senkkopfnieten aus Platin. Das Boot war breit und massiv, ohne jedoch im geringsten schwerfällig zu wirken. Es lief so ruhig, daß man das Gefühl hatte, am festen Ufer zu stehen.
Der Bug wölbte sich wie die Brust eines stolzen Schwans und ging mit großzügigem Schwung in den Vordersteven über, von dessen Ende eine Schmiedelaterne hing. Die Türen waren aus braun-grün gesprenkeltem Holz geschnitzt. Die vielfach unterteilten Fenster bestanden aus rosa, blaßgrün, blau und violett eingefärbten Glimmertafeln.
Im Bug waren die Räume für Sklaven und Geräte untergebracht. Zwei Schlafkabinen, ein Speisezimmer und ein Salon befanden sich im Mittelteil des Bootes, während sich über das Heck das Beobachtungsdeck zog.
So sah Edwer Thissells Hausboot aus, aber der Besitz bereitete ihm weder Vergnügen noch Stolz. Das Hausboot war schäbig geworden. Die Teppiche wirkten abgetreten, die geschnitzten Zwischenwände rauchig. Und die Buglaterne war rostzerfressen.
Vor siebzig Jahren hatte der erste Besitzer den Erbauer geehrt, indem er das Boot von ihm annahm, und er selbst war geehrt gewesen. Die Handlung (es steckte weit mehr darin als ein einfaches Geben und Nehmen) hatte das Ansehen beider Männer gehoben.
Diese Zeit war nun schon lange vorbei. Das Hausboot verschaffte seinem Besitzer keinerlei Ansehen mehr.
Edwer Thissell, erst seit einem Vierteljahr auf Sirene seßhaft, wußte es wohl, aber er konnte es nicht ändern. Dieses besondere Hausboot war das einzige, das er hatte auftreiben können.
Er saß auf dem rückwärtigen Deck und übte die Ganga, ein zitherähnliches Instrument, das nicht viel größer als seine Handfläche war. Hundert Meter weiter vorn zeigte ein Brandungsstreifen die Küste an. Dahinter sah man den Dschungel, abgegrenzt von der gezackten Silhouette der dunklen Hügel. Am Himmel stand weiß und glanzlos Mireille. Sie wirkte wie durch Hunderte von Spinnwebnetzen abgedämpft. Und sie ließ die Oberfläche der See in allen Perlmutterfarben aufschimmern.
Das Bild war ihm so vertraut, wenn auch nicht so langweilig wie die Ganga, geworden, auf der er jetzt seit zwei Stunden übte. Die Tonleitern auf und ab, diese Saite noch einmal, einfache Tonfolgen.
Jetzt legte er die Ganga weg und nahm statt dessen das Zachinko, ein kleines Tasteninstrument, das mit der rechten Hand gespielt wurde. Ein Druck auf die Tasten preßte Luft in ein Rohr, das sich innerhalb der Taste befand, und rief einen ziehharmonikaähnlichen Ton hervor. Thissell spielte etwa ein Dutzend Tonfolgen und machte nur wenige Fehler. Von den sechs Instrumenten, die er sich vorgenommen hatte, erwies sich das Zachinko als am wenigsten widerspenstig. Mit Ausnahme des Hymerkins selbstverständlich, dieses klappernden, schnarrenden Holzdings, das ausschließlich im Umgang mit Sklaven benutzt wurde.
Thissell übte weitere zehn Minuten, bis er das Zachinko zur Seite legte. Er streckte die Arme und massierte die schmerzenden Finger. Jeden wachen Augenblick seit seiner Ankunft hatte er diesen Instrumenten gewidmet – dem Hymerkin, der Ganga, dem Zachinko, dem Kiw, dem Strapan und dem Gomapard.
Er hatte Tonleitern mit vierundzwanzig Noten und vier Tonarten geübt, zahllose Akkorde, Intervalle, die auf den Heimatplaneten undenkbar waren.
Triller, Arpeggios, Bindungen, Nasalierung, das Dämpfen und Hervorheben von Oberschwingungen, Vibratos und langgezogene Töne, konvexe und konkave Töne.
Er übte mit verbissenem Eifer, und seine ursprüngliche Meinung, daß Musik eine Quelle der Freude sei, war schon längst umgestoßen worden. Als Thissell die Instrumente ansah, widerstand er der starken Versuchung, sie der Reihe nach in den Titanik zu werfen.
Er erhob sich, ging durch den Salon, das Speisezimmer, einen Gang entlang, vorbei an der Kombüse, bis er das Vorderdeck erreichte. Er beugte sich über das Geländer und sah hinab in die Unterwasserställe, wo Toby und Rex, seine beiden Sklaven, die Lastfische für die wöchentliche Reise nach Fan anspannten. Der jüngste Fisch, entweder aus einer Laune heraus oder aus Trotz, tauchte auf und kam an die Wasseroberfläche. Seine schlanke, schwarze Schnauze stieß durch die Wellen, und Thissell fühlte sich peinlich berührt: Der Fisch trug keine Maske.
Thissell lachte beunruhigt und tastete nach seiner eigenen Maske, die die Form eines Nachtschwärmers hatte. Kein Zweifel, er akklimatisierte sich allmählich. Er hatte die bedeutsame Stufe erreicht, auf der ihn das nackte Gesicht eines Fisches schockierte.
Schließlich waren die Fische angeschirrt. Toby und Rex kletterten an Bord. Ihre roten Körper glänzen von der Nässe. Sie trugen schwarze Gesichtsmasken. Sie ignorierten Thissell. Wortlos verstauten sie den Fischbehälter und lichteten den Anker. Die Lastfische legten sich ins Zeug, die Zügel spannten sich, und das Hausboot bewegte sich nach Norden.
Thissell kehrte aufs hintere Deck zurück und nahm den Strapan auf – ein runder Kasten von zwanzig Zentimeter Durchmesser. Achtundvierzig Saiten waren von der Mittelnabe zum Rand gespannt, wo sie entweder mit einem Glöckchen oder einem Klingelstab verbunden waren. Wenn man die Saiten zupfte, klingelten die Stäbe und Schellen. Wenn man sie strich, gab das Instrument näselnde, klimpernde Melodien von sich. Ein geschickter Spieler konnte mit diesem Instrument ausdrucksvolle Dissonanzen vorbringen. In einer ungeübten Hand hingegen war das Resultat weniger glücklich und hätte sogar Spektakel genannt werden können. Der Strapan war Thissells schwächstes Instrument. Konzentriert übte er während der ganzen Fahrt.
Nach einiger Zeit näherte sich das Hausboot der schwimmenden Stadt. Die Schleppfische wurden am Randstein angehalten, und das Hausboot wurde vertäut. Entlang der Docks spazierten Müßiggänger und prüften jedes ankommende Schiff mitsamt Sklaven und Besitzer, wie es hier auf Sirene Sitte war.
Thissell, der sich an dieses zudringliche Gaffen noch nicht recht gewöhnt hatte, fand diese Inspektionen beunruhigend, um so mehr, als die Masken so starr blieben. Verlegen rückte er seine eigene Nachtschwärmer-Maske zurecht und kletterte über die Leiter ans Festland.
Ein Sklave, der reglos am Dock gekauert hatte, erhob sich, berührte mit den Knöcheln das schwarze Tuch seiner Maske und sang einen Dreiton-Fragesatz:
»Der Nachtschwärmer vor mir stellt vielleicht die Persönlichkeit Sir Edwer Thissells dar?«
Thissell spielte das Hymerkin, das ihm vom Gürtel hing, und sang dazu: »Ich bin Sir Edwer Thissell.«
»Ich wurde mit einer vertraulichen Botschaft geehrt«, sang der Sklave. »Seit drei Tagen warte ich hier von der Morgen- bis zur Abenddämmerung. Drei Nächte lang habe ich mich auf einem Floß am Wasser aufgehalten und den Schritten der Nachtmänner gelauscht. Und nun endlich kommt die Maske Sir Edwer Thissells vor meinen Blick.«
Thissell verkniff sich gerade noch ein ungeduldiges Klappern auf dem Hymerkin. »Was ist der Wortlaut der vertraulichen Botschaft?«
»Ich habe einen Zettel, Sir Thissell, der für Sie bestimmt ist.«
Thissell streckte seine linke Hand aus, während die rechte das Hymerkin bearbeitete: »Gib mir die Botschaft.«
»Sofort, Sir Thissell.«
Die Nachricht trug die dickgedruckte Überschrift:
DRINGENDE MITTEILUNG! EILT!
Thissell riß den Umschlag auf. Die Nachricht kam von Castel Cromartin, dem Chef des Interwelten-Polizeipräsidiums. Nachdem Thissell die Begrüßungsfloskeln überflogen hatte, las er folgendes:
ABSOLUT DRINGEND! Die folgenden Orders müssen unverzüglich durchgeführt werden. An Bord der Carina Cruzeiro, Bestimmungsort Fan, Ankunftstag 10. Januar Universalzeit, befindet sich Haxo Angmark. Der Genannte ist einer der schlimmsten Verbrecher. Bei der Landung von hiesiger Polizei festnehmen lassen. Diese Anweisungen müssen unbedingt durchgeführt werden. Ein Fehlschlag kann nicht entschuldigt werden.
ACHTUNG! Haxo Angmark ist außerordentlich gewalttätig. Bei Anzeichen von Widerstand soll er sofort getötet werden.
Thissell betrachtete die Botschaft naserümpfend. Als er die Konsularvertretung auf Fan übernahm, hatte er nicht mit solchen Dingen gerechnet. Er fühlte weder die Neigung noch die Fähigkeit, mit gefährlichen Verbrechern umzugehen. Nachdenklich rieb er über die pelzige graue Backe seiner Maske. So aussichtslos war die Lage gar nicht. Esteban Rolver, der Direktor des Raumhafens, würde ihm ohne Zweifel helfen und ihm vielleicht eine Kompanie Sklaven zur Verfügung stellen.
Thissell las die Botschaft noch einmal durch. Zehnter Januar, Universalzeit. Er sah auf dem Umrechnungskalender nach. Heute war der Vierzigste des Bitteren Nektars. Thissell fuhr mit dem Finger die Spalte entlang. Da – zehnter Januar.
Ein entferntes Dröhnen erweckte seine Aufmerksamkeit. Aus dem Nebel tauchte schattenhaft das Beiboot, das die Leute der Carina Cruzeiro an Bord genommen hatte.
Thissell las noch einmal die Note durch, dann hob er den Kopf und sah dem Beiboot nach. Haxo Angmark würde an Bord sein. In fünf Minuten hatte er den Boden von Sirene betreten. Die Landeformalitäten hielten ihn vielleicht zwanzig Minuten auf. Die Landebahn lag anderthalb Meilen entfernt und war mit Fan durch einen langen, gewundenen Pfad verbunden, der durch die Hügel führte.
Thissell wandte sich an den Sklaven. »Wann kam diese Botschaft an?«
Der Sklave beugte sich verständnislos vor. Thissell wiederholte die Frage singend, wobei er auf dem Hymerkin klimperte. »Wie lange hattest du die Ehre, diese vertrauliche Botschaft mit dir zu tragen?«
Der Sklave sang: »Lange Tage wartete ich am Kai, und erst bei Einbruch der Dämmerung zog ich mich auf mein Floß zurück. Nun wurde meine Wache belohnt. Vor mir steht Sir Edwer Thissell.«
Thissell wandte sich ab und ging wütend über die Dockanlagen. Unfähiges, dummes Volk von Sirene! Warum hatten sie die Botschaft nicht zu seinem Hausboot bringen lassen? Noch fünfundzwanzig Minuten – nein, nur noch zweiundzwanzig …
Auf der Promenade blieb Thissell stehen und sah nach rechts und nach links, als hoffe er auf ein Wunder. Vielleicht eine Art Lufttransporter, der ihn im Nu zum Raumhafen bringen würde, wo er dann mit Rolvers Hilfe Haxo Angmark immer noch festnehmen konnte. Oder lieber noch eine zweite Botschaft, die den Inhalt der ersten für ungültig erklärte. Etwas, irgend etwas …
Aber Luftautos gab es auf Sirene nicht, und eine zweite Botschaft kam auch nicht.
An der Promenade erhob sich eine Reihe schmalbrüstiger Gebäude, aus festem Stein und Eisen zum Schutz gegen die Nachtmänner. In einem dieser Gebäude befand sich ein Mietsstall, und Thissell sah einen Mann mit herrlicher Silber- und Perlenmaske auf einem der eidechsenartigen Tiere davonreiten.
Thissell lief los. Es war immer noch Zeit. Mit etwas Glück konnte er Haxo Angmark abfangen. Er eilte über die Esplanade. Der Stallbesitzer überblickte mit Würde seine Tiere, polierte hier ein paar Schuppen und verjagte dort eine Fliege. Er hatte fünf erstklassige Tiere, jedes so groß, daß es Thissell bis zur Schulter reichte, mit starken Beinen, kräftigen Leibern und schweren keilförmigen Köpfen. Von ihren Fängen, die künstlich verlängert und zu Halbkreisen gebogen worden waren, hingen goldene Ringe. Ihre Schuppen waren rautenförmig eingefärbt: purpurrot und grün, orange und schwarz, rot und blau, braun und rosa, gelb und silbrig.
Thissell hielt atemlos vor dem Stallbesitzer. Er griff nach dem Kiw, doch dann zögerte er. Der Kiw, fünf Reihen Federmetallstreifen, die man verdrehte und so aufklingen ließ, war vielleicht nicht das Rechte. Konnte man diesen Handel als persönliche Unterredung auslegen? Das Zachinko vielleicht? Aber die Erklärung seiner Notlage schien kaum eine formelle Annäherung zu erfordern. Doch der Kiw. Er zupfte ihn, erwischte aber aus Versehen die Ganga.
Unter seiner Maske grinste Thissell entschuldigend. Seine Beziehung zu diesem Stallbesitzer war keineswegs intim. Er hoffte auf die heitere Gemütsart des Mannes, und außerdem hatte er jetzt wirklich keine Zeit, sich lange den Kopf nach dem richtigen Instrument zu zerbrechen. Er schlug eine zweite Saite an und sang, so gut es Aufregung, Atemlosigkeit und mangelhafte Geschicklichkeit zuließen:
»Sir Stallbesitzer, ich brauche dringend ein schnelles Reitpferd. Erlaubt mir, aus Eurer Herde eines zu wählen.«
Der Stallbesitzer trug eine reichlich komplizierte Maske, die Thissell nicht identifizieren konnte: ein Gebilde aus lackiertem braunem Tuch und gefälteltem grauem Leder, aus dem in Stirnhöhe zwei große rot-grüne Kugeln herausragten, die peinlich genau wie die Facettenaugen von Insekten unterteilt waren.
Er sah Thissell lange an. Dann wählte er herausfordernd sein Stimic und entlockte ihm eine perlende Folge von Trillern und Kanons.
Thissell begriff die Bedeutung des Spiels nicht. Das Stimic – drei flötenartige, mit Ventilbolzen versehene Rohre; Daumen und Zeigefinger an einem Blasebalg, der Luft in die Mundstücke preßte; zweiter, dritter und vierter Finger an den Zügen – dieses Stimic also war ein Instrument, das bei Gefühlen kühler Distanz oder sogar Mißachtung gespielt wurde.
Aber Thissell war sich nicht im klaren darüber, wie kühl die Absage war. Der Mann sang: »Sir Nachtschwärmer, ich fürchte, daß meine Pferde für einen Mann Ihres Ranges ungeeignet sind.«
Thissell zupfte ernst an der Ganga. »Keineswegs! Sie scheinen mir alle geeignet. Ich bin in großer Eile und nehme mit Freuden jedes von ihnen.«
Der Stallbesitzer spielte ein schäumendes, hartes Crescendo. »Sir Nachtschwärmer«, sang er, »die Pferde sind alle krank und schmutzig. Ich fühle mich geschmeichelt, daß Sie sie brauchbar finden, aber ich kann Ihr ehrenvolles Angebot nicht annehmen. Und –« Hier wechselte er auf sein Krodatch über, »– irgendwie erkenne ich den Kumpan und Zunftgenossen nicht, der sich mir so vertraut mit der Ganga nähert.«
Die Anspielungen waren eindeutig. Die Benutzung des Krodatch allein genügte. Es war ein schmaler, viereckiger Kasten, mit harzgetränkten Sehnen bespannt, die mit dem Fingernagel angerissen wurden und klare, formelle Töne von sich gaben. Das Krodatch war ein Instrument der Zurückweisung, ja sogar der Beleidigung. Thissell würde kein Pferd erhalten.
Er drehte sich um und lief auf den Raumhafen zu.
Der vorige Konsul der Heimatplaneten war auf Zundar getötet worden. Als Tavernenwirt verkleidet, hatte er sich einem Mädchen genähert, das die Maske der Tag- und Nachtgleiche trug, ein Frevel, für den er auf Ort und Stelle von einem Roten Demiurgen, einem Sonnenkobold und einer Magischen Hornisse geköpft worden war.
Edwer Thissel, erst seit kurzem graduiert, wurde zu seinem Nachfolger ernannt. Man ließ ihm drei Tage Zeit zur Vorbereitung.
Thissell, ein normalerweise beschaulicher, ja sogar vorsichtiger Charakter, hatte die Ernennung als Herausforderung betrachtet.
Er erlernte die Sprache von Sirene mit Hilfe subzerebraler Techniken und fand sie sehr einfach. Dann las er folgendes in einer Zeitschrift für Universale Anthropologie nach:
Die Bevölkerung des titanischen Küstengebiets ist im hohen Maße individualistisch, was wohl auf die äußerst reiche und großzügige Landschaft zurückzuführen ist, die die Menschen nicht zwingt, sich in Gruppen zu teilen und gemeinsam zu arbeiten. Die Sprache spiegelt diesen Charakterzug wider. Sie drückt die augenblicklichen Gefühle des Sprechenden aus, die er gegenüber einer bestimmten Situation empfindet. Das Ausdrücken von Tatsachen steht erst an zweiter Stelle.
Darüber hinaus werden die Worte gesungen und von einem für die jeweilige Stimmung charakteristischen Instrument begleitet.
Es ist daher ungeheuer schwierig, von einem Eingeborenen Fans oder Zundars, der verbotenen Stadt, Informationen zu erhalten. Man wird mit eleganten Arien abgespeist oder muß sich virtuose Stücke von einem der zahlreichen landesüblichen Instrumente anhören. Wenn sich ein Besucher dieser fesselnden Welt nicht in der Art der Eingeborenen ausdrücken kann, wird er mit der tiefsten Verachtung behandelt.
Thissell machte sich eine Notiz in sein Merkbuch: Kleine Musikinstrumente mit Spielanleitungen besorgen. Er las weiter.
Es gibt an allen Orten und zu jeder Zeit reichlich, um nicht zu sagen überreichlich, zu essen. Das Klima ist mild. Mit der der Rasse eigenen Energie und einem Übermaß an Freizeit beschäftigt sich die Bevölkerung in der Hauptsache damit, alles perfekt zu gestalten. Perfekte Handwerkskunst, wie zum Beispiel an den Schnitzereien sichtbar wird, die die Hausboote schmücken. Perfekter Symbolismus, wie er sich in den Masken ausdrückt, die jedermann trägt. Die perfekte halbmusikalische Sprache, die bewundernswert auch die kleinsten Gefühlsschwankungen ausdrückt. Und vor allem die phantastische Perfektion in den persönlichen Beziehungen. Prestige, Gesicht, Mana, guter Ruf, Ehre: Das Wort auf Sirene für all diese Begriffe ist strakh. Jeder hat ein ganz bestimmtes strakh, das entscheidend ist, ob er bei Bedarf ein reichgeschmücktes Hausboot erhält, einen schwimmenden Palast mit Edelsteinen, Alabasterlaternen und geschnitztem Holz, oder ob er nach langem Zögern eine verlassene Hütte auf einem Floß für sich in Anspruch nehmen darf. Geld gibt es auf Sirene nicht. Die einzige Währung ist strahk.
Thissell rieb sich über das Kinn und las weiter.
Die Masken werden immer getragen. Das steht im Einklang mit der Philosophie, daß der Mensch nicht gezwungen werden darf, Gesichtszüge zur Schau zu stellen, für die er nichts kann und die ein falsches Bild von ihm ergeben könnten. Nach Ansicht der Sirener sollte der Mensch die Freiheit haben, das Gesicht zu wählen, das seinem strakh am meisten entspricht. In den kultivierten Gebieten von Sirene, das heißt vor allem an den Küsten des Titanik, zeigt kein Mensch im wahrsten Sinn des Wortes je sein Gesicht. Es ist sein grundsätzliches Geheimnis.
Glücksspiele sind auf Sirene unbekannt. Es wäre nicht auszudenken, sich durch ein anderes Mittel als das strakh einen Vorteil zu verschaffen. Der Ausdruck ›Glück haben‹ ist auf Sirene nicht bekannt und kann durch nichts übersetzt werden.
Thissell machte sich noch einige Notizen: Maske besorgen. Museum? Oder Theatergilde?
Das Beiboot steuerte auf die Landefläche des sirenischen Raumhafens zu – eine topasfarbene Scheibe, die von den schwarzen, grünen und purpurnen Bergen scharf abstach. Das Beiboot landete, und Edwer Thissell stieg aus. Er wurde von Esteban Rolver abgeholt, dem Leiter des Raumverkehrs. Rolver warf seine Arme hoch und trat einen Schritt zurück. »Ihre Maske!« schrie er heiser. »Wo ist Ihre Maske?«
Thissell hielt sie ziemlich verlegen hoch. »Ich war mir nicht sicher …«
»Setzen Sie sie auf«, sagte Rolver und wandte sich ab. Er selbst trug eine Maske aus lackiertem blauem Holz mit stumpfgrünen Schuppen. Schwarze Federtuffs standen an den Wangen ab, und von seinem Kinn baumelte ein schwarz-weiß kariertes Pompon, was ihm insgesamt einen grimmigen Charakterzug verlieh.
Thissell legte die Maske an, unsicher, ob er einen Scherz über die Lage machen oder die seinem Posten angemessene Würde zeigen sollte.
»Sind Sie maskiert?« fragte Rolver über die Schulter hinweg.
Thissell bejahte, und Rolver drehte sich um. Die Maske verbarg seinen Gesichtsausdruck, aber seine Hand fuhr unwillkürlich zu dem kleinen Tastinstrument, das ihm am Gürtel hing. Das Ding brachte einen schockierten Triller und höfliche Konsternation hervor.
»Sie können diese Maske nicht tragen!« sang Rolver. »Eine Frage – woher haben Sie sie?«
»Es ist eine Kopie der Maske, die im Polypolis-Museum hing«, erwiderte Thissell steif. »Ich bin sicher, daß sie authentisch ist.«
Rolver nickte, und seine Maske zeigte einen grimmigeren Ausdruck als vorher. »Und wie authentisch sie ist! Sie ist eine Variante des Seedrachen-Eroberers, und sie wird von Leuten mit besonderem Prestige nur bei feierlichen Anlässen getragen. Von Prinzen, Helden, Handwerksmeistern oder großen Musikern.«
»Ich wußte nicht …«
Rolver winkte ab. Es war eine Geste des Verstehens. »Sie werden noch im Laufe der Zeit dahinterkommen. Sehen Sie meine Maske an. Heute trage ich einen Vogel-Tarn. Menschen von geringem Prestige – Ausländer wie Sie oder ich, zum Beispiel – tragen solche Masken.«
»Komisch«, meinte Thissell, als sie über den Platz auf das niedrige Betonhaus zugingen. »Ich war der Meinung, daß jeder die Maske trägt, die ihm am besten gefällt.«
»Gewiß«, meinte Rolver. »Versuchen Sie es. Nehmen wir meinen Vogel-Tarn zum Beispiel. Ich will damit sagen, daß ich nichts darstelle. Ich behaupte nicht, daß ich weise, tapfer, musikalisch oder sonst etwas bin, was hier auf Sirene als Tugend angesehen wird.«
»Was würde eigentlich geschehen, wenn ich mit dieser Maske durch die Straßen von Zundar ginge?« wollte Thissell wissen.
Rolver lachte gedämpft durch die Maske. »Wenn Sie über die Docks von Zundar schlendern – Straßen gibt es hier nämlich keine –, können Sie in spätestens einer Stunde tot sein. Egal, welche Maske Sie tragen. So ist es auch Benko, Ihrem Vorgänger, ergangen. Er wußte nicht, wie er sich zu benehmen hatte. Keiner von uns Ausländern weiß es. In Fan sind wir geduldet – solange wir möglichst unauffällig bleiben. Aber nicht einmal in Fan könnten Sie mit dieser Festtagsmaske herumstolzieren. Jemand mit einer Feuerschlangen- oder Donnergeistmaske würde auf Sie zukommen. Er würde sein Krodatch spielen, und wenn Sie seine Kühnheit nicht mit einer Passage auf dem Skaranyi beantworten könnten – ein teuflisches Instrument übrigens mit dudelsackähnlichem Klang –, dann würde er sein Hymerkin spielen, das Instrument für die Sklaven. Das ist der Ausdruck der tiefsten Verachtung. Oder er schlägt seinen Duelliergong und greift Sie auf der Stelle an.«
»Ich hatte keine Ahnung, daß die Leute hier so leicht in Zorn geraten«, sagte Thissell mit unterdrückter Stimme.
Rolver zuckte mit den Schultern und öffnete die massive Stahltür, die zu seinem Büro führte. »Auch auf der Promenade von Polypolis darf man sich nicht alles erlauben, ohne Kritik herauszufordern.«
»Ja, das stimmt«, meinte Thissell. Er sah sich im Büro um. »Warum all der Beton und Stahl?«
»Zum Schutz gegen die Wilden«, erklärte Rolver. »Sie kommen nachts aus den Bergen, stehlen alles, was nicht niet- und nagelfest ist, und töten jeden, der ihnen unter die Finger kommt.« Er ging zu einem Schrank und holte eine Maske heraus. »Hier. Tragen Sie diese Nachtschwärmer-Maske. Sie wird Sie nicht in Schwierigkeiten bringen.«
Thissell untersuchte die Maske ohne allzu große Begeisterung. Sie war aus mausfarbenem Pelz gearbeitet. An jeder Seite der Mundöffnung stand ein Büschel Haare ab, und an der Stirn saßen zwei federartige Fühler. Weiße Spitzenflügel waren an den Schläfen angesetzt, und unter den Augen sah man rotgefältelten Stoff, der eine zugleich finstere und komische Wirkung erzielte.
»Stellt diese Maske einen bestimmten Prestigegrad dar?« fragte Thissell.
»Keinen sehr hohen.«
»Schließlich bin ich Konsul«, meinte Thissell. »Ich repräsentiere die Heimatplaneten, hundert Milliarden Menschen …«
»Wenn die Heimatplaneten wünschen, daß ihr Vertreter eine Seedrachen-Maske trägt, sollen sie einen entsprechenden Mann schicken.«
»Ich verstehe«, meinte Thissell verlegen.
Rolver wandte höflich den Blick ab, während Thissell die Maske des Seedrachen-Eroberers ablegte und den bescheideneren Nachtschwärmer überstreifte. »Vielleicht kann ich in einem der Läden etwas Passenderes finden«, meinte Thissell. »Stimmt es, daß man nur hineinzugehen braucht und mitnehmen kann, was einem gefällt?«
Rolver sah Thissell abschätzend an. »Diese Maske ist – für den Augenblick wenigstens – vollkommen in Ordnung. Es ist sehr wichtig, daß Sie nichts aus den Läden nehmen, bis Sie nicht den strakh-Wert der ausgewählten Ware kennen. Der Besitzer verliert an Prestige, wenn jemand mit niedrigem strakh seine besten Waren mitnimmt.«
Thissell schüttelte verzweifelt den Kopf. »Das hat mir keiner vorher gesagt. Ich wußte natürlich von den Masken und den sorgfältigen Arbeiten der Handwerker, aber dieses Bestehen auf Prestige – strakh, oder wie das Wort heißt …«
»Macht nichts«, tröstete ihn Rolver. »Nach ein paar Jahren werden Sie sich schon zurechtfinden. Ich nehme an, daß Sie die Sprache sprechen.«
»Oh, ja. Natürlich.«
»Und welche Instrumente spielen Sie?«
»Hm – man sagte mir, daß irgendein kleines Instrument genügen könnte. Oder daß ich nur singen müßte.«
»Falsch. Nur Sklaven singen ohne Begleitmusik. Ich schlage Ihnen vor, daß Sie die folgenden Instrumente so schnell wie möglich lernen: das Hymerkin für die Sklaven, die Ganga zur Unterhaltung mit guten Freunden oder Fremden, deren strakh ein wenig unter dem Ihren liegt. Den Kiw für ein privates politisches Gespräch. Das Zachinko für formelle Verhandlungen. Das Strapan oder das Krodatch für die niederen gesellschaftlichen Schichten – in Ihrem Fall für Beleidigungen, denn eine tiefere gesellschaftliche Stufe als die Ihre gibt es nicht. Den Gomapard oder das Doppel-Kamanthil für Zeremonien …«
Der Gomapard war eines der wenigen elektrischen Instrumente, die auf Sirene benutzt wurden. Ein Oszillator brachte einen oboenähnlichen Ton hervor, moduliert, abgedämpft, vibrierend, laut und leise – je nach Kombination der vier Tasten.
Das Doppel-Kamanthil erinnerte an die Ganga. Nur wurden hier die Töne erzeugt, indem man eine in Harz getränkte Lederscheibe über eine oder mehrere der achtundvierzig Saiten strich. Rolver dachte einen Augenblick nach.
»Das Crebarin, die Wasserlaute und der Slobo wären auch ganz nützlich – aber vielleicht sollten Sie zuerst die anderen Instrumente lernen. Mit ihnen können Sie sich wenigstens auf primitive Weise verständigen.«
»Übertreiben Sie nicht ein wenig?« meinte Thissell. »Oder wollen Sie mich auf den Arm nehmen?«
Rolver lachte sein finsteres Lachen. »Aber nein – im Gegenteil. Außerdem werden Sie noch ein Hausboot und Sklaven brauchen.«
Rolver führte Thissell vom Raumhafen zu den Docks von Fan. Es war ein anderthalbstündiger Spaziergang unter riesigen Bäumen, die mit Früchten, Gemüseschoten und Beuteln voll Zuckersaft beladen waren.
»Im Augenblick«, berichtete Rolver, »gibt es nur vier Ausländer in Fan, Sie mitgerechnet. Ich bringe Sie zu Welibus, unserem Handelsagenten. Vielleicht hat er ein altes Hausboot, das er Ihnen zur Verfügung stellen kann.«
Cornely Welibus lebte seit fünfzehn Jahren auf Fan und hatte bereits so viel strakh erworben, daß er seine Südwind-Maske mit Würde tragen konnte. Es war eine blaue Scheibe mit Einlegarbeiten aus Lapislazuli, eingefaßt von einer schimmernden Schlangenhaut. Welibus war zugänglicher und herzlicher als Rolver und versorgte Thissell nicht nur mit einem Hausboot, sondern obendrein mit Musikinstrumenten und einem Sklavenpaar.
Verlegen durch diese Großzügigkeit, stammelte Thissell etwas von Bezahlung, aber Welibus schnitt ihm das Wort mit einer Handbewegung ab. »Wir sind auf Sirene, mein lieber Freund. Solche Kleinigkeiten kosten nichts.«
»Aber ein Hausboot …«
Welibus spielte einen höflichen, kleinen Wirbel auf dem Kiw. »Ich will offen sein, Sir Thissell. Das Boot ist alt und schon schäbig. Ich kann es mir nicht leisten, es zu benutzen. Mein Prestige würde darunter leiden.« Eine hübsche Melodie begleitete seine Worte. »Prestige ist etwas, worauf Sie im Augenblick noch nicht so achten müssen. Sie brauchen in erster Linie Schutz vor den Nachtmännern und Bequemlichkeit.«
»Nachtmänner?«
»Die Kannibalen, die die Docks bei Einbruch der Dunkelheit durchstreifen.« Ein zitternder kleiner Triller kam von seinem Kiw. »Jetzt die Sklaven.« Er berührte nachdenklich seine Maske. »Rex und Toby müßten die Richtigen sein.« Er spielte eine schnelle Tonfolge auf dem Hymerkin und erhob seine Stimme: »Avan esx trobu!«
Eine Sklavin, in rosa Tuchstreifen gewickelt und mit einer zierlichen schwarzen Maske, trat näher.
»Fascu etz Rex ae Toby.«
Toby und Rex erschienen. Sie trugen schwarze, lose Masken und ein rostbraunes Wams. Welibus empfing sie mit einem kräftigen Klappern des Hymerkins und teilte sie als Dienstboten Thissells ein. Er drohte, sie zu ihren Heimatinseln zurückzuschicken, wenn sie nicht gehorchten.
Sie warfen sich zu Boden und sangen mit ihren weichen, rauhen Stimmen, daß sie ihm dienen wollten. Thissell lachte nervös und versuchte einen Satz in der sirenischen Landessprache.
»Geht zum Hausboot, reinigt es und schafft einen Lebensmittelvorrat an Bord.«
Toby und Rex starrten ihn durch die Augenschlitze ihrer Masken verwirrt an. Welibus wiederholte die Befehle zur Begleitung des Hymerkins. Die Sklaven verneigten sich und gingen, ohne sich zu verabschieden.
Thissell warf einen bösen Blick auf die Musikinstrumente. »Ich habe nicht die leiseste Ahnung, wie ich das je lernen soll.«
Welibus wandte sich an Rolver. »Wie steht es mit Kershaul? Könnte man ihn dazu überreden, Sir Thissell die Grundbegriffe beizubringen?«
Rolver nickte bedächtig. »Kershaul könnte bereit sein.«
»Wer ist Kershaul?« fragte Thissell.
»Der dritte unserer kleinen Ausländergruppe«, erwiderte Welibus. »Ein Anthropologe. Haben Sie seine Bücher noch nie in die Hände bekommen? Das herrliche Zundar, Sitten und Gebräuche auf Sirene, Das Volk ohne Gesicht? Nein? Schade. Ausgezeichnete Sachen. Kershaul genießt ein hohes Ansehen, und ich glaube, daß er es sich sogar leisten kann, von Zeit zu Zeit nach Zundar zu gehen. Trägt die Maske einer Höhleneule, manchmal sogar die eines Sternenwanderers oder eines obersten Schiedsrichters.«
»Er hat sich jetzt auf die Äquatorschlange umgestellt«, berichtigte Rolver. »Die Variante mit dem goldenen Giftzahn.«
»Tatsächlich!« meinte Welibus bewundernd. »Nun, ich muß ehrlich zugeben, er hat sie verdient. Ein feiner Mensch, immer hilfsbereit.« Und er zupfte nachdenklich an seinem Zachinko.
Drei Monate vergingen. Nach den Anweisungen von Mathew Kershaul übte Thissell das Hymerkin, die Ganga, den Strapan, den Kiw, den Gomapard und das Zachinko. Die anderen könnten warten, hatte Kershaul gemeint, bis Thissell die sechs Grundinstrumente beherrschte. Er lieh Thissell Aufzeichnungen über bemerkenswerte Sirener, die sich in verschiedenen Gemütsstimmungen zu verschiedenen Begleitinstrumenten unterhielten, so daß er die im Augenblick modischen Melodien erlernte und die Nuancierungen der Intonation üben konnte – die verschiedenen Rhythmen, zusammengesetzt, überkreuzt, kanonartig. Kershaul vertrat die Ansicht, daß die Studien der sirenischen Musik ein überaus fesselndes Gebiet seien, und Thissell mußte zugeben, daß dieses Thema nicht allzu leicht erschöpft werden konnte.
Die Viertelschritt-Tonleiter der Instrumente erlaubte den Gebrauch von vierundzwanzig verschiedenen Klangcharakteren, die zusammen mit den gebräuchlichen fünf Tonarten hundertzwanzig verschiedene Skalen ergaben.
Da er außer seinen wöchentlichen Besuchen bei Mathew Kershaul nicht unmittelbar in Fan zu tun hatte, brachte Thissell sein Hausboot acht Meilen nach Süden, wo er es im Schutz eines kleinen Vorgebirges verankerte. Wenn er nicht unablässig hätte üben müssen, wäre das Leben hier draußen idyllisch gewesen. Die See war ruhig und kristallklar. Die Küste, umrahmt von dem grauen, grünen und purpurnen Laub des Waldes, lag in der Nähe seines Ankerplatzes. So konnte er sich die Beine vertreten, wenn ihm das Schiff zu klein wurde.
Toby und Rex belegten zwei Räume auf dem Vorderschiff. Die Kabinen des Hecks waren frei. Manchmal spielte Thissell mit dem Gedanken, noch einen Sklaven einzustellen, vielleicht sogar eine junge Frau, damit etwas Schwung in den eintönigen Haushalt kam. Aber Kershaul riet ihm ab, wohl weil er befürchtete, daß dadurch die Konzentration seines Schülers nachlassen würde. Thissell gab nach und widmete sich ganz seinen Instrumenten.
Die Tage vergingen schnell. Thissell wurde nie müde, das erhabene Schauspiel von Sonnenaufgang und -Untergang zu betrachten. Aber er liebte auch die weißen Wolken und die blaue Farbe des Meeres, den Nachthimmel mit den neunundzwanzig Sternen des Sternbilds SI 1-715. Die wöchentliche Reise nach Fan unterbrach das Einerlei. Toby und Rex besorgten Verpflegung, und Thissell besuchte das verschwenderisch ausgestattete Hausboot von Mathew Kershaul.
Dann, drei Monate nach Thissells Ankunft, kam diese Botschaft, die den regelmäßigen Lebensablauf völlig durcheinanderbrachte: Haxo Angmark, ein Mörder, Lockspitzel, ein rücksichtsloser, verschlagener Verbrecher, war nach Sirene gekommen. Bei Landung festnehmen lassen! hieß der Befehl.
Und: Achtung! Haxo Angmark ist außerordentlich gewalttätig. Er muß ohne Zögern getötet werden.
Thissell war nicht in bester Kondition. Er lief fünfzig Meter, bis er keine Luft mehr hatte. Dann verlegte er sich aufs Gehen. Vorbei an Hügeln, auf denen weißer Bambus und Baumfarne standen. Über Wiesen, die von Grasnüssen gelb waren. Durch Obstgärten und Weinberge.
Zwanzig Minuten vergingen, fünfundzwanzig Minuten. Thissells Magen krampfte sich zusammen. Er wußte, daß er zu spät kam. Haxo Angmark war gelandet und konnte ihm sogar auf diesem Weg entgegenkommen, ohne daß er es merkte.
Aber auf der ganzen Strecke traf Thissell nur vier Leute: einen Jungen in der grotesk-wilden Maske eines Alk-Inselbewohners, zwei junge Frauen als Rotvogel und Grünvogel und ein Mann, der als Waldgeist verkleidet war. Als der Mann herankam, blieb Thissell stehen. Konnte er Angmark sein?
Thissell versuchte es mit einer List. Er ging kühn auf den Mann zu und starrte auf die entsetzliche Maske.
»Angmark«, rief er in der Sprache der Heimatplaneten, »Sie sind verhaftet!«
Der Waldgeist starrte ihn verständnislos an und ging dann einfach weiter.
Thissell stellte sich ihm in den Weg. Er griff nach seiner Ganga, doch dann erinnerte er sich an die Reaktion des Stallbesitzers und schlug statt dessen eine Saite des Zachinkos an. »Sie kommen vom Raumhafen«, sang er. »Was haben Sie dort gesehen?«
Der Waldgeist nahm sein Horn, ein Instrument, mit dem man Gegner auf dem Schlachtfeld verspottete oder mit dem man Tiere herbeirief.
»Wohin ich reise und was ich sehe, geht außer mir niemanden etwas an. Tretet zurück, oder ich gehe durch Euch hindurch!«
Er ging weiter. Hätte Thissell sich nicht mit einem schnellen Sprung in Sicherheit gebracht, so hätte der Mann seine Drohung vielleicht wahr gemacht.
Thissell starrte ihm noch lange nach. Angmark? Unwahrscheinlich, da er das Horn so sicher beherrschte. Thissell zögerte, dann drehte er sich um und setzte seinen Weg fort.
Am Raumhafen angekommen, ging er direkt auf das Büro zu. Die schwere Tür stand weit offen. Als Thissell näher kam, erschien ein Mann im Eingang. Er trug eine Maske mit stumpfgrünen Schuppen, Glimmersplittern, blaulackiertem Holz und schwarzen Tuffs – der Vogel-Tarn.
»Sir Rolver«, rief Thissell ängstlich, »wer kam mit der Carina Cruzeiro?«
Rolver betrachtete Thissell lange und aufmerksam. »Weshalb fragen Sie?«
»Weshalb ich frage?« wiederholte Thissell. »Sie müssen das Raumtelegramm gesehen haben, das ich von Castel Cromartin erhielt.«
»Ach so!« meinte Rolver. »Natürlich, natürlich!«
»Ich erhielt es erst vor einer halben Stunde«, meinte Thissell bitter. »Ich rannte so schnell wie möglich hierher. Wo ist Angmark?«
»Vermutlich in Fan«, meinte Rolver.
Thissell fluchte vor sich hin. »Warum haben Sie ihn nicht festgehalten?«
Rolver zuckte mit den Schultern. »Ich hatte weder die Erlaubnis noch die Möglichkeit noch Lust dazu.«
Thissell kämpfte seinen Ärger nieder. Mit mühsam beherrschter Stimme sagte er: »Auf dem Weg hierher kam ich an einem Mann vorbei, der eine scheußliche Maske trug. Augen so groß wie Tassen und rote Kehllappen.«
»Ein Waldgeist«, sagte Rolver. »Angmark brachte diese Maske mit.«
»Aber er spielte das Horn«, protestierte Thissell. »Wie könnte Angmark …«
»Er kennt sich auf Sirene gut aus. Er hat fünf Jahre hier in Fan gelebt.«
Thissell fauchte wütend. »Cromartin hat das in seinem Schreiben nicht erwähnt.«
»Es ist allgemein bekannt«, meinte Rolver schulterzuckend. »Er war früher anstelle von Welibus Handelsagent der Heimatplaneten.«
»Kannte er Welibus?«
Rolver lachte kurz und trocken. »Natürlich. Aber verdächtigen Sie den armen Welibus nicht. Der würde in seinem Leben nichts anderes tun, als seine Bilanzen nachprüfen. Ich kann Ihnen versichern, daß er sich nicht mit Gaunern von Angmarks Sorte einließe.«
»Könnten Sie mir eine Waffe leihen?« fragte Thissell.
Rolver sah ihn verwundert an. »Sie kamen ohne Waffe hierher, um Angmark zu fangen?«
»Ich hatte keine andere Wahl«, erwiderte Thissell. »Wenn Cromartin einen Befehl gibt, dann erwartet er, daß er ausgeführt wird. Außerdem wußte ich, daß Sie mit Ihren Sklaven hier sind.«
»Zählen Sie nicht auf meine Hilfe«, erklärte Rolver unwirsch. »Ich trage den Vogel-Tarn und muß mich so unauffällig benehmen, wie es meiner Maske entspricht. Aber ich kann Ihnen eine Energiepistole leihen. Sie ist seit langem nicht mehr benutzt worden. Ich kann nicht garantieren, daß sie geladen ist.«
»Besser als gar nichts«, meinte Thissell.
Rolver ging in sein Büro und kehrte einen Augenblick später mit der Pistole zurück.
»Was haben Sie jetzt vor?«
Thissell schüttelte müde den Kopf. »Ich werde versuchen, Angmark in Fan aufzuspüren. Oder wird er sich nach Zundar begeben?«
Rolver überlegte. »Angmark könnte in Zundar durchkommen. Aber er wird erst seine Musikkenntnisse auffrischen wollen. Ich glaube, er wird ein paar Tage in Fan bleiben.«
»Aber wie kann ich ihn finden? Wohin soll ich mich zuerst wenden?«
»Das kann ich auch nicht sagen«, erwiderte Rolver. »Sicherer für Sie wäre es, wenn Sie ihn nicht finden. Angmark ist ein gefährlicher Mann.«
Thissell kehrte auf dem gleichen Weg nach Fan zurück, den er gekommen war.
Da, wo der Pfad aus den Bergen in die Promenade überging, stand ein ebenerdiges Gebäude mit dicken Mauern. Die Tür bestand aus einer massiven, schwarzen, geschnitzten Platte. Vor den Fenstern befanden sich Gitterstäbe aus Eisen. Es war das Büro von Cornely Welibus, dem Handelsagenten, Import und Export.
Als Thissell ankam, saß Welibus bequem auf seiner mit Fliesen ausgelegten Veranda. Er trug eine bescheidene Abart der Waldemar-Maske. Und er schien gedankenverloren. Vielleicht hatte er Thissells Nachtschwärmer-Maske erkannt, vielleicht auch nicht. Jedenfalls grüßte er nicht.
Thissell näherte sich.
»Guten Morgen, Sir Welibus.«
Welibus nickte gedankenabwesend und sang leise, indem er nachlässig an seinem Krodatch zupfte: »Guten Morgen.«
Thissell war außer sich. Das war kaum das Instrument, das man gegenüber einem Freund und Landsmann benutzte, selbst wenn er die Maske des Nachtschwärmers trug.
Kühl fragte Thissell: »Darf ich fragen, wie lange Sie hier schon sitzen?«
Welibus überlegte eine halbe Minute. Als er sang, begleitete er seine Worte auf dem etwas herzlicheren Crebarin.
»Ich bin seit fünfzehn oder zwanzig Minuten hier. Weshalb fragen Sie?«
»Ich wollte wissen, ob Sie vielleicht einen Waldgeist bemerkt haben.«
Welibus nickte. »Er ging auf die Promenade. Wenn ich mich recht erinnere, betrat er den ersten Maskenladen.«
Thissell pfiff durch die Zähne. Das würde natürlich Angmarks erster Schachzug sein.
»Ich werde ihn nie finden, wenn er erst einmal eine andere Maske aufgesetzt hat«, murmelte er.
»Wer ist dieser Waldgeist?« fragte Welibus höflich, aber uninteressiert.
Thissell sah keinen Grund, den Namen geheimzuhalten. »Ein Gewohnheitsverbrecher: Haxo Angmark.«
»Haxo Angmark!« stöhnte Welibus und lehnte sich in seinem Sessel zurück. »Sind Sie sicher, daß er hier ist?«
»Ganz sicher.«
Welibus rieb die zitternden Hände gegeneinander. »Das ist eine schlechte Nachricht – wirklich, eine sehr, sehr schlechte Nachricht. Er ist skrupellos.«
»Sie kennen ihn gut?«
»So gut, wie man nur jemanden kennen kann.« Welibus begleitete seine Worte jetzt mit dem Kiw. »Er hatte die Stelle inne, die ich jetzt besetze. Ich kam als Inspektor hierher und fand heraus, daß er die Heimatplaneten um etwa viertausend Umis im Monat betrog. Sicherlich hegt er keine allzu großen Dankbarkeitsgefühle mir gegenüber.«
Welibus warf einen nervösen Blick auf die Promenade. »Hoffentlich fangen Sie ihn.«
Thissell wandte sich zum Gehen. Als er den Weg entlangging, hörte er, wie die schwarze Tür verriegelt wurde.
Er schlenderte die Promenade hinunter bis zum Laden des Maskenmachers und blieb draußen stehen, als bewundere er das Schaufenster.
Nur der Maskenmacher selbst befand sich im Laden, ein knorriger, finsterer Mann in einer gelben Robe, der eine täuschend einfache Maske trug: die des Universalexperten. Sie bestand in Wirklichkeit aus über zweitausend Splittern verschiedener Hölzer, die zu einem Ganzen zusammengefügt worden waren.
Thissell überlegte, was er sagen und wie er seine Worte begleiten sollte, und betrat dann den Laden.
Der Maskenmacher, der die Nachtschwärmer-Maske und die schüchterne Haltung ihres Besitzers wohl bemerkte, fuhr ruhig in seiner Arbeit fort.
Thissell wählte das leichteste seiner Instrumente, den Strapan. Es war vielleicht keine sehr glückliche Wahl, denn das Instrument drückte einen gewissen Grad an Herablassung aus. Thissell versuchte diesen Nachteil gutzumachen, indem er in warmen, nahezu schmelzenden Tönen sang und den Strapan komisch schüttelte, wenn er eine falsche Note griff.
»Ein Fremder ist eine Person, mit der man gern Handel treibt. Seine Manieren sind ungewohnt, er erregt Neugier. Vor weniger als zwanzig Minuten betrat ein Fremder diesen zauberhaften Laden und tauschte seine langweilige Waldgeist-Maske gegen eine der phantasievollen Schöpfungen, die hier zur Schau gestellt werden.«
Der Maskenmacher warf Thissell einen Seitenblick zu. Wortlos spielte er eine Melodienfolge auf einem Instrument, das Thissell noch nie gesehen hatte – ein sackähnliches Gebilde, das in der Hand lag, während zwischen den Fingern drei Pfeifen geführt wurden. Wenn man auf den Sack preßte, entwich die Luft durch die Pfeifenschlitze. Es entstand ein oboenähnlicher Klang. Thissells Ohr, das sich allmählich an die verschiedenen Klänge gewöhnte, nahm wahr, daß das Instrument äußerst schwierig zu spielen war, daß aber der Maskenmacher ein Virtuose war. Die Musik drückte völlige Gleichgültigkeit gegenüber den Interessen eines Fremden aus.
Thissel versuchte es noch einmal, indem er mühsam auf dem Strapan herumfingerte.
Er sang: »Für einen Ausländer auf einem fremden Planeten ist die Stimme eines Landsmannes wie Wasser für eine verdorrende Pflanze. Jemand, der zwei solche Menschen zusammenbringt, könnte Gefallen an einer guten Tat haben.« Selbst in seinen Ohren klangen die Töne falsch.
Der Maskenmacher griff spielerisch nach seinem eigenen Strapan und bewegte die Finger so schnell, daß das Auge kaum folgen konnte. Er spielte eine harte, schneidende Melodie. Sein Gesangsstil war formell:
»Ein Künstler liebt die Augenblicke der Konzentration. Er legt keinen Wert darauf, seine Zeit zu verschwenden, indem er mit Personen von höchstens durchschnittlichem strakh banale Worte austauscht.«
Thissell versuchte eine Gegenmelodie anzustimmen, aber der Maskenmacher schlug neue Saiten an, deren Sinn Thissell entging.
»In den Laden kommt ein Mann, der offensichtlich zum erstenmal ein Instrument von so hohem Schwierigkeitsgrad spielt, denn seine Musik ist kritikwürdig. Er singt von Heimweh und von der Sehnsucht, andere seiner Art zu treffen. Er verbirgt sein enormes strakh hinter der Maske eines Nachtschwärmers. So muß es sein, denn er wagt es, einen Meisterhandwerker mit dem Strapan anzusprechen und mit verächtlichem Spott zu singen. Der in edlen Sitten erzogene Künstler übersieht die Herausforderung. Er spielt ein höfliches Instrument, bleibt ruhig und vertraut darauf, daß der Fremde von seinem Tun ablassen und gehen wird.«
Thissell nahm seinen Kiw auf. »Der edle Maskenmacher mißversteht mich völlig …«
Er wurde durch ein Stakkato des Strapans unterbrochen. »Der Fremde hält es offenbar für angebracht, über die Geisteskraft des Künstlers zu spotten.«
Thissell kratzte wütend über seinen Strapan. »Um mich vor der Hitze zu schützen, komme ich in diesen kleinen, unansehnlichen Maskenladen. Der Künstler, obwohl noch abgelenkt von der Ungewohnheit des Werkzeugs, hat noch Aussicht, seine Geschicklichkeit zu verbessern. Deshalb übt er so eifrig, daß er es ablehnt, mit Fremden zu sprechen, ganz gleich, was ihr Anliegen sein mag.«
Der Maskenmacher legte ruhig sein Schnitzwerkzeug hin. Er erhob sich, ging hinter einen Wandschirm und kehrte kurz darauf mit einer Maske aus Gold und Stahl wieder, auf der senkrechte Flammen standen. In einer Hand trug er ein Skaranyi, in der anderen einen Krummsäbel. Er schlug eine wirbelnde Melodie an und sang:
»Selbst der vollkommenste Künstler kann sein strakh erhöhen, wenn er Seeungeheuer, Nachtmänner oder ungezogene Faulenzer tötet. So eine Möglichkeit ist mir jetzt gegeben. Der Künstler wartet mit seinem Angriff zehn Sekunden, weil der Beleidiger die Maske des Nachtschwärmers trägt.« Er schwang seinen Krummsäbel und wirbelte ihn über seinem Kopf.
Thissell schlug verzweifelt seinen Strapan an. »Betrat ein Waldgeist den Laden? Verließ er ihn mit einer neuen Maske?«
»Fünf Sekunden sind vergangen«, sang der Maskenmacher zu einem drohend monotonen Rhythmus.
Thissell rannte verzweifelt und wütend hinaus.
Er überquerte den Platz und sah über die Promenade. Hunderte von Männern und Frauen schlenderten über die Docks. Andere standen am Deck ihrer Hausboote. Und sie alle trugen Masken, die ihre Stimmung ausdrücken sollten, ihr Prestige und ihre besonderen Charaktereigenschaften. Und überall klang das Geklapper und Gezirpe der Musikinstrumente.
Thissell stand verloren da. Der Waldgeist war verschwunden. Haxo Angmark lief frei in Fan herum. Und Thissell hatte die Befehle Castel Cromartins nicht ausführen können.
Hinter ihm erklang eine spielerische Melodie auf dem Kiw.
»Sir Nachtschwärmer Thissell, Sie stehen in Gedanken versunken.«
Thissell drehte sich um und sah hinter sich eine Höhleneule, in düsteres Schwarzgrau gekleidet. Thissell erkannte die Maske, das Symbol der Bildung und der geduldigen Erforschung abstrakter Gedankengänge.
Mathew Kershaul hatte sie auch bei ihrem Zusammentreffen vor einer Woche getragen.
»Wie steht es mit dem Studium?« wollte er wissen. »Schaffen Sie jetzt die C-Plus-Skala auf dem Gomapard? Wenn ich mich recht entsinne, fielen Ihnen diese Umkehr-Intervalle nicht ganz leicht.«
»Ich habe sie geübt«, meinte Thissell düster. »Aber da man mich ohnehin nach Polypolis zurückrufen wird, ist das wohl reine Zeitverschwendung gewesen.«
»Aber, aber – was heißt das?«
Thissell erklärte, wie die Sache stand. Kershaul nickte ernst.
»Ich kann mich an Angmark erinnern. Keine angenehme Person, aber ein ausgezeichneter Musiker. Hat bewegliche Finger und ein echtes Talent für neue Instrumente.« Er strich nachdenklich über den Eulenspitzbart. »Was wollen Sie unternehmen?«
»Nichts«, erwiderte Thissell und spielte eine traurige Weise auf dem Kiw. »Ich habe keine Ahnung, was für Masken er tragen wird. Und wenn ich nicht einmal weiß, wie er aussieht, wie soll ich ihn dann finden?«
Wieder strich sich Kershaul über den Spitzbart. »Früher hatte er eine Schwäche für die Masken des Exo-Kambian-Zyklus. Und er besaß, wenn ich mich nicht täusche, einen ganzen Satz Fremdländer-Masken. Natürlich kann er seinen Geschmack inzwischen geändert haben.«
»Das ist es ja«, beklagte sich Thissell. »Er kann zwei Meter von mir entfernt sein, und ich weiß es nicht.« Er warf einen bösen Blick auf den Laden des Maskenmachers. »Keiner würde mir helfen. Ich glaube fast, es ist ihnen gleichgültig, ob sich ein Mörder unter ihnen befindet.«
»Ganz recht«, bemerkte Kershaul. »Die Sirener handeln nach anderen Normen als wir.«
»Sie haben keinen Verantwortungssinn«, erklärte Thissell. »Ich bezweifle, daß sie einem Ertrinkenden ein Seil zuwerfen würden.«
»Es ist wahr, daß sie es nicht lieben, sich in die Angelegenheiten anderer zu mischen«, sagte Kershaul. »Dagegen unterstreichen sie die Verantwortung, die jeder für sich selbst trägt.«
»Interessant«, meinte Thissell. »Aber ich tappe noch immer im dunkeln. Wie soll ich mit Haxo Angmark fertig werden?«
Kershaul sah ihn ernst an. »Glauben Sie, Sie könnten mit ihm fertig werden?«
»Ich muß die Befehle meiner Vorgesetzten ausführen«, erklärte Thissell verbissen.
»Angmark ist ein sehr gefährlicher Mann«, überlegte Kershaul. »Er hat Ihnen einiges voraus.«
»Daran kann ich jetzt nicht denken. Es ist meine Pflicht, ihn nach Polypolis zurückzuschaffen.«
Kershaul dachte nach. »Ein Ausländer kann sich nicht hinter einer Maske verstecken, wenigstens nicht vor einem Sirener. Hier auf Fan leben vier Ausländer – Rolver, Welibus, Sie und ich. Sollte noch einer versuchen, hier Fuß zu fassen, wird sich das bei den Einheimischen bald herumsprechen.«
»Und wenn er nach Zundar geht?«
Kershaul zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht, ob er das wagen würde. Andererseits …«
Kershaul machte eine Pause. Dann bemerkte er Thissells Unaufmerksamkeit und drehte sich um. Er folgte Thissells Blicken.
Ein Mann in der Maske des Waldgeistes kam über die Promenade auf sie zu.
Kershaul legte beschwichtigend die Hand auf Thissells Arm, aber Thissell schüttelte sie ab und stellte sich dem Waldgeist mit der geliehenen Pistole in den Weg.
»Haxo Angmark!« rief er. »Keine Bewegung, oder ich schieße. Sie stehen unter Arrest.«
»Sind Sie sicher, daß das Angmark ist?« fragte Kershaul beunruhigt.
»Das wird sich zeigen«, sagte Thissell. »Angmark, drehen Sie sich um, und nehmen Sie die Hände hoch.«
Der Waldgeist stand steif vor Überraschung und spielte ein fragendes Arpeggio auf seinem Zachinko. Dazu sang er: »Warum belästigst du mich, Nachtschwärmer?«
Kershaul trat einen Schritt nach vorne und spielte eine besänftigende Melodie auf seinem Slobo. »Ich fürchte, daß ein Fall von Verwechslung vorliegt, Sir Waldgeist. Sir Nachtschwärmer sucht einen Ausländer, der eine Waldgeist-Maske trägt.«
Die Melodie des Waldgeistes wurde drohender. Er war auf das Stimic übergegangen. »Er behauptet, ich sei ein Ausländer? Er soll seine Behauptung beweisen, sonst wird ihn meine Rache treffen.«
Kershaul sah verlegen auf die Menge, die sich um die Streitenden gesammelt hatte, und spielte von neuem eine liebenswürdige Weise. »Ich bin überzeugt, daß Sir Nachtschwärmer …«
Der Waldgeist übertönte ihn mit einem Skaranyi. »Er soll selbst seine Behauptung beweisen oder sich darauf vorbereiten, daß Blut fließen wird.«
»Gut«, sagte Thissell, »ich werde meine Behauptung beweisen.« Er trat einen Schritt nach vorne und packte die Maske seines Gegenübers. »Wir wollen uns sein Gesicht ansehen, damit wir seine Identität feststellen können.«
Der Waldgeist sprang mit einem wilden Satz zurück. Die Menge keuchte und begann dann drohend die Instrumente zu spielen.
Der Waldgeist ergriff die an seinem Nacken befestigte Schnur und riß wild an ihr. Der Duelliergong ertönte. Mit der anderen Hand griff er nach dem Krummsäbel.
Kershaul trat einen Schritt vor. Er spielte das Slobo mit großer Erregung. Thissell wich nun verlegen zurück. Er wurde sich bewußt, daß die Menge eine drohende Haltung angenommen hatte.
Kershaul sang Erklärungen und Entschuldigungen. Der Waldgeist antwortete. Kershaul rief über die Schulter hinweg Thissell zu: »Laufen Sie weg, sonst wird man Sie töten! Schnell!«
Thissell zögerte. Der Waldgeist hob die Hand, um Kershaul beiseite zu schieben. »Laufen Sie!« schrie Kershaul. »Zum Büro von Welibus! Sperren Sie sich ein.«
Thissell rannte los. Der Waldgeist setzte ihm ein paar Meter nach, dann blieb er stehen und sandte ihm eine verächtliche, spottende Melodie auf dem Horn nach, während ihn die Menge mit dem Geklapper der Hymerkins begleitete.
Aber man verfolgte ihn nicht weiter.
Anstatt sich in das Import-Export-Büro zu flüchten, bog Thissell unterwegs ab und lief auf das Dock zu, an dem sein Hausboot ankerte.
Als er endlich an Bord kam, war die Abenddämmerung nicht mehr fern. Toby und Rex kauerten auf dem Vordeck, umgeben von den Vorräten, die sie mitgebracht hatten. Weidenkörbe mit Früchten und Getreide, blaue Glaskrüge mit Wein, öl und pikanten Säften, drei junge Ferkel in einem geflochtenen Behälter.
Sie bissen Nüsse auf und spuckten die Schalen über Bord. Sie sahen Thissell an, und er hatte das Gefühl, daß sie sich mit ungewohnter Lässigkeit erhoben. Toby murmelte halblaut etwas. Rex unterdrückte ein Kichern.
Thissell spielte ärgerlich das Hymerkin. »Bringt das Boot vom Ufer weg. Heute nacht bleiben wir in Fan.«
Innerhalb der vier Wände seiner Kabine nahm er die Nachtschwärmer-Maske ab und betrachtete die ihm ungewohnt gewordenen Züge im Spiegel. Dann ergriff er die Maske und studierte das verhaßte Ding. Die pelzige graue Haut, die blauen Stachel, die lächerlichen Spitzenlappen. Kaum eine würdige Verkörperung für einen Konsul der Heimatplaneten. Das heißt, er wußte ja nicht, ob er diesen Posten behielt, wenn Cromartin erfuhr, wie es ihm ergangen war.
Thissell warf sich in seinen Sessel und starrte finster vor sich hin. Heute hatte er eine ganze Reihe von Rückschlägen erlitten. Aber noch gab er sich nicht geschlagen. Nein. Morgen würde er Mathew Kershaul besuchen und mit ihm beraten, wie man Haxo Angmark am besten überführen könnte.
Wie Kershaul schon gesagt hatte, konnte ein weiterer Ausländer in Fan nicht unbemerkt bleiben. Haxo Angmark konnte sich nicht verbergen. Und er selbst mußte sich morgen eine andere Maske besorgen. Nichts Besonderes, nichts Auffallendes, aber doch eine Maske, die ihm ein Mindestmaß an Würde und Selbstachtung verlieh.
In diesem Augenblick klopfte einer der Sklaven an der Tür, und Thissell zog schnell die verhaßte Nachtschwärmer-Maske über das Gesicht.
Früh am nächsten Morgen, noch bevor das Dämmerlicht ganz gewichen war, brachten die Sklaven das Hausboot zu dem Teil des Docks, das man den Ausländern zur Benutzung überließ. Weder Rolver noch Welibus oder Kershaul waren bis jetzt gekommen. Thissell wartete mit Ungeduld.
Eine Stunde verging, dann brachte Welibus sein Boot an das Dock. Da Thissell keine Lust hatte, mit Welibus zu sprechen, blieb er in seiner Kabine.
Kurze Zeit später legte auch Rolvers Boot an. Durch das Fenster sah Thissell Rolver an Land gehen. Er trug seinen gewöhnlichen Vogel-Tarn. Auf dem Dock traf er mit einem Mann zusammen, der die buschige, gelbe Maske eines Sandtigers trug. Der Mann sang zu der formellen Begleitung seines Gomapards irgendeine Botschaft, die Thissell nicht verstehen konnte.
Rolver schien überrascht und beunruhigt. Nach kurzer Überlegung nahm er seinen eigenen Gomapard und sang, wobei er auf Thissells Hausboot deutete. Dann verbeugte er sich und ging seiner Wege.
Der Mann mit der Sandtiger-Maske kletterte schwerfällig auf das Floß und klopfte an Thissells Hausboot.
Thissell kam an Deck und schlug nur eine fragende Melodie auf seinem Zachino an.
Der Sandtiger spielte seinen Gomapard und sang: »Die Dämmerung über der Bucht von Fan ist meist ein herrlicher Anblick. Der Himmel ist weiß und gelb und grün. Wenn Mireille sich erhebt, verbrennen die Nebel und heben sich hinweg wie Rauchschwaden. Der Sänger kann die köstliche Stunde besser genießen, wenn die Leiche eines Ausländers ihm nicht den Anblick vergällt.«
Thissells Zachinko spielte beinahe von selbst eine erregte Frage. Der Sandtiger verbeugte sich mit Würde.
»Der Sänger hat nicht seinesgleichen an Standhaftigkeit. Aber er fürchtet die Possen eines unbefriedigten Geistes. Daher befahl er seinen Sklaven, einen Riemen an den Knöcheln des Toten zu befestigen. Während unserer Unterredung haben sie ihn am Heck Ihres Hausbootes befestigt. Sie werden sich um die Riten kümmern wollen, die Ausländern bei ihrem Begräbnis zustehen. Der Sänger wünscht Ihnen einen guten Morgen und zieht sich nun zurück.«
Thissell rannte zum Heck seines Hausbootes. Dort, nahezu unbekleidet und seiner Maske beraubt, schwebte der Körper eines Mannes in mittleren Jahren auf dem Wasser.
Thissell studierte die Gesichtszüge des Toten. Sein Ausdruck wirkte leer und charakterlos – vielleicht eine Folge des langen Maskentragens.
Der Mann war von mittlerer Größe und mittlerem Gewicht. Thissell schätzte sein Alter auf fünfundvierzig bis fünfzig. Das Haar war verwaschen braun, die Züge waren vom Wasser aufgeschwemmt.
Man konnte nicht feststellen, woran der Mann gestorben war.
Es mußte Haxo Angmark sein, dachte Thissell. Wer sonst hätte es sein können? Mathew Kershaul? Rolver und Welibus waren bereits von Bord gegangen. Thissell suchte die Bucht nach Kershauls Hausboot ab und entdeckte, daß es bereits am Dock vertäut war. Noch während er es beobachtete, sah er Kershaul an Land springen.
Er schien in Gedanken versunken, denn er ging an Thissells Hausboot vorbei, ohne auch nur die Blicke vom Boden zu heben.
Thissell sah wieder den Toten an. Also Angmark. Hatten nicht Rolver, Welibus und Kershaul in ihren üblichen Masken die Boote verlassen? Offensichtlich Angmarks Leiche …
Die einfache Lösung wollte ihm nicht eingehen. Kershaul hatte angedeutet, daß ein weiterer Ausländer schnell entdeckt wäre. Wie sollte Angmark sich verstecken? Wenn nicht …
Thissell schob den Gedanken beiseite. Der Tote mußte Angmark sein.
Und doch …
Thissell rief seine Sklaven und befahl ihnen, einen geeigneten Behälter von den Docks zu holen, damit man die Leiche hineinlegen konnte.
Dann ging er über die Docks und die Promenade, vorbei an Welibus’ Büro und den hübschen kleinen Pfad entlang, der zum Raumhafen führte.
Als er ankam, sah er, daß Rolver noch nicht erschienen war. Ein Obersklave, erkenntlich an der gelben Rosette über der schwarzen Tuchmaske, fragte, ob er vielleicht dienen könne. Thissell deutete an, daß er eine Botschaft nach Polypolis abschicken wollte.
Jederzeit, erklärte der Sklave. Wenn Sir Thissell seine Botschaft in deutlicher Druckschrift abfassen könnte, würde man sie sofort abschicken.
Thissell schrieb:
BEWOHNER DER HEIMATPLANETEN TOT AUFGEFUNDEN. VERMUTLICH ANGMARK. ALTER 48, MITTELGROSS, BRAUNES HAAR. BESONDERE KENNZEICHEN FEHLEN. ERWARTE BESTÄTIGUNG ODER WEITERE BEFEHLE.
Er adressierte die Botschaft an Castel Cromartin in Polypolis und händigte sie dem Obersklaven aus. Einen Augenblick später hörte er das charakteristische Rattern des Transraum-Spruchs.
Eine Stunde verging. Rolver tauchte nicht auf.
Thissell ging ruhelos vor dem Büro auf und ab.
Eine weitere halbe Stunde verging, und schließlich kam Rolver. Er trug seinen üblichen Vogel-Tarn. Gleichzeitig hörte Thissell die hereinkommende Botschaft.
Rolver schien überrascht, Thissell hier zu sehen. »Was führt Sie so früh hierher?«
Thissell erklärte ihm die Zusammenhänge. »Es handelt sich um den Toten, den der Fremde heute morgen brachte. Sie erinnern sich sicher, Sie schickten den Mann zu meinem Boot. Ich sandte meinem Vorgesetzten einen Bericht darüber.«
Rolver hob den Kopf und horchte. Auch er hatte das Klappern vernommen. »Sie scheinen Antwort zu bekommen. Ich gehe lieber hinein.«
»Warum denn?« fragte Thissell. »Ihr Sklave ist sehr tüchtig.«
»Es ist meine Aufgabe«, meinte Rolver. »Ich bin für das ordnungsgemäße Absenden und für den ordnungsgemäßen Empfang von Botschaften verantwortlich.«
»Ich komme mit Ihnen«, sagte Thissell. »Ich wollte schon immer mal sehen, wie so etwas funktioniert.«
»Ich fürchte, das verstößt gegen die Regeln«, sagte Rolver.
Er öffnete die Tür zu einem kleinen Raum. »Einen Augenblick.«
Thissell wollte protestieren, aber Rolver ignorierte es und ging in den kleinen Raum.
Fünf Minuten später kam er wieder. Er trug einen schmalen gelben Umschlag.
»Keine allzu guten Nachrichten«, kündigte er an. Das Mitleid in seiner Stimme klang nicht sehr überzeugend.
Thissell öffnete finster den Umschlag. Die Botschaft lautete:
TOTER NICHT ANGMARK. ANGMARK HAT SCHWARZES HAAR. WARUM HABEN SIE IHN NICHT BEI LANDUNG ABGEFANGEN? SCHWERER VERSTOSS, BIN HÖCHST UNZUFRIEDEN. BITTE UM RÜCKKEHR NACH POLYPOLIS ZUM NÄCHSTMÖGLICHEN TERMIN.
CASTEL CROMARTIN
Thissell steckte die Botschaft in die Tasche. »Übrigens, dürfte ich nach Ihrer Haarfarbe fragen?«
Rolver spielte einen überraschten kleinen Triller auf dem Kiw. »Ich bin hellblond. Weshalb fragen Sie?«
»Reine Neugier.«
Rolver spielte eine weitere Folge auf dem Kiw. »Ich verstehe. Mein lieber Freund, Sie sind aber mißtrauisch. Sehen Sie!« Er drehte sich um und teilte die Falten seiner Maske am Nacken. Thissell sah, daß Rolver in der Tat blond war.
»Sind Sie jetzt beruhigt?« spöttelte Rolver gutmütig.
»Aber natürlich«, sagte Thissell. »Übrigens, haben Sie keine Maske, die Sie mir leihen könnten? Ich kann den Nachtschwärmer nicht mehr sehen.«
»Ich fürchte nein«, erwiderte Rolver. »Aber Sie brauchen doch nur in einen Maskenmacherladen zu gehen und Ihre Wahl zu treffen.«
»Ja, gewiß«, meinte Thissell. Er verabschiedete sich von Rolver und kehrte nach Fan zurück.
Als er am Büro von Welibus vorbeikam, zögerte er. Doch dann trat er ein. Heute trug Welibus eine Prachtmaske aus grünen Glasprismen und Silberperlen. Thissell hatte das Stück noch nie gesehen.
Welibus begrüßte ihn zurückhaltend mit einer Melodie auf dem Kiw. »Guten Morgen, Sir Nachtschwärmer.«
»Ich will Ihnen Ihre Zeit nicht stehlen«, sagte Thissell, »aber ich muß Ihnen eine ziemlich persönliche Frage stellen: Was haben Sie für eine Haarfarbe?«
Welibus zögerte für den Bruchteil einer Sekunde, dann drehte er sich um und öffnete die Maske einen Spalt. Thissell sah dichte schwarze Locken.
»Beantwortet das Ihre Frage?« wollte Welibus wissen.
»Vollkommen.« Thissell überquerte die Promenade und ging zu den Docks hinüber, wo Kershauls Boot verankert lag.
Kershaul begrüßte ihn ohne große Begeisterung und lud ihn mit einer resignierten Handbewegung ein, an Bord zu kommen.
»Ich möchte Ihnen nur kurz eine Frage stellen«, meinte Thissell. »Was für eine Haarfarbe haben Sie?«
Kershaul lachte kummervoll. »Die paar Strähnen, die ich noch auf dem Kopf habe, sind schwarz. Aber weshalb fragen Sie?«
»Reine Neugier.«
»Na, Sie können mir doch nichts weismachen«, erklärte Kershaul mit ungewöhnlicher Direktheit. »Da steckt mehr dahinter.«
Thissell hatte das Gefühl, sich jemandem anvertrauen zu müssen. Er nickte. »Die Lage ist folgendermaßen: Ein toter Ausländer wurde heute morgen im Hafen gefunden. Er hat braunes Haar. Ich bin nicht völlig sicher, aber von – hm – drei Chancen stehen zwei dafür, daß Angmark schwarzhaarig ist.«
Kershaul zupfte an seinem Höhleneulenbart. »Und woraus berechnen Sie diese Chancen?«
»Die Botschaft ging durch Rolvers Hände. Er selbst ist blond. Wenn Angmark Rolvers Rolle spielt, hat er natürlich die Botschaft in seinem Sinne geändert. Sie und Welibus haben zugegebenermaßen schwarzes Haar.«
»Hm«, meinte Kershaul. »Mal sehen, ob ich Ihre Schlußfolgerungen recht verstehe. Sie sind der Meinung, daß Angmark entweder Rolver, Welibus oder mich getötet hat und die Rolle des Getöteten spielt. Stimmt das?«
Thissell sah ihn überrascht an. »Sie selbst sagten doch, daß Angmark hier als Ausländer nicht unerkannt bleiben würde. Erinnern Sie sich nicht?«
»O doch. Fahren wir fort. Rolver hat Ihnen eine Botschaft überreicht, in der steht, daß Angmark dunkelhaarig ist. Er selbst beweist Ihnen, daß er blond ist.«
»Ja. Könnten Sie das bestätigen? Ich meine, was den früheren Rolver betrifft.«
»Nein«, sagte Kershaul traurig. »Ich habe weder Rolver noch Welibus je ohne Maske gesehen.«
»Wenn Rolver nicht Angmark ist«, überlegte Thissell, »kommen nur noch Sie oder Welibus in Frage.«
»Sehr interessant«, sagte Kershaul. Er sah Thissell argwöhnisch an. »Wenn das so ist, könnten auch Sie Angmark sein. Was für eine Haarfarbe haben Sie?«
»Braun«, sagte Thissell kurz. Er hob die graue Nachtschwärmer-Maske ein wenig im Nacken.
»Aber Sie könnten mir den Text der Botschaft falsch wiedergeben«, beharrte Kershaul.
»Nein.« Thissell winkte müde ab. »Sie können Rolver fragen, wenn Sie wollen.«
Kershaul schüttelte den Kopf. »Nicht nötig. Ich glaube Ihnen. Aber etwas anderes: Wie steht es mit den Stimmen? Sie haben unsere Stimmen vor und nach Angmarks Ankunft gehört. Ergibt sich da kein Hinweis?«
»Nein. Ich passe so genau auf, daß mir jede Stimme verändert vorkommt. Und die Masken dämpfen.«
Kershaul zupfte wieder an dem Bart der Maske. »Ich sehe im Augenblick auch keine Lösung dieses Problems.« Er kicherte. »Und ist eine Lösung denn so wichtig? Vor Angmarks Ankunft waren wir vier: Rolver, Welibus, Kershaul und Thissell. Und jetzt sind wir wieder vier – mit dem gleichen Namen. Wer könnte sagen, ob das neue Mitglied nicht eine Verbesserung des alten darstellt?«
»Ein völlig neuer Gedanke, der bestimmt nicht uninteressant ist«, meinte Thissell zustimmend. »Aber zufällig habe ich ein persönliches Interesse daran, Angmark dingfest zu machen. Meine Karriere steht auf dem Spiel.«
»Ich verstehe«, murmelte Kershaul. »Das Ganze läuft also schließlich und endlich auf einen Kampf zwischen Ihnen und Angmark hinaus.«
»Sie werden mir nicht helfen?«
»Nicht aktiv. Ich bin schon durchdrungen vom Individualismus der Sirener. Sie werden sehen, daß Rolver und Welibus ähnlich wie ich reagieren.« Er seufzte. »Wir leben alle drei schon zu lange hier.«
Thissell stand gedankenverloren da. Kershaul wartete einen Augenblick und sagte dann: »Haben Sie noch etwas auf dem Herzen?«
»Nein«, meinte Thissell. »Ich möchte Sie lediglich um einen Gefallen bitten.«
»Gern, wenn ich Ihnen helfen kann«, erklärte Kershaul höflich.
»Borgen Sie mir für etwa zwei Wochen einen Ihrer Sklaven.«
Kershaul spielte eine amüsierte Tonfolge auf seiner Ganga. »Ich trenne mich nicht sehr gern von meinen Sklaven. Sie kennen mich und meine Art.«
»Sobald ich Angmark gefangen habe, bekommen Sie ihn zurück.«
»Schön«, sagte Kershaul. Er befahl etwas zu den Klängen seines Hymerkins, und ein Sklave erschien. »Anthony«, sang Kershaul, »du sollst Sir Thissell begleiten und ihm für kurze Zeit dienen.«
Der Sklave verbeugte sich lustlos.
Thissell nahm Anthony zu seinem Hausboot mit und stellte ihm mehrere Fragen. Die Antworten notierte er säuberlich auf einem Blatt Papier. Dann schärfte er Anthony ein, nichts von dieser Unterredung verlauten zu lassen und überließ ihn der Gesellschaft von Toby und Rex. Er gab Befehl, das Hausboot vom Dock abzustoßen und bis zu seiner Rückkehr niemand an Deck zu lassen.
Wieder einmal machte er sich auf den Weg zum Raumhafen. Rolver saß gerade beim Mittagessen. Vor sich hatte er ein Gericht mit Gewürzfischen, geriebene Rinde vom Salatbaum und eine Abart von Johannisbeeren. Er befahl etwas zum Klang des Hymerkins, und ein Sklave brachte ein Gedeck für Thissell.
»Wie schreiten die Untersuchungen fort?«
»Ich kann kaum sagen, daß ich schon Erfolge erzielt hätte«, meinte Thissell. »Darf ich auf Ihre Hilfe rechnen?«
Rolver lachte trocken. »Ich kann Ihnen nur meine guten Wünsche mitgeben.«
»Konkreter ausgedrückt«, fuhr Thissell fort, »würde ich mir für kurze Zeit gern einen Ihrer Sklaven ausleihen.«
Rolver hörte zu essen auf.
»Wofür?«
»Das möchte ich lieber nicht erklären«, sagte Thissell. »Aber Sie können sicher sein, daß es keine bloße Grille von mir ist.«
Rolver gab sich keine Mühe, überhöflich zu wirken. Er rief einen Sklaven herbei und übergab ihn Thissell.
Auf dem Rückweg stellte sich Thissell noch in Welibus’ Büro ein.
Welibus sah von seiner Arbeit auf. »Guten Tag, Sir Thissell.«
Thissell kam sofort zu seinem Anliegen. »Sir Welibus, könnten Sie mir für ein paar Tage einen Ihrer Sklaven zur Verfügung stellen?«
Welibus zögerte, dann zuckte er mit den Schultern.
»Warum nicht?«
Er schlug sein Hymerkin, und ein Sklave erschien. »Ist das der Richtige? Oder hätten Sie lieber ein junges Mädchen?« Er kicherte – ziemlich beleidigend für Thissells Ohren.
»Nein, danke. Das ist genau das, was ich suche.«
Thissell setzte den Weg zu seinem Hausboot fort. Angekommen, verhörte er die beiden neuen Sklaven getrennt und machte sich wieder Notizen.
Sanft kroch die Dämmerung über den Titanik. Toby und Rex brachten das Hausboot vom Dock weg, hinaus auf das seidig glänzende Wasser. Thissell saß an Deck und hörte den leisen Stimmen zu, dem Zwitschern und Klingeln der Musikinstrumente.
Die Lichter der anderen Hausboote schienen sanftgelb und wassermelonenrot. Das Ufer lag im Dunkel. Bald würden die Nachtmänner leise über die Docks schleichen und neidisch die im Wasser liegenden Hausboote anstarren.
In neun Tagen landete die Buenaventura planmäßig auf Sirene. Thissell hatte Befehl erhalten, nach Polypolis zurückzukehren. Konnte er in neun Tagen Angmark fassen?
Neun Tage waren nicht viel.
Vielleicht genügen sie mir, dachte Thissell und ging in seine Kabine.
Zwei Tage vergingen und drei und vier und fünf. Täglich ging Thissell ans Ufer, und täglich besuchte er Rolver, Kershaul und Welibus.
Jeder reagierte anders auf seinen Besuch. Rolver war spöttisch und finster, Welibus formell und zumindest oberflächlich liebenswürdig, Kershaul mild und nachsichtig, aber ostentativ unpersönlich und unnahbar.
Thissell ließ sich nicht beirren. Und jeden Tag, wenn er von seinen Besuchen zurückkehrte, machte er sich Notizen.
Der sechste, der siebente und der achte Tag kamen und vergingen. Rolver erkundigte sich mit ziemlich brutaler Offenheit, ob Thissell eine Passage auf der Buenaventura buchen wolle.
Thissell überlegte und meinte: »Ja, buchen Sie einen Platz.«
»Zurück in die Welt der Gesichter«, sagte Rolver schaudernd. »Gesichter! Überall diese blassen, fischäugigen Gesichter. Teigige Münder, knollige, verbogene Nasen. Formlose, verweichlichte Gesichter. Ich glaube nicht, daß ich das nach all den Jahren auf Sirene ertragen könnte. Gott sei Dank sind Sie noch kein richtiger Sirener geworden.«
»Aber ich habe gar nicht die Absicht, zur Erde zurückzukehren«, erklärte Thissell.
»Ich dachte, ich sollte Ihnen einen Platz reservieren?«
»Nicht für mich – für Haxo Angmark. Er wird mit dem Schiff nach Polypolis fliegen.«
»So, so«, sagte Rolver. »Sie haben ihn also entdeckt?«
»Natürlich«, meinte Thissell. »Sie nicht?«
Rolver zuckte die Schultern. »Entweder Kershaul oder Welibus, das weiß ich auch. Aber solange er seine Maske trägt und sich entweder Kershaul oder Welibus nennt, ist die Sache für mich ohne Bedeutung.«
»Für mich steht mehr auf dem Spiel«, sagte Thissell. »Um welche Zeit geht morgen das Beiboot nach oben?«
»Um genau elf Uhr zweiundzwanzig. Wenn Haxo Angmark mitfliegen will, soll er pünktlich sein. Bestellen Sie ihm das von mir.«
»Er wird kommen«, versprach Thissell.
Er sah wie üblich bei Welibus und Kershaul vorbei. In seinem Hausboot angekommen, schrieb er drei letzte Notizen auf die Blätter.
Der Beweis war da, klar und überzeugend. Kein absoluter und unumstößlicher Beweis natürlich, aber doch stark genug, um einen entscheidenden Schritt zu unternehmen. Er prüfte seine Pistole. Morgen war der Tag der Entscheidung. Er konnte sich keinen Fehler leisten.
Der Tag zog klar und hell herauf. Toby und Rex verankerten das Hausboot am Dock. Die anderen drei Boote der Ausländer schaukelten noch verschlafen auf den Wellen.
Ein Boot behielt Thissell besonders im Auge. Auf ihm befand sich Haxo Angmark, der den ursprünglichen Besitzer getötet und ins Meer geworfen hatte.
Dieses Boot bewegte sich jetzt auf das Ufer zu, und Haxo Angmark selbst stand am Vorderdeck. Er trug eine Maske, wie Thissell sie noch nie zuvor gesehen hatte: ein Gebilde aus scharlachroten Federn, schwarzem Glas und stacheligem grünem Haar. Sie wirkte sehr eindrucksvoll.
Angmark ging nach unten. Das Hausboot legte am Dock an. Sklaven warfen die Taue aus und senkten die Laufplanke. Thissell ging an Bord. Er hielt die Pistole in den Kleiderfalten verborgen. Er stieß die Tür zum Salon auf. Der Mann am Tisch hob überrascht den Kopf, der von der rot-grün-schwarzen Maske eingehüllt war.
Thissell sagte: »Angmark, bitte leisten Sie keinen Widerstand oder …«
Etwas Hartes, Schweres griff ihn von hinten an. Er wurde zu Boden geworfen. Eine geübte Hand entwand ihm die Waffe.
Hinter ihm klapperte das Hymerkin. Eine Stimme sang: »Bindet den Narren die Arme.«
Der Mann, der am Tisch gesessen hatte, erhob sich, nahm die rotgefiederte Maske ab und trug darunter die schwarze Sklavenmaske. Thissell wandte den Kopf. Hinter ihm stand Haxo Angmark. Er trug eine Maske, die Thissell als die des Drachenzähmers erkannte. Sie bestand aus schwarzem Metall, die Nase war aus einem Messerblatt geformt, die Augenlöcher steckten in tiefen Taschen, und drei Kämme liefen über den Skalp.
Angmarks Stimme klang triumphierend: »Sie haben sich leicht fangen lassen.«
»Sie auch«, erwiderte Thissell. Der Sklave hatte ihm die Handgelenke gebunden. Ein Wirbel auf Angmarks Hymerkin schickte ihn jetzt weg.
»Stehen Sie auf«, sagte Angmark. »Setzen Sie sich.«
»Worauf warten wir?« wollte Thissell wissen.
»Zwei unserer Kollegen sind noch auf ihren Hausbooten in der Nähe. Ich brauche sie nicht als Zuschauer für mein Vorhaben.«
»Und worin besteht dieses Vorhaben?«
»Sie werden es noch rechtzeitig erfahren«, sagte Angmark. »Uns bleibt noch etwa eine Stunde Zeit.«
Thissell zerrte vorsichtig an den Fesseln. Sie waren zweifellos fest.
Angmark setzte sich ihm gegenüber. »Wie kamen Sie gerade auf mich? Ich gebe zu, ich bin neugierig.«
Er schüttelte den Kopf, als Thissell schweigend dasaß. »Na, na«, spöttelte er, »wollen Sie nicht eingestehen, daß ich Sie besiegt habe? Sie machen die Sache nur für sich selbst unangenehmer.«
Thissell zuckte die Schultern. »Ich habe nach einem einfachen Prinzip gearbeitet: Ein Mensch kann sein Gesicht, nicht aber seine Persönlichkeit verbergen.«
»Aha«, sagte Angmark. »Interessant. Fahren Sie fort.«
»Ich lieh mir einen Sklaven von Ihnen und den beiden anderen Ausländern und fragte sie genau aus. Welche Masken hatten ihre Herren in dem Monat vor Ihrer Ankunft getragen? Ich bereitete eine Tabelle vor und schrieb die Antworten nebeneinander auf. Rolver trug den Vogel-Tarn achtzig Prozent der Zeit, die übrigen zwanzig Prozent verteilten sich auf den Sophisten und die Komplizierte Schwarze Maske.
Welibus hatte eine Vorliebe für die Masken des Kan-Dachan-Zyklus. Er trug den Chalekun, den Unerschrockenen Fürsten und den Meerhelden. Darüber hinaus hatte er noch für zwei Tage der Woche den Südwind und den Fröhlichen Gesellen.
Kershaul war konservativer. Er trug die meiste Zeit seine Höhleneule und nur ab und zu den Sternenwanderer und zwei oder drei andere Masken.
Wie ich schon sagte, erlangte ich diese Informationen durch die sicherste Quelle: die Sklaven. Mein nächster Schritt bestand darin, euch drei zu überwachen. Jeden Tag notierte ich die Masken, die ich sah, und verglich sie mit meiner Tabelle.
Rolver trug sechsmal den Vogel-Tarn und zweimal die Komplizierte Schwarze. Kershaul trug fünfmal die Höhleneule, einmal den Sternenwanderer, einmal die Fünfergliederung und einmal das Ideal der Perfektion. Welibus trug zweimal den Smaragdberg, dreimal den dreifachen Phönix, einmal den Unerschrockenen Fürsten und zweimal den Haifisch-Gott.«
Angmark nickte gedankenvoll. »Ich sehe meinen Fehler ein. Ich habe unter den Masken von Welibus ausgewählt – aber nach meinem eigenen Geschmack. Damit habe ich mich, wie Sie ausführen, verraten. Aber nur Ihnen gegenüber.«
Er erhob sich und ging ans Fenster. »Kershaul und Rolver kommen jetzt ans Ufer. Sie werden bald ihren Geschäften nachgehen. Obwohl ich bezweifle, daß sie überhaupt eingreifen würden. Sie sind beide echte Sirener geworden.«
Thissell wartete schweigend. Zehn Minuten vergingen. Dann ging Angmark an ein Regal und holte ein Messer. Er sah Thissell an. »Stehen Sie auf!«
Thissell erhob sich langsam. Angmark näherte sich ihm von der Seite. Blitzschnell holte er aus und riß ihm die Maske vom Gesicht. Thissell keuchte und machte einen vergeblichen Versuch, sie wieder an sich zu bringen.
Zu spät. Sein Gesicht war nackt.
Angmark drehte sich um, nahm seine eigene Maske ab und setzte die Nachtschwärmer-Maske auf. Er schlug sein Hymerkin an.
Zwei Sklaven kamen herein und blieben wie vom Donner gerührt stehen, als sie Thissell ohne Maske sahen.
Angmark spielte einen schnellen Wirbel und sang dazu: »Bringt diesen Mann sofort auf die Docks hinaus.«
››Angmark!« schrie Thissell. »Ich habe keine Maske!«
Die Sklaven packten ihn und schleppten ihn trotz seiner Gegenwehr hinaus auf Deck und über die Laufplanke ans Ufer.
Angmark legte einen Strick um Thissells Hals. Er sagte: »Sie sind jetzt Haxo Angmark, und ich bin Edwer Thissell. Welibus ist tot. Sie sind nun auch bald tot. Ich kann Ihre Stelle ohne Schwierigkeiten einnehmen. Ich werde die Musikinstrumente wie ein Nachtmann spielen und dazu wie ein Rabe krächzen. Ich werde den Nachtschwärmer tragen, bis er in Brüche geht, und mir dann eine neue Maske beschaffen. Nach Polypolis geht der Bericht, daß Haxo Angmark tot ist. Alles wird sich in Wohlgefallen auflösen.«
Thissell hatte ihm kaum zugehört. »Das können Sie nicht«, flüsterte er. »Meine Maske, mein Gesicht …«
Eine große Frau mit einer blau-rosa Blumenmaske kam über das Dock. Sie sah Thissell, stieß einen schrillen Schrei aus und warf sich zu Boden.
»Kommen Sie nur«, sagte Angmark heiter. Er zerrte an dem Strick und zog Thissell über die Docks. Ein Mann in der Maske eines Piratenhäuptlings kam gerade von seinem Hausboot ans Ufer und blieb starr vor Schreck stehen.
Angmark spielte das Zachino und sang: »Weicht aus, hier kommt der Gewohnheitsverbrecher Haxo Angmark. In allen Welten ist sein Name mit Schmutz und Schande befleckt. Jetzt habe ich ihn gefangen, und er soll einen schimpflichen Tod sterben. Weicht aus, hier kommt Haxo Angmark!«
Sie wandten sich in Richtung der Promenade. Ein Kind schrie vor Angst. Ein Mann fluchte. Thissell stolperte. Aus seinen Augen liefen Tränen. Sie verzerrten das Bild und ließen ihn nur verwischte Formen und Farben erkennen. Angmarks wohlklingende Stimme schallte herausfordernd über die Promenade:
»Weicht aus, weicht ihm aus, dem Verbrecher der Heimatplaneten, Haxo Angmark! Verfolgt seine Hinrichtung!«
Schwach rief Thissell: »Ich bin nicht Angmark. Ich bin Edwer Thissell. Er selbst ist Haxo Angmark.«
Aber niemand hörte ihm zu. Nur Rufe des Entsetzens, der Angst und des Abscheus wurden laut, als die Menschen sein unbedecktes Gesicht sahen.
Er rief Angmark zu: »Geben Sie mir meine Maske – oder wenigstens ein Sklaventuch.«
Angmark sang jubelnd: »In Schande lebte er, in Schmach soll er sterben!«
Ein Waldgeist stellte sich vor Angmark. »Nachtschwärmer, hier treffen wir uns schon wieder.«
Angmark sang: »Geh zur Seite, Freund Waldgeist. Ich muß diesen Verbrecher richten. In Schande lebte er, in Schmach soll er sterben!«
Eine Menschentraube hatte sich um die Gruppe gebildet. Masken starrten Thissell mit Schaudern und Entsetzen an.
Der Waldgeist entriß Angmarks Hand das Seil und warf es zu Boden. Die Menge schrie. Stimmen der Angst wurden laut: »Kein Duell, kein Duell. Tötet zuerst das Ungeheuer!«
Ein Tuch wurde über Thissells Kopf geworfen. Thissell erwartete die Klinge. Aber statt dessen wurden ihm die Fesseln durchgeschnitten. Hastig umhüllte er sein Gesicht mit dem Tuch und starrte durch die Falten auf die Szene.
Vier Männer hielten Haxo Angmark fest. Der Waldgeist stand ihm gegenüber und spielte das Skaranyi.
»Vor einer Woche hast du deine Hand ausgestreckt, um mich meiner Maske zu berauben. Nun hast du dein perverses Ziel erreicht.«
»Aber er ist ein Verbrecher«, schrie Angmark. »Er ist ein entsetzlicher Gewohnheitsverbrecher.«
»Was für Taten wirft man ihm vor?« sang der Waldgeist.
»Er hat gemordet, betrogen. Er hat Schiffe zum Untergang gebracht, er hat Menschen gefoltert. Er hat betrogen, geraubt und Kinder in die Sklaverei verkauft. Er hat …«
Der Waldgeist unterbrach ihn. »Deine religiösen Überzeugungen sind mir gleichgültig. Aber für deine eigenen Verbrechen mußt du bestraft werden.«
Der Stallbesitzer trat näher. Er sang mit dröhnender Stimme: »Dieser freche Nachtschwärmer hat vor neun Tagen versucht, mich um mein bestes Pferd zu bringen.«
Ein anderer Mann drängte sich nach vorne durch. Er trug die Maske des Universalexperten und sang: »Ich bin ein Meister im Maskenanfertigen. Ich erkenne diesen Ausländer, der die Maske des Nachtschwärmers trägt. Erst vor kurzem betrat er meinen Laden und verspottete meine Kunst. Er verdient den Tod.«
»Tod dem Ungeheuer aus dem Ausland«, schrie die Menge. Die Männer drängten vorwärts.
Stahlklingen wurden gehoben. Sie erreichten ihr Ziel.
Thissell beobachtete die Szene. Er war nicht fähig, sich zu rühren. Der Waldgeist näherte sich ihm, spielte seine Stimic und sang ernst:
»Für dich haben wir Mitleid, aber auch Verachtung. Ein wahrer Mann sollte sich einer solchen Unwürde niemals aussetzen.«
Thissell holte tief Atem. Er griff nach seinem Gürtel und fand das Zachinko. Er sang:
»Mein Freund, du sagst harte Worte! Kannst du nicht echten Mut würdigen? Was würdest du vorziehen? Im Kampf zu sterben oder ohne Maske über die Promenade zu gehen?«
Der Waldgeist antwortete: »Darauf gibt es nur eine Antwort. Lieber würde ich im Kampf sterben. Ich könnte die Schande nicht ertragen.«
Thissell sang: »Ich hatte auch die Wahl. Ich konnte mit gefesselten Händen kämpfen und sterben. Oder ich konnte Schande ertragen und dadurch meinen Feind besiegen. Du gibst zu, daß es dir an strakh für eine solche Tat fehlt. Ich habe mich als Held erwiesen. Ich frage euch, die ihr hier steht, ob einer von euch den Mut aufgebracht hätte, es mir gleichzutun?«
»Mut?« fragte der Waldgeist. »Ich fürchte nichts, nicht einmal den Tod aus der Hand der Nachtmänner.«
»Dann antworte!«
Der Waldgeist trat einen Schritt zurück. Er spielte das Doppel-Kamanthil. »Es war in der Tat Tapferkeit, wenn du von solchen Motiven gelenkt wurdest.«
Der Stallbesitzer spielte eine unterdrückte Melodie auf seinem Gomapard und sang: »Nicht einer unter uns hätte gewagt, was dieser maskenlose Mann getan hat.«
Die Menge murmelte Beifall.
Der Maskenmacher näherte sich Thissell und strich feierlich über sein Doppel-Kamanthil. »Ich bitte Sie, in meinen bescheidenen Laden zu treten, der gleich hier gegenüber liegt, und diesen schmutzigen Lappen gegen eine Maske einzutauschen, die Ihrem Heldentum entspricht.«
Ein anderer Maskenmacher sang: »Bevor Sie wählen, Held von Sirene, sehen Sie auch meine Schöpfungen an.«
Ein Mann in der leuchtenden Maske des Himmelsvogels trat vor und näherte sich Thissell unterwürfig.
»Ich habe soeben ein prachtvolles Hausboot geschaffen. Siebzehn Jahre Arbeit stecken darin. Gewährt mir die Gnade, dieses Meisterstück edler Handwerkskunst annehmen zu wollen. An Bord werden Sie flinke Sklaven und hübsche Sklavinnen bedienen. Im Vorrat liegt bester Wein, und die Decks sind mit weichen Seidenteppichen belegt.«
»Danke«, sagte Thissell und schlug das Zachinko mit solcher Macht und solchem Selbstvertrauen wie nie zuvor. »Ich nehme es mit Freuden an. Aber zuerst brauche ich die Maske.«
Der Maskenmacher schlug einen fragenden Wirbel auf seinem Gomapard.
»Würde der Held von Sirene eine Seedrachen-Eroberer-Maske als unter seiner Würde befindlich betrachten?«
»Keineswegs«, sang Thissell. »Ich halte sie für angemessen und zufriedenstellend. Gehen wir. Ich will sie mir ansehen.«