Der
Sicherheitsfaktor
von
JAMES E.GUNN
Terry Phillips beobachtete ihren Mann, als er aus dem Schlafzimmer kam und das ergrauende Haar bürstete. Nach dem Waschen wollte es nie richtig liegen, nicht einmal, wenn Lloyd es mit einer Strumpfmütze zu bändigen versuchte. Das machte die Schwerkraft von ein Drittel g.
Einen Augenblick vergaß sie die zehn Jahre, die alles hatten zur Gewohnheit werden lassen, und sah ihn mit objektiven Augen an. Diese zehn Jahre hatten Lloyd über das normale Maß hinaus altern lassen. Für einen Mann Anfang der Vierzig wirkte er erschreckend verbraucht. Sein Gesicht war dunkel und von kleinen Falten durchzogen. Der graue Star hatte seine Augen gezeichnet. Aber trotz allem war er immer noch ein ansehnlicher Mann, fast so ansehnlich wie damals, als sie gemeinsam vor dem Altar gestanden hatten.
Es gab auch unangenehme Erinnerungen, aber daran wollte sie nicht denken. Nicht jetzt. Jetzt, da sie sich endlich entschlossen hatte.
Lloyd war bedrückt. Ob es wegen des Schiffes war?
Aber zuallererst fragte er nach den Kindern.
Terry lachte. Sie konnte immer noch lachen. »Paul und Carl sind seit Stunden auf. Es ist zehn, du Schlafmütze. Sie werden im Spielzimmer sein.«
»Oh, schön, schön.« Er rieb sich geistesabwesend über das Kinn und starrte die Sprossen der Metalleiter an, die an der inneren Wand befestigt war. Sie führte zu einer quadratischen Tür in der konvexen Decke. Die Tür war geschlossen. Etwas polterte dagegen. Sie hörten unterdrücktes Gelächter.
»Das Frühstück ist fertig«, sagte Terry sanft.
Lloyd fuhr auf. »Oh. Ja.« Er setzte sich und leerte das Glas mit dem aufgelösten Orangenpulver. Er machte sich über die pulverisierten Eier her, als ob sie ihm wirklich schmeckten. »Ich bin gestern erst spät ins Bett gekommen. Nach eins. Hoffentlich habe ich dich nicht geweckt.«
Terry log. »Nein. Waren die Filme wieder schlecht?«
Lloyd runzelte die Stirn und nickte. »Zweihundertfünfundneunzig Tage. Wenn sie noch einen Tag durchhalten, schaffen sie es. Die ersten Männer, die die Reise zum Mars erfolgreich beenden. Sie müssen einfach durchhalten.«
Sie sagte langsam: »Ich glaube, du bist der kaltblütigste Mensch auf der ganzen Welt. Diese Männer sind deine Freunde, und dir liegt der Erfolg der Reise mehr am Herzen als die Frage, ob sie am Leben bleiben werden.«
Lloyd schlürfte den Pulverkaffee. »Glaubst du, daß ich nicht liebend gern mit jedem von ihnen getauscht hätte? Sie wußten, worum es ging. Sie wußten auch, daß die beiden vorangegangenen Versuche gescheitert waren. Auf schreckliche Art gescheitert. Sie waren über alles aufgeklärt.
Wenn du wüßtest, was es heißt, im Beobachtungsraum zu sitzen und zuzusehen, wie sie bis an den Rand des Wahnsinns oder noch weiter gelangen! Und man ist sich bewußt, daß man Gott weiß wie viele Meilen von ihnen entfernt ist und nichts, einfach nichts, tun kann.«
»Es tut mir leid. Vergessen wir es.«
Lloyd warf ihr einen schnellen Blick zu. »Es tut dir nicht ehrlich leid, nicht wahr?« Er wartete eine Zeitlang. »Ich habe mich entschlossen, den Kindern zum Geburtstag kleine Raumschiffe zu kaufen.«
Terry setzte die Tasse ab, die sie zwischen beiden Händen gehalten hatte, wie um sich zu wärmen. »Lloyd! Carl ist kaum sechs und Paul erst acht.«
»Du kannst sie nicht für immer in diesen sechs Räumen einsperren. Sie sind verantwortungsbewußt. Und die Sache ist völlig sicher.«
»Sie werden sie nie benutzen«, sagte Terry mit eisenharter Entschlossenheit. Ihre Lippen waren zu einem dünnen, blassen Strich zusammengepreßt. »Ich kann es dir auch gleich sagen. Ich verlasse dich und nehme die Kinder mit. Ich wollte dich nicht beunruhigen, solange du diese Sorgen mit der Santa Maria hast, aber so kann es nicht weitergehen.«
»Terry!« Lloyds Augen zeigten einen erschreckten und verletzten Ausdruck. »Ich weiß, es ist nicht leicht, mit mir zu leben, aber ich bin doch nicht anders als früher. Du weißt, daß ich nicht ohne dich und die Kinder sein könnte. Du bist meine Frau …«
Terry schüttelte traurig den Kopf. »Du bist mit diesem Rad da draußen verheiratet. Du bemutterst die anderen Männer der Station. Du brauchst keine Frau. Ich weiß nicht, weshalb ich je glaubte, daß ich das aushalten könnte. Ich muß verrückt gewesen sein. Jeder sagte, ich sei verrückt, als ich mit dir hier herausging.
Ich lebe nun seit zehn Jahren in dieser Kugel. Sie stinkt, Lloyd. Es gibt kein anderes Wort dafür. Nach altem Schweiß und altem Essen und öl. Die Luft ist so feucht und dicht, daß man sie wie nasse Watte in den Lungen spürt. Ich möchte mich wieder als Mensch fühlen können. Ich gehe nach innen, Lloyd. Und ich komme nie wieder heraus.« Ihre Stimme war einer Hysterie nahe. »Nie wieder!«
»Aber es gibt doch noch andere Frauen hier draußen, Terry. Es ist eine Dauerbasis. Wir sind Bewohner des Raumes. Du kannst nicht erwarten, daß wir ohne unsere Familien leben …«
»Frauen können hier draußen nicht leben, Lloyd.« Terry versuchte, ihre Stimme zu beherrschen. »Die anderen Frauen sind Einsiedler, wie ich. Wie lange ist es her, daß ich eine von ihnen außerhalb ihres Kokons gesehen habe? Wenn wir uns treffen – dann höchstens zu Fernsehsendungen. Hast du je versucht, beim Fernsehen Bridge zu spielen? Eine richtige Frau habe ich seit Jahren nicht mehr zu Gesicht bekommen.«
Lloyds Stimme war plötzlich nüchtern. »Hast du auch an die Kinder gedacht?«
»Ich habe nur an sie gedacht. Weißt du, daß diese Kinder noch nie auf der Erde waren? Noch nie! Daß sie um ihr Geburtsrecht betrogen werden – um den blauen Himmel, das grüne Gras. Sie können nie richtig Baseball spielen. Sie werden nie Menschen sein.« Ihre Stimme überschlug sich jetzt. »Sie werden wie Ungeheuer aufwachsen. Ja, Ungeheuer!«
Lloyd sah sie an. Er rührte sich nicht, und er sagte kein Wort. Dann meinte er: »Ich glaube, sie sind verflixt nette Kerle. Übertrage deine Enttäuschungen nicht auf sie, Terry. Kinder sehen die Dinge mit anderen Augen an als wir. Solange sie Liebe und Geborgenheit haben …«
Sie keuchte vor Anstrengung.
Lloyd sagte sanft: »Vielleicht brauchst du Urlaub. Wir können ihn uns leisten.«
»Wieder Urlaub? Ohne die Kinder? Nein, danke. Wenn ich gehe, dann ist es für ganz, und ich nehme die Kinder mit.«
Lloyds Gesicht wurde verschlossen. Er biß sich auf die Unterlippe, wie immer, wenn er seine Gefühle zu unterdrücken suchte.
Wenn er nur einmal die Beherrschung verlöre, dachte Terry. Nur einmal. Dann müßte ich nicht raten …
Lloyds Stimme war spröde. »Gib mir ein wenig Zeit, daß ich darüber nachdenken kann. Bitte, Terry.«
Sie nickte zögernd. Sie konnte es nicht sehen, wenn er so verletzt war. Immer noch nicht.
»Und beunruhige bitte die Kinder nicht«, sagte Lloyd. »Laß sie nicht merken, daß wir Streit hatten – vor allem nicht, daß es dabei um sie ging.«
»Immer der Psychologe«, sagte Terry bitter.
»Vielleicht war es diesmal sogar der Vater.« Lloyd drehte sich um und ging schnell die Leiter hinauf. Er stieß die Falltür auf. Jetzt hörte man deutlich das Lachen und die Kinderstimmen. »Daddy! Daddy! Sieh mich mal an!«
Terry blinzelte, um die Tränen zurückzuhalten.
»Lloyd! Lloyd!« sagte sie. »Wenn du nur mich auch lieben würdest!« Aber sie sagte es zu sich selbst.
Es waren kräftige Jungen, braun gebrannt, mit langen Armen und Beinen und der Art von dunkelbraunen Augen, die fast schwarz wirken und die Erwachsenen durchdringend ansehen können. Sie schwebten wie grazile Fische im Mittelpunkt des kugelförmigen Spielzimmers, mit lachenden Gesichtern.
Lloyd blickte sie an, und er spürte einen Klumpen in seinem Innern. Was wäre er ohne sie? Ein langsam sterbender, alter Mann.
»Hallo, Kinder!« rief er. »Was spielt ihr heute?«
»Marsianer«, erwiderte Paul. »Er ist Marsianer, und ich bin Terraner. Ich muß ihn fangen, weil er versucht, mich von der Landung abzuhalten. Wenn ich ihn in fünf Zügen erwische, darf ich auf dem Mars landen, und wenn er mir wegschwebt, bin ich tot.«
»Fang mich doch! Fang mich doch!« schrie Carl. Er streckte Paul die Zunge heraus und stieß sich ab. Er prallte an der gegenüberliegenden Wand ab und purzelte zurück. Im Mittelteil, wo die Schwerkraft praktisch ganz ausgeschaltet war, wurde er wieder in eine andere Richtung geworfen.
Lloyd hatte noch nie so etwas gesehen.
Paul glitt mit ausgestreckten Händen dahin und verfehlte seinen Bruder nur um Zentimeter. Der ältere Junge landete an der gekrümmten Wand und stieß sich mit den Beinen erneut ab.
Lloyd ließ sich zur Decke treiben. Neben diesen braungebrannten, geschmeidigen Gestalten kam er sich alt und steif vor. Er berührte die innere Tür und kam langsam vom Handstand auf die Beine, als sie sich öffnete. Er schlüpfte durch.
Als er mit geübter Hand die Verschlüsse des Raumanzugs festhakte, dachte er immer noch an die Stimmen. Kinder spielten nun mal so. Inmitten von Kriegen waren sie Soldaten. Inmitten von Epidemien waren sie Ärzte und Krankenschwestern. Und mitten im Raum …
Die anderen Anzüge hingen wie enthauptete Ungeheuer an der viereckigen Säule. Terry hatte ihren Anzug seit langer Zeit nicht mehr benutzt. Wenn sie fort wollte, würde er ihn gut überprüfen müssen …
Nein. Daran wollte er nicht denken.
Er öffnete die äußere Tür und glitt hindurch. Dann tastete er nach dem Ringhaken und verschloß sie wieder. Er konnte jetzt sein Heim von außen sehen.
Es war eine Kugel, eine Miniaturwelt. Etwa dreißig Fuß im Durchmesser. Das ist nicht zuwenig, wenn man bedenkt, daß jedes kleinste Stückchen Platz ausgenutzt werden kann. Die Kugel rotierte, um in den Räumen, die der Oberfläche am nächsten waren, die Illusion von ein Drittel g zu erzeugen. Der Mittelachse zu wurde die Schwerkraft immer geringer. Diese Achse bestand aus einer Luftschleuse, einem imaginären Zylinder, der durch das Spielzimmer und den Vorratsraum lief.
Um die Kugel war der Raum – rußigschwarze Nacht, in der mehr Sterne funkelten, als es den Menschen erscheinen mußte, die den Himmel durch das Luftfilter der Erde betrachteten.
Dort rechts war die rote Scheibe des Mars, näher als all die anderen, die er sehen konnte, aber immer noch sehr, sehr weit weg. Zu seiner Linken lag die Erde, eintausendfünfundsiebzig Meilen entfernt. Sie war jetzt dunkel, da Mond und Sonne sich auf der ihm abgewandten Seite befanden. Eine große, schwarze Scheibe, hier und da erhellt von den rötlichen Lichtern der Städte, größer als alle Sterne der Umgebung. Einen Augenblick schien sie unter ihm zu schweben, dann war es, als wollte sie ihn mit ihrem Gewicht erdrücken.
Hier draußen, wo es kein Auf und Ab gab, wo die einzigen Richtungen nah und fern waren, konnte der Mensch verzweifeln. Er konnte sich Illusionen hingeben und dabei verrückt werden. Was mußten erst die armen, verlorenen Kerle da draußen vor dem Mars erleiden, die so weit weg von der Heimat waren, daß ihnen die Erde wie irgendein Stern unter Millionen erschien? Er sah wieder in die Richtung des Mars, aber es war natürlich unmöglich, die Santa Maria zu erspähen. Selbst mit dem besten Teleskop der Station konnte man sie jetzt nicht mehr erreichen.
Ein paar hundert Fuß weiter weg war das Rad, ein rotierender Ring, der von einer einzigen Speiche zusammengehalten wurde.’ Es schimmerte im Sternenlicht weiß und gegen das Samtschwarz der Nacht. Rund um das Rad waren die Kugeln der anderen Heime angeordnet – neun insgesamt. Irgendwie ließen sie das Rad menschlicher aussehen. Sie gaben ihm ein Gesicht, ließen es weniger als eine vorgeschobene Basis, sondern vielmehr als eine Kolonie von Männern und Frauen erscheinen, die freiwillig hier lebten. Er konnte nicht zulassen, daß diese Illusion zerstört wurde.
Es war schwer für eine Frau. Männer können manchmal von Träumen leben, aber Frauen brauchen etwas Greifbares. Und Männer wiederum brauchen ihre Frauen und Kinder. Sie haben es immer wieder fertiggebracht, Frauen in wilde Grenzgebiete mitzunehmen und dort ihre Heime zu bauen.
Die Frage war die: Waren die Männer so weit an die Grenzen vorgedrungen, daß die Frauen ihnen nicht mehr folgen konnten?
Er stieß sich zum Rad hin ab und schwebte mühelos hinüber. Als er die Nabe erreicht hatte, hielt er sich mit dem Ärmelhaken seines Anzugs an dem Käfig fest, in den die Taxis mit ihrer menschlichen Last einfuhren.
Er ging durch die Luftschleuse, zog seinen Anzug aus und hängte ihn an den Haken. Dann kletterte er die pendelnde Strickleiter zum Gewichtskontrollraum hinunter. Hier unten war die Luft schlecht – dick, heiß und feucht. Angefüllt mit den Gerüchen, die arbeitende Menschen verbreiten.
Colonel Danton erwartete ihn vor dem Observatorium. Er wirkte alt, hager und krank. Nur noch ein paar silberweiße Fäden waren von seinem vollen Haar übriggeblieben. Der graue Star hatte seine Augen fast völlig erblinden lassen. Sein Körper war gebeugt und ausgelaugt. Er wirkte wie achtzig, obwohl er kaum fünfzig war.
Noch einen Fehlschlag hält er nicht aus, dachte Phillips.
»Jim Faust ist hier«, sagte Danton. In seiner Stimme war immer noch Festigkeit und Befehlskraft.
»Hier?« fragte Lloyd. »Was will er?«
»Er ist beunruhigt. Er möchte die Filme selbst durchgehen. Er glaubt, daß er uns nicht mehr unterstützen kann, wenn dieser Versuch fehlschlägt.«
Lloyd starrte Danton nachdenklich an. »Du brauchst die Sache nicht noch einmal durchzugehen. Mach dir heute einen schönen Tag.«
Dantons Kinn schob sich vor, doch dann entspannte er sich wieder. »War das der Befehl des Arztes? Nun, unterhalte ihn gut, Lloyd. Wir sehen uns beim Mittagessen.«
Lloyd drehte sich um, öffnete die abgedichtete Tür und betrat das Dunkel des provisorischen Filmraums, in dem sich Faust die Spule des fünften Tages ansah …
Fünf Tage draußen. Die Santa Maria war eine Million Meilen von der Erde entfernt. Das Schiff war ein Kinderspielzeug aus Kugeln, Zylindern und Raketentriebwerken, zerbrechlich und schwach. Es war ganz weiß. Es schimmerte im erbarmungslosen Sonnenlicht wie Porzellan.
Die obere Hälfte des Mittelzylinders enthielt die technische Ausrüstung, die man für die Erforschung des Mars brauchen würde. Darüber befand sich der kugelförmige Wohnbereich des Personals, immer wieder unterbrochen von Sichtluken und jalousieartigen Temperaturreglern. Er war aufgeteilt in drei Decks – das Vorratsdeck mit den Spinden für die Raumanzüge und der zylindrischen Luftschleuse, das Wohndeck und das Steuerdeck. Darüber stand die Kunststoffblase der Astrokuppel.
Das Schiff schaukelte langsam, als es in der Ellipsenbahn von siebenhundertfünfunddreißig Millionen Meilen um die Erde schwebte. Es war die Bahn, die es in eine Umlaufbahn um den Mars bringen sollte, sobald der rote Planet diesen Punkt erreichte. Fünfzehn Minuten lang hatten die Raketentriebwerke geheult. Für den Rest der zweihundertsechzig Tage dauernden Reise würden sie schweigen.
Innerhalb der Kugel war alles auf Zweckmäßigkeit abgestimmt: übermaltes Metall, Kunststoff, Gummi. Jede Wand des Schiffes und sogar die Zwischenwände und Decken waren ausgenützt für Meßgeräte, Leitungen, Spinde, Kojen, Stühle, Tanks, Rohre …
Das Steuerdeck war ein Universum für sich – eine Welt der Apparaturen und Kontrollampen. Aber der Mann am Schaltpult warf ihnen nur gelegentlich einen Blick zu. Er starrte durch die Astrokuppel und hielt nach der Erde Ausschau, während das Schiff langsam dahintrudelte.
Wie alle Mannschaftsmitglieder war Burt Holloway nicht sehr groß. Ein schlanker Einsfünfundsiebziger mit feingliedrigen Händen, kurzgeschnittenem, blondem Haar und sehr blauen Augen. Man konnte ihn nicht hübsch nennen. Die Männer sagten, sein schmaler Mund und das fliehende Kinn erinnerten an ein Affengesicht, aber die Frauen bemutterten ihn gern. Im Augenblick war er barfuß und trug lediglich Shorts.
Vier Mann hielten sich auf dem Wohndeck auf. Dieses Deck war von den beiden anderen Decks aus durch konzentrisch geschnittene Öffnungen in den Trennwänden erreichbar. Der Mittelpunkt war durch einen roten Metallpfosten kenntlich gemacht. An einer der gekrümmten Flächen befanden sich Kojen, die zurückgeklappt werden konnten. Die andere Hälfte des Raumes gehörte zur Eßzone. Ein Automat, aus dem man einen fertigen kleinen Imbiß holen konnte, eine riesige Tiefkühltruhe, die bis ins Vorratsdeck reichte, ein Kurzwellenofen und ein runder Tisch bildeten hier die Einrichtung.
Jack ›Iron‹ Barr, ein untersetzter Mann mit harten Muskeln und einem wüsten roten Haarschopf, lag angeschnallt auf seiner Koje. Er hatte dunkelblaue Augen, und seine Brauen stießen über der Adlernase in einer geraden Linie zusammen. Er las einen Brief, der auf blaßblaues Papier geschrieben war. Hin und wieder hielt er ihn nahe ans Gesicht, roch daran, schloß die Augen und lächelte breit.
»Jetzt kommt es«, sagte er heiser. »Hört mal alle her: ›Liebster, Goldschatz, mein Einziger! Ich werde nie die Nacht vergessen, in der du mir …«
»… den Großen Bären zeigtest«, unterbrach ihn Ted Craddock, indem er den Satz beendete. Er saß vor dem Tisch, eine Flasche Orangensaft in der gebräunten Hand. Er war der Benjamin der Gruppe, ein fünfundzwanzigjähriger Mann mit angenehmen Zügen und einer dunklen, gesunden Hautfarbe. Um seine braunen Augen spielten Lachfältchen. »Dieses Weib muß ihre Liebesbriefe in Parfüm tauchen. Tu das Zeug weg, Iron, es verstänkert den ganzen Raum.« Er unterbrach sich und hustete unterdrückt.
»Besser als der andere Gestank, den wir die ganze Zeit einatmen müssen«, meinte Barr verärgert. »Ich schwöre euch, daß ich keine Ahnung hatte, wie ihr Kerle stinken könnt. Und du, Ted, verteil nicht deine ganzen Bazillen auf uns. Warum hältst du dir nicht die Hand vor den Mund? He, jetzt hört mal den hier an.« Er holte ein zusammengefaltetes rosa Blatt aus dem Bund seiner Shorts. »Das war ein kleiner blonder Engel …«
»Laß das, Iron«, sagte Emil Jelinek ruhig. Er war um einige Jahre älter als Barr, der Endzwanziger, – ein schmaler, eckiger Mann mit spärlichem schwarzem Haar und einem verwegenen Schnurrbart. Er lag in der Koje neben Barr und hatte die Hände unter dem Kopf verschränkt. »Weiber sind mehr als zweieinhalb Jahre von uns entfernt. Bis du zurückkommst, hat jede von deinen Bräuten mindestens zwei Kinder.«
»Die nicht«, brüstete sich Barr. »Die warten. Da, hier hat Ellen es mir geschrieben. Sie schreibt, daß sie fünf oder auch zehn Jahre auf mich warten will, wenn es sein muß. Sie sagt, daß keiner es mit mir aufnehmen könne.«
Tony Migliardo schwebte am anderen Ende des Decks neben dem Imbiß-Automaten. Er war ein gutaussehender, dunkelhäutiger Mann mit feuchtbraunen Augen und blauschwarzem Haar. Jetzt lachte er. »Es gibt viele Männer wie dich, Iron, und sie wird sie finden – Fortpflanzungsorgane mit geringeren Neigungen zum Raumflug.«
»Du schmutziger, kleiner …« Barr versuchte, von seiner Koje aufzuspringen, aber der Gurt, mit dem er festgeschnallt war, hinderte ihn daran.
Jelinek wandte den Kopf und sah Barr scharf an. »Seid mal für zehn Sekunden alle still. Wenn ihr schon nach fünf Tagen so streitet, was wollt ihr dann in zweihundertsechzig Tagen machen? Mig? Hast du verstanden?«
»Es tut mir wirklich leid, Iron«, entschuldigte sich Migliardo. »Ich hätte das nicht sagen sollen.«
Barr entspannte sich. »Schon gut.«
»Und Iron«, fügte Jelinek hinzu. »Ich halte es für besser, wenn du uns mit den Einzelheiten deiner Eroberungszüge verschonst. Es gibt genug andere Dinge, für die wir unsere Nerven brauchen.«
Barr brummte vor sich hin. »Ihr Kerle seid selbst schuld, wenn ihr weiterhin so weltfremd bleibt. Bitte, meinetwegen.«
Craddock begann zu husten.
Barr warf sich herum und starrte ihn an. »Und du? Geht einem das vielleicht nicht auf die Nerven?«
»Mal sehen, was man dagegen tun kann«, sagte Jelinek. »Ted?« Er öffnete eine Schublade über seinem Kopf und holte einen Augenspiegel heraus.
Craddock befreite sich aus den Tischschlingen und schwebte auf Jelineks Koje zu. Er hielt sich dort mit einer Hand fest, während Jelinek seinen Hals untersuchte. »Die Ränder sind entzündet, aber das könnte auch vom Husten kommen.« Er holte einen kleinen Metallbehälter aus der Schublade und drückte einen Hebel zur Seite. Zwei glatte blaue Pillen rollten in seine Hand. »Ein wenig Penicillin kann nicht schaden. Hol dir in sechs Stunden noch eine Dosis.«
»He, Emil!« rief Barr plötzlich. »Das mit den fünf Tagen kann nicht stimmen.«
Migliardo warf einen Blick auf die Repetieruhr an der Wand. »Fünf Tage, eine Stunde, sechzehn Minuten und einunddreißig Sekunden.«
»Diese Uhr muß falsch gehen«, murmelte Barr. »Es ist bestimmt schon ein Monat vorbei.«
»Sie läuft synchron mit dem kristallstabilisierten Zeitmesser vom Steuerdeck«, erklärte Jelinek. »Eine genauere Zeitangabe gibt es gar nicht.«
»Ich traue es Phillips ohne weiteres zu, daß er sie auf langsam stellt«, murmelte Barr. »Diese Tricks kenne ich bei ihm. Wenn wir dann die Hälfte geschafft haben und allmählich nicht mehr können, sagt er uns, daß wir die Reise fast hinter uns haben. Und kommt sich mächtig schlau dabei vor.«
»Hör mal, Iron«, sagte Craddock und schwebte zum Tisch zurück, »was soll das alles denn? Nicht einmal im Spaß klingt es sehr angenehm.«
»Es ist aber kein Spaß. Ich weiß, daß wir schon länger als fünf Tage unterwegs sind.«
Craddock hielt sich an der Tischkante fest und steckte seine Beine durch die Schlingen. »Wir haben keine Funkverbindung – wie wollte er uns denn auf den Irrtum aufmerksam machen?«
»Und wofür, glaubst du, ist diese schwenkbare Parabolantenne gut?« fragte Barr sarkastisch.
»Um die Entfernung der Raketensonden abzumessen, wenn wir auf dem Mars landen.«
»Hat man uns gesagt, jawohl«, spöttelte Barr. »Und weshalb zeigt sie dauernd nach der Erde?«
»Wie soll ich das wissen?« erwiderte Craddock heftig. »Vielleicht nimmt sie andere Entfernungsmessungen vor.«
»Entfernungsmessungen! Mit der Energie, die das Ding braucht? Mach dich nicht lächerlich.«
Migliardo schluckte das letzte Stück Schokolade hinunter. »Das Ding braucht nicht viel Energie.«
Barr sah ihn verächtlich an. »Deshalb bist du auch Zweiter Ingenieur auf dieser Kiste anstatt Erster. Die Energie wird auf den Meßgeräten nicht angezeigt. Ich wunderte mich schon, weshalb der Reaktor nicht mit voller Leistung lief. Diese Antenne da braucht einen Teil für sich – und sie holt ihn sich durch eine Leitung, die nicht an das Meßgerät angeschlossen ist. Alles Schwindel!«
»Hör mal, Iron«, meinte Migliardo friedlich. »Warum sollten sie so was wohl tun?«
»Warum haben sie eine Wand des Steuerdecks versiegelt und außer Reichweite angeordnet?« fragte Barr. Er drehte sich herum und sah Jelinek an. »Du weißt mehr als die anderen, was sagst du dazu?«
»Es hieß, daß man uns einen Sicherheitsfaktor zusätzlich zu den reichlich bemessenen Treibstoffvorräten und der außergewöhnlich starken Schiffskonstruktion geben wollte.«
»Warum sagte man uns nicht, worin er besteht?«
»Als Psychologe kann ich dir verraten, daß ein Sicherheitsfaktor, den man kennt, kein Sicherheitsfaktor mehr ist. Du fängst an, ihn mit einzukalkulieren. Aber wir müssen uns völlig auf ihn verlassen können, wenn alles andere schiefgeht. Deshalb ist es besser, wenn wir nicht zu genau wissen, worin er besteht. So ist das nun mal.«
»Es ist wie der Glaube an Gott«, sagte Migliardo.
Jelinek nickte. »Ja, eine reine Glaubensangelegenheit.«
Barrs Lippen kräuselten sich. »Quatsch! Ich will wissen. Gott überlasse ich denen, die ihn brauchen. Ihn kann man mit unseren Meßgeräten nicht feststellen. Verlaßt euch darauf, dieses Geschwätz mit dem Sicherheitsfaktor ist der gleiche Unsinn. Sie sagten uns nicht, worin er besteht, weil es ihn gar nicht gibt. Diese versiegelte Wand ist Betrug. Wenn wir sie öffnen, werden wir sehen, daß sie leer ist.«
»Barr …«, sagte Migliardo angespannt.
Jelineks ruhige Stimme unterbrach ihn. »Mig! Und du, Iron, behältst deine Meinungen für dich. Nimm die Finger vom Instrumentenbrett. Wenn sich nichts dahinter befindet, ist es besser, wenn wir es nicht wissen. Dieses Gewäsch von der falschen Uhrzeit ist absurd, und du weißt es. Wir brauchen täglich die genaue Zeit, damit wir unsere Position einstellen können.«
»Nun ja«, gab Barr zu. »Aber …«
Pingngng! Ein scharfer Knall. Das Echo rollte durch das ganze Schiff. Die Lichter gingen aus.
»Meteor!« schrie jemand. Man vernahm ein Durcheinander von Befehlen. Männer stießen aneinander.
Dann rief Barr mit schneidender Stimme: »Schnauze halten! Alle. Er hat die Kugel nicht getroffen. Burt? Ist bei dir alles in Ordnung?«
»Okay«, rief Holloway vom Kontrolldeck her. »Aber das Netz wird von der Batterie gespeist. Ich versuche den Einschlag zu finden.«
»Nicht nötig«, sagte Barr. »Er ist weiter oben – entweder im Reaktor selbst oder in den Leitungen, die von ihm ausgehen.«
Mit zitternder Stimme begann Craddock: »Wenn es der Reaktor ist …«
»… sind wir tot«, unterbrach ihn Barr kurz. »Die Batterie hält das Ganze noch ein paar Stunden aufrecht, und dann wird der Klimaregler abgeschaltet.« Man hörte ein scharrendes Geräusch. »Ich gehe hinaus und sehe mal nach. Mig! Zieh deinen Anzug an. Du mußt mir vielleicht helfen.«
Und dann war auch jedes Geräusch verstummt.
Im Vorführraum des Kleinen Rades war der Bildschirm dunkel. Lloyd schaltete das Licht an und warf Faust einen Blick zu. Der elegante kleine Mann drehte sich um, und statt des gutgeformten Hinterkopfs wurden seine Gesichtszüge sichtbar. Er war nicht größer als einsfünfundsechzig, aber alles an ihm schien im rechten Verhältnis zum übrigen Körper zu stehen.
Jetzt war seine sonst glatte Stirn gerunzelt, und die blauen Augen glitzerten hart. »Du bist dran, Lloyd«, sagte er mit seiner kräftigen, redegeschulten Stimme. Er sprach etwas zu schnell. »War das das Ende? Habt ihr versucht, es vor mir zu verheimlichen?«
»Beruhige dich, Jim«, sagte Lloyd. »Wir haben dir nichts verheimlicht. Der Meteor, hat den Reaktor nicht getroffen. Er durchschnitt eine Leitung, und die Santa Maria wurde von der Batterie gespeist. Sie hat nicht allzuviel Energie, deshalb konnten wir nur Ton empfangen – und selbst das war eine Beanspruchung, der die Batterie nicht für lange gewachsen war. Barr fand die schadhafte Stelle und flickte die Leitung in fünfundzwanzig Minuten.«
Faust entspannte sich. »Ein Glück, daß sie Barr hatten. Die anderen waren ziemlich kopflos.«
»Barr ist ein Mann der Tat«, sagte Lloyd. »Als durch ein unerwartetes Ereignis schnelles, genaues Handeln nötig wurde, übernahm er die Leitung. Aus diesem Grund schickte ich ihn auch mit.«
»Er hat seinen Platz in der Mannschaft gerechtfertigt. Machen wir weiter.«
»Wir haben zweihundertneunundfünfzig Tage auf Film – je vierundzwanzig Stunden.«
Faust runzelte die Stirn. »Kann ich mich auf dich verlassen, wenn ich dich bitte, eine Auswahl zu zeigen?«
Lloyd erhob sich. Ihm erschien der Raum groß. Es war das Observatorium, zwanzig mal zwanzig Fuß. Faust hingegen empfand ihn sicher als überfüllt, stickig und stinkend. Natürlich, nach zehn Jahren kann man sich daran gewöhnen – so wie man sich an eine Frau gewöhnen kann. Und wenn sie einen verließ, war man nur noch ein halber Mann.
Er setzte sich Faust gegenüber und sah dem Politiker ernst in die Augen. »Du wirst dich auf mich verlassen müssen, Jim. Was ist in dich gefahren? Du bist unser Public-Relations-Mann. Früher hast du uns immer vertraut. Ich glaube, jetzt spricht der Politiker aus dir.«
»Ich bin beides. Die Partei stellte sich immer mehr hinter die Raumfahrt, angefangen bei diesem wahnsinnigen Wettrennen mit dem Tod damals bei Rev McMillen. Wir haben seit mehr als dreißig Jahren deine Kämpfe ausgetragen, Lloyd. Ich glaube, wir verdienen ein wenig Vertrauen.«
»Das habt ihr bekommen, du und die Partei«, sagte Lloyd leise. »Aber sag bitte nicht, es sei aus reinem Wohlwollen für mich geschehen. Du hast politisch und finanziell nicht übel Kapital daraus geschlagen. Die Partei ist die mächtigste politische Gruppe der ganzen Erde, auch wenn sie nicht die absolute Mehrheit besitzt. Und du bist der führende Kopf dieser Partei.
Auch privat hast du nicht zu klagen. Sicher, du bist kein Milliardär, aber dein Brot ist auf der richtigen Seite gebuttert. Du hattest privat einige Aktien im Großen Rad investiert. Du hast Profit aus ihnen geschlagen. Und jetzt sagst du, du kannst uns nicht mehr vertrauen.«
»Vertrauen«, wandte Faust ein, »beruht auf Gegenseitigkeit.«
»Was wäre dabei gewonnen, wenn die Welt wüßte, daß die Mannschaft der Santa Maria schon in der ersten Woche Streit bekam? Außer, daß das öffentliche Gewissen befriedigt wäre?«
»Auf dem Aktienmarkt würde es sich übel auswirken.«
Lloyd breitete die Hände mit einer eindrucksvollen Geste aus. »Und?«
»Und deshalb bin ich hier, Lloyd«, sagte Faust ruhig. »Ich muß die Wahrheit wissen. Die Planeten sind nicht unbedingt nötig. Wir können ein paar Jahre ausruhen, unsere Gewinne konsolidieren und Mars und Venus vergessen.«
»Und die Überschüsse, Jim? Die wirtschaftlichen Verlagerungen?«
»Besser jetzt eine Verlagerung, die wir unter Kontrolle bringen können, als später ein Zusammenbruch, der uns alle in den Staub wirft und Leute wie Diakon McIntire in den Sattel bringt. Wir können eine Verlagerung aushalten, wenn wir sie rechtzeitig voraussehen, wenn wir die Öffentlichkeit auf einen weiteren Fehlschlag vorbereiten. Die Leute haben zwei Schiffe am Mars vorbeifliegen und wieder umkehren sehen. Wenn wir die Nachricht dieses neuen Fehlschlags plötzlich herausbrächten, müßten wir mit einem Chaos rechnen – mit einem Chaos wirtschaftlicher und politischer Art. McIntire würde genug unserer schockierten Wähler auf seine Seite ziehen können, um seiner Fundamentalistenkoalition einen klaren Vorsprung zu verschaffen. Und wenn er erst einmal im Sattel sitzt, ist es schwer, ihn wieder herauszuheben. Wir müßten ihn umbringen lassen, und das ginge wirklich zu weit. Das möchte ich nicht erleben müssen, Lloyd. Der Raum ist wichtig, aber nicht so wichtig wie die Öffentlichkeit. Wir können ihn wiedererobern, Lloyd, wenn uns die Opposition nicht in Stücke reißt.«
»Man kann nur einmal erobern. Das ist ein Satz, den man immer wieder von Kämpfern hört. Alles hat seinen psychologisch richtigen Zeitpunkt. Das gilt auch für den Mars. Jetzt oder nie.«
Fausts Stimme klang bedauernd. »Vielleicht hast du recht, und wir werden den Mars nie erobern. Wenn das der Fall ist, wird es mir sehr, sehr leid tun. Aber ich werde weiterleben – und du auch. Die Erde liegt mir mehr am Herzen als alle Sterne.«
Lloyd sah ihn erstaunt an. »Du bist wirklich bereit, uns im Stich zu lassen? Bisher war der Raumflug das Aushängeschild eurer Partei. Könnt ihr das von heute auf morgen umstoßen?«
Faust zögerte. »Es wäre eine harte Arbeit, aber wir könnten es schaffen. Der Raum hat uns viel Gutes gebracht – uns allen, nicht nur der Partei. Das Volk würde einen Rückzug verstehen. Aber es müßte darauf vorbereitet werden. Schon jetzt.«
»Natürlich, Jim«, sagte Lloyd bitter. »Aber du mußt uns verstehen. Es ist nicht alles so, wie es scheint. Man muß die Dinge interpretieren.« Er sprach kurz in das Wandmikrophon. »Hier ist der dreißigste Tag.«
Dreißig Tage draußen. Die Santa Maria war fünfeinhalb Millionen Meilen von der Erde entfernt. Der Planet war noch als Scheibe wahrnehmbar, aber der Mond war auf einen Punkt zusammengeschrumpft. Beide stellten immer noch die beiden leuchtendsten Punkte im Universum dar – außer der Sonne. Holloway stand an der dunklen Sichtluke und starrte zurück auf den Planeten, den sie Heimat nannten.
Das Wohndeck der Personalsphäre war völlig still. Es war eine Stille, die sich außer einem Raumfahrer niemand vorstellen konnte. Dann hörte man das Aufklatschen einer Magnetkarte auf den Tisch. Craddock und Migliardo spielten Rommé.
Craddock hustete und legte die Karten umgekehrt auf den Tisch, während er beide Hände auf den Mund preßte. Der Anfall schüttelte seinen ganzen Körper.
Migliardo nahm eine Flasche und drückte sie Craddock in die Hand. Barr warf sich in seiner Koje herum. Er hielt einen Stereoskopgucker lässig in einer Hand. »Hör auf!« brüllte er. »Hör auf!«
Craddock spritzte sich Wasser in den Mund – bis die Flasche leer war. Langsam beruhigte er sich. Er wischte sich die Tränen aus den Augen. »Danke, Mig«, sagte er schwach. Er war dünner geworden. Auch die anderen waren dünner geworden.
»Emil!« schrie Barr von seiner Koje aus. »Warum, zum Teufel, unternimmst du denn nichts dagegen?«
Jelineks ruhige Stimme kam vom Steuerdeck zu ihnen. »Ich sagte dir schon, Iron, es ist psychosomatisch.«
»Wenn nicht bald jemand etwas unternimmt«, murmelte Barr, »wacht Ted eines Tages ohne Hals auf.«
Jelineks hageres Gesicht erschien in der Luke.
»Was willst du damit sagen, Iron?«
»Genau das, was ich gesagt habe.«
»Er hat es nicht böse gemeint«, erklärte Craddock entschuldigend. »Mein dauerndes Husten geht ihm auf die Nerven. Zum Teufel, es geht mir ja selbst auf die Nerven.«
Jelinek hatte sich nicht von der Stelle gerührt. »Wir sind alle aufeinander angewiesen, Iron. Entweder kommen alle durch oder keiner. Ja, ich weiß – Mig kann vielleicht deinen Posten übernehmen, wenn du ausfällst. Burt könnte das Schiff steuern, wenn mir etwas zustößt. Mig könnte an Stelle von Burt die Navigatorarbeiten erledigen, und du kennst dich mit Schaltungen und Elektronik gut genug aus, um Ted zu ersetzen. Aber in Wirklichkeit wäre es ganz anders. Wir sind fünf. Das ist ein Minimum, wenn wir geistig gesund bleiben wollen. Einer weniger, und die anderen scharfen es nicht.«
Sein Gesicht verschwand, und wieder herrschte Stille. Barr zuckte mit den Schultern und beschäftigte sich von neuem mit seinem Gucker. Craddock und Mig hoben Karten von dem großen Stoß ab und warfen sie eine nach der anderen auf den Tisch. Holloway starrte schweigend hinaus.
»Tank B ist am Einfrieren«, sagte Jelinek. »Ich werde ihn dem Sonnenlicht aussetzen.«
Niemand bewegte sich, niemand sah auf. Irgendwo im Schiff heulte ein Motor auf, als er ein Schwungrad beschleunigte. Ganz langsam drehte sich das Schiff herum. Das Heulen wurde dunkler und ging wieder in Stille über.
Holloway schrie auf. Er deutete mit zitterndem Finger zur Sichtluke, als sich die anderen ihm zuwandten. Jelineks Gesicht erschien in der Öffnung.
»Was zum …!«
»Burt!«
»Um Himmels willen, Burt!«
»Da …«, sagte Holloway. »Da war etwas – da draußen!«
»Was denn?« fragte Jelinek. »Versuch zu beschreiben, was du gesehen hast.«
Holloway klammerte sich zitternd an einen Griff unter der Öffnung und stieß sich ab. »Ich weiß nicht, was es war. Etwas – etwas Weißes. Jetzt ist es wieder fort.«
»Du hast mehr als das gesehen, sonst hättest du nicht geschrien«, sagte Jelinek scharf. »Was war es, Burt?«
»Vielleicht Abfall«, sagte Migliardo sanft.
»Ja«, sagte Holloway schnell. »Das war es. Es ist am Schiff vorbeigeschwebt. Als du das Schiff umdrehtest, ist es an der Sichtluke vorbeigeschwebt.«
Jelinek gab nicht nach. »Vielleicht war es Abfall, Burt, aber was hast du gesehen?«
»Also gut«, sagte Holloway ärgerlich. »Es sah wie ein Gesicht aus, wie ein Gesicht mit einem Bart.«
»Hat es irgendeinem deiner Bekannten ähnlich gesehen?« fragte Jelinek.
Holloways Zittern hatte nachgelassen. »Ich bin nicht verrückt.. Emil. Nein, ich habe das Gesicht noch nie vorher gesehen.«
»Sah es tot aus?«
»Nein.«
»Woher weißt du das?«
Holloway holte tief Atem und sagte ruhig: »Es sah mich an. Es hat mich gesehen. Seine Augen – ich habe noch nie einen so sorgenvollen und mitleidigen Blick erlebt. Es – es hatte Mitleid mit mir. Mit uns allen.«
»Um Himmels willen«, beschwerte sich Barr. »Ich habe noch nie im Leben so ein Märchen gehört. Du hast doch immerzu auf die Erde gestarrt. Wahrscheinlich war es eine Halluzination.«
Jelinek nickte. »Das glaube ich auch – vielleicht von einem kurzen Sonnenstrahl ausgelöst. Oder, wie Mig sagte, irgendwelcher Abfall. Laß dich nicht davon beunruhigen, Burt.«
Holloway lachte gepreßt. »Ich bin doch gar nicht beunruhigt. Was könnte uns hier, sechs Millionen Meilen von der Erde entfernt, entgegenkommen?«
»Na also«, sagte Barr. »Hier – sieh das mal an. Das lohnt sich wenigstens.« Er warf Holloway den Plastikgucker zu.
Holloway fing ihn auf, hielt ihn an die Augen und sah durch. »Damit also hast du die ganze Zeit über deinen Spaß gehabt«, sagte er ruhig.
»Laß mich sehen«, meinte Craddock eifrig.
Holloway stieß es ihm hin, als sei er froh, etwas Schmutziges loszuwerden. Dann wischte er sich die Finger an den Shorts ab und ging wieder an die Sichtluke.
Craddock starrte lange in den Gucker, holte das nächste Bild und starrte wieder hinein. Seine Wangen wurden rot.
Migliardo betrachtete ihn neugierig. »Was soll das alles?« Er streckte die Hand aus und holte sich den Apparat.
»Warte, du kommst schon noch an die Reihe«, sagte Craddock.
Migliardo hielt es in der Hand. »Du kannst es sofort wieder haben.« Er starrte hindurch und zog es mit einer hastigen Bewegung wieder weg. »Im Namen des …« Er bekreuzigte sich automatisch. »Wie hast du diese scheußlichen Dinger an Bord geschmuggelt. Weißt du nichts Besseres, als diese dreckigen …«
Craddock streckte die Hand aus. »Los, gib sie wieder her. Gib sie mir!«
Wieder tauchte Jelineks Kopf in der Öffnung auf. »Also ich verbringe doch mehr Zeit mit euch Idioten als mit meinen Meßgeräten. Zeig mir das Ding.«
Migliardo warf es Jelinek verächtlich zu. Er griff danach, aber der Gucker segelte durch die Öffnung und außer Reichweite. Einen Augenblick später hörte man ihn am Metall aufschlagen.
Barr ließ seinen Gurt mit einer geübten Handbewegung aufschnappen und sprang auf den Mittelpfosten zu. Er starrte durch die Öffnung hindurch Jelinek an, der jetzt mit dem zerdrückten Gucker in der Hand erschien.
»Tut mir leid, Iron«, sagte Jelinek entschuldigend. »War ungeschickt von mir.«
Barr sagte wütend: »Wenn ich wüßte, daß du das mit Absicht gemacht hast …«
»Was dann?« fragte Jelinek ruhig.
»Ich würde dich prügeln, bis du ohne Raumanzug durch die Luftschleuse verschwinden würdest«, sagte er mit kalter, tödlich ruhiger Stimme. Und dann jammerte er: »Es ist kaputt.«
»Es tut mir nicht wirklich leid«, sagte Jelinek. »Kannst du denn nicht verstehen, daß diese schmutzigen Bilder nicht das Richtige für eine Reise von zweieinhalb Jahren sind?«
»Gib es mir zurück«, sagte Barr wütend. »Du lebst auf deine Weise und ich auf meine.« Er riß Jelinek die Trümmer aus der Hand. Seine Lider waren gesenkt, aber man konnte den Haß in seinen Augen lesen. »Und komm mir nicht wieder in die Quere, du Gehirnwäscher, sonst muß einer von uns beiden weichen.«
Barr ließ seine muskulösen, behaarten Beine in die Tischschlingen gleiten und legte den zerschmetterten Gucker vorsichtig auf den Tisch. Keines der Stücke fehlte. Sorgfältig und mit einem Geschick, das man den dicken Fingern nicht zugetraut hätte, nahm er die einzelnen Teile und legte sie auf den Tisch. »He, Burt«, rief er. »Wirf mir mal den flüssigen Klebstoff herüber.«
Im nächsten Augenblick segelte die Tube auf ihn zu. Barr fing sie lässig auf. Die Bewegung wirbelte die auf dem Tisch liegenden Teile hoch, und Barr mußte sie schnell mit der freien Hand bedecken, damit sie nicht wegschwebten. Langsam befeuchtete er die Ränder mit dem farblosen Klebstoff und setzte die einzelnen Stücke zusammen.
Migliardo gewann und zählte fröhlich seine Punkte zusammen.
Holloway starrte reglos aus der Sichtluke.
»Ich habe Hunger«, sagte Barr plötzlich. »Du bist heute der Koch, Mig. Bring was Ordentliches auf den Tisch. Was hältst du von einem hübschen, saftigen Steak?«
»Wir hatten erst gestern Steak«, sagte Migliardo geistesabwesend und studierte seine Karten.
»Es ist mir egal, wann wir Steak hatten«, sagte Barr. »Ich will heute Steak.«
»Wenn wir einmal in der Woche Steak essen, reichen wir bis zum Ende der Fahrt mit Fleisch«, erklärte Migliardo. »Aber wenn wir es alle Tage essen, haben wir dann zwei Jahre lang keines. Heute gibt es Seezunge.«
»Was ist denn? Ist heute Freitag?« höhnte Barr.
»Zufällig ja«, sagte Migliardo.
»Dachte ich mir schon, du Fischfresser«, spöttelte Barr. »Aber ich kann Fisch nicht ausstehen. Warum soll ich dir zuliebe Fisch hinunterwürgen?«
»Wir haben einmal wöchentlich Fisch«, sagte Migliardo ruhig. »Wir können am Freitag ebensogut Fisch essen wie an einem anderen Tag. Früher mochtest du ihn.«
Barr knallte die Faust auf den Tisch. »Aber jetzt habe ich ihn satt. Ich sage dir etwas«, begann er tückisch. »Ich esse dein Steak, und du ißt meinen Fisch.«
»Nein, danke«, erwiderte Migliardo höflich. »Ich mag Fisch auch nur einmal in der Woche. Und Steak. Außerdem …« Migliardo sah auf seine Uhr. »Außerdem ist es noch nicht Essenszeit.«
»Die Uhr geht falsch«, brüllte Barr los. »Wem glaubt ihr mehr, meinem Magen oder dieser Uhr? Ich weiß, wem ich glauben muß.« Er befreite seine Beine aus den Tischschlingen und zog sich zu der Tiefkühltruhe neben dem Ofen hinüber. Er suchte in den vorbereiteten Mahlzeiten herum, bis er gefunden hatte, was er suchte. Dann steckte er es in den Ofen.
Migliardo wollte etwas sagen, doch dann zuckte er mit den Schultern und schwieg. Craddock spielte eine neue Karte aus.
»Ha!« rief Migliardo triumphierend und deckte seine Karten auf. »Jetzt schuldest du mir schon dreihundertzwölf Dollar.«
Craddock starrte ungläubig die Karten an. Plötzlich sah er auf und warf die Karten Migliardo ins Gesicht. »Betrüger!« rief er hysterisch. »Du lausiger Falschspieler! Ich zahle dir keinen Penny. Nie wieder spiele ich mit dir, du dreckiger Falschspieler!«
Ein Hustenanfall schüttelte seinen Körper. Seine Augen quollen hervor. Migliardo starrte ihn hilflos an. Aus einem Schnitt unter dem linken Auge, wo ihn die Karte geritzt hatte, floß Blut.
Der Schirm wurde dunkel.
Als die Lichter angingen, drehte sich Faust schnell zu Lloyd um. »Noch ein Meteor?«
»Ende der Spule.«
Faust atmete stoßweise. »Es sieht nicht gut aus.«
»Laß dich nicht irreführen«, meinte Lloyd. »Wir zeigen dir nur das Schlimmste. Es gab viele Tage, in denen das Leben ganz normal und ereignislos verlief. Kein Streit, keine Kämpfe, keine Mißverständnisse.«
»So etwas wie das eben genügt einmal im Monat … Es sieht aus – wie – wie eine wahllos zusammengewürfelte Gruppe von Männern, die jetzt miteinander auskommen müssen.«
Lloyd lächelte. »Kritik? Wir haben sie sorgfältig ausgewählt und in erster Linie darauf gesehen, ein Gleichgewicht unter ihnen herzustellen. Erst in zweiter Linie kamen ihre Fähigkeiten. Sie sollten einander ausgleichen – die Stärke des einen gegen die Schwäche des anderen. Wir versuchten, die Reibungsmöglichkeiten vorauszuberechnen und die schlimmsten Nörgler … Aber das ist so, als wollte man voraussagen, aus welchen Gesteinen Jupiter besteht. Diese Männer leben da draußen unter Bedingungen, die uns unbekannt waren. Das rächt sich jetzt.«
Faust sah Lloyd neugierig an. »Ich dachte, diese Männer seien deine Freunde gewesen.«
Lloyds Gesicht verhärtete sich. »Sie sind meine Freunde. Jeder einzelne von ihnen. Du würdest einen Freund dieser Belastungsprobe nicht aussetzen? Vielleicht nicht. Aber du würdest den besten Kandidaten ernennen und dann seinen Wahlkampf ganz genau beobachten, damit du, falls er versagt, nicht die gleichen Fehler wie er machst. Ich will keine Leute mehr hinausschicken, die ihr Schicksal nicht kennen.«
Faust runzelte die Stirn. »Ich verstehe. Aber nimmt diese Fernsehausrüstung nicht zuviel Platz weg, den man für etwas Besseres ausnützen könnte? Für etwas, das ihnen größere Überlebenschancen gibt? Mehr Essen und Wasser. Genug Steaks für Barr. Radiogeräte.«
Lloyd schüttelte den Kopf. »Wenn es genug Steaks gäbe, würde sich Barr nicht darum kümmern. Sein Trieb ist psychologischer Art – auch die Triebe der anderen. Radioempfänger wären keine Hilfe, sondern stellten eine Bedrohung für ihre Gesundheit dar. Wie würdest du dich fühlen, wenn du wüßtest, daß du unwiderruflich von der restlichen Menschheit abgeschnitten bist – abgeschnitten für mindestens zweieinhalb Jahre –, und du könntest dauernd hören, daß diese anderen Menschen ein sicheres, gesundes, glückliches Leben führen? Daß sie essen, was sie wollen, daß sie Fußballspielen zusehen, daß sie mit Frauen schlafen und auf der grünen Erde Spazierengehen? Es würde dich zum Wahnsinn treiben.
Wir haben das auf der Pinta und Nina versucht. Auf der Pinta war das Radiogerät nach einer Woche zerschmettert. Auf der Nina blieb es zehn Tage ganz. Diese Männer sind abgeschnitten. Sie müssen es wissen, sie müssen wissen, daß sie keine Hilfe erhalten, sondern ganz auf sich selbst gestellt sind. So müssen sie das Gefühl haben, daß das Leben auch für die anderen aufgehört hat, daß sie bei ihrer Rückkehr alles so vorfinden werden, wie sie es verlassen haben, die gleichen Freunde, die gleiche Arbeit, die gleichen Mädchen, die sie lieben. Nein, ein Radiogerät wäre nicht die richtige Antwort.«
»Das klingt, als müßtest du dich selbst davon überzeugen«, meinte Faust.
»Was hast du erwartet? Glaubst du, ich sehe mir die Filme ohne Angst an? Und doch warte ich mit einer Spannung, die mich selbst abstößt, auf die nächste Spule.
Ich weiß, daß diese Männer noch Kraft genug besitzen, um durchzukommen. Wenn Menschen überhaupt durchkommen können. Sie haben mehr als genug zu essen, mehr als genug Treibstoff, mehr als genug Luft. Und darüber hinaus gibt es noch einen Sicherheitsfaktor.«
Fausts Augen blitzten auf. »Ah, der geheimnisvolle Sicherheitsfaktor. Den hatte ich fast vergessen. Worin besteht er?«
Lloyd zögerte. »Es wäre mir lieber, wenn du dir die Sache selbst ansähst. Er hat sich – komisch entwickelt.« Lloyd sah auf seine Armbanduhr. »Wollen wir nicht essen? Arnos wartet auf uns.«
Fausts Stimme wurde weicher. »Arnos sieht mit jedem Jahr schlimmer aus. Wie lange wird er es noch schaffen?«
»Nicht lange genug, um all das zu erledigen, was er sich vorgenommen hat.«
»Warum ist er eigentlich nie zum General gemacht worden?«
»Er hat es mehr als einmal abgelehnt. Ein Hauptmann befehligt das Kleine Rad. Unten sind sie der Ansicht, daß die Aufgabe nicht groß genug für einen General ist. Nimm ihm seine Arbeit weg, und er würde sterben. Auch körperlich wäre es eine Katastrophe. Sage ihm nichts über das, was ich dir jetzt verrate – er ist herzkrank. Schwer herzkrank. Hier lebt er länger.«
»Du selbst bist auch nie zum General ernannt worden«, meinte Faust. »Wie viele Beförderungen hast du abgelehnt?«
»Einige«, sagte Lloyd kurz. »Da sind wir schon.« Er öffnete eine Tür, und sie befanden sich in der Messe – das waren drei lange Aluminiumtische mit Bänken, die in den Boden geschraubt waren. Der Raum war leer bis auf Arnos Danton, der sich in die Nähe der Ausgabeklappe des elektronischen Herdes gesetzt hatte. Er starrte ausdruckslos auf sein Tablett, als sie die Tür öffneten, doch dann hob er den Kopf und lächelte.
»Ich war so frei und habe für euch gleich mitbestellt.«
Sie setzten sich vor die Tablette und aßen. Lloyd bemerkte, daß Danton nur Salat genommen hatte. Und selbst darin stocherte er mit der Gabel herum, ohne einen Bissen zu essen.
Er liebte diesen Mann, das knorrige, dunkle Gesicht mit den fast erblindeten Augen und der dünnen weißen Haarbürste, diesen harten, begabten Führer, der zu viele seiner Leute in den Tod geschickt hatte und mit jedem von ihnen gestorben war – diesen seltsamen Mann, der alles für den Raum gab und für die Männer ein Vaterersatz war.
»Was glaubst du, Jim?« fragte Danton ruhig. »Du kennst die Menschen, und du hast dich noch nicht an unsere Atmosphäre gewöhnt. Ist es schlimm?«
Faust nickte langsam. »Wenn sie es schaffen, ist es ein Wunder.«
Danton stöhnte. »Und du hast erst dreißig Tage gesehen. Lloyd, ich sagte dir, ich hätte gehen sollen. Du hättest mich gehen lassen sollen.«
Lloyd wollte antworten, aber Faust kam ihm zuvor. »Nein, Arnos. Dich kann niemand ersetzen. Ohne dich ginge die Station zugrunde. Wir brauchen dich hier oben.«
»Wie gern würde ich dir glauben«, sagte Danton und bedeckte das Gesicht mit der runzligen Hand. »Aber Lloyd könnte gut weitermachen.« Er wandte sich heftig an Lloyd. »Du wirst weitermachen, Lloyd! Dein Leben ist hier.« Er sah hinaus, wo die vielfarbigen Sterne endlos kreisten. »Die alte Ordnung ist vorbei. Nichtspezialisierte Raumfahrer können wir nicht mehr brauchen.
Der wichtigste Mann ist der Psychologe. Er muß die Männer an den Raum gewöhnen.«
»Fertig?« fragte Lloyd.
Danton erhob sich mit ihnen.
»Geh bitte schon voraus, Jim«, bat Lloyd Faust.
Faust nickte und ging schnell hinaus.
Als sie allein waren, sagte Lloyd: »Arnos, Terry will mich verlassen.«
Danton schloß für einen Moment die Augen und sah dann Lloyd besorgt an. »Sie nimmt die Kinder mit?«
»Sie sagt es jedenfalls. Sie kann nicht mehr, Arnos. Ich sah es seit Jahren kommen. Ich habe versucht, es hinauszuzögern, aber was kannst du dagegen unternehmen, wenn eine Frau die Gesellschaft von normalen Menschen braucht, die mit beiden Beinen auf der Erde stehen? Wenn sie will, daß ihre Kinder ohne Kopfbedeckung auf dem grünen Rasen herumtollen, Baseball und Fußball spielen, zu Tanzveranstaltungen gehen und bei Vollmond ein Mädchen heimbegleiten? Wie kannst du gegen so etwas ankämpfen?«
»Überhaupt nicht, Junge. Selbst ein alter Junggeselle wie ich kann dir das sagen.«
»Über eines habe ich nachgedacht«, sagte Lloyd langsam. »Es war falsch, die Heime zu bauen. Wir leben hier zu einsam, als daß wir uns noch abkapseln dürften. Wir haben neun Familien und eine leere Kugel, seit Chapmans Frau nach unten ging. Verbinden wir die neun Wohnungen mit der leeren als Mittelpunkt. Wir können sie in ein Erholungszentrum verwandeln – mit Klubsesseln, einer Tanzfläche, einem Kartenzimmer und einem Gymnastikraum. Die Frauen können sich treffen, ohne ins Freie zu müssen, und die Mannschaft kann sich dort ebenfalls erholen. Können wir uns das leisten?«
Danton nickte. »Das klingt nach viel Arbeit, und wir haben ohnehin zuwenig zu tun. Wir können es uns nicht nur leisten, sondern wir können es uns nicht leisten, die Dinge wie bisher weitergehen zu lassen. Aber das löst dein Problem auch nicht.«
Lloyds Gesicht wurde wieder düster. »Ich weiß.«
»Ich hasse es, Ratschläge wie Tante Julia in Frauenmagazinen zu geben«, meinte Danton. »Aber Frauen brauchen Sicherheit. Sicherheit in Gefühlsdingen. Wann hast du Terry zum letztenmal gezeigt, daß du sie liebst?«
»Das ist zu lange her«, erwiderte Lloyd nüchtern. Und dann sagte er mit einem krampfhaften Lächeln: »Sehen wir uns die Filme an.«
Dreiundsiebzig Tage draußen. Die plumpe Konstruktion aus Treibstofftanks, Raketentriebwerken und Lebensraum, die Santa Maria, war zwölf Millionen Meilen von der Erde entfernt. Während der letzten Tage war der helle Doppelstern, der Erde und Mond kennzeichnete, immer blasser geworden und schließlich verschwunden. Er hatte dem Schiff seine Nachtseite zugewandt.
Diesmal war es im Schiff nicht ruhig. Musik dröhnte über das Mannschaftsdeck. Holloway hatte Wache. Er starrte durch die Kombination von Teleskop und Kamera, um das Ereignis festzuhalten, das sich jetzt anbahnte.
Craddock stand am Wasserhahn und füllte seine Spritzflasche. Hustenanfälle schüttelten seinen Körper. Sein Gesicht sah durchsichtig aus. Er wirkte um Jahre gealtert.
Barr lag auf seiner Koje. Er las ein Taschenbuch. Hin und wieder drang sein Kichern durch den Lärm der Musik. Jelinek und Migliardo hielten sich an den Handstützen des Eingangs fest. Ein starker, durchsichtiger Schutzschild war darübergezogen worden. Die Sonne war eine weißglühende Scheibe, die ihn durchdrang.
»Iron«, sagte Craddock plötzlich. »Kannst du den Lärm nicht ein wenig leiser machen? Wir haben die Bänder nun schon zwanzigmal gehört.«
»Besser als euer Gestreite«, erwiderte Barr.
Jelinek sah sich nicht um. »Nur etwas leiser, Barr. Das ist nicht zuviel verlangt.«
»Zum Teufel«, knurrte Barr.
»Mig?« fragte Jelinek. »Zu laut?«
»Zu laut«, sagte Migliardo.
»Drei von uns finden die Musik zu laut, Iron. Burt brauchen wir erst gar nicht zu belästigen. Mach leiser.«
»… ihr!« fauchte Barr.
Jelinek drehte sich blitzschnell zu Barr herum und drückte auf den Knopf neben dem Kojenpfosten. Die Musik schwieg. Im nächsten Augenblick hatte Barr Jelineks dünnes Handgelenk zwischen seinen Pranken. Barr zog sich hoch, bis sein Gesicht dicht vor Jelineks Gesicht war. Die Stille war vollkommen.
»Ich mag sie, verstehst du!« schrie Barr. »Die Stille ist zu laut, man muß sie ersäufen! Ich brauche Leben um mich, und wenn ich dafür jeden einzelnen von euch umbringen muß! Laß mich endlich in Ruhe.«
Er gab Jelineks Arm frei, stellte die Musik so laut wie möglich und verschob die Gurte so, daß er ein Stückchen über der Koje schwebte.
Jelinek sah auf sein Handgelenk. Weiße Fingerabdrücke zeichneten sich auf seiner gebräunten Haut ab. Er drehte sich schulterzuckend um und faßte die Stütze an der Öffnung.
»Und du geh vom Wasser weg, Craddock«, brüllte Barr.
Craddock zuckte zusammen. »Es ist genug Wasser da«, sagte er leise.
»Nicht, wenn du es so verplemperst«, sagte Barr. »Jedes Mal, wenn ich hinsehe, klaust du dir wieder etwas.«
»Mir stehen viereinhalb Liter pro Tag zu. Das weißt du ganz genau.«
»Du hast mindestens das Doppelte gesoffen! Hör auf damit, sonst lege ich auch ein Schloß an wie bei der Kühltruhe. Jetzt könnt ihr Kerle mir nicht mehr die Steaks nehmen.«
»Wir haben mehr als genug Wasser, Barr«, mischte sich Jelinek ein. »Wenn es uns schlecht gehen sollte, haben wir noch eine Notration.«
Barr sah Jelinek an, und seine Lippen verzogen sich verächtlich. »Würdest du das Zeug trinken?«
»Ja.«
»Natürlich! Aber ich nicht. Ich will frisches Wasser. Viel frisches Wasser. Wenn du es dir selbst schwerer machen willst, bitte.«
»Treib uns nicht zu weit, Barr«, sagte Jelinek langsam. »Wir lassen dich unsere Steaks essen, wir lassen dich …«
»Ihr laßt mich?« unterbrach ihn Barr brutal. »Ich nehme mir, was mir paßt.«
»Wir lassen dich herumkommandieren, weil wir alle zusammen auf der Schicksalsreise sind. Aber wenn du es zu bunt treibst, könnten wir zu dem Beschluß kommen, daß wir ohne dich größere Überlebenschancen haben.«
»… ihr! Ihr … würdet nicht mal einen Floh zerquetschen, der euch auf den … kriecht.«
»Emil!« rief Migliardo. »Es fängt an.«
Jelinek wirbelte herum. Über die flammende Scheibe der Sonne schob sich ein kleiner dunkler Fleck. Es war die Erde. Sie sahen, was wenige Augen je gesehen hatten: eine Erd- und Mondfinsternis. Eine Stunde später würde ein kleinerer Fleck erscheinen und der Erde auf ihrem Weg zu dem flammenden Mittelpunkt der Sonne folgen. Die Finsternis würde acht Stunden dauern.
»Dreizehn Uhr zwölf und sechs Sekunden!« rief Holloway begeistert. »Auf das Komma genau.«
»Ich helfe am besten Burt«, sagte Migliardo. »Wir brauchen die Ablesungen für die Kurskorrekturen.« Er zog sich am Mittelpfosten hoch und betrat das Kontrolldeck.
Craddock sah Barr an und sagte: »Ich überprüfe mal die Vorräte.« Er hustete und verschwand durch den Einlaß im Vorratsdeck.
Als sie allein waren, sagte Jelinek zu Barr: »Nimm dich ein wenig zusammen, Barr. Ich möchte mit dir sprechen, und es ist gut, wenn die anderen nicht mithören. Es geschieht nicht oft, daß wir beide allein sind.«
Gleichgültig drehte Barr die Musik leiser.
Jelinek machte eine ungeduldige Handbewegung. »Was hast du vor, Barr?«
»Mir das zu nehmen, was mir gehört.«
»Alle Steaks? Die gehören dir? Hör mir zu, Barr!« sagte Jelinek drängend. »Wir könnten ebenso hart sein wie du. Aber wir wissen, daß wir in einer Nußschale eingesperrt sind. Wir sind alle zusammen auf der Schicksalsreise …«
»Auf der Santa Maria«, fauchte Barr.
»Tut mir leid. Schlechte Angewohnheit. Ich möchte dir nur eines klarmachen: Wir wissen, daß unser Leben von dir abhängt. In der gleichen Weise hängt dein Leben von jedem von uns ab. Ohne mich kommst du nicht zurück, Barr. Ich bin der Pilot. Falls mir etwas geschieht, bist du tot. Überleg dir das. Tot, tot, tot! Dann gibt es keine Steaks mehr, Barr. Keine Frauen. Nichts mehr, Barr.«
»Pah, ich habe keine Angst, Jelinek.«
»Barr! Es wird Zeit, daß du Angst bekommst. Wir sehen dem Tod ins Gesicht. Wenn du jetzt keine Angst hast, sind wir alle verloren!«
»Halt die Schnauze!« kreischte Barr. »Halt die Schnauze, oder ich schlag’ sie dir ein. Es ist nicht gefährlicher, als wenn wir eine Spazierfahrt auf den Mond machten. Wir haben es geschafft, Emil. In zehn Tagen können wir aussteigen.«
»Barr. Wir sind erst dreiundsiebzig Tage unterwegs. Wir haben noch achtundsiebzig Tage vor uns.«
»Du willst mir Angst machen«, sagte Barr schnell. »Ich habe aufgepaßt. Die Uhr darfst du nicht ansehen. Sie geht falsch. Man will uns hereinlegen. Ich kenne Phillips. Wir sind fast angekommen, Emil. Lüg mich nicht an! Ich habe recht, nicht wahr? Wir sind fast …«
Jelinek schüttelte langsam den Kopf. »Ich würde dir keinen Gefallen damit tun, wenn ich dich bei diesem Glauben ließe. Sieh nach draußen – eine Erd- und Mondfinsternis. Genau dreiundsiebzig Tage, Barr.«
Barrs Augen traten vor Angst aus den Höhlen. Er atmete in kurzen, heftigen Stößen. »Nein, nein …«
Craddocks Stimme kam triumphierend aus dem Vorratsdeck. »Barr, ich habe soeben den Wasservorrat bereichert. Hörst du mich, Barr? Was wirst du jetzt trinken, Barr?«
Wut verzerrte Barrs Gesicht. Endlich hatte er ein Ventil gefunden. »Du dreckiger kleiner …«
Jelinek schob ihn zurück. »Er lügt, Barr. Von da unten kann er nicht an die Wasservorräte gelangen. Aber du siehst, wie weit du ihn getrieben hast.«
Barrs Augen glühten wild. »Er hat einen Weg gefunden. Er haßt mich. Ihr alle haßt mich. Es ist mir egal! Ihr beobachtet mich und flüstert über mich und schmiedet Pläne gegen mich. Nur los! Ich werde mit jedem einzelnen und mit allen zusammen fertig.«
Man hörte ein scharrendes Geräusch, als Craddock die Luftschleusentür schloß. »Ich hole mir diesen kleinen …, wenn er heraufkommt«, sagte Barr tückisch.
»Heute morgen, als ich die Wache übernahm«, sagte Jelinek langsam, »fand ich Werkzeugspuren auf dem versiegelten Instrumentenbrett. Gestern waren sie noch nicht da. Du hattest die Wache vor mir.«
»Na und?«
»Du hast versucht, die Siegel aufzubrechen. Hör auf damit, Barr. Wenn ich noch einmal Werkzeugspuren an der Tafel finde, bringe ich dich um, Barr. Es wäre nicht schwer für mich. Eine Spritze in der Nacht oder ein wenig Arsen auf dein Steak. Laß die Finger von dem Instrumentenbrett!«
Nach kurzer Überlegung sagte Barr: »Du würdest es nicht wagen, mich zu töten. Du bist zu vorsichtig. Es würde deine Überlebenschancen verringern.«
»An deiner Stelle verließe ich mich nicht darauf, Barr«, sagte Jelinek.
Die Musik wurde wieder auf volle Lautstärke gedreht. Der Rhythmus dröhnte durch das Schiff.
Vom Vorratsdeck hörte man ein scharrendes Geräusch. Jelinek drehte sich um. Craddock, in voller Raumausrüstung, schwebte an der Mittelsäule. Durch die Sichtspalte konnte Jelinek Craddocks verzerrtes Gesicht, die starrenden Augen und den weitaufgerissenen Mund sehen.
Jelinek sprang auf ihn zu und löste die Flügelmuttern, die den Helm festhielten. Er nahm den Helm ab. Craddocks Schreie übertönten die Musik. Er schrie ununterbrochen und holte nur zwischendurch kurz Atem.
»Ted!« rief Jelinek. Er hielt Craddock an einem Arm fest und schlug ihn mit der anderen Hand ins Gesicht.
Teds Schreie verstummten plötzlich.
Craddock holte zitternd Luft, schloß die Augen und öffnete sie wieder. Sein Gesichtsausdruck wurde normal.
»Was war los, Ted?« fragte Jelinek drängend.
»Ich – ging hinunter ins Vorratsdeck – um die Vorräte – nachzuprüfen –« Wieder atmete er schluchzend ein. »Ich habe ihn gesehen. Da unten war er. Er kam hinter einer der Raketensonden hervor.«
»Wie sah er aus?«
»Blasses Gesicht. Bart. Ganz weiße Hände …«
»Wie konntest du seine Hände sehen, wenn er einen Anzug anhatte?« fragte Jelinek scharf.
»Kein Anzug. Erhatte ein Tuch um die Hüften gewickelt, das wie schlampige Shorts aussah. Kein Helm, kein Anzug.«
»Hör auf damit!« sagte jemand.
Jelinek sah zu der Öffnung, die auf das Kontrolldeck führte. Zwei Gesichter zeichneten sich in ihr ab: Migliardo – dunkel und mit gerunzelter Stirn. Und Holloway, schneeweiß, von Furcht geschüttelt. Holloway hatte gesprochen.
»Da unten ist keine Luft«, sagte Jelinek. »Keine Nahrungsmöglichkeit und kein Wasser. Keine fünf Minuten könnte ein Mensch da unten leben, geschweige erst dreiundsiebzig Tage.«
»Es muß kein Mensch sein«, sagte Holloway.
»Was sonst sollte es sein?« schrie Barr.
Holloway gab keine Antwort.
»Ihr wollt mir Angst einjagen, was?« brüllte Barr. »Es ist doch ein Witz, nicht wahr, Ted? Du willst dich an mir rächen?«
»Für ihn ist es kein Witz, Barr«, sagte Jelinek. »Er hat Angst. Es war eine Illusion. Wir alle neigen dazu, Dinge zu sehen. Aber erst, wenn wir alle die gleiche Illusion haben, ist es zu spät. Barr, geh nach unten und sieh nach, was es war.«
Barr schwang sich eifrig von seiner Koje. »Und ob!«
»Mig!« keuchte Jelinek. »Hilf mir, ihm den Anzug abzustreifen.«
Craddock schien sich nicht rühren zu können. Als sie ihm endlich den Anzug vom Leibe gezogen hatten, zitterte er an jedem Muskel. Alle paar Sekunden schüttelte ihn ein neuer Hustenanfall. Migliardo führte ihn zu seiner Koje. Als er ihn festgeschnallt hatte, holte Jelinek eine Spritze aus der Schublade.
»Ich gebe ihm eine Dosis Reserpin.«
»Hat dich Teds Beschreibung an etwas erinnert?« fragte Migliardo leise.
»An das Gesicht, das Burt sah? Das ist natürlich. Suggestion ist eine starke Macht.«
Wieder kam ein Schrei vom Vorratsdeck. Jelinek und Migliardo versteiften sich, aber es war ein Wutschrei. Barr schwebte in den Raum. Er hing wie ein zorniger roter Affe am Mittelpfahl. »Jemand hat versucht, mich umzulegen.«
»Wir waren alle hier«, sagte Jelinek.
Barrs Stimme wurde schriller. »Jemand hat mit dem Sauerstoffmeßgerät meines Anzugs herumgefummelt. Das Meßgerät zeigt auf Voll, aber der Tank ist leer.«
»Es muß ein Unfall gewesen sein«, sagte Jelinek mit harter Stimme.
»Ich weiß, wer es war«, schrie Barr. »Dieser dreckige, kleine Lügner da.« Er deutete mit zitternden Fingern auf Craddock. »Er hat es getan, bevor er mir zurief, daß er das Wasser verdorben hätte. Er wollte, daß ich nach unten käme. Und dann wäre er nach oben gegangen, und ihr hättet behauptet, es sei ein Unfall. Schade, aber nicht zu ändern.«
»Das ist absurd, Barr«, fauchte Jelinek. »Schnall einen anderen Tank an und untersuche die Raketensonden.«
Barr drehte sich um und sah ihn tückisch an. »O nein. Vielleicht stimmt mit meinem Anzug auch sonst etwas nicht. Es wäre leicht, in eines der Gelenke zu stechen oder ein Ventil zu lösen. Ich werde den Anzug nie wieder anziehen. Wenn ihr mich schon umbringen wollt, dann möchte ich es sehen.« Er zitterte am ganzen Körper.
»Mig. Sieh nach«, sagte Jelinek.
Mig tauchte durch die Öffnung.
»Barr!« sagte Jelinek scharf. »Leg dich jetzt hin. Lies eines deiner schmutzigen Bücher. Aber halt den Mund.« Er sah Holloway starres, weißes Gesicht und seine vorquellenden Augen. »Burt! Vergiß nicht, daß du Wache hast.«
Eine unnatürliche Stille machte sich breit.
Minuten vergingen, keiner regte sich. Schließlich hörte man die Luftschleusentür zuschlagen. Jemand streifte den Anzug ab.
»Nichts«, sagte Migliardo, als er an dem Mittelpfosten auftauchte. »Nichts Weißes. Und nichts Bewegliches. Überhaupt nichts.«
Draußen schob sich der Erdschatten ruhig über die Sonne.
Jim Faust schüttelte den Kopf, als Lloyd die Lichter anknipste. Sein Gesicht war so blaß wie das von Holloway. »Schlimm«, murmelte er. »Wirklich schlimm.«
»Denk daran, daß du nur das Schlimmste siehst«, sagte Lloyd. »Es gibt auch ruhige Tage.«
»Du liebe Güte«, flüsterte Faust, »wie ich diesen Barr hasse!«
Lloyd räusperte sich. »Er ist ein guter Kerl. Er war unser Extrovertierter. Als Gleichgewicht. Wenn alle wie Migliardo oder Jelinek gewesen wären, hätten sie längst den Verstand verloren. Barr gibt ihnen Grund zu Haßgefühlen. So schlimm hatten wir es uns zwar auch nicht vorgestellt, aber das kann man nicht ändern.«
»Man kann nicht im Haß leben«, sagte Faust.
»Manchmal kann man nicht ohne Haß leben«, sagte Lloyd. »Die Santa Maria ist nun schon fünfmal so lang wie die Pinta und dreimal so lang wie die Nina unterwegs.«
»Noch ist sie nicht am Ziel«, sagte Faust.
»Bei einigen Spulen, die wir übersprangen«, sagte Lloyd, »begann Jelinek mit Psychoanalyse.«
»Der Mann ist dazu nicht in der Lage«, sagte Faust offen. »Er ist selbst nicht normal. Er kann Barr nicht unter Kontrolle halten. Er hat ihm immer mit dem Tod gedroht. Das ist keine Art und Weise eines Psychologen. Barr ist ohnehin schon genug verängstigt. Er hat versucht, sich selbst einzureden, daß die Reise fast vorbei ist. Aber er weiß, daß das nicht stimmt und reagiert dieses Wissen ab, indem er die anderen quält. Man kann einen Mann nicht bedrohen, wenn er schon halb irr vor Angst ist.«
»Jelinek hat seinen ganzen Glauben auf das versiegelte Instrumentenbrett gerichtet«, erklärte Lloyd. »Barr bedroht diesen Glauben. Was ist mit Migliardo?«
»Mit den anderen verglichen, scheint er normal zu sein. Vielleicht wird er innerlich verrückt. Sie alle haben Anzeichen von Paranoia. Menschen unternehmen Anschläge gegen sie, spionieren ihnen nach …«
Lloyd schüttelte den Kopf. »Sehen wir uns die nächste Spule an.«
Faust und Danton drehten ihre Stühle herum und sahen wieder die graue Leinwand an, als Lloyd das Licht ausschaltete.
Einhundertdreiunddreißig Tage draußen. Die Santa Maria schwebte langsam auf einer Ellipsenbahn von siebenhundertfünfunddreißig Millionen Meilen. Von hier aus würden die Männer endgültig zum Mars gelangen.
Auf dem Mannschaftsdeck war alles ruhig.
Die Luken waren geschlossen. Der Raum lag im Dunkel. Es war drei Uhr Schiffszeit. Es war eine Art Untätigkeitsperiode, die sich die Mannschaft an einem Ort aufzwingen mußte, an dem die Sonne nie unterging, weil die Nacht nie schwand.
Nur das tiefe, regelmäßige Atmen der schlafenden Männer war zu hören und hin und wieder das Klicken eines Relais auf dem Steuerdeck. Dann wand sich eine dunkle Gestalt in ihrer Koje und begann zu schreien.
Männer taumelten aus ihren Kojen und suchten in der Schwerelosigkeit nach einem festen Halt.
Migliardo fand den Lichtschalter, und die Schrecken der Dunkelheit wurden von der nüchternen Wirklichkeit vertrieben. Jelinek, Barr und Migliardo schwebten im Raum. Holloway hatte sich in seiner Koje aufgesetzt. Er schrie immer noch.
Jelinek klammerte sich mit den Beinen an einem Pfosten fest und schüttelte Holloway. Die Augen des Navigators öffneten sich. Als er Jelinek erblickte, hörte er zu schreien auf.
»Was, zum Teufel, ist denn mit dir los?« fragte Barr gereizt.
»Ich hatte einen Traum«, sagte Holloway. »Ich träumte, ich würde nach unten fallen.«
»Ach –«, sagte Barr mit Verachtung in der Stimme. »Einen von denen. Wenn ich nur eine Zigarette hätte. Ich gäbe mein Recht zu … für eine Zigarette.«
Holloway fuhr fort, als hätte Barr nichts gesagt. Seine Augen waren geistesabwesend. Er dachte nach. »Ich träumte, ich sei tot. Ich lag in einem Metallsarg, und ich fiel. Ich würde nie begraben werden, und deshalb konnte ich nie ruhen. Ich war tot, aber ich konnte immer noch sehen und hören und fühlen, und ich konnte nicht ruhen, weil ich in einem Metallsarg lag und fiel.«
»Sind wir nicht alle in einem Metallsarg?« fragte Migliardo.
Barr drehte sich mit einem Ruck um. »Was sind wir?«
»Wir sind alle in einem Metallsarg, den wir Schicksalsreise nennen«, erklärte Jelinek.
Migliardo sah ihn an. »Jetzt weiß ich, woher ich den Namen kenne. Es ist ein altes Stück. Eine Gruppe von Leuten war auf dem Schiff und segelte auf einen unbekannten Hafen zu. Und schließlich erkannten sie, daß sie alle tot waren.«
Barr hatte von einem zum anderen gesehen. Auf seinem Gesicht spiegelte sich wachsendes Entsetzen. »Wovon redet ihr Kerle? Wir sind nicht tot.«
»Nein«, sagte Jelinek. »Es ist ein makabrer Scherz, den wir uns nicht leisten können.«
»Emil«, sagte Holloway mit ruhiger, schrecklicher Stimme. »Emil! Ted liegt in seiner Koje und rührt sich nicht.«
Jelinek drehte sich herum und hielt sich an dem Aluminium-Gitterwerk fest. Er starrte Craddock an. »Mig, wirf mir das Stethoskop herüber.« Aber er wartete nicht, sondern legte sein Ohr an Craddocks Brust. Im nächsten Augenblick hob er den Kopf. »Laß es«, sagte er leise. »Er ist tot.«
Migliardo ging selbst hinüber und murmelte etwas vor sich hin. Barrs Augen weiteten sich vor Angst. Holloway schwebte zitternd über seiner Koje und schlug die Arme um den Leib.
»Mich friert«, sagte Holloway. »Findet ihr nicht auch, daß es kalt ist? Und die Luft ist schlecht. Mir wird übel.«
Jelinek begann Craddock zu untersuchen. Plötzlich sah er scharf auf und blickte sich im Raum um, als wolle er die Männer zählen. Seine Lippen bewegten sich. »Wer hat Wache?« fragte er schneidend. »Barr. Das ist dein Werk, nicht wahr?«
»Shepherd hat sich angeboten, sie für mich zu übernehmen«, sagte Barr gleichgültig.
»Er hat eine Menge deiner Wachen übernommen, nicht wahr?«
»Nicht mehr als für Burt oder Craddock.« Barrs Stimme zitterte. »Woran ist er gestorben?«
»Jemand hat ihn umgebracht«, sagte Jelinek langsam.
In der folgenden Stille sah Jelinek von einem zum anderen.
»Woher weißt du das?« fragte Barr. »Er lag schon im Sterben. Das war uns allen bekannt. Seit einem Monat konnte er kein Essen mehr behalten.«
»Jemand konnte es nicht abwarten. Er wurde erwürgt.«
»W-wer?« stammelte Holloway. »Wer – hat das getan?«
Jelinek sah sie nüchtern an. »Wollen wir das wirklich ergründen? Wenn wir es wissen, werden wir etwas gegen den Täter unternehmen müssen. Wenn wir es nicht wissen, können wir so weiterleben.«
»Mit einem Mörder unter uns?« fragte Migliardo. »Wie sollen wir wissen, ob er nicht noch einmal tötet?« Er sah von Barr zu Jelinek und Holloway.
»Vielleicht weiß es der Mörder gar nicht«, sagte Barr. »Vielleicht hat er es im Wahn getan.«
»Das ist ein guter Einwand«, meinte Jelinek. »Vielleicht ist ein Schizophrener unter uns mit einem Tötungswahn. Mig hat recht. Wir sollten nach ihm suchen. So können wir dem Mörder vielleicht sagen, wer er ist.«
»Wie sollen wir das herausbringen?« fragte Holloway schwach. »Jeder von uns kann es getan haben. Barr – du hast immer wegen seines Hustens und Trinkens Streit mit ihm gehabt. Du sagtest, du würdest ihn umbringen. Und jetzt hast du es getan! Wie du es ihm versprochen hattest.«
»Ich!« schrie Barr wütend. »Und du? Du hast ihn gehaßt. Du wolltest mit Mig die Koje tauschen, damit du nicht mehr neben ihm schlafen mußtest. Oder Mig! Dich hat er einen Falschspieler genannt …«
»Wer hat nicht mit ihm oder sonst jemandem gestritten?« fragte Jelinek müde. »Aber Ted hat den Mörder gezeichnet. Er war doch stärker, als der Mörder geglaubt hatte. Unter seinen Fingernägeln ist Haut und ein wenig Blut. Der Mörder muß Spuren an den Armen haben, wo ihn Ted beim Endkampf kratzte. Jeder streckt jetzt einmal die Arme aus.«
Holloway untersuchte seine Arme bereits. Migliardo ebenfalls. Dann streckte Holloway seine Hände eifrig vor. »Keine Kratzer! Seht ihr? Nichts.«
»Mig?«
Mit einem Ausdruck der Erleichterung zeigte Migliardo seine Arme.
»In Ordnung. Iron?«
Barr hielt die Arme am Rücken verschränkt. »Laß mich zuerst deine sehen.«
Jelinek streckte langsam die Arme aus und drehte sie mit den Handflächen nach unten. Sie waren unverletzt. »Iron?«
Barr zögerte. »Ich habe mir die Arme gestern verkratzt, als ich meinen Anzug anzog. Jemand hatte wieder daran herumgefummelt. Jemand will mich umbringen! Nach dem müßt ihr suchen.« Er sprudelte die Worte hervor. »Mich konnte er nicht erwischen, da hat er Ted genommen. Mit Ted war es einfach. Ted lag ohnehin im Sterben. Ich war ihm zu zäh, also holte er sich Ted. Jemand hat uns beobachtet, um uns zu töten, und jetzt hat er die Gelegenheit ausgenützt.«
»Iron?« wiederholte Jelinek ruhig.
»Und was ist mit Shepherd?« fragte Barr eifrig. »Warum siehst du dir nicht seine Arme an?«
»Ich glaube nicht, daß wir weitersuchen müssen. Jeder, der seine Arme nicht vorzeigt, muß uns als der Schuldige erscheinen.«
»Es ist ein Trick«, sagte Barr plötzlich. »Ich wette, daß unter Teds Nägeln überhaupt keine Haut ist. Das hast du nur gesagt, weil du gesehen hast, daß ich mir gestern die Arme verkratzte.« Er stieß sich ab und wollte zu Teds Koje hinüber. »Du willst mir so lange zureden, bis ich selbst glaube, daß ich ihn umgebracht habe.«
»Da!« rief Migliardo und deutete auf Barrs Arm.
An der Außenseite, dicht über dem Handgelenk, liefen drei rote, senkrechte Spuren, aus denen weiße Flüssigkeit entwich.
Barr preßte die Arme an den Körper. »Ich habe ihn nicht umgebracht!« schrie er hysterisch. »Ich würde es wissen, wenn ich es getan hätte. Ich kann mich nicht daran erinnern.« Seine Stimme ging in ein hysterisches Schluchzen über.
»Was nun?« fragte Migliardo.
Jelinek hob die Augenbrauen. »Vermutlich müssen wir ihn beisetzen.«
»Was willst du mit der Leiche machen?« fragte Holloway.
»Ted bekommt ein Raumfahrergrab. Mehr können wir nicht für ihn tun.«
»Damit er dem Schiff bis zum Mars folgt?« Holloways Stimme zitterte. »Damit wir ihn jedesmal, wenn wir hinaussehen, hinter uns herschweben sehen?«
»Wenn wir ihn gut abstoßen, wird er sich so weit entfernen, daß er außer Sicht bleibt«, erklärte Jelinek.
»Man müßte ihn begraben«, murmelte Holloway. »Er wird nicht ruhen, bis er nicht begraben ist.«
Jelinek zuckte mit den Schultern. »Wir geben ihm ein Raumfahrerbegräbnis. Er hätte es sich so gewünscht. Weißt du über die Beerdigungszeremonie Bescheid, Mig?«
»Ich werde es versuchen.«
»Essen«, sagte Barr schlau. »Unsere Vorräte könnten knapp werden. Warum sollten wir …«
»Wenn wir je so verzweifelt sein sollten«, sagte Jelinek traurig, »sind wir ohnehin erledigt. Schnall ihn von der Koje los und bring ihn auf das Vorratsdeck!«
Bar stieß sich langsam von der Koje ab. »Ich? Ich will ihn nicht berühren. Ein anderer soll es tun. Ich kann nicht. Sagt es Shepherd.«
Mit kalter, harter Stimme sagte Migliardo: »Bring ihn hier herüber, Barr, oder wir legen ihn dir um die Schultern.«
»Nein«, wimmerte Barr. »Nein!«
»Nimm ihn, Barr«, sagte Holloway mit gepreßter Stimme.
Langsam bewegte sich Barr auf die Koje zu. Er löste die Gurte zu beiden Seiten so vorsichtig, daß er den Körper des Toten nicht berühren mußte. Er zog an einer Schlinge. Der Körper rollte in der Luft und folgte ihm. Plötzlich öffneten sich die geschlossenen Augenlider. Die blicklosen Augen starrten Barr anklagend an.
Barr ließ die Schlinge fallen, als habe sie sich in seine Hand gebrannt, und schlug die Arme vor sein Gesicht. »Ted!« schrie er. »Ich war es nicht!«
Der Körper trieb auf Jelinek zu, der sich am Mittelpfosten festhielt. Er ergriff den Toten an einem Arm. »Barr!«
Wie in Trance drehte sich Barr um und stieß sich zu Jelinek ab. Er hielt sich am Pfosten fest und nahm die Gürtelschlaufe in die Hand. Er schwebte durch die Öffnung.
Die anderen folgten – Jelinek, Migliardo, Holloway. Sie bildeten einen Kreis um den Pfosten. Jelinek streckte den Körper so aus, daß er zu ihren Füßen lag. Die Augenlider ließen sich nicht schließen.
»Was ist mit Shepherd?« fragte Migliardo.
»Er hat Wache«, erwiderte Jelinek.
Migliardo räusperte sich. »Der Mensch, aus dem Weibe geboren, lebt nur kurze Zeit, und sein Leben ist voller Elend. Er wächst und wird niedergemäht wie eine Blume. Er flieht dahin wie ein Schatten und bleibt nie lange an einem Ort …«
Sie senkten die Köpfe.
Jelinek sah auf. »Zieh deinen Anzug an, Barr.«
Barr drehte sich mechanisch um, öffnete einen Spind und zog seinen Anzug an. Seine Bewegungen waren starr. Als er fertig war, öffnete Migliardo die Tür zur Luftschleuse.
»Bring den Toten hinaus«, sagte Jelinek, »und gib ihm einen ordentlichen Stoß.«
Barr nahm das Gürtelende in die Hand und bewegte sich schwerfällig auf die Luftschleuse zu. Der Tote schaukelte hin und her. Jelinek half Barr, den Körper in die Luftschleuse zu bringen.
Das Zuschlagen der Tür hatte etwas Endgültiges. Sie starrten sie einen Augenblick an und schwebten dann einer nach dem anderen zurück auf das Wohndeck.
Holloway ging sofort auf eine der Sichtluken zu, öffnete sie und sah hinaus. »Ich sehe nichts.«
»Was sollen wir mit Barr machen?« fragte Migliardo. »Wir können ihn nicht frei herumlaufen lassen.«
»Rachedurst?« fragte Jelinek.
»Nur gesunder Menschenverstand. Glaubst du wirklich, daß mit seinem Anzug etwas nicht in Ordnung war?«
Jelinek schüttelte düster den Kopf. »Zu einfach. Und zu ironisch. So direkt arbeitet die Gerechtigkeit nicht. Nein, Barr war der einzige Mann mit schizophrener Anlage. Und wir müssen die nächsten zwei Jahre mit ihm zusammen leben. Nette Aussichten.«
»Kannst du nicht …« Migliardo schluckte. »Kannst du ihn nicht aus dem Weg räumen?«
»Nein. Ich muß daran denken, daß er mein bester Freund war. Er könnte es wieder werden.« Jelinek senkte die Stimme. »Barr hat Ted nicht umgebracht. Es war der Raum. Wie kannst du einen Mann für etwas verurteilen, das du selbst mit kühlem Verstand in Erwägung gezogen hast? Könntest du Barr töten?«
Migliardo zögerte. »Nein.«
»Keiner von uns brächte es fertig.«
»Ich sehe sie nicht«, sagte Holloway drängend. »Da stimmt etwas nicht. Draußen ist niemand.«
Die Luftschleusentür wurde plötzlich zugeschlagen. Jelinek sah sich im Raum um, schwebte schnell auf Barrs Schrank zu, öffnete ihn und holte einen kleinen Rohrschlüssel heraus.
»Leg dich in deine Koje, Burt. Versteck das. Und benutze es im Notfall.«
Holloway starrte Jelinek aus schreckgeweiteten Augen an und glitt dann auf seine Koje zu. Er verstellte die Riemen, so daß er ausgestreckt dalag. Den Schlüssel schob er zwischen Bein und Wand.
Barr hatte seinen Anzug abgestreift. Er glitt am Mittelpfosten herauf.
»Hast du den Toten hinausgestoßen?«
»Ja.« Barrs Augen streiften die geöffnete Sichtluke.
»Mig«, sagte Jelinek ruhig. »Sieh nach.«
Migliardo sah Barr nur kurz an und ging hinaus.
»Barr«, sagte Jelinek, »was sollen wir mit dir tun?«
Barrs muskulöse Hände zuckten nervös. »Ich weiß nicht.«
»Du könntest wieder töten.«
»Nein!« schrie Barr. »Ich würde es nicht tun. Ich war nur … Ich schwöre dir, Emil, ich habe ihn nicht umgebracht.«
»Iron«, meinte Jelinek kopfschüttelnd, »wie sollen wir dir glauben? Wie können wir dir vertrauen?«
Er stieß sich mit einer Hand von der Mauer ab. Er schwebte auf Barr zu. Barr wich zurück. »Versuch nichts!« sagte er wild. »Ich warne dich. Ich vergreife mich. Ich – ich werde mit euch allen fertig. Ich bringe dich um, Emil, wenn du mich anrührst.« Er schob seine Fäuste vor und ließ sich gegen die Wand treiben, an der Holloways Koje befestigt war.
Jelinek bewegte die Hand. Eine Spritzennadel glitzerte.
»Du willst mich vergiften!« schrie Barr. »Ich bringe euch um – alle …«
Holloway schlug den Rohrschlüssel auf Barrs Hinterkopf. Es war ein dumpfer, hohler Schlag. Barrs Körper bäumte sich einmal auf und schwebte dann ruhig in der Luft.
»Danke, Burt«, sagte Jelinek und zerrte Barr auf seine Koje. Er verschloß die Gurte. Dann holte er Klebeband aus seinem Schrank. Er wickelte es sorgfältig um Barrs Handgelenke und um seine Koje. Dann stach er die Nadel in Barrs Ellbogenbeuge.
Die Luftschleusentür schlug zu. Ein paar Sekunden später kam Migliardo in den Raum. Er überblickte die Situation sofort. Jelinek rieb ein Desinfektionsmittel in die Platzwunde, die Barr erlitten hatte.
»Er hat Teds Leiche zwischen die Raketensonden gestopft«, berichtete Migliardo. »Ich stieß ihn hinaus. Wie ich sehe, hast du hier Ordnung geschaffen.«
Jelinek sah ärgerlich auf. »Für wie lange? Mein Morphium reicht für dreißig Tage. Was machen wir dann?«
»Vielleicht, wenn wir den Mars erreicht haben …« Migliardo sprach nicht weiter.
»Können wir ihm dann trauen?«
Migliardo zuckte hilflos mit den Schultern. »Du bist der Arzt.«
Barrs Augenlider flatterten. »Mama«, sagte er.
Migliardo schwebte zurück zum Mittelpfosten. »Ich spreche mit Shepherd.«
Auf dem Deck war es still. Man hörte nur die Stimme eines Kindes, das sich immer wieder beklagte: »Mama.«
Als die Lichter aufblitzten, mußte Faust blinzeln. »Diese armen, armen Teufel«, sagte er leise. Es klang wie ein Gebet.
Danton starrte mit leeren Augen auf den Schirm. Er hatte die Hände auf dem Schoß verkrampft. »Ich kann das nicht mehr ertragen«, sagte er heiser.
»Du brauchst dir keine Vorwürfe zu machen, Arnos«, erklärte Faust.
Danton sah Faust aus schuldbewußten, grauenerfüllten Augen an. »Ich habe sie hinausgeschickt, Jim. Ich habe ihnen das angetan. Ich habe Ted umgebracht. Ich habe Iron zum Mörder, zum Wahnsinnigen gemacht.«
»Ich habe sie ausgewählt«, warf Lloyd ein.
»Niemand hat schuld«, meinte Faust. »Es ist der Raum. Die Männer gingen hinaus, weil sie nicht anders konnten. So wie du hier oben bleibst, weil du nicht anders kannst, Arnos. Neueroberte Gebiete sind nun mal unersättlich. Man kann sie nur zähmen, indem man für sie stirbt. Die Menschen starben für den Westen, für die Antarktis, für die Atomkraft, für neue Straßen und Wolkenkratzer. Männer starben für den Bau des Kleinen und des Großen Rades. Der Raum ist gierig. Und die Menschen stecken ihm die Köpfe in den Rachen, weil sie Menschen sind und nicht anders können.«
»Zu alt«, sagte Danton. Seine welke Hand zitterte. »Ich bin zu früh alt geworden.« Er drehte sich um und ging hochaufgerichtet aus dem Raum.
»Danke«, sagte Lloyd ruhig.
»Du glaubst, ich wollte es ihm nur leichter machen?«
»Ich weiß, daß du es ehrlich gemeint hast. Aber du hast ihm nicht alles gesagt. Du hast ihm verheimlicht, daß wir aufgeben müssen, falls die Santa Maria es nicht schafft.«
»Er weiß es«, sagte Faust.
»Noch ein Film?«
»Nein«, sagte Faust und lächelte müde. »Wie Arnos kann ich heute nicht mehr.« Er versuchte seiner Stimme einen forschen Klang zu geben. »Nun, vielleicht schaffen sie es. Schließlich sind sie noch zu fünft.«
»Sicher. Barr, Jelinek, Holloway, Shepherd, Migliardo.«
»Jim«, sagte Lloyd, »als das Schiff zum Mars startete, waren nur fünf Männer an Bord. Einer von ihnen ist tot.«
»Aber es sind fünf.«
»Wie sieht Shepherd aus?«
Faust sah nachdenklich vor sich hin. »Er hat einen Bart. Blasses Gesicht, tiefliegende Augen …«
»Woher weißt du das, Jim? Du hast ihn nie gesehen.«
Faust sah ihn verblüfft an. »Ich muß ihn gesehen haben. Ich habe sein Bild genau vor mir – er muß sich versteckt gehalten haben. Deshalb sah man ihn während der ersten Filme nicht. Hinter dem versiegelten Instrumentenbrett …?«
»Jim«, wiederholte Lloyd. »Du hast ihn nie gesehen.«
Faust rieb sich mit den Knöcheln der Hand über die Stirn. »Du hast recht. Er war während des ganzen Films auf dem Steuerdeck. Eine Halluzination? Oder wie erklärst du dir die Sache sonst?«
Lloyd zuckte hilflos mit den Schultern. »Ich weiß, wie die Sache angefangen hat, aber die Entwicklung ist mir aus den Händen geglitten. Da ist dieser Sicherheitsfaktor, von dem wir ihnen erzählten. Und wir hatten ihnen posthypnotisch folgendes suggeriert: Wenn sie in wirklicher Not wären, bekämen sie Hilfe.«
»Barr wußte, daß du einen Trick versuchen würdest.«
»Kein Trick, Jim. Es stimmt. Sie erhalten Hilfe. Aber wir dachten nie, daß sie diese Form annehmen würde.« Lloyd schob das Kinn vor. »Komm, Jim, ich zeige dir deine Kabine.«
Er führte Faust über die Speiche auf die andere Seite des Rades und in die Kabine, die er auch damals bewohnt hatte, als er zum erstenmal heraufgekommen war.
»Arnos hat Essen für dich und sich bestellt. Er erwartet dich um sechs in seiner Kabine. Hast du noch einen Wunsch?«
Faust schüttelte den Kopf. Als Lloyd sich wieder umdrehte, fragte Faust verwirrt: »Woher weiß ich, wie Shepherd aussah, wenn ich ihn noch nie gesehen habe?«
»Ich wollte, du könntest mir diese Frage beantworten«, erwiderte Lloyd.
Der heiße, feuchte Hydroponikraum befand sich auf der anderen Seite des Rades, gegenüber der Klimaanlage. Ein breiter, flacher Tank mit grünlichem Wasser bedeckte den größten Teil des Bodens. Die Algen im Tank absorbierten das Kohlendioxyd aus der Luft des Rades und produzierten stündlich ein Fünfzigfaches ihres eigenen Volumens an Sauerstoff.
Neben dem großen Tank stand ein kleinerer, in dem Blumen und Gemüse wuchsen. Ein alter Mann kümmerte sich um sie – natürlich alt nur in den Augen eines Raumfahrers. Er war fünfzig.
Lloyd salutierte. »General Kovac!«
Kovac winkte ihm lässig zu. »Rühr dich, Lloyd. Ich bin jetzt nur noch der Gärtner. Wenn Arnos und ich nicht als junge Offiziere zusammen gedient hätten, hätte er es nie zugelassen, daß ich mich auf diesen Posten zurückziehe. Du weißt das genau.« Sein faltiges Gesicht verzog sich zu einem Lächeln. »Immerhin danke ich dir.«
Lloyd erwiderte das Lächeln. »Ich möchte wissen, Max, ob du ein paar Blumen für mich übrig hast.«
Kovac zog eine Kiste hervor, die dick gepolstert war. »Alles schon verpackt und isoliert. Es sollten Gardenien sein, sagte Arnos.«
Lloyd nahm die Kiste, sah sie an und biß sich auf die Unterlippe. »Gardenien. Du und Arnos …«
»Halt jetzt den Mund«, brummte Kovac. »Ich will keinen Ton mehr davon hören. Und Arnos auch nicht. Sag Terry, sie soll nicht albern sein.«
»Danke, Max. Ich will es versuchen.«
Das Spielzimmer war leer. Lloyd fragte sich, wo die Jungen wohl waren. Er riß die Isolierschicht von der Kiste ab und machte sie auf. Die Gardenien waren so frisch und weiß, als habe man sie soeben auf der Erde gepflückt. Lloyd sah sie an, holte tief Atem und zog die Tür zum Wohnzimmer auf.
Terry sah auf, als er die Leiter herunterkam. Sie bügelte ein dünnes Kleid. Sie hatte etwas sagen wollen, doch als sie ihn sah, schwieg sie. Lloyd ließ sich den letzten Meter fallen und kam leicht auf dem Boden auf.
»Für dich«, sagte er und hielt ihr die Gardenien hin.
Terry sah die Blumen an, und ihre Mundwinkel zuckten. Blind vor Tränen streckte sie die Hand aus und nahm sie entgegen. Sie drückte ihr Gesicht in die Blüten und atmete ihren Duft ein.
»Ach, Lloyd«, sagte sie. »Sie sind wundervoll.«
»Nicht so schön wie du«, sagte Lloyd. Seine Stimme klang heiser.
Terrys Gesicht hatte sich mit einem roten Schimmer überzogen. »Ich weiß nicht, was ich sagen soll.«
»Sag nichts. Wenn ich dir jedesmal Blumen brächte, wenn ich sagen möchte: ›Ich liebe dich‹, dann könnten wir in den Hydroponikraum übersiedeln. Ich habe dich wirklich lieb, Terry. Mehr als alles andere. Mehr als meinen Beruf. Und wenn du nach unten willst – komme ich mit.«
»Ach, Lloyd!« Sie wischte sich mit dem Handrücken über die Augen. »Ich benehme mich wie ein Schaf, nicht wahr? Du weißt, daß ich dich nicht von hier fortholen würde. Ich – ich will mir nur nicht so nutzlos vorkommen.«
»Wenn du mich allein läßt, können meinetwegen auch die Sterne aus dem Raum fallen«, sagte Lloyd.
Sie sah ihn forschend an. »Fast könnte man glauben, daß es dir ernst ist. Ach, ich möchte es so gerne glauben, Lloyd!« Sie legte die Arme um seinen Hals und schmiegte sich eng an ihn. »Ich bin so glücklich.«
Er konnte ihr Herz schlagen hören, schnell und hart. Wenn ich nur nicht Psychologe wäre, dachte er. Wenn ich nur aufhören könnte, mich und alle anderen zu analysieren, wenn ich blindlings handeln könnte, anstatt immer den richtigen Weg zu suchen. Nun, liebst du sie etwa nicht? Doch. Doch!
Sie hob ihr Gesicht mit geschlossenen Augen. Er küßte sie hart und fordernd. Ihre Lippen waren weich.
Als er sich wieder von ihr löste, sprudelte er hervor: »Terry, wir verbinden die neun Wohnungen mit der leeren. Sie soll ein Erholungszentrum werden. Dann kannst du die anderen Frauen öfter treffen. Wir werden Tanztees, Kartenabende, Kinovorführungen und alles andere organisieren. Wir werden eine echte Gemeinschafts…«
Sie legte ihm den Finger auf die Lippen und murmelte: »Das ist schön, Liebling. Das ist wirklich wundervoll.« Er küßte sie wieder. Mit jener Gedankengemeinschaft, die sich im Laufe einer Ehe herausbildet und die lange Erklärungen unnötig macht, fragte er: »Und die Jungen?«
»Die schlafen gerade«, flüsterte sie und schmiegte sich an ihn.
Er hob sie hoch und trug sie in das Schlafzimmer hinüber. Sie öffnete die Augen und flüsterte: »Das Bügeleisen, Liebling.«
Fluchend stürmte er zurück, riß die Schnur mit einem Ruck heraus und rannte zurück ins Schlafzimmer.
Terry seufzte. Aber sie lächelte dabei.
Einhundertsiebenundneunzig Tage draußen. Die Santa Maria schwebte mit ihrer lebenden Fracht durch den Raum. Die Erde lag jetzt weit zurück. Der Mars kam merklich näher – er war jetzt schon als Scheibe erkennbar.
Holloway lag in seiner Koje. Mit einem herausgerissenen Stück der Polsterung stützte er sich gegen den Druck der Gurte auf, um aus der Sichtluke in den Raum zu schauen. Er war sehr viel schmaler. Seine Augen brannten tief in dem farblosen Gesicht.
Barr war immer noch mit dem Klebeband an den Rahmen seiner Koje gefesselt. Migliardo hielt sich mit einem Bein am Pfosten fest. Er versuchte, Barr kleingeschnittenes Steak mit einer Pinzette einzugeben. Endlich hatte Barr ein Stück zwischen den Zähnen. Er spuckte es wieder aus.
»Ihr wollt mich vergiften!« schrie Barr. »Ich esse nichts. Ich werde keinen Bissen essen. Ihr wollt mich loswerden!«
»Iron«, sagte Migliardo geduldig und fing das Fleischstück wieder aus der Luft, »du hast gesehen, wie ich das Essen aus der Kühltruhe holte. Du hast gesehen, wie ich es in den Herd schob. Du hast gesehen, wie ich es herausholte und hierherbrachte. Wenn du nicht ißt, mußt du sicher sterben.«
Barrs Körper bäumte sich auf, als er gegen das Klebeband ankämpfte, das ihn auf der Koje festhielt. Aber er konnte sich nicht befreien. Selbst Barr war schwach geworden. »Ich esse nichts«, schrie er. »Wartet nur, bis ich mich befreie, dann bringe ich euch alle um – dich und Emil und Burt und Ted … Alle außer Shepherd. Er ist nett zu mir.«
Migliardo seufzte und stieß sich ab. Er warf das Essen in den Abfallkanal und schwebte zum Mittelpfosten hinüber. Barrs Beschimpfungen verfolgten ihn unaufhörlich. Mig zog sich hinauf zum Kontrolldeck. Jelinek saß auf dem Stuhl des Navigators. Er beobachtete den Mars durch das Teleskop.
»Emil«, sagte Migliardo.
Jelinek zuckte zusammen und stieß mit dem Auge an den Teleskopansatz. Er drehte sich um und rieb sich die verletzte Stelle.
»Was machst du hier?«
Jelinek grinste verlegen. »Ich poliere meine Navigationskenntnisse auf. Burt ist keine große Hilfe, und wenn …«
»Wenn mir etwas geschehen sollte?« Migliardo nickte. »Keine schlechte Idee. Ich müßte meine Pilotenausbildung einsetzen. Aber ein großer Pilot war ich noch nie. Nun, wir haben noch Shepherd.«
Sie sahen einander ruhig an und wägten nüchtern alle Möglichkeiten ab. Migliardos Gesicht entspannte sich. »Wir kommen doch durch, was, Emil?«
»Du und ich und Shepherd.«
»Du weißt, daß ich nie ein allzu guter Katholik war, aber in letzter Zeit bete ich. Zusammen mit Shepherd. Vielleicht hilft es.«
»Vielleicht. Aber vergiß nicht, daß der Herr denen hilft, die sich selbst helfen. Wie sehen die Triebwerke aus?«
»Nummer zwei ist zerfressen. Aber einen Schub oder zwei hält es noch aus.«
Barr schrie immer noch. Migliardo hörte ihm einen Augenblick zu. »Ich weiß nicht, wie lange ich das noch ertragen kann, Emil«, sagte er. »Tag und Nacht geht das so fort. Man kann ihm nicht entrinnen. Schläft er denn nie?«
»Er nickt hin und wieder ein. Wir merken es nur nicht. Wenn wir nur wie Burt wären. Er nimmt nichts auf.« Jelinek sah Migliardo prüfend an. »Er muß schwächer werden. Seit einer Woche ißt er nichts mehr. Wenn wir versuchen würden, ihn wie Burt intravenös zu ernähren, würde er sich von seinen Fesseln losreißen.«
Migliardo horchte wieder und zuckte zusammen. »Können wir gar nichts tun?«
»Mein Morphium war vor einem Monat zu Ende. Und Reserpin hilft nicht. Außerdem glaubt er, ich wolle ihn vergiften.«
Migliardo leckte sich nervös die Lippen. »Es ist, als müsse man ein kleines Kind versorgen. Waschen, Füttern, Bettschüssel – nur daß ein kleines Kind nicht sprechen kann.«
»Ich würde dich gern ablösen, Migliardo. Du weißt es. Aber das wäre um so schlimmer. Er hat Angst vor mir.«
Migliardo biß sich auf die Unterlippe. »Natürlich. Entschuldige. Aber manchmal wird es mir einfach zuviel.« Er drehte den Kopf herum und horchte. »Da! Er hat aufgehört.« Sein Gesichtsausdruck veränderte sich. »Das ging schnell. Zu schnell. Ich werde nachsehen.«
Er glitt den Mittelpfahl nach unten. Ein kurzes Schweigen, und dann hörte man Migliardos entsetzte Schreie: »Emil! Um Himmels willen, Emil!«
Das Wohndeck war in einen roten Sprühnebel gehüllt. Rote Tropfen schwebten in der Luft. Aus Barrs Halsschlagader drang immer noch stoßweise das Blut.
Jelinek hielt sich am Kojenrand fest und preßte die Hand gegen den breiten Schnitt in Barrs Kehle. Aber das Blut strömte bereits langsamer. Es hörte ganz auf, als Jelinek nach der Schlagader tastete. Barr war tot.
Seine Augen standen offen. In ihnen war ein Gemisch aus Haß und Angst zu lesen. Die Schranktür über seinem Kopf war offen. Sein rechter Arm war frei. In der Hand hatte er ein rasierklingenscharfes Klappmesser.
Migliardo, der sich neben Jelinek an der Koje festhielt, war leichenblaß.
»Es ist alles vorbei, Mig«, sagte Jelinek ruhig. »Mach lieber sauber.«
Migliardo sagte langsam: »Ich hätte nie gedacht, daß in einem Menschen so viel Blut ist.«
Jelinek schob ihn zur Dusche hinüber. »Los, wasch dich. Und steck deine Shorts in den Abfall.« Als er das Zischen des Wassers in der Kabine hörte, schwebte Jelinek zu seinem Schrank hinüber und holte ein Handtuch heraus. Langsam wischte er sich das Blut von der Hand. »Hast du etwas gesehen, Burt?«
Holloway starrte aus der Luke. »Nein«, sagte er geistesabwesend. »Ich habe nichts gesehen. Nur die Sterne. Die Erde ist zu weit weg. Ich glaube nicht, daß wir sie je erreichen. Die Erde ist nur ein Traum, den ich eines Nachts geträumt habe. Es gibt keine Erde. Oder ich bin ein Traum, den jemand anders träumt. Dann wäre es gleichgültig. Träume sind gleichgültig.« Seine Stimme wurde leiser.
Der rote Nebel war verschwunden, aufgesaugt von den Klimagebläsen, aber noch schwebten viele rote Tropfen ziellos in der Luft. Methodisch zerstäubte Jelinek sie mit seinem Handtuch. Als nur noch winzige Tropfen zu sehen waren, die die Klimaanlage aufsaugen konnte, legte Jelinek das Handtuch Barr um den Hals und schloß die starren Augen.
Migliardo kam aus der Duschkabine. Er war totenblaß. Eine bedrückende Stille lag über dem Raum, als er zu seinem Spind hinüberschwebte, um sich neue Shorts zu holen.
»Barr hat es jetzt gut«, sagte Jelinek. »Er war unheilbar krank, und es hätte ihm nichts geholfen, wenn wir ihn wieder auf die Erde zurückgebracht hätten. Schaffen wir ihn auf das Vorratsdeck.«
Sie zogen den Toten zum Mittelpfosten und von dort zum Vorratsdeck, das der Luftschleuse am nächsten war.
»Shepherd«, fragte Jelinek.
Da standen sie mit gesenkten Köpfen nebeneinander, Jelinek und Migliardo. Nach einiger Zeit blickten sie auf. Der rastlose Barr hatte nun doch seinen Frieden. »Danke, Shepherd«, sagte Jelinek. »Mig?«
Migliardo nickte schweigend und zog seinen Raumanzug an.
»Wenn du zurückkommst, mach zusammen mit Shepherd Ordnung. Steck die Kojendecke in den Abfall. Ich gehe wieder auf meinen Posten.«
Wieder nickte Migliardo. Er streifte den Helm über. Jelinek zog ihm die Flügelschrauben fest und ließ sich dann aufs Kontrolldeck gleiten. Als er am Wohndeck vorbeitrieb, warf er einen langen Blick hinein und runzelte die Stirn. Dann schwebte er weiter nach oben.
Ohne das Licht anzuschalten, sagte Lloyd zu den beiden Männern, deren Köpfe er vor sich sah: »Der Film des zweihundertsechzigsten Tags ist soeben entwickelt worden. Sollen wir ihn abspulen?«
»Ja«, sagte Danton heiser. »Dann schweben wir nicht mehr im Ungewissen.«
»Laß ihn ablaufen«, meinte auch Faust.
Die Leinwand strahlte hell auf.
Zweihundertsechzig Tage draußen. Vor der Santa Maria lag der Mars – eine große Scheibe, die in roten, weißen und grünen Farben aufglühte. Sie war noch achttausendfünfhundert Meilen entfernt. Man konnte deutlich die Kanäle sehen, natürliche Einbrüche der Marskruste, durch die vom Südpol her die Nebel wallten. Die Oberfläche schien sich immer schneller zu drehen.
In vierundsechzig Minuten sollte die Zündung einsetzen.
Migliardo saß in den Tischschlingen und las in einem schwarzen Lederband. Es war die Bibel.
Jelinek schwebte neben Holloways Koje. Die Augen des Navigators waren geschlossen. Seine Brust hob und senkte sich kaum. Jelinek hielt sein Handgelenk und zählte leise. Schließlich nickte er schweigend und sah auf die Uhr. »Zweiundsechzig Minuten bis zur Zündung, Mig. Wir machen uns besser fertig.«
Migliardo sah nicht auf. »Shepherd macht das schon.«
»Mig …«, sagte Jelinek zögernd. »Ich bin das Bordbuch durchgegangen, Mig. Vor dem hundertzwölften Tag finde ich nirgends eine Erwähnung von Shepherd.«
Migliardo zuckte mit den Schultern. »Du wirst einen Fehler gemacht haben.«
»Nein. Ich war überrascht. Ich habe zweimal nachgesehen, Mig. Wie sieht Shepherd eigentlich aus?«
Migliardo las weiter. »Das weißt du doch. Er hat einen Bart. Traurige, tiefliegende Augen …«
»Eine Art Handtuch um die Hüften geschlungen?«
»Aber nein«, erwiderte Migliardo. »Er trägt Khakishorts wie wir.«
Jelinek seufzte und ließ sich auf Migliardo zutreiben. »Natürlich. Es ist erstaunlich, daß er für uns beide gleich aussieht.«
»Weshalb? Er sieht nun mal so aus.«
Jelinek hielt sich am Tischrand fest und beugte sich dicht zu Migliardo herunter. »Weil es ihn überhaupt nicht gibt, Mig.«
Mit einem Ruck hob Migliardo den Kopf. »Sag das nicht, Emil! Wir sind ohnehin schon ängstlich genug. Werde du nicht auch noch verrückt!«
»Denk zurück, Mig«, sagte Jelinek sanft. »Ganz weit zurück. Zurück bis zu dem Augenblick, in dem wir vom Kleinen Rad aus unser Schiff bestiegen. Phillips hatte uns Lebewohl gesagt und Danton ebenfalls. Wir waren allein, das Taxi hatte uns zur Santa Maria gebracht, und nun sahen wir uns in den Räumen um, die zweieinhalb Jahre lang unsere Heimat sein sollten. Wer war dabei, Mig?«
Migliardo legte die Stirn in Falten. »Du und ich und Burt und Ted und Iron – und …« Er sah Jelinek aus seinen großen, dunklen Augen an. »Shepherd war nicht bei uns.«
»Wann kam er, Mig?«
»Wie konnte er auf das Schiff gelangen, nachdem es gestartet war, Emil! Er war nicht dabei, und jetzt ist er hier. Mehr weiß ich auch nicht.«
»Beantworte mir eine Frage, Mig. Wer ist Shepherd?«
»Ich weiß es nicht. Und du?«
»Ich habe noch etwas nachgeprüft, Mig. Die Vorräte. Nur wir zwei haben gegessen, Mig. Mit Burt haben drei getrunken und geatmet. Shepherd ißt nicht und trinkt nicht und atmet auch nicht.
Wie soll ich ihn nennen? Eine Massenhalluzination, wenn es so etwas überhaupt gibt. Die Gestaltwerdung eines tiefverwurzelten Dranges, ausgelöst von gewissen Instruktionen, die man uns gab, vielleicht sogar durch posthypnotische Suggerierung. Aber ich glaube nicht, daß es so geplant war.«
»Du sprichst wie ein Hexenmeister, Emil.«
Jelinek nickte. »Gewiß. So muß es dir erscheinen. Aber unser Unterbewußtsein spielt uns nun mal seltsame Streiche. Und jetzt beantworte meine Frage.«
»Es stimmt nicht, daß er erst am hundertzwölften Tage auftauchte. Erinnerst du dich noch an das Gesicht, das Burt sah? Und an den Mann im Vorratsraum, von dem Ted erzählte?«
»Das würde ihn zu etwas machen – das mit einem Menschen nichts gemein hat.«
»Ein Mensch ist er auf keinen Fall. Haben wir denn eine Ahnung, was den Menschen im interplanetarischen Raum erwartet?«
»Das war keine sehr gute Antwort, Mig.«
»Meine beste Antwort ist der Glaube, Emil. Warum nennen wir ihn Shepherd – den Hirten? Hat er uns seinen Namen gesagt? Hat einer von uns ihn so getauft? Oder war es etwas, das uns einfach so zukam?«
»Sag du es mir.«
Migliardo zitierte leise: »Der Herr sei mein Hirte. Ich werde nicht Not leiden. Er bereitet mein Lager auf grüner Weide, er geleitet mich zu den stillen Wassern. Er erquickt meine Seele. In seinem Namen führt er mich die Wege der Rechtschaffenheit. Ja, obwohl ich durch das Tal der Schatten wandle, fürchte ich das Böse nicht.«
»Das war eine gute Antwort, Mig«, sagte Jelinek langsam. »Vielleicht besser als meine. Sie hat alle Anzeichen von psychologischer Wahrheit und Berührungsstellen mit der Erfahrung – die stillen Gewässer und das dunkle Tal des Todes. Ich wollte nur, ich wäre nicht so ein Skeptiker. Ich würde gern mit dir und Shepherd beten. Das Schlimme ist nur – in den letzten Tagen habe ich Shepherd nicht mehr gesehen.«
»Emil …«, begann Migliardo. »Ich möchte dir schon lange etwas sagen.«
»Eine Beichte?« fragte Jelinek sanft.
»In mehr als einer Hinsicht. Ich habe Barr umgebracht.«
»Ich weiß. Das Klebeband, das ihn fesselte, war durchgeschnitten und nicht zerrissen. Wie sollte er es durchschneiden, wenn er kein Messer hatte, und wie sollte er sich ein Messer beschaffen, wenn er gefesselt war? Außerdem hätte Barr nie Selbstmord begangen. Eher hätte er auch die anderen Fesseln durchgeschnitten und wäre über uns hergefallen.«
Migliardo legte sich die Hand über die Augen. »Er war mein Freund.«
»Du hast ihm einen Freundesdienst erwiesen – und wenn er noch normal genug gewesen wäre, seine Freunde zu erkennen, hätte er es von dir verlangt. Keiner unter uns ist ohne Schuld, Mig.« Jelinek sah auf die Uhr. »Noch fünfundzwanzig Minuten bis zur Zündung.«
Ein besorgter Ausdruck trat in Migliardos Gesicht. »Wenn Shepherd nicht wirklich ist, dann können wir nicht …« Er drehte sich zu Jelinek um. »Er ist doch da, Emil, nicht wahr? Er ist auf dem Steuerdeck.«
Jelinek runzelte die Stirn. »Ich weiß nicht. In letzter Zeit habe ich ihn nicht mehr gesehen.«
Migliardo befreite seine Beine schon aus den Schlingen. Er glitt hastig den Mittelpfosten entlang und streckte seinen Kopf durch die Öffnung auf das Kontrolldeck.
»Shepherd! Emil, er ist fort!« Mig kam wieder nach unten und suchte mit dunklen, erschreckten Augen das Wohndeck ab. »Shepherd! Shepherd!«
Er schwebte nach unten ins Vorratsdeck. »Shepherd?« Und immer wieder, völlig verzweifelt: »Shepherd?«
Plötzlich zuckte Jelinek zusammen. »Mig!« Er jagte auf den Mittelpfosten zu.
»Shepherd!« rief Migliardo noch einmal, und dann schlug die Luftschleusentür zu. Bevor Jelinek die Tür erreichen konnte, hörte er das Zischen der entweichenden Luft.
Jelinek drehte sich um. Er preßte die Lippen zusammen. Dann ging er auf die Spinde zu. Migliardos Raumanzug hing im Schrank. Auch die Anzüge der anderen vier waren da. Jelinek warf einen Blick auf die Luftschleusentür und sagte leise: »Lebwohl, Mig. Hoffentlich findest du ihn.«
Müde schleppte er sich zurück aufs Wohndeck. Eine große Stille war im Schiff, eine unerträgliche Stille. Jelinek sah auf die Uhr. Zwanzig Minuten bis zur Zündung. Er warf einen Blick auf Holloway. Die Brust des Kranken bewegte sich kaum.
»Die Stille«, murmelte er. »Das ist das Allerschlimmste.«
Er schwebte zu Holloway hinüber und fühlte noch einmal seinen Puls. Er runzelte die Stirn, ging zu einem Wandschrank hinüber und holte das Ende eines Plastikschlauchs heraus. Es war mit einer Nadel ausgerüstet. Jelinek suchte nach der Vene in Holloways Arm, stach die Nadel ein und setzte den kleinen Motor in Bewegung, der die Zuckerlösung Tropfen um Tropfen in Holloways Vene zwang.
Jelinek schwebte auf seinen Spind zu, öffnete ihn und nahm die Spritze heraus, die bereits mit einer wasserklaren Flüssigkeit gefüllt war. Er betrachtete sie einen Augenblick, sah auf Holloway, sah auf die Uhr. Noch fünfzehn Minuten bis zur Zündung.
Er schob die Spritze zurück in den Schrank und schlug die Tür zu. Dann zog er sich schnell zum Kontrolldeck hoch, setzte sich in den Pilotensitz und schnallte sich an. Seine Augen überflogen die Hauptkontrollen, während die Finger suchend über den Tasten und Knöpfen schwebten. Noch zehn Minuten. Zu wenig Zeit.
Plötzlich hörte er das mahlende Geräusch von Pumpen und das Zischen von Wasser. Jelinek sah auf seine Finger. Sie hatten das Instrumentenbrett noch nicht berührt.
Irgendwo im Schiffsinnern erfolgte eine Reihe kleiner Explosionen – sie erinnerten an das Geräusch von Knallfröschen, die am vierten Juli losgelassen werden. Jelinek horchte. Irgendwo summten Motoren auf. Schwungräder drehten sich. Langsam verschwand der Mars von der Astrokuppel, als sich das Schiff drehte. Jelinek sah durch eine seitliche Luke, wie ein riesiger, weißer Globus langsam wegschwebte. Ein leerer Treibstofftank.
Jelinek lächelte plötzlich und nahm seine Hand vom Instrumentenbrett. »Ah, da bist du ja, Shepherd.«
Der Mars erschien in der Sichtluke neben Holloways Koje – eine rotierende, rote, grüne, weiße Kugel.
Holloway richtete sich plötzlich auf und deutete mit dem Finger nach draußen. Seine Augen waren weit geöffnet, und vom Arm pendelte der Schlauch. »Die Erde!« rief er. Seine Augenlider flatterten. Die Augäpfel rollten nach hinten. Langsam, unter dem Druck der Gurte, sank er zurück auf die Koje. Als er wieder ausgestreckt dalag, bewegte sich seine Brust nicht mehr.
»Burt?« rief Jelinek vom Kontrolldeck. Er rief kein zweitesmal. Der Lautsprecher, der neben Holloways Koje im Bettpfosten untergebracht war, blieb still. »Du warst kein schlechter Navigator, Burt. Auch Kolumbus wußte nicht, daß er Neuland betrat.«
Er sah sich im Raum um, er sah, wie die Lichter blinkten und in andere Farben überwechselten, er sah, wie die Wählscheiben sich drehten und die Schiffs Silhouette am künstlichen Horizont allmählich verändert wurde. Das Kontrolldeck war zum Leben erwacht …
Er hörte den Geräuschen zu, dem Klicken der Hebel und dem Ticken der Uhrwerke, all den mahlenden, heulenden und knarrenden Geräuschen. Er roch dieses Gemisch aus Schweiß und verbrauchten! Atem, als würde er es zum erstenmal in seinem Leben riechen. Und es war ein beseligender Geruch. Seine Finger glitten über die Stuhllehne.
Dann sah er das Instrumentenbrett und drückte auf einen Knopf. »Klimaanlage – AUS«, stand darauf. Eines der Geräusche – ein Flüstern – verstummte. Wieder drückte er auf einen Knopf. »Luft – AUS.« Eine rote Lampe leuchtete auf – ein Zischen.
»Lloyd«, sagte Jelinek leise, »vermutlich siehst du mir jetzt zu. Du hast es mir nie gesagt, aber ich dachte mir, daß es so kommen müßte. Hoffentlich hast du etwas gelernt.« Er lachte, und es war ein glückliches Lachen. »Vielleicht suchst du das nächstemal einen besseren Psychologen aus.«
Seine Stimme veränderte sich und wurde nüchtern. »Es tut mir leid, Lloyd. Ich konnte es nicht ertragen. Die Einsamkeit und das Schweigen. Ich glaube, das Schweigen war das Schlimmste.
Sag Arnos – die Mannschaft war ein Fehlschlag – aber das Schiff ein Erfolg. Und sag ihm – daß hier draußen – ein gutes Schiff – mit Treibstoff und Vorräten – wartet, wenn es – je – einer schafft …«
Nach einer Weile verstummte das zischende Geräusch. Die Luft war verströmt. Am Kontrolldeck starrten zwei blinde Augen auf die kreisenden Sterne, und zwei taube Ohren horchten auf das Kreischen der Raketentriebwerke.
Das Schweigen in dem kleinen Raum war fast so unerträglich wie das auf der Santa Maria. Lloyd hatte vergessen, das Licht anzudrehen. Niemand merkte es. Niemand sagte etwas. Als Lloyd es schließlich nachholte, klammerte Danton immer noch die Hände um die Stuhllehne, so daß die Knöchel weiß hervortraten. Ohne Scham ließ er die Tränen über seine Wangen laufen.
Faust bedeckte die Augen mit der Hand. »Ich muß mich also auf das Schlimmste vorbereiten«, sagte er schließlich. »Es ist nur noch wenig Zeit übrig.«
Lloyd kam seine eigene Stimme fremd vor. Auch seine Augen waren feucht. »Was könntest du in zwei Jahren anfangen?«
Faust sah schnell auf. »Woher nehme ich zwei Jahre?«
»Das Schiff wird erst um diese Zeit zurückerwartet.«
»Und wie willst du die Leute so lange beruhigen?«
Lloyd sagte bedächtig: »Die Santa Maria befindet sich auf einer Kreisbahn um den Mars. Sie wird Berichte von der teleskopischen Untersuchung des Bodens und von den Raketensonden zurücksenden. Einige Raketen sind sogar dazu bestimmt, auf dem Mars zu landen, in beschränktem Umkreis geologische Untersuchungen anzustellen, die Proben zu analysieren und die Auswertungen zu uns zu signalisieren.
Das war unser Sicherheitsfaktor – daß das Schiff, abgesehen von besonderen Notfällen wie dem Meteoreinschlag, allein die Reise machen konnte. Im Unterbewußtsein erkannten die Männer das. Sie personifizierten das Schiff und nannten es Shepherd. Es hat nicht genügt …«
Lloyd hielt ein, fuhr aber nach kurzer Zeit wieder fort: »Die Berichte des Schiffes können wir von Zeit zu Zeit veröffentlichen. Und was die Mannschaft betrifft, so müssen wir nicht unbedingt Bescheid wissen. Wenn wir noch mehr Zeit brauchen, können wir verkünden, daß das Schiff die nächste günstige Gelegenheit zur Rückfahrt abwartet.«
»Zu viele Leute wissen Bescheid. Man könnte es nicht geheimhalten.«
Lloyd seufzte. »Wir sind daran gewöhnt, Geheimnisse für uns zu behalten, nicht wahr, Arnos? Die Männer, die die Filme auswerten, bleiben hier oben, bis wir die Informationen veröffentlichen können. Sie haben noch jahrelange Arbeit vor sich.«
»Vielleicht könnte es so gehen«, gab Faust zu. »Aber weshalb? Glaubst du, daß du eine bessere Mannschaft zusammenstellen kannst – eine, der das gelingt, was der anderen versagt blieb?«
Dantons Stimme war kalt und hart. »Es war die beste Mannschaft.«
»Woher willst du dann die Raumfahrer nehmen?« fragte Faust sanft.
»Wir schicken keine Leute mehr hinaus«, sagte Danton heftig. »Dreh den Film der Santa Maria noch einmal auf.« Das Bild des Schiffes erschien auf der Leinwand, silberig und zerbrechlich. »Da hast du deinen Raumfahrer. Unser bester Mann – alles brauchbares Zeug. Keine Neurosen, keine Bauchschmerzen, keine Schwächen, kein Zögern bei Entscheidungen, kein Raum-Wahnsinn. Es braucht keinen Sauerstoff, keine Nahrung, kein Wasser, keine Medikamente, keine Unterhaltung, und was wir sonst noch haben müssen, um überleben zu können. Nur Servomechanismen und Meßeinrichtungen. Roboter. Das ist dein Raumfahrer. Er kann überallhin reisen, alles ausfindig machen, fast alles allein tun. Und nie braucht er sich Sorgen um seine Rückkehr zu machen …«
Faust schüttelte den Kopf.
»Nein, Arnos«, sagte Lloyd. »Das genügt nicht. Als Forschungswerkzeug schon, aber nicht als Symbol. Die Vertreter der Menschheit müssen leben und atmen, wenn sie ihren Sinn erfüllen sollen. Es müssen Menschen sein, damit alle auf der Erde Zurückgebliebenen sagen können: ›Das hätte ich auch fertiggebracht, wenn man mir die Chance gegeben hätte.‹ Sie möchten sich im Abglanz des Ruhmes sonnen, den die Raumfahrer ernten. Das hast du mir einmal erklärt, Arnos. Weißt du noch? Ich habe es nie vergessen.«
»Wie lange wirst du brauchen?« fragte Faust langsam.
»Acht Jahre vielleicht, sagen wir zur Sicherheit zehn Jahre.«
»Das ist eine lange Zeit.«
»Der Mars wird warten.«
»Und woher willst du sie nehmen?« fragte Faust. »Diese Raumfahrer?«
Lloyd wußte, daß ihm die nächsten zehn Jahre gewährt worden waren. »Wenn sie sich nicht so finden, müssen wir sie uns selbst heranziehen.«
In der Luftschleuse seines Heims schälte sich Lloyd aus dem Raumanzug, nahm die isolierte Kiste in die Hand und öffnete die innere Tür. Zwei quirlige Bündel des Übermuts schossen ihm entgegen, Plastikhelme auf den braungebrannten Gesichtern, Strahler in der Hand. Sie begrüßten ihn lautstark. »Daddy, du bist heute so früh zu Hause. Spiel mit uns Raumfahrer. Los, Daddy!«
»Hallo!« sagte Lloyd weich. »Hallo, Raumfahrer!«