Der Sicherheitsfaktor
von
JAMES E.GUNN

 

Ter­ry Phil­lips be­ob­ach­te­te ih­ren Mann, als er aus dem Schlaf­zim­mer kam und das er­grau­en­de Haar bürs­te­te. Nach dem Wa­schen woll­te es nie rich­tig lie­gen, nicht ein­mal, wenn Lloyd es mit ei­ner Strumpf­müt­ze zu bän­di­gen ver­such­te. Das mach­te die Schwer­kraft von ein Drit­tel g.

Einen Au­gen­blick ver­gaß sie die zehn Jah­re, die al­les hat­ten zur Ge­wohn­heit wer­den las­sen, und sah ihn mit ob­jek­ti­ven Au­gen an. Die­se zehn Jah­re hat­ten Lloyd über das nor­ma­le Maß hin­aus al­tern las­sen. Für einen Mann An­fang der Vier­zig wirk­te er er­schre­ckend ver­braucht. Sein Ge­sicht war dun­kel und von klei­nen Fal­ten durch­zo­gen. Der graue Star hat­te sei­ne Au­gen ge­zeich­net. Aber trotz al­lem war er im­mer noch ein an­sehn­li­cher Mann, fast so an­sehn­lich wie da­mals, als sie ge­mein­sam vor dem Al­tar ge­stan­den hat­ten.

Es gab auch un­an­ge­neh­me Er­in­ne­run­gen, aber dar­an woll­te sie nicht den­ken. Nicht jetzt. Jetzt, da sie sich end­lich ent­schlos­sen hat­te.

Lloyd war be­drückt. Ob es we­gen des Schif­fes war?

Aber zu­al­ler­erst frag­te er nach den Kin­dern.

Ter­ry lach­te. Sie konn­te im­mer noch la­chen. »Paul und Carl sind seit Stun­den auf. Es ist zehn, du Schlaf­müt­ze. Sie wer­den im Spiel­zim­mer sein.«

»Oh, schön, schön.« Er rieb sich geis­tes­ab­we­send über das Kinn und starr­te die Spros­sen der Me­tal­lei­ter an, die an der in­ne­ren Wand be­fes­tigt war. Sie führ­te zu ei­ner qua­dra­ti­schen Tür in der kon­ve­xen De­cke. Die Tür war ge­schlos­sen. Et­was pol­ter­te da­ge­gen. Sie hör­ten un­ter­drück­tes Ge­läch­ter.

»Das Früh­stück ist fer­tig«, sag­te Ter­ry sanft.

Lloyd fuhr auf. »Oh. Ja.« Er setz­te sich und leer­te das Glas mit dem auf­ge­lös­ten Oran­gen­pul­ver. Er mach­te sich über die pul­ve­ri­sier­ten Ei­er her, als ob sie ihm wirk­lich schmeck­ten. »Ich bin ges­tern erst spät ins Bett ge­kom­men. Nach eins. Hof­fent­lich ha­be ich dich nicht ge­weckt.«

Ter­ry log. »Nein. Wa­ren die Fil­me wie­der schlecht?«

Lloyd run­zel­te die Stirn und nick­te. »Zwei­hun­dert­fünf­und­neun­zig Ta­ge. Wenn sie noch einen Tag durch­hal­ten, schaf­fen sie es. Die ers­ten Män­ner, die die Rei­se zum Mars er­folg­reich be­en­den. Sie müs­sen ein­fach durch­hal­ten.«

Sie sag­te lang­sam: »Ich glau­be, du bist der kalt­blü­tigs­te Mensch auf der gan­zen Welt. Die­se Män­ner sind dei­ne Freun­de, und dir liegt der Er­folg der Rei­se mehr am Her­zen als die Fra­ge, ob sie am Le­ben blei­ben wer­den.«

Lloyd schlürf­te den Pul­ver­kaf­fee. »Glaubst du, daß ich nicht lie­bend gern mit je­dem von ih­nen ge­tauscht hät­te? Sie wuß­ten, worum es ging. Sie wuß­ten auch, daß die bei­den vor­an­ge­gan­ge­nen Ver­su­che ge­schei­tert wa­ren. Auf schreck­li­che Art ge­schei­tert. Sie wa­ren über al­les auf­ge­klärt.

Wenn du wüß­test, was es heißt, im Be­ob­ach­tungs­raum zu sit­zen und zu­zu­se­hen, wie sie bis an den Rand des Wahn­sinns oder noch wei­ter ge­lan­gen! Und man ist sich be­wußt, daß man Gott weiß wie vie­le Mei­len von ih­nen ent­fernt ist und nichts, ein­fach nichts, tun kann.«

»Es tut mir leid. Ver­ges­sen wir es.«

Lloyd warf ihr einen schnel­len Blick zu. »Es tut dir nicht ehr­lich leid, nicht wahr?« Er war­te­te ei­ne Zeit­lang. »Ich ha­be mich ent­schlos­sen, den Kin­dern zum Ge­burts­tag klei­ne Raum­schif­fe zu kau­fen.«

Ter­ry setz­te die Tas­se ab, die sie zwi­schen bei­den Hän­den ge­hal­ten hat­te, wie um sich zu wär­men. »Lloyd! Carl ist kaum sechs und Paul erst acht.«

»Du kannst sie nicht für im­mer in die­sen sechs Räu­men ein­sper­ren. Sie sind ver­ant­wor­tungs­be­wußt. Und die Sa­che ist völ­lig si­cher.«

»Sie wer­den sie nie be­nut­zen«, sag­te Ter­ry mit ei­sen­har­ter Ent­schlos­sen­heit. Ih­re Lip­pen wa­ren zu ei­nem dün­nen, blas­sen Strich zu­sam­men­ge­preßt. »Ich kann es dir auch gleich sa­gen. Ich ver­las­se dich und neh­me die Kin­der mit. Ich woll­te dich nicht be­un­ru­hi­gen, so­lan­ge du die­se Sor­gen mit der San­ta Ma­ria hast, aber so kann es nicht wei­ter­ge­hen.«

»Ter­ry!« Lloyds Au­gen zeig­ten einen er­schreck­ten und ver­letz­ten Aus­druck. »Ich weiß, es ist nicht leicht, mit mir zu le­ben, aber ich bin doch nicht an­ders als frü­her. Du weißt, daß ich nicht oh­ne dich und die Kin­der sein könn­te. Du bist mei­ne Frau …«

Ter­ry schüt­tel­te trau­rig den Kopf. »Du bist mit die­sem Rad da drau­ßen ver­hei­ra­tet. Du be­mut­terst die an­de­ren Män­ner der Sta­ti­on. Du brauchst kei­ne Frau. Ich weiß nicht, wes­halb ich je glaub­te, daß ich das aus­hal­ten könn­te. Ich muß ver­rückt ge­we­sen sein. Je­der sag­te, ich sei ver­rückt, als ich mit dir hier her­aus­ging.

Ich le­be nun seit zehn Jah­ren in die­ser Ku­gel. Sie stinkt, Lloyd. Es gibt kein an­de­res Wort da­für. Nach al­tem Schweiß und al­tem Es­sen und öl. Die Luft ist so feucht und dicht, daß man sie wie nas­se Wat­te in den Lun­gen spürt. Ich möch­te mich wie­der als Mensch füh­len kön­nen. Ich ge­he nach in­nen, Lloyd. Und ich kom­me nie wie­der her­aus.« Ih­re Stim­me war ei­ner Hys­te­rie na­he. »Nie wie­der!«

»Aber es gibt doch noch an­de­re Frau­en hier drau­ßen, Ter­ry. Es ist ei­ne Dau­er­ba­sis. Wir sind Be­woh­ner des Raum­es. Du kannst nicht er­war­ten, daß wir oh­ne un­se­re Fa­mi­li­en le­ben …«

»Frau­en kön­nen hier drau­ßen nicht le­ben, Lloyd.« Ter­ry ver­such­te, ih­re Stim­me zu be­herr­schen. »Die an­de­ren Frau­en sind Ein­sied­ler, wie ich. Wie lan­ge ist es her, daß ich ei­ne von ih­nen au­ßer­halb ih­res Ko­kons ge­se­hen ha­be? Wenn wir uns tref­fen – dann höchs­tens zu Fern­seh­sen­dun­gen. Hast du je ver­sucht, beim Fern­se­hen Bridge zu spie­len? Ei­ne rich­ti­ge Frau ha­be ich seit Jah­ren nicht mehr zu Ge­sicht be­kom­men.«

Lloyds Stim­me war plötz­lich nüch­tern. »Hast du auch an die Kin­der ge­dacht?«

»Ich ha­be nur an sie ge­dacht. Weißt du, daß die­se Kin­der noch nie auf der Er­de wa­ren? Noch nie! Daß sie um ihr Ge­burts­recht be­tro­gen wer­den – um den blau­en Him­mel, das grü­ne Gras. Sie kön­nen nie rich­tig Ba­se­ball spie­len. Sie wer­den nie Men­schen sein.« Ih­re Stim­me über­schlug sich jetzt. »Sie wer­den wie Un­ge­heu­er auf­wach­sen. Ja, Un­ge­heu­er!«

Lloyd sah sie an. Er rühr­te sich nicht, und er sag­te kein Wort. Dann mein­te er: »Ich glau­be, sie sind ver­flixt net­te Ker­le. Über­tra­ge dei­ne Ent­täu­schun­gen nicht auf sie, Ter­ry. Kin­der se­hen die Din­ge mit an­de­ren Au­gen an als wir. So­lan­ge sie Lie­be und Ge­bor­gen­heit ha­ben …«

Sie keuch­te vor An­stren­gung.

Lloyd sag­te sanft: »Viel­leicht brauchst du Ur­laub. Wir kön­nen ihn uns leis­ten.«

»Wie­der Ur­laub? Oh­ne die Kin­der? Nein, dan­ke. Wenn ich ge­he, dann ist es für ganz, und ich neh­me die Kin­der mit.«

Lloyds Ge­sicht wur­de ver­schlos­sen. Er biß sich auf die Un­ter­lip­pe, wie im­mer, wenn er sei­ne Ge­füh­le zu un­ter­drücken such­te.

 

Wenn er nur ein­mal die Be­herr­schung ver­lö­re, dach­te Ter­ry. Nur ein­mal. Dann müß­te ich nicht ra­ten …

Lloyds Stim­me war sprö­de. »Gib mir ein we­nig Zeit, daß ich dar­über nach­den­ken kann. Bit­te, Ter­ry.«

Sie nick­te zö­gernd. Sie konn­te es nicht se­hen, wenn er so ver­letzt war. Im­mer noch nicht.

»Und be­un­ru­hi­ge bit­te die Kin­der nicht«, sag­te Lloyd. »Laß sie nicht mer­ken, daß wir Streit hat­ten – vor al­lem nicht, daß es da­bei um sie ging.«

»Im­mer der Psy­cho­lo­ge«, sag­te Ter­ry bit­ter.

»Viel­leicht war es dies­mal so­gar der Va­ter.« Lloyd dreh­te sich um und ging schnell die Lei­ter hin­auf. Er stieß die Fall­tür auf. Jetzt hör­te man deut­lich das La­chen und die Kin­der­stim­men. »Dad­dy! Dad­dy! Sieh mich mal an!«

Ter­ry blin­zel­te, um die Trä­nen zu­rück­zu­hal­ten.

»Lloyd! Lloyd!« sag­te sie. »Wenn du nur mich auch lie­ben wür­dest!« Aber sie sag­te es zu sich selbst.

 

Es wa­ren kräf­ti­ge Jun­gen, braun ge­brannt, mit lan­gen Ar­men und Bei­nen und der Art von dun­kel­brau­nen Au­gen, die fast schwarz wir­ken und die Er­wach­se­nen durch­drin­gend an­se­hen kön­nen. Sie schweb­ten wie gra­zi­le Fi­sche im Mit­tel­punkt des ku­gel­för­mi­gen Spiel­zim­mers, mit la­chen­den Ge­sich­tern.

Lloyd blick­te sie an, und er spür­te einen Klum­pen in sei­nem In­nern. Was wä­re er oh­ne sie? Ein lang­sam ster­ben­der, al­ter Mann.

»Hal­lo, Kin­der!« rief er. »Was spielt ihr heu­te?«

»Mar­sia­ner«, er­wi­der­te Paul. »Er ist Mar­sia­ner, und ich bin Ter­ra­ner. Ich muß ihn fan­gen, weil er ver­sucht, mich von der Lan­dung ab­zu­hal­ten. Wenn ich ihn in fünf Zü­gen er­wi­sche, darf ich auf dem Mars lan­den, und wenn er mir weg­schwebt, bin ich tot.«

»Fang mich doch! Fang mich doch!« schrie Carl. Er streck­te Paul die Zun­ge her­aus und stieß sich ab. Er prall­te an der ge­gen­über­lie­gen­den Wand ab und pur­zel­te zu­rück. Im Mit­tel­teil, wo die Schwer­kraft prak­tisch ganz aus­ge­schal­tet war, wur­de er wie­der in ei­ne an­de­re Rich­tung ge­wor­fen.

Lloyd hat­te noch nie so et­was ge­se­hen.

Paul glitt mit aus­ge­streck­ten Hän­den da­hin und ver­fehl­te sei­nen Bru­der nur um Zen­ti­me­ter. Der äl­te­re Jun­ge lan­de­te an der ge­krümm­ten Wand und stieß sich mit den Bei­nen er­neut ab.

Lloyd ließ sich zur De­cke trei­ben. Ne­ben die­sen braun­ge­brann­ten, ge­schmei­di­gen Ge­stal­ten kam er sich alt und steif vor. Er be­rühr­te die in­ne­re Tür und kam lang­sam vom Hand­stand auf die Bei­ne, als sie sich öff­ne­te. Er schlüpf­te durch.

Als er mit ge­üb­ter Hand die Ver­schlüs­se des Raum­an­zugs fest­hak­te, dach­te er im­mer noch an die Stim­men. Kin­der spiel­ten nun mal so. In­mit­ten von Krie­gen wa­ren sie Sol­da­ten. In­mit­ten von Epi­de­mi­en wa­ren sie Ärz­te und Kran­ken­schwes­tern. Und mit­ten im Raum …

Die an­de­ren An­zü­ge hin­gen wie ent­haup­te­te Un­ge­heu­er an der vier­e­cki­gen Säu­le. Ter­ry hat­te ih­ren An­zug seit lan­ger Zeit nicht mehr be­nutzt. Wenn sie fort woll­te, wür­de er ihn gut über­prü­fen müs­sen …

Nein. Dar­an woll­te er nicht den­ken.

Er öff­ne­te die äu­ße­re Tür und glitt hin­durch. Dann tas­te­te er nach dem Ring­ha­ken und ver­schloß sie wie­der. Er konn­te jetzt sein Heim von au­ßen se­hen.

Es war ei­ne Ku­gel, ei­ne Mi­nia­tur­welt. Et­wa drei­ßig Fuß im Durch­mes­ser. Das ist nicht zu­we­nig, wenn man be­denkt, daß je­des kleins­te Stück­chen Platz aus­ge­nutzt wer­den kann. Die Ku­gel ro­tier­te, um in den Räu­men, die der Ober­flä­che am nächs­ten wa­ren, die Il­lu­si­on von ein Drit­tel g zu er­zeu­gen. Der Mit­te­lach­se zu wur­de die Schwer­kraft im­mer ge­rin­ger. Die­se Ach­se be­stand aus ei­ner Luft­schleu­se, ei­nem ima­gi­nären Zy­lin­der, der durch das Spiel­zim­mer und den Vor­rats­raum lief.

Um die Ku­gel war der Raum – ru­ßig­schwar­ze Nacht, in der mehr Ster­ne fun­kel­ten, als es den Men­schen er­schei­nen muß­te, die den Him­mel durch das Luft­fil­ter der Er­de be­trach­te­ten.

Dort rechts war die ro­te Schei­be des Mars, nä­her als all die an­de­ren, die er se­hen konn­te, aber im­mer noch sehr, sehr weit weg. Zu sei­ner Lin­ken lag die Er­de, ein­tau­send­fünf­und­sieb­zig Mei­len ent­fernt. Sie war jetzt dun­kel, da Mond und Son­ne sich auf der ihm ab­ge­wand­ten Sei­te be­fan­den. Ei­ne große, schwar­ze Schei­be, hier und da er­hellt von den röt­li­chen Lich­tern der Städ­te, grö­ßer als al­le Ster­ne der Um­ge­bung. Einen Au­gen­blick schi­en sie un­ter ihm zu schwe­ben, dann war es, als woll­te sie ihn mit ih­rem Ge­wicht er­drücken.

Hier drau­ßen, wo es kein Auf und Ab gab, wo die ein­zi­gen Rich­tun­gen nah und fern wa­ren, konn­te der Mensch ver­zwei­feln. Er konn­te sich Il­lu­sio­nen hin­ge­ben und da­bei ver­rückt wer­den. Was muß­ten erst die ar­men, ver­lo­re­nen Ker­le da drau­ßen vor dem Mars er­lei­den, die so weit weg von der Hei­mat wa­ren, daß ih­nen die Er­de wie ir­gend­ein Stern un­ter Mil­lio­nen er­schi­en? Er sah wie­der in die Rich­tung des Mars, aber es war na­tür­lich un­mög­lich, die San­ta Ma­ria zu er­spä­hen. Selbst mit dem bes­ten Te­le­skop der Sta­ti­on konn­te man sie jetzt nicht mehr er­rei­chen.

Ein paar hun­dert Fuß wei­ter weg war das Rad, ein ro­tie­ren­der Ring, der von ei­ner ein­zi­gen Spei­che zu­sam­men­ge­hal­ten wur­de.’ Es schim­mer­te im Ster­nen­licht weiß und ge­gen das Samtschwarz der Nacht. Rund um das Rad wa­ren die Ku­geln der an­de­ren Hei­me an­ge­ord­net – neun ins­ge­samt. Ir­gend­wie lie­ßen sie das Rad mensch­li­cher aus­se­hen. Sie ga­ben ihm ein Ge­sicht, lie­ßen es we­ni­ger als ei­ne vor­ge­scho­be­ne Ba­sis, son­dern viel­mehr als ei­ne Ko­lo­nie von Män­nern und Frau­en er­schei­nen, die frei­wil­lig hier leb­ten. Er konn­te nicht zu­las­sen, daß die­se Il­lu­si­on zer­stört wur­de.

Es war schwer für ei­ne Frau. Män­ner kön­nen manch­mal von Träu­men le­ben, aber Frau­en brau­chen et­was Greif­ba­res. Und Män­ner wie­der­um brau­chen ih­re Frau­en und Kin­der. Sie ha­ben es im­mer wie­der fer­tig­ge­bracht, Frau­en in wil­de Grenz­ge­bie­te mit­zu­neh­men und dort ih­re Hei­me zu bau­en.

Die Fra­ge war die: Wa­ren die Män­ner so weit an die Gren­zen vor­ge­drun­gen, daß die Frau­en ih­nen nicht mehr fol­gen konn­ten?

Er stieß sich zum Rad hin ab und schweb­te mü­he­los hin­über. Als er die Na­be er­reicht hat­te, hielt er sich mit dem Är­mel­ha­ken sei­nes An­zugs an dem Kä­fig fest, in den die Ta­xis mit ih­rer mensch­li­chen Last ein­fuh­ren.

Er ging durch die Luft­schleu­se, zog sei­nen An­zug aus und häng­te ihn an den Ha­ken. Dann klet­ter­te er die pen­deln­de Strick­lei­ter zum Ge­wichts­kon­troll­raum hin­un­ter. Hier un­ten war die Luft schlecht – dick, heiß und feucht. An­ge­füllt mit den Ge­rü­chen, die ar­bei­ten­de Men­schen ver­brei­ten.

Co­lo­nel Dan­ton er­war­te­te ihn vor dem Ob­ser­va­to­ri­um. Er wirk­te alt, ha­ger und krank. Nur noch ein paar sil­ber­wei­ße Fä­den wa­ren von sei­nem vol­len Haar üb­rig­ge­blie­ben. Der graue Star hat­te sei­ne Au­gen fast völ­lig er­blin­den las­sen. Sein Kör­per war ge­beugt und aus­ge­laugt. Er wirk­te wie acht­zig, ob­wohl er kaum fünf­zig war.

Noch einen Fehl­schlag hält er nicht aus, dach­te Phil­lips.

»Jim Faust ist hier«, sag­te Dan­ton. In sei­ner Stim­me war im­mer noch Fes­tig­keit und Be­fehls­kraft.

»Hier?« frag­te Lloyd. »Was will er?«

»Er ist be­un­ru­higt. Er möch­te die Fil­me selbst durch­ge­hen. Er glaubt, daß er uns nicht mehr un­ter­stüt­zen kann, wenn die­ser Ver­such fehl­schlägt.«

Lloyd starr­te Dan­ton nach­denk­lich an. »Du brauchst die Sa­che nicht noch ein­mal durch­zu­ge­hen. Mach dir heu­te einen schö­nen Tag.«

Dan­tons Kinn schob sich vor, doch dann ent­spann­te er sich wie­der. »War das der Be­fehl des Arz­tes? Nun, un­ter­hal­te ihn gut, Lloyd. Wir se­hen uns beim Mit­tages­sen.«

Lloyd dreh­te sich um, öff­ne­te die ab­ge­dich­te­te Tür und be­trat das Dun­kel des pro­vi­so­ri­schen Film­raums, in dem sich Faust die Spu­le des fünf­ten Ta­ges an­sah …

 

Fünf Ta­ge drau­ßen. Die San­ta Ma­ria war ei­ne Mil­li­on Mei­len von der Er­de ent­fernt. Das Schiff war ein Kin­der­spiel­zeug aus Ku­geln, Zy­lin­dern und Ra­ke­ten­trieb­wer­ken, zer­brech­lich und schwach. Es war ganz weiß. Es schim­mer­te im er­bar­mungs­lo­sen Son­nen­licht wie Por­zel­lan.

Die obe­re Hälf­te des Mit­tel­zy­lin­ders ent­hielt die tech­ni­sche Aus­rüs­tung, die man für die Er­for­schung des Mars brau­chen wür­de. Dar­über be­fand sich der ku­gel­för­mi­ge Wohn­be­reich des Per­so­nals, im­mer wie­der un­ter­bro­chen von Sicht­lu­ken und ja­lou­sie­ar­ti­gen Tem­pe­ra­tur­reg­lern. Er war auf­ge­teilt in drei Decks – das Vor­rats­deck mit den Spin­den für die Raum­an­zü­ge und der zy­lin­dri­schen Luft­schleu­se, das Wohn­deck und das Steu­er­deck. Dar­über stand die Kunst­stoff­bla­se der Astro­kup­pel.

Das Schiff schau­kel­te lang­sam, als es in der El­lip­sen­bahn von sie­ben­hun­dert­fünf­und­drei­ßig Mil­lio­nen Mei­len um die Er­de schweb­te. Es war die Bahn, die es in ei­ne Um­lauf­bahn um den Mars brin­gen soll­te, so­bald der ro­te Pla­net die­sen Punkt er­reich­te. Fünf­zehn Mi­nu­ten lang hat­ten die Ra­ke­ten­trieb­wer­ke ge­heult. Für den Rest der zwei­hun­dert­sech­zig Ta­ge dau­ern­den Rei­se wür­den sie schwei­gen.

In­ner­halb der Ku­gel war al­les auf Zweck­mä­ßig­keit ab­ge­stimmt: über­mal­tes Me­tall, Kunst­stoff, Gum­mi. Je­de Wand des Schif­fes und so­gar die Zwi­schen­wän­de und De­cken wa­ren aus­genützt für Meß­ge­rä­te, Lei­tun­gen, Spin­de, Ko­jen, Stüh­le, Tanks, Roh­re …

Das Steu­er­deck war ein Uni­ver­sum für sich – ei­ne Welt der Ap­pa­ra­tu­ren und Kon­trol­lam­pen. Aber der Mann am Schalt­pult warf ih­nen nur ge­le­gent­lich einen Blick zu. Er starr­te durch die Astro­kup­pel und hielt nach der Er­de Aus­schau, wäh­rend das Schiff lang­sam da­hin­tru­del­te.

Wie al­le Mann­schafts­mit­glie­der war Burt Hol­lo­way nicht sehr groß. Ein schlan­ker Eins­fünf­und­sieb­zi­ger mit fein­glied­ri­gen Hän­den, kurz­ge­schnit­te­nem, blon­dem Haar und sehr blau­en Au­gen. Man konn­te ihn nicht hübsch nen­nen. Die Män­ner sag­ten, sein schma­ler Mund und das flie­hen­de Kinn er­in­ner­ten an ein Af­fen­ge­sicht, aber die Frau­en be­mut­ter­ten ihn gern. Im Au­gen­blick war er bar­fuß und trug le­dig­lich Shorts.

Vier Mann hiel­ten sich auf dem Wohn­deck auf. Die­ses Deck war von den bei­den an­de­ren Decks aus durch kon­zen­trisch ge­schnit­te­ne Öff­nun­gen in den Trenn­wän­den er­reich­bar. Der Mit­tel­punkt war durch einen ro­ten Me­tall­pfos­ten kennt­lich ge­macht. An ei­ner der ge­krümm­ten Flä­chen be­fan­den sich Ko­jen, die zu­rück­ge­klappt wer­den konn­ten. Die an­de­re Hälf­te des Raum­es ge­hör­te zur Eß­zo­ne. Ein Au­to­mat, aus dem man einen fer­ti­gen klei­nen Im­biß ho­len konn­te, ei­ne rie­si­ge Tief­kühl­tru­he, die bis ins Vor­rats­deck reich­te, ein Kurz­wel­le­nofen und ein runder Tisch bil­de­ten hier die Ein­rich­tung.

Jack ›Iron‹ Barr, ein un­ter­setz­ter Mann mit har­ten Mus­keln und ei­nem wüs­ten ro­ten Haar­schopf, lag an­ge­schnallt auf sei­ner Ko­je. Er hat­te dun­kelblaue Au­gen, und sei­ne Brau­en stie­ßen über der Ad­ler­na­se in ei­ner ge­ra­den Li­nie zu­sam­men. Er las einen Brief, der auf blaß­blau­es Pa­pier ge­schrie­ben war. Hin und wie­der hielt er ihn na­he ans Ge­sicht, roch dar­an, schloß die Au­gen und lä­chel­te breit.

»Jetzt kommt es«, sag­te er hei­ser. »Hört mal al­le her: ›Liebs­ter, Gold­schatz, mein Ein­zi­ger! Ich wer­de nie die Nacht ver­ges­sen, in der du mir …«

»… den Großen Bä­ren zeig­test«, un­ter­brach ihn Ted Crad­dock, in­dem er den Satz be­en­de­te. Er saß vor dem Tisch, ei­ne Fla­sche Oran­gen­saft in der ge­bräun­ten Hand. Er war der Ben­ja­min der Grup­pe, ein fünf­und­zwan­zig­jäh­ri­ger Mann mit an­ge­neh­men Zü­gen und ei­ner dunklen, ge­sun­den Haut­far­be. Um sei­ne brau­nen Au­gen spiel­ten Lach­fält­chen. »Die­ses Weib muß ih­re Lie­bes­brie­fe in Par­füm tau­chen. Tu das Zeug weg, Iron, es ver­stän­kert den gan­zen Raum.« Er un­ter­brach sich und hus­te­te un­ter­drückt.

»Bes­ser als der an­de­re Ge­stank, den wir die gan­ze Zeit ein­at­men müs­sen«, mein­te Barr ver­är­gert. »Ich schwö­re euch, daß ich kei­ne Ah­nung hat­te, wie ihr Ker­le stin­ken könnt. Und du, Ted, ver­teil nicht dei­ne gan­zen Ba­zil­len auf uns. Warum hältst du dir nicht die Hand vor den Mund? He, jetzt hört mal den hier an.« Er hol­te ein zu­sam­men­ge­fal­te­tes ro­sa Blatt aus dem Bund sei­ner Shorts. »Das war ein klei­ner blon­der En­gel …«

»Laß das, Iron«, sag­te Emil Je­li­nek ru­hig. Er war um ei­ni­ge Jah­re äl­ter als Barr, der End­zwan­zi­ger, – ein schma­ler, ecki­ger Mann mit spär­li­chem schwar­zem Haar und ei­nem ver­we­ge­nen Schnurr­bart. Er lag in der Ko­je ne­ben Barr und hat­te die Hän­de un­ter dem Kopf ver­schränkt. »Wei­ber sind mehr als zwei­ein­halb Jah­re von uns ent­fernt. Bis du zu­rück­kommst, hat je­de von dei­nen Bräu­ten min­des­tens zwei Kin­der.«

»Die nicht«, brüs­te­te sich Barr. »Die war­ten. Da, hier hat El­len es mir ge­schrie­ben. Sie schreibt, daß sie fünf oder auch zehn Jah­re auf mich war­ten will, wenn es sein muß. Sie sagt, daß kei­ner es mit mir auf­neh­men kön­ne.«

Tony Mig­liar­do schweb­te am an­de­ren En­de des Decks ne­ben dem Im­biß-Au­to­ma­ten. Er war ein gut­aus­se­hen­der, dun­kel­häu­ti­ger Mann mit feucht­brau­nen Au­gen und blauschwar­zem Haar. Jetzt lach­te er. »Es gibt vie­le Män­ner wie dich, Iron, und sie wird sie fin­den – Fort­pflan­zungs­or­ga­ne mit ge­rin­ge­ren Nei­gun­gen zum Raum­flug.«

»Du schmut­zi­ger, klei­ner …« Barr ver­such­te, von sei­ner Ko­je auf­zu­sprin­gen, aber der Gurt, mit dem er fest­ge­schnallt war, hin­der­te ihn dar­an.

Je­li­nek wand­te den Kopf und sah Barr scharf an. »Seid mal für zehn Se­kun­den al­le still. Wenn ihr schon nach fünf Ta­gen so strei­tet, was wollt ihr dann in zwei­hun­dert­sech­zig Ta­gen ma­chen? Mig? Hast du ver­stan­den?«

»Es tut mir wirk­lich leid, Iron«, ent­schul­dig­te sich Mig­liar­do. »Ich hät­te das nicht sa­gen sol­len.«

Barr ent­spann­te sich. »Schon gut.«

»Und Iron«, füg­te Je­li­nek hin­zu. »Ich hal­te es für bes­ser, wenn du uns mit den Ein­zel­hei­ten dei­ner Er­obe­rungs­zü­ge ver­schonst. Es gibt ge­nug an­de­re Din­ge, für die wir un­se­re Ner­ven brau­chen.«

Barr brumm­te vor sich hin. »Ihr Ker­le seid selbst schuld, wenn ihr wei­ter­hin so welt­fremd bleibt. Bit­te, mei­net­we­gen.«

Crad­dock be­gann zu hus­ten.

Barr warf sich her­um und starr­te ihn an. »Und du? Geht ei­nem das viel­leicht nicht auf die Ner­ven?«

»Mal se­hen, was man da­ge­gen tun kann«, sag­te Je­li­nek. »Ted?« Er öff­ne­te ei­ne Schub­la­de über sei­nem Kopf und hol­te einen Au­gen­spie­gel her­aus.

Crad­dock be­frei­te sich aus den Tisch­sch­lin­gen und schweb­te auf Je­li­neks Ko­je zu. Er hielt sich dort mit ei­ner Hand fest, wäh­rend Je­li­nek sei­nen Hals un­ter­such­te. »Die Rän­der sind ent­zün­det, aber das könn­te auch vom Hus­ten kom­men.« Er hol­te einen klei­nen Me­tall­be­häl­ter aus der Schub­la­de und drück­te einen He­bel zur Sei­te. Zwei glat­te blaue Pil­len roll­ten in sei­ne Hand. »Ein we­nig Pe­ni­cil­lin kann nicht scha­den. Hol dir in sechs Stun­den noch ei­ne Do­sis.«

»He, Emil!« rief Barr plötz­lich. »Das mit den fünf Ta­gen kann nicht stim­men.«

Mig­liar­do warf einen Blick auf die Re­pe­tier­uhr an der Wand. »Fünf Ta­ge, ei­ne Stun­de, sech­zehn Mi­nu­ten und ein­und­drei­ßig Se­kun­den.«

»Die­se Uhr muß falsch ge­hen«, mur­mel­te Barr. »Es ist be­stimmt schon ein Mo­nat vor­bei.«

»Sie läuft syn­chron mit dem kris­tall­sta­bi­li­sier­ten Zeit­mes­ser vom Steu­er­deck«, er­klär­te Je­li­nek. »Ei­ne ge­naue­re Zeit­an­ga­be gibt es gar nicht.«

»Ich traue es Phil­lips oh­ne wei­te­res zu, daß er sie auf lang­sam stellt«, mur­mel­te Barr. »Die­se Tricks ken­ne ich bei ihm. Wenn wir dann die Hälf­te ge­schafft ha­ben und all­mäh­lich nicht mehr kön­nen, sagt er uns, daß wir die Rei­se fast hin­ter uns ha­ben. Und kommt sich mäch­tig schlau da­bei vor.«

»Hör mal, Iron«, sag­te Crad­dock und schweb­te zum Tisch zu­rück, »was soll das al­les denn? Nicht ein­mal im Spaß klingt es sehr an­ge­nehm.«

»Es ist aber kein Spaß. Ich weiß, daß wir schon län­ger als fünf Ta­ge un­ter­wegs sind.«

Crad­dock hielt sich an der Tisch­kan­te fest und steck­te sei­ne Bei­ne durch die Schlin­gen. »Wir ha­ben kei­ne Funk­ver­bin­dung – wie woll­te er uns denn auf den Irr­tum auf­merk­sam ma­chen?«

»Und wo­für, glaubst du, ist die­se schwenk­ba­re Pa­ra­bo­l­an­ten­ne gut?« frag­te Barr sar­kas­tisch.

»Um die Ent­fer­nung der Ra­ke­ten­son­den ab­zu­mes­sen, wenn wir auf dem Mars lan­den.«

»Hat man uns ge­sagt, ja­wohl«, spöt­tel­te Barr. »Und wes­halb zeigt sie dau­ernd nach der Er­de?«

»Wie soll ich das wis­sen?« er­wi­der­te Crad­dock hef­tig. »Viel­leicht nimmt sie an­de­re Ent­fer­nungs­mes­sun­gen vor.«

»Ent­fer­nungs­mes­sun­gen! Mit der Ener­gie, die das Ding braucht? Mach dich nicht lä­cher­lich.«

Mig­liar­do schluck­te das letz­te Stück Scho­ko­la­de hin­un­ter. »Das Ding braucht nicht viel Ener­gie.«

Barr sah ihn ver­ächt­lich an. »Des­halb bist du auch Zwei­ter In­ge­nieur auf die­ser Kis­te an­statt Ers­ter. Die Ener­gie wird auf den Meß­ge­rä­ten nicht an­ge­zeigt. Ich wun­der­te mich schon, wes­halb der Re­ak­tor nicht mit vol­ler Leis­tung lief. Die­se An­ten­ne da braucht einen Teil für sich – und sie holt ihn sich durch ei­ne Lei­tung, die nicht an das Meß­ge­rät an­ge­schlos­sen ist. Al­les Schwin­del!«

»Hör mal, Iron«, mein­te Mig­liar­do fried­lich. »Warum soll­ten sie so was wohl tun?«

»Warum ha­ben sie ei­ne Wand des Steu­er­decks ver­sie­gelt und au­ßer Reich­wei­te an­ge­ord­net?« frag­te Barr. Er dreh­te sich her­um und sah Je­li­nek an. »Du weißt mehr als die an­de­ren, was sagst du da­zu?«

»Es hieß, daß man uns einen Si­cher­heits­fak­tor zu­sätz­lich zu den reich­lich be­mes­se­nen Treib­stoff­vor­rä­ten und der au­ßer­ge­wöhn­lich star­ken Schiffs­kon­struk­ti­on ge­ben woll­te.«

»Warum sag­te man uns nicht, worin er be­steht?«

»Als Psy­cho­lo­ge kann ich dir ver­ra­ten, daß ein Si­cher­heits­fak­tor, den man kennt, kein Si­cher­heits­fak­tor mehr ist. Du fängst an, ihn mit ein­zu­kal­ku­lie­ren. Aber wir müs­sen uns völ­lig auf ihn ver­las­sen kön­nen, wenn al­les an­de­re schief­geht. Des­halb ist es bes­ser, wenn wir nicht zu ge­nau wis­sen, worin er be­steht. So ist das nun mal.«

»Es ist wie der Glau­be an Gott«, sag­te Mig­liar­do.

Je­li­nek nick­te. »Ja, ei­ne rei­ne Glau­bens­an­ge­le­gen­heit.«

Barrs Lip­pen kräu­sel­ten sich. »Quatsch! Ich will wis­sen. Gott über­las­se ich de­nen, die ihn brau­chen. Ihn kann man mit un­se­ren Meß­ge­rä­ten nicht fest­stel­len. Ver­laßt euch dar­auf, die­ses Ge­schwätz mit dem Si­cher­heits­fak­tor ist der glei­che Un­sinn. Sie sag­ten uns nicht, worin er be­steht, weil es ihn gar nicht gibt. Die­se ver­sie­gel­te Wand ist Be­trug. Wenn wir sie öff­nen, wer­den wir se­hen, daß sie leer ist.«

»Barr …«, sag­te Mig­liar­do an­ge­spannt.

Je­li­neks ru­hi­ge Stim­me un­ter­brach ihn. »Mig! Und du, Iron, be­hältst dei­ne Mei­nun­gen für dich. Nimm die Fin­ger vom In­stru­men­ten­brett. Wenn sich nichts da­hin­ter be­fin­det, ist es bes­ser, wenn wir es nicht wis­sen. Die­ses Ge­wäsch von der falschen Uhr­zeit ist ab­surd, und du weißt es. Wir brau­chen täg­lich die ge­naue Zeit, da­mit wir un­se­re Po­si­ti­on ein­stel­len kön­nen.«

»Nun ja«, gab Barr zu. »Aber …«

Pingngng! Ein schar­fer Knall. Das Echo roll­te durch das gan­ze Schiff. Die Lich­ter gin­gen aus.

»Me­te­or!« schrie je­mand. Man ver­nahm ein Durch­ein­an­der von Be­feh­len. Män­ner stie­ßen an­ein­an­der.

Dann rief Barr mit schnei­den­der Stim­me: »Schnau­ze hal­ten! Al­le. Er hat die Ku­gel nicht ge­trof­fen. Burt? Ist bei dir al­les in Ord­nung?«

»Okay«, rief Hol­lo­way vom Kon­troll­deck her. »Aber das Netz wird von der Bat­te­rie ge­speist. Ich ver­su­che den Ein­schlag zu fin­den.«

»Nicht nö­tig«, sag­te Barr. »Er ist wei­ter oben – ent­we­der im Re­ak­tor selbst oder in den Lei­tun­gen, die von ihm aus­ge­hen.«

Mit zit­tern­der Stim­me be­gann Crad­dock: »Wenn es der Re­ak­tor ist …«

»… sind wir tot«, un­ter­brach ihn Barr kurz. »Die Bat­te­rie hält das Gan­ze noch ein paar Stun­den auf­recht, und dann wird der Kli­ma­reg­ler ab­ge­schal­tet.« Man hör­te ein schar­ren­des Ge­räusch. »Ich ge­he hin­aus und se­he mal nach. Mig! Zieh dei­nen An­zug an. Du mußt mir viel­leicht hel­fen.«

Und dann war auch je­des Ge­räusch ver­stummt.

 

Im Vor­führ­raum des Klei­nen Ra­des war der Bild­schirm dun­kel. Lloyd schal­te­te das Licht an und warf Faust einen Blick zu. Der ele­gan­te klei­ne Mann dreh­te sich um, und statt des gut­ge­form­ten Hin­ter­kopfs wur­den sei­ne Ge­sichts­zü­ge sicht­bar. Er war nicht grö­ßer als eins­fünf­und­sech­zig, aber al­les an ihm schi­en im rech­ten Ver­hält­nis zum üb­ri­gen Kör­per zu ste­hen.

Jetzt war sei­ne sonst glat­te Stirn ge­run­zelt, und die blau­en Au­gen glit­zer­ten hart. »Du bist dran, Lloyd«, sag­te er mit sei­ner kräf­ti­gen, re­de­ge­schul­ten Stim­me. Er sprach et­was zu schnell. »War das das En­de? Habt ihr ver­sucht, es vor mir zu ver­heim­li­chen?«

»Be­ru­hi­ge dich, Jim«, sag­te Lloyd. »Wir ha­ben dir nichts ver­heim­licht. Der Me­te­or, hat den Re­ak­tor nicht ge­trof­fen. Er durch­schnitt ei­ne Lei­tung, und die San­ta Ma­ria wur­de von der Bat­te­rie ge­speist. Sie hat nicht all­zu­viel Ener­gie, des­halb konn­ten wir nur Ton emp­fan­gen – und selbst das war ei­ne Be­an­spru­chung, der die Bat­te­rie nicht für lan­ge ge­wach­sen war. Barr fand die schad­haf­te Stel­le und flick­te die Lei­tung in fünf­und­zwan­zig Mi­nu­ten.«

Faust ent­spann­te sich. »Ein Glück, daß sie Barr hat­ten. Die an­de­ren wa­ren ziem­lich kopf­los.«

»Barr ist ein Mann der Tat«, sag­te Lloyd. »Als durch ein un­er­war­te­tes Er­eig­nis schnel­les, ge­nau­es Han­deln nö­tig wur­de, über­nahm er die Lei­tung. Aus die­sem Grund schick­te ich ihn auch mit.«

»Er hat sei­nen Platz in der Mann­schaft ge­recht­fer­tigt. Ma­chen wir wei­ter.«

»Wir ha­ben zwei­hun­dert­neun­und­fünf­zig Ta­ge auf Film – je vier­und­zwan­zig Stun­den.«

Faust run­zel­te die Stirn. »Kann ich mich auf dich ver­las­sen, wenn ich dich bit­te, ei­ne Aus­wahl zu zei­gen?«

Lloyd er­hob sich. Ihm er­schi­en der Raum groß. Es war das Ob­ser­va­to­ri­um, zwan­zig mal zwan­zig Fuß. Faust hin­ge­gen emp­fand ihn si­cher als über­füllt, sti­ckig und stin­kend. Na­tür­lich, nach zehn Jah­ren kann man sich dar­an ge­wöh­nen – so wie man sich an ei­ne Frau ge­wöh­nen kann. Und wenn sie einen ver­ließ, war man nur noch ein hal­ber Mann.

Er setz­te sich Faust ge­gen­über und sah dem Po­li­ti­ker ernst in die Au­gen. »Du wirst dich auf mich ver­las­sen müs­sen, Jim. Was ist in dich ge­fah­ren? Du bist un­ser Pu­blic-Re­la­ti­ons-Mann. Frü­her hast du uns im­mer ver­traut. Ich glau­be, jetzt spricht der Po­li­ti­ker aus dir.«

»Ich bin bei­des. Die Par­tei stell­te sich im­mer mehr hin­ter die Raum­fahrt, an­ge­fan­gen bei die­sem wahn­sin­ni­gen Wett­ren­nen mit dem Tod da­mals bei Rev Mc­Mil­len. Wir ha­ben seit mehr als drei­ßig Jah­ren dei­ne Kämp­fe aus­ge­tra­gen, Lloyd. Ich glau­be, wir ver­die­nen ein we­nig Ver­trau­en.«

»Das habt ihr be­kom­men, du und die Par­tei«, sag­te Lloyd lei­se. »Aber sag bit­te nicht, es sei aus rei­nem Wohl­wol­len für mich ge­sche­hen. Du hast po­li­tisch und fi­nan­zi­ell nicht übel Ka­pi­tal dar­aus ge­schla­gen. Die Par­tei ist die mäch­tigs­te po­li­ti­sche Grup­pe der gan­zen Er­de, auch wenn sie nicht die ab­so­lu­te Mehr­heit be­sitzt. Und du bist der füh­ren­de Kopf die­ser Par­tei.

Auch pri­vat hast du nicht zu kla­gen. Si­cher, du bist kein Mil­li­ar­där, aber dein Brot ist auf der rich­ti­gen Sei­te ge­but­tert. Du hat­test pri­vat ei­ni­ge Ak­ti­en im Großen Rad in­ves­tiert. Du hast Pro­fit aus ih­nen ge­schla­gen. Und jetzt sagst du, du kannst uns nicht mehr ver­trau­en.«

»Ver­trau­en«, wand­te Faust ein, »be­ruht auf Ge­gen­sei­tig­keit.«

»Was wä­re da­bei ge­won­nen, wenn die Welt wüß­te, daß die Mann­schaft der San­ta Ma­ria schon in der ers­ten Wo­che Streit be­kam? Au­ßer, daß das öf­fent­li­che Ge­wis­sen be­frie­digt wä­re?«

»Auf dem Ak­ti­en­markt wür­de es sich übel aus­wir­ken.«

Lloyd brei­te­te die Hän­de mit ei­ner ein­drucks­vol­len Ges­te aus. »Und?«

»Und des­halb bin ich hier, Lloyd«, sag­te Faust ru­hig. »Ich muß die Wahr­heit wis­sen. Die Pla­ne­ten sind nicht un­be­dingt nö­tig. Wir kön­nen ein paar Jah­re aus­ru­hen, un­se­re Ge­win­ne kon­so­li­die­ren und Mars und Ve­nus ver­ges­sen.«

»Und die Über­schüs­se, Jim? Die wirt­schaft­li­chen Ver­la­ge­run­gen?«

»Bes­ser jetzt ei­ne Ver­la­ge­rung, die wir un­ter Kon­trol­le brin­gen kön­nen, als spä­ter ein Zu­sam­men­bruch, der uns al­le in den Staub wirft und Leu­te wie Dia­kon McIn­ti­re in den Sat­tel bringt. Wir kön­nen ei­ne Ver­la­ge­rung aus­hal­ten, wenn wir sie recht­zei­tig vor­aus­se­hen, wenn wir die Öf­fent­lich­keit auf einen wei­te­ren Fehl­schlag vor­be­rei­ten. Die Leu­te ha­ben zwei Schif­fe am Mars vor­bei­flie­gen und wie­der um­keh­ren se­hen. Wenn wir die Nach­richt die­ses neu­en Fehl­schlags plötz­lich her­aus­bräch­ten, müß­ten wir mit ei­nem Cha­os rech­nen – mit ei­nem Cha­os wirt­schaft­li­cher und po­li­ti­scher Art. McIn­ti­re wür­de ge­nug un­se­rer scho­ckier­ten Wäh­ler auf sei­ne Sei­te zie­hen kön­nen, um sei­ner Fun­da­men­ta­lis­ten­ko­ali­ti­on einen kla­ren Vor­sprung zu ver­schaf­fen. Und wenn er erst ein­mal im Sat­tel sitzt, ist es schwer, ihn wie­der her­aus­zu­he­ben. Wir müß­ten ihn um­brin­gen las­sen, und das gin­ge wirk­lich zu weit. Das möch­te ich nicht er­le­ben müs­sen, Lloyd. Der Raum ist wich­tig, aber nicht so wich­tig wie die Öf­fent­lich­keit. Wir kön­nen ihn wie­der­er­obern, Lloyd, wenn uns die Op­po­si­ti­on nicht in Stücke reißt.«

»Man kann nur ein­mal er­obern. Das ist ein Satz, den man im­mer wie­der von Kämp­fern hört. Al­les hat sei­nen psy­cho­lo­gisch rich­ti­gen Zeit­punkt. Das gilt auch für den Mars. Jetzt oder nie.«

Fausts Stim­me klang be­dau­ernd. »Viel­leicht hast du recht, und wir wer­den den Mars nie er­obern. Wenn das der Fall ist, wird es mir sehr, sehr leid tun. Aber ich wer­de wei­ter­le­ben – und du auch. Die Er­de liegt mir mehr am Her­zen als al­le Ster­ne.«

Lloyd sah ihn er­staunt an. »Du bist wirk­lich be­reit, uns im Stich zu las­sen? Bis­her war der Raum­flug das Aus­hän­ge­schild eu­rer Par­tei. Könnt ihr das von heu­te auf mor­gen um­sto­ßen?«

Faust zö­ger­te. »Es wä­re ei­ne har­te Ar­beit, aber wir könn­ten es schaf­fen. Der Raum hat uns viel Gu­tes ge­bracht – uns al­len, nicht nur der Par­tei. Das Volk wür­de einen Rück­zug ver­ste­hen. Aber es müß­te dar­auf vor­be­rei­tet wer­den. Schon jetzt.«

»Na­tür­lich, Jim«, sag­te Lloyd bit­ter. »Aber du mußt uns ver­ste­hen. Es ist nicht al­les so, wie es scheint. Man muß die Din­ge in­ter­pre­tie­ren.« Er sprach kurz in das Wand­mi­kro­phon. »Hier ist der drei­ßigs­te Tag.«

 

Drei­ßig Ta­ge drau­ßen. Die San­ta Ma­ria war fünfein­halb Mil­lio­nen Mei­len von der Er­de ent­fernt. Der Pla­net war noch als Schei­be wahr­nehm­bar, aber der Mond war auf einen Punkt zu­sam­men­ge­schrumpft. Bei­de stell­ten im­mer noch die bei­den leuch­tends­ten Punk­te im Uni­ver­sum dar – au­ßer der Son­ne. Hol­lo­way stand an der dunklen Sicht­lu­ke und starr­te zu­rück auf den Pla­ne­ten, den sie Hei­mat nann­ten.

Das Wohn­deck der Per­so­nal­sphä­re war völ­lig still. Es war ei­ne Stil­le, die sich au­ßer ei­nem Raum­fah­rer nie­mand vor­stel­len konn­te. Dann hör­te man das Auf­klat­schen ei­ner Ma­gnet­kar­te auf den Tisch. Crad­dock und Mig­liar­do spiel­ten Rom­mé.

Crad­dock hus­te­te und leg­te die Kar­ten um­ge­kehrt auf den Tisch, wäh­rend er bei­de Hän­de auf den Mund preß­te. Der An­fall schüt­tel­te sei­nen gan­zen Kör­per.

Mig­liar­do nahm ei­ne Fla­sche und drück­te sie Crad­dock in die Hand. Barr warf sich in sei­ner Ko­je her­um. Er hielt einen Ste­reo­skop­gu­cker läs­sig in ei­ner Hand. »Hör auf!« brüll­te er. »Hör auf!«

Crad­dock spritz­te sich Was­ser in den Mund – bis die Fla­sche leer war. Lang­sam be­ru­hig­te er sich. Er wisch­te sich die Trä­nen aus den Au­gen. »Dan­ke, Mig«, sag­te er schwach. Er war dün­ner ge­wor­den. Auch die an­de­ren wa­ren dün­ner ge­wor­den.

»Emil!« schrie Barr von sei­ner Ko­je aus. »Warum, zum Teu­fel, un­ter­nimmst du denn nichts da­ge­gen?«

Je­li­neks ru­hi­ge Stim­me kam vom Steu­er­deck zu ih­nen. »Ich sag­te dir schon, Iron, es ist psy­cho­so­ma­tisch.«

»Wenn nicht bald je­mand et­was un­ter­nimmt«, mur­mel­te Barr, »wacht Ted ei­nes Ta­ges oh­ne Hals auf.«

Je­li­neks ha­ge­res Ge­sicht er­schi­en in der Lu­ke.

»Was willst du da­mit sa­gen, Iron?«

»Ge­nau das, was ich ge­sagt ha­be.«

»Er hat es nicht bö­se ge­meint«, er­klär­te Crad­dock ent­schul­di­gend. »Mein dau­ern­des Hus­ten geht ihm auf die Ner­ven. Zum Teu­fel, es geht mir ja selbst auf die Ner­ven.«

Je­li­nek hat­te sich nicht von der Stel­le ge­rührt. »Wir sind al­le auf­ein­an­der an­ge­wie­sen, Iron. Ent­we­der kom­men al­le durch oder kei­ner. Ja, ich weiß – Mig kann viel­leicht dei­nen Pos­ten über­neh­men, wenn du aus­fällst. Burt könn­te das Schiff steu­ern, wenn mir et­was zu­stößt. Mig könn­te an Stel­le von Burt die Na­vi­ga­tor­ar­bei­ten er­le­di­gen, und du kennst dich mit Schal­tun­gen und Elek­tro­nik gut ge­nug aus, um Ted zu er­set­zen. Aber in Wirk­lich­keit wä­re es ganz an­ders. Wir sind fünf. Das ist ein Mi­ni­mum, wenn wir geis­tig ge­sund blei­ben wol­len. Ei­ner we­ni­ger, und die an­de­ren schar­fen es nicht.«

Sein Ge­sicht ver­schwand, und wie­der herrsch­te Stil­le. Barr zuck­te mit den Schul­tern und be­schäf­tig­te sich von neu­em mit sei­nem Gu­cker. Crad­dock und Mig ho­ben Kar­ten von dem großen Stoß ab und war­fen sie ei­ne nach der an­de­ren auf den Tisch. Hol­lo­way starr­te schwei­gend hin­aus.

»Tank B ist am Ein­frie­ren«, sag­te Je­li­nek. »Ich wer­de ihn dem Son­nen­licht aus­set­zen.«

Nie­mand be­weg­te sich, nie­mand sah auf. Ir­gend­wo im Schiff heul­te ein Mo­tor auf, als er ein Schwungrad be­schleu­nig­te. Ganz lang­sam dreh­te sich das Schiff her­um. Das Heu­len wur­de dunk­ler und ging wie­der in Stil­le über.

Hol­lo­way schrie auf. Er deu­te­te mit zit­tern­dem Fin­ger zur Sicht­lu­ke, als sich die an­de­ren ihm zu­wand­ten. Je­li­neks Ge­sicht er­schi­en in der Öff­nung.

»Was zum …!«

»Burt!«

»Um Him­mels wil­len, Burt!«

»Da …«, sag­te Hol­lo­way. »Da war et­was – da drau­ßen!«

»Was denn?« frag­te Je­li­nek. »Ver­such zu be­schrei­ben, was du ge­se­hen hast.«

Hol­lo­way klam­mer­te sich zit­ternd an einen Griff un­ter der Öff­nung und stieß sich ab. »Ich weiß nicht, was es war. Et­was – et­was Wei­ßes. Jetzt ist es wie­der fort.«

»Du hast mehr als das ge­se­hen, sonst hät­test du nicht ge­schri­en«, sag­te Je­li­nek scharf. »Was war es, Burt?«

»Viel­leicht Ab­fall«, sag­te Mig­liar­do sanft.

»Ja«, sag­te Hol­lo­way schnell. »Das war es. Es ist am Schiff vor­bei­ge­schwebt. Als du das Schiff um­dreh­test, ist es an der Sicht­lu­ke vor­bei­ge­schwebt.«

Je­li­nek gab nicht nach. »Viel­leicht war es Ab­fall, Burt, aber was hast du ge­se­hen?«

»Al­so gut«, sag­te Hol­lo­way är­ger­lich. »Es sah wie ein Ge­sicht aus, wie ein Ge­sicht mit ei­nem Bart.«

»Hat es ir­gend­ei­nem dei­ner Be­kann­ten ähn­lich ge­se­hen?« frag­te Je­li­nek.

Hol­lo­ways Zit­tern hat­te nach­ge­las­sen. »Ich bin nicht ver­rückt.. Emil. Nein, ich ha­be das Ge­sicht noch nie vor­her ge­se­hen.«

»Sah es tot aus?«

»Nein.«

»Wo­her weißt du das?«

Hol­lo­way hol­te tief Atem und sag­te ru­hig: »Es sah mich an. Es hat mich ge­se­hen. Sei­ne Au­gen – ich ha­be noch nie einen so sor­gen­vol­len und mit­lei­di­gen Blick er­lebt. Es – es hat­te Mit­leid mit mir. Mit uns al­len.«

»Um Him­mels wil­len«, be­schwer­te sich Barr. »Ich ha­be noch nie im Le­ben so ein Mär­chen ge­hört. Du hast doch im­mer­zu auf die Er­de ge­st­arrt. Wahr­schein­lich war es ei­ne Hal­lu­zi­na­ti­on.«

Je­li­nek nick­te. »Das glau­be ich auch – viel­leicht von ei­nem kur­z­en Son­nen­strahl aus­ge­löst. Oder, wie Mig sag­te, ir­gend­wel­cher Ab­fall. Laß dich nicht da­von be­un­ru­hi­gen, Burt.«

Hol­lo­way lach­te ge­preßt. »Ich bin doch gar nicht be­un­ru­higt. Was könn­te uns hier, sechs Mil­lio­nen Mei­len von der Er­de ent­fernt, ent­ge­gen­kom­men?«

»Na al­so«, sag­te Barr. »Hier – sieh das mal an. Das lohnt sich we­nigs­tens.« Er warf Hol­lo­way den Plas­tik­gu­cker zu.

Hol­lo­way fing ihn auf, hielt ihn an die Au­gen und sah durch. »Da­mit al­so hast du die gan­ze Zeit über dei­nen Spaß ge­habt«, sag­te er ru­hig.

»Laß mich se­hen«, mein­te Crad­dock eif­rig.

Hol­lo­way stieß es ihm hin, als sei er froh, et­was Schmut­zi­ges los­zu­wer­den. Dann wisch­te er sich die Fin­ger an den Shorts ab und ging wie­der an die Sicht­lu­ke.

Crad­dock starr­te lan­ge in den Gu­cker, hol­te das nächs­te Bild und starr­te wie­der hin­ein. Sei­ne Wan­gen wur­den rot.

Mig­liar­do be­trach­te­te ihn neu­gie­rig. »Was soll das al­les?« Er streck­te die Hand aus und hol­te sich den Ap­pa­rat.

»War­te, du kommst schon noch an die Rei­he«, sag­te Crad­dock.

Mig­liar­do hielt es in der Hand. »Du kannst es so­fort wie­der ha­ben.« Er starr­te hin­durch und zog es mit ei­ner has­ti­gen Be­we­gung wie­der weg. »Im Na­men des …« Er be­kreu­zig­te sich au­to­ma­tisch. »Wie hast du die­se scheuß­li­chen Din­ger an Bord ge­schmug­gelt. Weißt du nichts Bes­se­res, als die­se dre­cki­gen …«

Crad­dock streck­te die Hand aus. »Los, gib sie wie­der her. Gib sie mir!«

Wie­der tauch­te Je­li­neks Kopf in der Öff­nung auf. »Al­so ich ver­brin­ge doch mehr Zeit mit euch Idio­ten als mit mei­nen Meß­ge­rä­ten. Zeig mir das Ding.«

Mig­liar­do warf es Je­li­nek ver­ächt­lich zu. Er griff da­nach, aber der Gu­cker se­gel­te durch die Öff­nung und au­ßer Reich­wei­te. Einen Au­gen­blick spä­ter hör­te man ihn am Me­tall auf­schla­gen.

Barr ließ sei­nen Gurt mit ei­ner ge­üb­ten Hand­be­we­gung auf­schnap­pen und sprang auf den Mit­tel­pfos­ten zu. Er starr­te durch die Öff­nung hin­durch Je­li­nek an, der jetzt mit dem zer­drück­ten Gu­cker in der Hand er­schi­en.

»Tut mir leid, Iron«, sag­te Je­li­nek ent­schul­di­gend. »War un­ge­schickt von mir.«

Barr sag­te wü­tend: »Wenn ich wüß­te, daß du das mit Ab­sicht ge­macht hast …«

»Was dann?« frag­te Je­li­nek ru­hig.

»Ich wür­de dich prü­geln, bis du oh­ne Raum­an­zug durch die Luft­schleu­se ver­schwin­den wür­dest«, sag­te er mit kal­ter, töd­lich ru­hi­ger Stim­me. Und dann jam­mer­te er: »Es ist ka­putt.«

»Es tut mir nicht wirk­lich leid«, sag­te Je­li­nek. »Kannst du denn nicht ver­ste­hen, daß die­se schmut­zi­gen Bil­der nicht das Rich­ti­ge für ei­ne Rei­se von zwei­ein­halb Jah­ren sind?«

»Gib es mir zu­rück«, sag­te Barr wü­tend. »Du lebst auf dei­ne Wei­se und ich auf mei­ne.« Er riß Je­li­nek die Trüm­mer aus der Hand. Sei­ne Li­der wa­ren ge­senkt, aber man konn­te den Haß in sei­nen Au­gen le­sen. »Und komm mir nicht wie­der in die Que­re, du Ge­hirn­wä­scher, sonst muß ei­ner von uns bei­den wei­chen.«

Barr ließ sei­ne mus­ku­lö­sen, be­haar­ten Bei­ne in die Tisch­sch­lin­gen glei­ten und leg­te den zer­schmet­ter­ten Gu­cker vor­sich­tig auf den Tisch. Kei­nes der Stücke fehl­te. Sorg­fäl­tig und mit ei­nem Ge­schick, das man den di­cken Fin­gern nicht zu­ge­traut hät­te, nahm er die ein­zel­nen Tei­le und leg­te sie auf den Tisch. »He, Burt«, rief er. »Wirf mir mal den flüs­si­gen Kleb­stoff her­über.«

Im nächs­ten Au­gen­blick se­gel­te die Tu­be auf ihn zu. Barr fing sie läs­sig auf. Die Be­we­gung wir­bel­te die auf dem Tisch lie­gen­den Tei­le hoch, und Barr muß­te sie schnell mit der frei­en Hand be­de­cken, da­mit sie nicht weg­schweb­ten. Lang­sam be­feuch­te­te er die Rän­der mit dem farb­lo­sen Kleb­stoff und setz­te die ein­zel­nen Stücke zu­sam­men.

Mig­liar­do ge­wann und zähl­te fröh­lich sei­ne Punk­te zu­sam­men.

Hol­lo­way starr­te reg­los aus der Sicht­lu­ke.

»Ich ha­be Hun­ger«, sag­te Barr plötz­lich. »Du bist heu­te der Koch, Mig. Bring was Or­dent­li­ches auf den Tisch. Was hältst du von ei­nem hüb­schen, saf­ti­gen Steak?«

»Wir hat­ten erst ges­tern Steak«, sag­te Mig­liar­do geis­tes­ab­we­send und stu­dier­te sei­ne Kar­ten.

»Es ist mir egal, wann wir Steak hat­ten«, sag­te Barr. »Ich will heu­te Steak.«

»Wenn wir ein­mal in der Wo­che Steak es­sen, rei­chen wir bis zum En­de der Fahrt mit Fleisch«, er­klär­te Mig­liar­do. »Aber wenn wir es al­le Ta­ge es­sen, ha­ben wir dann zwei Jah­re lang kei­nes. Heu­te gibt es See­zun­ge.«

»Was ist denn? Ist heu­te Frei­tag?« höhn­te Barr.

»Zu­fäl­lig ja«, sag­te Mig­liar­do.

»Dach­te ich mir schon, du Fisch­fres­ser«, spöt­tel­te Barr. »Aber ich kann Fisch nicht aus­ste­hen. Warum soll ich dir zu­lie­be Fisch hin­un­ter­wür­gen?«

»Wir ha­ben ein­mal wö­chent­lich Fisch«, sag­te Mig­liar­do ru­hig. »Wir kön­nen am Frei­tag eben­so­gut Fisch es­sen wie an ei­nem an­de­ren Tag. Frü­her moch­test du ihn.«

Barr knall­te die Faust auf den Tisch. »Aber jetzt ha­be ich ihn satt. Ich sa­ge dir et­was«, be­gann er tückisch. »Ich es­se dein Steak, und du ißt mei­nen Fisch.«

»Nein, dan­ke«, er­wi­der­te Mig­liar­do höf­lich. »Ich mag Fisch auch nur ein­mal in der Wo­che. Und Steak. Au­ßer­dem …« Mig­liar­do sah auf sei­ne Uhr. »Au­ßer­dem ist es noch nicht Es­sens­zeit.«

»Die Uhr geht falsch«, brüll­te Barr los. »Wem glaubt ihr mehr, mei­nem Ma­gen oder die­ser Uhr? Ich weiß, wem ich glau­ben muß.« Er be­frei­te sei­ne Bei­ne aus den Tisch­sch­lin­gen und zog sich zu der Tief­kühl­tru­he ne­ben dem Ofen hin­über. Er such­te in den vor­be­rei­te­ten Mahl­zei­ten her­um, bis er ge­fun­den hat­te, was er such­te. Dann steck­te er es in den Ofen.

Mig­liar­do woll­te et­was sa­gen, doch dann zuck­te er mit den Schul­tern und schwieg. Crad­dock spiel­te ei­ne neue Kar­te aus.

»Ha!« rief Mig­liar­do tri­um­phie­rend und deck­te sei­ne Kar­ten auf. »Jetzt schul­dest du mir schon drei­hun­dertzwölf Dol­lar.«

Crad­dock starr­te un­gläu­big die Kar­ten an. Plötz­lich sah er auf und warf die Kar­ten Mig­liar­do ins Ge­sicht. »Be­trü­ger!« rief er hys­te­risch. »Du lau­si­ger Falsch­spie­ler! Ich zah­le dir kei­nen Pen­ny. Nie wie­der spie­le ich mit dir, du dre­cki­ger Falsch­spie­ler!«

Ein Hus­ten­an­fall schüt­tel­te sei­nen Kör­per. Sei­ne Au­gen quol­len her­vor. Mig­liar­do starr­te ihn hilf­los an. Aus ei­nem Schnitt un­ter dem lin­ken Au­ge, wo ihn die Kar­te ge­ritzt hat­te, floß Blut.

Der Schirm wur­de dun­kel.

 

Als die Lich­ter an­gin­gen, dreh­te sich Faust schnell zu Lloyd um. »Noch ein Me­te­or?«

»En­de der Spu­le.«

Faust at­me­te stoß­wei­se. »Es sieht nicht gut aus.«

»Laß dich nicht ir­re­füh­ren«, mein­te Lloyd. »Wir zei­gen dir nur das Schlimms­te. Es gab vie­le Ta­ge, in de­nen das Le­ben ganz nor­mal und er­eig­nis­los ver­lief. Kein Streit, kei­ne Kämp­fe, kei­ne Miß­ver­ständ­nis­se.«

»So et­was wie das eben ge­nügt ein­mal im Mo­nat … Es sieht aus – wie – wie ei­ne wahl­los zu­sam­men­ge­wür­fel­te Grup­pe von Män­nern, die jetzt mit­ein­an­der aus­kom­men müs­sen.«

Lloyd lä­chel­te. »Kri­tik? Wir ha­ben sie sorg­fäl­tig aus­ge­wählt und in ers­ter Li­nie dar­auf ge­se­hen, ein Gleich­ge­wicht un­ter ih­nen her­zu­stel­len. Erst in zwei­ter Li­nie ka­men ih­re Fä­hig­kei­ten. Sie soll­ten ein­an­der aus­glei­chen – die Stär­ke des einen ge­gen die Schwä­che des an­de­ren. Wir ver­such­ten, die Rei­bungs­mög­lich­kei­ten vor­aus­zu­be­rech­nen und die schlimms­ten Nörg­ler … Aber das ist so, als woll­te man vor­aus­sa­gen, aus wel­chen Ge­stei­nen Ju­pi­ter be­steht. Die­se Män­ner le­ben da drau­ßen un­ter Be­din­gun­gen, die uns un­be­kannt wa­ren. Das rächt sich jetzt.«

Faust sah Lloyd neu­gie­rig an. »Ich dach­te, die­se Män­ner sei­en dei­ne Freun­de ge­we­sen.«

Lloyds Ge­sicht ver­här­te­te sich. »Sie sind mei­ne Freun­de. Je­der ein­zel­ne von ih­nen. Du wür­dest einen Freund die­ser Be­las­tungs­pro­be nicht aus­set­zen? Viel­leicht nicht. Aber du wür­dest den bes­ten Kan­di­da­ten er­nen­nen und dann sei­nen Wahl­kampf ganz ge­nau be­ob­ach­ten, da­mit du, falls er ver­sagt, nicht die glei­chen Feh­ler wie er machst. Ich will kei­ne Leu­te mehr hin­aus­schi­cken, die ihr Schick­sal nicht ken­nen.«

Faust run­zel­te die Stirn. »Ich ver­ste­he. Aber nimmt die­se Fern­se­haus­rüs­tung nicht zu­viel Platz weg, den man für et­was Bes­se­res aus­nüt­zen könn­te? Für et­was, das ih­nen grö­ße­re Über­le­benschan­cen gibt? Mehr Es­sen und Was­ser. Ge­nug Steaks für Barr. Ra­dio­ge­rä­te.«

Lloyd schüt­tel­te den Kopf. »Wenn es ge­nug Steaks gä­be, wür­de sich Barr nicht dar­um küm­mern. Sein Trieb ist psy­cho­lo­gi­scher Art – auch die Trie­be der an­de­ren. Ra­dio­emp­fän­ger wä­ren kei­ne Hil­fe, son­dern stell­ten ei­ne Be­dro­hung für ih­re Ge­sund­heit dar. Wie wür­dest du dich füh­len, wenn du wüß­test, daß du un­wi­der­ruf­lich von der rest­li­chen Mensch­heit ab­ge­schnit­ten bist – ab­ge­schnit­ten für min­des­tens zwei­ein­halb Jah­re –, und du könn­test dau­ernd hö­ren, daß die­se an­de­ren Men­schen ein si­che­res, ge­sun­des, glück­li­ches Le­ben füh­ren? Daß sie es­sen, was sie wol­len, daß sie Fuß­ball­spie­len zu­se­hen, daß sie mit Frau­en schla­fen und auf der grü­nen Er­de Spa­zie­ren­ge­hen? Es wür­de dich zum Wahn­sinn trei­ben.

Wir ha­ben das auf der Pin­ta und Ni­na ver­sucht. Auf der Pin­ta war das Ra­dio­ge­rät nach ei­ner Wo­che zer­schmet­tert. Auf der Ni­na blieb es zehn Ta­ge ganz. Die­se Män­ner sind ab­ge­schnit­ten. Sie müs­sen es wis­sen, sie müs­sen wis­sen, daß sie kei­ne Hil­fe er­hal­ten, son­dern ganz auf sich selbst ge­stellt sind. So müs­sen sie das Ge­fühl ha­ben, daß das Le­ben auch für die an­de­ren auf­ge­hört hat, daß sie bei ih­rer Rück­kehr al­les so vor­fin­den wer­den, wie sie es ver­las­sen ha­ben, die glei­chen Freun­de, die glei­che Ar­beit, die glei­chen Mäd­chen, die sie lie­ben. Nein, ein Ra­dio­ge­rät wä­re nicht die rich­ti­ge Ant­wort.«

»Das klingt, als müß­test du dich selbst da­von über­zeu­gen«, mein­te Faust.

»Was hast du er­war­tet? Glaubst du, ich se­he mir die Fil­me oh­ne Angst an? Und doch war­te ich mit ei­ner Span­nung, die mich selbst ab­stößt, auf die nächs­te Spu­le.

Ich weiß, daß die­se Män­ner noch Kraft ge­nug be­sit­zen, um durch­zu­kom­men. Wenn Men­schen über­haupt durch­kom­men kön­nen. Sie ha­ben mehr als ge­nug zu es­sen, mehr als ge­nug Treib­stoff, mehr als ge­nug Luft. Und dar­über hin­aus gibt es noch einen Si­cher­heits­fak­tor.«

Fausts Au­gen blitz­ten auf. »Ah, der ge­heim­nis­vol­le Si­cher­heits­fak­tor. Den hat­te ich fast ver­ges­sen. Worin be­steht er?«

Lloyd zö­ger­te. »Es wä­re mir lie­ber, wenn du dir die Sa­che selbst an­sähst. Er hat sich – ko­misch ent­wi­ckelt.« Lloyd sah auf sei­ne Arm­band­uhr. »Wol­len wir nicht es­sen? Ar­nos war­tet auf uns.«

Fausts Stim­me wur­de wei­cher. »Ar­nos sieht mit je­dem Jahr schlim­mer aus. Wie lan­ge wird er es noch schaf­fen?«

»Nicht lan­ge ge­nug, um all das zu er­le­di­gen, was er sich vor­ge­nom­men hat.«

»Warum ist er ei­gent­lich nie zum Ge­ne­ral ge­macht wor­den?«

»Er hat es mehr als ein­mal ab­ge­lehnt. Ein Haupt­mann be­feh­ligt das Klei­ne Rad. Un­ten sind sie der An­sicht, daß die Auf­ga­be nicht groß ge­nug für einen Ge­ne­ral ist. Nimm ihm sei­ne Ar­beit weg, und er wür­de ster­ben. Auch kör­per­lich wä­re es ei­ne Ka­ta­stro­phe. Sa­ge ihm nichts über das, was ich dir jetzt ver­ra­te – er ist herz­krank. Schwer herz­krank. Hier lebt er län­ger.«

»Du selbst bist auch nie zum Ge­ne­ral er­nannt wor­den«, mein­te Faust. »Wie vie­le Be­för­de­run­gen hast du ab­ge­lehnt?«

»Ei­ni­ge«, sag­te Lloyd kurz. »Da sind wir schon.« Er öff­ne­te ei­ne Tür, und sie be­fan­den sich in der Mes­se – das wa­ren drei lan­ge Alu­mi­ni­um­ti­sche mit Bän­ken, die in den Bo­den ge­schraubt wa­ren. Der Raum war leer bis auf Ar­nos Dan­ton, der sich in die Nä­he der Aus­ga­be­klap­pe des elek­tro­ni­schen Her­des ge­setzt hat­te. Er starr­te aus­drucks­los auf sein Ta­blett, als sie die Tür öff­ne­ten, doch dann hob er den Kopf und lä­chel­te.

»Ich war so frei und ha­be für euch gleich mit­be­stellt.«

Sie setz­ten sich vor die Ta­blet­te und aßen. Lloyd be­merkte, daß Dan­ton nur Sa­lat ge­nom­men hat­te. Und selbst dar­in sto­cher­te er mit der Ga­bel her­um, oh­ne einen Bis­sen zu es­sen.

Er lieb­te die­sen Mann, das knor­ri­ge, dunkle Ge­sicht mit den fast er­blin­de­ten Au­gen und der dün­nen wei­ßen Haar­bürs­te, die­sen har­ten, be­gab­ten Füh­rer, der zu vie­le sei­ner Leu­te in den Tod ge­schickt hat­te und mit je­dem von ih­nen ge­stor­ben war – die­sen selt­sa­men Mann, der al­les für den Raum gab und für die Män­ner ein Va­terer­satz war.

»Was glaubst du, Jim?« frag­te Dan­ton ru­hig. »Du kennst die Men­schen, und du hast dich noch nicht an un­se­re At­mo­sphä­re ge­wöhnt. Ist es schlimm?«

Faust nick­te lang­sam. »Wenn sie es schaf­fen, ist es ein Wun­der.«

Dan­ton stöhn­te. »Und du hast erst drei­ßig Ta­ge ge­se­hen. Lloyd, ich sag­te dir, ich hät­te ge­hen sol­len. Du hät­test mich ge­hen las­sen sol­len.«

Lloyd woll­te ant­wor­ten, aber Faust kam ihm zu­vor. »Nein, Ar­nos. Dich kann nie­mand er­set­zen. Oh­ne dich gin­ge die Sta­ti­on zu­grun­de. Wir brau­chen dich hier oben.«

»Wie gern wür­de ich dir glau­ben«, sag­te Dan­ton und be­deck­te das Ge­sicht mit der runz­li­gen Hand. »Aber Lloyd könn­te gut wei­ter­ma­chen.« Er wand­te sich hef­tig an Lloyd. »Du wirst wei­ter­ma­chen, Lloyd! Dein Le­ben ist hier.« Er sah hin­aus, wo die viel­far­bi­gen Ster­ne end­los kreis­ten. »Die al­te Ord­nung ist vor­bei. Nichts­pe­zia­li­sier­te Raum­fah­rer kön­nen wir nicht mehr brau­chen.

Der wich­tigs­te Mann ist der Psy­cho­lo­ge. Er muß die Män­ner an den Raum ge­wöh­nen.«

»Fer­tig?« frag­te Lloyd.

Dan­ton er­hob sich mit ih­nen.

»Geh bit­te schon vor­aus, Jim«, bat Lloyd Faust.

Faust nick­te und ging schnell hin­aus.

Als sie al­lein wa­ren, sag­te Lloyd: »Ar­nos, Ter­ry will mich ver­las­sen.«

Dan­ton schloß für einen Mo­ment die Au­gen und sah dann Lloyd be­sorgt an. »Sie nimmt die Kin­der mit?«

»Sie sagt es je­den­falls. Sie kann nicht mehr, Ar­nos. Ich sah es seit Jah­ren kom­men. Ich ha­be ver­sucht, es hin­aus­zu­zö­gern, aber was kannst du da­ge­gen un­ter­neh­men, wenn ei­ne Frau die Ge­sell­schaft von nor­ma­len Men­schen braucht, die mit bei­den Bei­nen auf der Er­de ste­hen? Wenn sie will, daß ih­re Kin­der oh­ne Kopf­be­de­ckung auf dem grü­nen Ra­sen her­um­tol­len, Ba­se­ball und Fuß­ball spie­len, zu Tanz­ver­an­stal­tun­gen ge­hen und bei Voll­mond ein Mäd­chen heim­be­glei­ten? Wie kannst du ge­gen so et­was an­kämp­fen?«

»Über­haupt nicht, Jun­ge. Selbst ein al­ter Jung­ge­sel­le wie ich kann dir das sa­gen.«

»Über ei­nes ha­be ich nach­ge­dacht«, sag­te Lloyd lang­sam. »Es war falsch, die Hei­me zu bau­en. Wir le­ben hier zu ein­sam, als daß wir uns noch ab­kap­seln dürf­ten. Wir ha­ben neun Fa­mi­li­en und ei­ne lee­re Ku­gel, seit Chap­mans Frau nach un­ten ging. Ver­bin­den wir die neun Woh­nun­gen mit der lee­ren als Mit­tel­punkt. Wir kön­nen sie in ein Er­ho­lungs­zen­trum ver­wan­deln – mit Klub­ses­seln, ei­ner Tanz­flä­che, ei­nem Kar­ten­zim­mer und ei­nem Gym­nas­ti­kraum. Die Frau­en kön­nen sich tref­fen, oh­ne ins Freie zu müs­sen, und die Mann­schaft kann sich dort eben­falls er­ho­len. Kön­nen wir uns das leis­ten?«

Dan­ton nick­te. »Das klingt nach viel Ar­beit, und wir ha­ben oh­ne­hin zu­we­nig zu tun. Wir kön­nen es uns nicht nur leis­ten, son­dern wir kön­nen es uns nicht leis­ten, die Din­ge wie bis­her wei­ter­ge­hen zu las­sen. Aber das löst dein Pro­blem auch nicht.«

Lloyds Ge­sicht wur­de wie­der düs­ter. »Ich weiß.«

»Ich has­se es, Ratschlä­ge wie Tan­te Ju­lia in Frau­en­ma­ga­zi­nen zu ge­ben«, mein­te Dan­ton. »Aber Frau­en brau­chen Si­cher­heit. Si­cher­heit in Ge­fühls­din­gen. Wann hast du Ter­ry zum letz­ten­mal ge­zeigt, daß du sie liebst?«

»Das ist zu lan­ge her«, er­wi­der­te Lloyd nüch­tern. Und dann sag­te er mit ei­nem krampf­haf­ten Lä­cheln: »Se­hen wir uns die Fil­me an.«

 

Drei­und­sieb­zig Ta­ge drau­ßen. Die plum­pe Kon­struk­ti­on aus Treib­stofftanks, Ra­ke­ten­trieb­wer­ken und Le­bens­raum, die San­ta Ma­ria, war zwölf Mil­lio­nen Mei­len von der Er­de ent­fernt. Wäh­rend der letz­ten Ta­ge war der hel­le Dop­pels­tern, der Er­de und Mond kenn­zeich­ne­te, im­mer blas­ser ge­wor­den und schließ­lich ver­schwun­den. Er hat­te dem Schiff sei­ne Nacht­sei­te zu­ge­wandt.

Dies­mal war es im Schiff nicht ru­hig. Mu­sik dröhn­te über das Mann­schafts­deck. Hol­lo­way hat­te Wa­che. Er starr­te durch die Kom­bi­na­ti­on von Te­le­skop und Ka­me­ra, um das Er­eig­nis fest­zu­hal­ten, das sich jetzt an­bahn­te.

Crad­dock stand am Was­ser­hahn und füll­te sei­ne Spritz­fla­sche. Hus­ten­an­fäl­le schüt­tel­ten sei­nen Kör­per. Sein Ge­sicht sah durch­sich­tig aus. Er wirk­te um Jah­re ge­al­tert.

Barr lag auf sei­ner Ko­je. Er las ein Ta­schen­buch. Hin und wie­der drang sein Ki­chern durch den Lärm der Mu­sik. Je­li­nek und Mig­liar­do hiel­ten sich an den Hand­stüt­zen des Ein­gangs fest. Ein star­ker, durch­sich­ti­ger Schutz­schild war dar­über­ge­zo­gen wor­den. Die Son­ne war ei­ne weiß­glü­hen­de Schei­be, die ihn durch­drang.

»Iron«, sag­te Crad­dock plötz­lich. »Kannst du den Lärm nicht ein we­nig lei­ser ma­chen? Wir ha­ben die Bän­der nun schon zwan­zig­mal ge­hört.«

»Bes­ser als eu­er Ge­strei­te«, er­wi­der­te Barr.

Je­li­nek sah sich nicht um. »Nur et­was lei­ser, Barr. Das ist nicht zu­viel ver­langt.«

»Zum Teu­fel«, knurr­te Barr.

»Mig?« frag­te Je­li­nek. »Zu laut?«

»Zu laut«, sag­te Mig­liar­do.

»Drei von uns fin­den die Mu­sik zu laut, Iron. Burt brau­chen wir erst gar nicht zu be­läs­ti­gen. Mach lei­ser.«

»… ihr!« fauch­te Barr.

Je­li­nek dreh­te sich blitz­schnell zu Barr her­um und drück­te auf den Knopf ne­ben dem Ko­jen­pfos­ten. Die Mu­sik schwieg. Im nächs­ten Au­gen­blick hat­te Barr Je­li­neks dün­nes Hand­ge­lenk zwi­schen sei­nen Pran­ken. Barr zog sich hoch, bis sein Ge­sicht dicht vor Je­li­neks Ge­sicht war. Die Stil­le war voll­kom­men.

»Ich mag sie, ver­stehst du!« schrie Barr. »Die Stil­le ist zu laut, man muß sie er­säu­fen! Ich brau­che Le­ben um mich, und wenn ich da­für je­den ein­zel­nen von euch um­brin­gen muß! Laß mich end­lich in Ru­he.«

Er gab Je­li­neks Arm frei, stell­te die Mu­sik so laut wie mög­lich und ver­schob die Gur­te so, daß er ein Stück­chen über der Ko­je schweb­te.

Je­li­nek sah auf sein Hand­ge­lenk. Wei­ße Fin­ger­ab­drücke zeich­ne­ten sich auf sei­ner ge­bräun­ten Haut ab. Er dreh­te sich schul­ter­zu­ckend um und faß­te die Stüt­ze an der Öff­nung.

»Und du geh vom Was­ser weg, Crad­dock«, brüll­te Barr.

Crad­dock zuck­te zu­sam­men. »Es ist ge­nug Was­ser da«, sag­te er lei­se.

»Nicht, wenn du es so ver­plem­perst«, sag­te Barr. »Je­des Mal, wenn ich hin­se­he, klaust du dir wie­der et­was.«

»Mir ste­hen vier­ein­halb Li­ter pro Tag zu. Das weißt du ganz ge­nau.«

»Du hast min­des­tens das Dop­pel­te ge­sof­fen! Hör auf da­mit, sonst le­ge ich auch ein Schloß an wie bei der Kühl­tru­he. Jetzt könnt ihr Ker­le mir nicht mehr die Steaks neh­men.«

»Wir ha­ben mehr als ge­nug Was­ser, Barr«, misch­te sich Je­li­nek ein. »Wenn es uns schlecht ge­hen soll­te, ha­ben wir noch ei­ne Notra­ti­on.«

Barr sah Je­li­nek an, und sei­ne Lip­pen ver­zo­gen sich ver­ächt­lich. »Wür­dest du das Zeug trin­ken?«

»Ja.«

»Na­tür­lich! Aber ich nicht. Ich will fri­sches Was­ser. Viel fri­sches Was­ser. Wenn du es dir selbst schwe­rer ma­chen willst, bit­te.«

»Treib uns nicht zu weit, Barr«, sag­te Je­li­nek lang­sam. »Wir las­sen dich un­se­re Steaks es­sen, wir las­sen dich …«

»Ihr laßt mich?« un­ter­brach ihn Barr bru­tal. »Ich neh­me mir, was mir paßt.«

»Wir las­sen dich her­um­kom­man­die­ren, weil wir al­le zu­sam­men auf der Schick­sals­rei­se sind. Aber wenn du es zu bunt treibst, könn­ten wir zu dem Be­schluß kom­men, daß wir oh­ne dich grö­ße­re Über­le­benschan­cen ha­ben.«

»… ihr! Ihr … wür­det nicht mal einen Floh zer­quet­schen, der euch auf den … kriecht.«

»Emil!« rief Mig­liar­do. »Es fängt an.«

Je­li­nek wir­bel­te her­um. Über die flam­men­de Schei­be der Son­ne schob sich ein klei­ner dunk­ler Fleck. Es war die Er­de. Sie sa­hen, was we­ni­ge Au­gen je ge­se­hen hat­ten: ei­ne Erd- und Mond­fins­ter­nis. Ei­ne Stun­de spä­ter wür­de ein klei­ne­rer Fleck er­schei­nen und der Er­de auf ih­rem Weg zu dem flam­men­den Mit­tel­punkt der Son­ne fol­gen. Die Fins­ter­nis wür­de acht Stun­den dau­ern.

»Drei­zehn Uhr zwölf und sechs Se­kun­den!« rief Hol­lo­way be­geis­tert. »Auf das Kom­ma ge­nau.«

»Ich hel­fe am bes­ten Burt«, sag­te Mig­liar­do. »Wir brau­chen die Ab­le­sun­gen für die Kurs­kor­rek­tu­ren.« Er zog sich am Mit­tel­pfos­ten hoch und be­trat das Kon­troll­deck.

Crad­dock sah Barr an und sag­te: »Ich über­prü­fe mal die Vor­rä­te.« Er hus­te­te und ver­schwand durch den Ein­laß im Vor­rats­deck.

Als sie al­lein wa­ren, sag­te Je­li­nek zu Barr: »Nimm dich ein we­nig zu­sam­men, Barr. Ich möch­te mit dir spre­chen, und es ist gut, wenn die an­de­ren nicht mit­hö­ren. Es ge­schieht nicht oft, daß wir bei­de al­lein sind.«

Gleich­gül­tig dreh­te Barr die Mu­sik lei­ser.

Je­li­nek mach­te ei­ne un­ge­dul­di­ge Hand­be­we­gung. »Was hast du vor, Barr?«

»Mir das zu neh­men, was mir ge­hört.«

»Al­le Steaks? Die ge­hö­ren dir? Hör mir zu, Barr!« sag­te Je­li­nek drän­gend. »Wir könn­ten eben­so hart sein wie du. Aber wir wis­sen, daß wir in ei­ner Nuß­scha­le ein­ge­sperrt sind. Wir sind al­le zu­sam­men auf der Schick­sals­rei­se …«

»Auf der San­ta Ma­ria«, fauch­te Barr.

»Tut mir leid. Schlech­te An­ge­wohn­heit. Ich möch­te dir nur ei­nes klar­ma­chen: Wir wis­sen, daß un­ser Le­ben von dir ab­hängt. In der glei­chen Wei­se hängt dein Le­ben von je­dem von uns ab. Oh­ne mich kommst du nicht zu­rück, Barr. Ich bin der Pi­lot. Falls mir et­was ge­schieht, bist du tot. Über­leg dir das. Tot, tot, tot! Dann gibt es kei­ne Steaks mehr, Barr. Kei­ne Frau­en. Nichts mehr, Barr.«

»Pah, ich ha­be kei­ne Angst, Je­li­nek.«

»Barr! Es wird Zeit, daß du Angst be­kommst. Wir se­hen dem Tod ins Ge­sicht. Wenn du jetzt kei­ne Angst hast, sind wir al­le ver­lo­ren!«

»Halt die Schnau­ze!« kreisch­te Barr. »Halt die Schnau­ze, oder ich schlag’ sie dir ein. Es ist nicht ge­fähr­li­cher, als wenn wir ei­ne Spa­zier­fahrt auf den Mond mach­ten. Wir ha­ben es ge­schafft, Emil. In zehn Ta­gen kön­nen wir aus­stei­gen.«

»Barr. Wir sind erst drei­und­sieb­zig Ta­ge un­ter­wegs. Wir ha­ben noch achtund­sieb­zig Ta­ge vor uns.«

»Du willst mir Angst ma­chen«, sag­te Barr schnell. »Ich ha­be auf­ge­paßt. Die Uhr darfst du nicht an­se­hen. Sie geht falsch. Man will uns her­ein­le­gen. Ich ken­ne Phil­lips. Wir sind fast an­ge­kom­men, Emil. Lüg mich nicht an! Ich ha­be recht, nicht wahr? Wir sind fast …«

Je­li­nek schüt­tel­te lang­sam den Kopf. »Ich wür­de dir kei­nen Ge­fal­len da­mit tun, wenn ich dich bei die­sem Glau­ben lie­ße. Sieh nach drau­ßen – ei­ne Erd- und Mond­fins­ter­nis. Ge­nau drei­und­sieb­zig Ta­ge, Barr.«

Barrs Au­gen tra­ten vor Angst aus den Höh­len. Er at­me­te in kur­z­en, hef­ti­gen Stö­ßen. »Nein, nein …«

Crad­docks Stim­me kam tri­um­phie­rend aus dem Vor­rats­deck. »Barr, ich ha­be so­eben den Was­ser­vor­rat be­rei­chert. Hörst du mich, Barr? Was wirst du jetzt trin­ken, Barr?«

Wut ver­zerr­te Barrs Ge­sicht. End­lich hat­te er ein Ven­til ge­fun­den. »Du dre­cki­ger klei­ner …«

Je­li­nek schob ihn zu­rück. »Er lügt, Barr. Von da un­ten kann er nicht an die Was­ser­vor­rä­te ge­lan­gen. Aber du siehst, wie weit du ihn ge­trie­ben hast.«

Barrs Au­gen glüh­ten wild. »Er hat einen Weg ge­fun­den. Er haßt mich. Ihr al­le haßt mich. Es ist mir egal! Ihr be­ob­ach­tet mich und flüs­tert über mich und schmie­det Plä­ne ge­gen mich. Nur los! Ich wer­de mit je­dem ein­zel­nen und mit al­len zu­sam­men fer­tig.«

Man hör­te ein schar­ren­des Ge­räusch, als Crad­dock die Luft­schleu­sen­tür schloß. »Ich ho­le mir die­sen klei­nen …, wenn er her­auf­kommt«, sag­te Barr tückisch.

»Heu­te mor­gen, als ich die Wa­che über­nahm«, sag­te Je­li­nek lang­sam, »fand ich Werk­zeug­spu­ren auf dem ver­sie­gel­ten In­stru­men­ten­brett. Ges­tern wa­ren sie noch nicht da. Du hat­test die Wa­che vor mir.«

»Na und?«

»Du hast ver­sucht, die Sie­gel auf­zu­bre­chen. Hör auf da­mit, Barr. Wenn ich noch ein­mal Werk­zeug­spu­ren an der Ta­fel fin­de, brin­ge ich dich um, Barr. Es wä­re nicht schwer für mich. Ei­ne Sprit­ze in der Nacht oder ein we­nig Ar­sen auf dein Steak. Laß die Fin­ger von dem In­stru­men­ten­brett!«

Nach kur­z­er Über­le­gung sag­te Barr: »Du wür­dest es nicht wa­gen, mich zu tö­ten. Du bist zu vor­sich­tig. Es wür­de dei­ne Über­le­benschan­cen ver­rin­gern.«

»An dei­ner Stel­le ver­lie­ße ich mich nicht dar­auf, Barr«, sag­te Je­li­nek.

Die Mu­sik wur­de wie­der auf vol­le Laut­stär­ke ge­dreht. Der Rhyth­mus dröhn­te durch das Schiff.

Vom Vor­rats­deck hör­te man ein schar­ren­des Ge­räusch. Je­li­nek dreh­te sich um. Crad­dock, in vol­ler Raum­aus­rüs­tung, schweb­te an der Mit­tel­säu­le. Durch die Sichtspal­te konn­te Je­li­nek Crad­docks ver­zerr­tes Ge­sicht, die star­ren­den Au­gen und den wei­tauf­ge­ris­se­nen Mund se­hen.

Je­li­nek sprang auf ihn zu und lös­te die Flü­gel­mut­tern, die den Helm fest­hiel­ten. Er nahm den Helm ab. Crad­docks Schreie über­tön­ten die Mu­sik. Er schrie un­un­ter­bro­chen und hol­te nur zwi­schen­durch kurz Atem.

»Ted!« rief Je­li­nek. Er hielt Crad­dock an ei­nem Arm fest und schlug ihn mit der an­de­ren Hand ins Ge­sicht.

Teds Schreie ver­stumm­ten plötz­lich.

Crad­dock hol­te zit­ternd Luft, schloß die Au­gen und öff­ne­te sie wie­der. Sein Ge­sichts­aus­druck wur­de nor­mal.

»Was war los, Ted?« frag­te Je­li­nek drän­gend.

»Ich – ging hin­un­ter ins Vor­rats­deck – um die Vor­rä­te – nach­zu­prü­fen –« Wie­der at­me­te er schluch­zend ein. »Ich ha­be ihn ge­se­hen. Da un­ten war er. Er kam hin­ter ei­ner der Ra­ke­ten­son­den her­vor.«

»Wie sah er aus?«

»Blas­ses Ge­sicht. Bart. Ganz wei­ße Hän­de …«

»Wie konn­test du sei­ne Hän­de se­hen, wenn er einen An­zug an­hat­te?« frag­te Je­li­nek scharf.

»Kein An­zug. Er­hat­te ein Tuch um die Hüf­ten ge­wi­ckelt, das wie schlam­pi­ge Shorts aus­sah. Kein Helm, kein An­zug.«

»Hör auf da­mit!« sag­te je­mand.

Je­li­nek sah zu der Öff­nung, die auf das Kon­troll­deck führ­te. Zwei Ge­sich­ter zeich­ne­ten sich in ihr ab: Mig­liar­do – dun­kel und mit ge­run­zel­ter Stirn. Und Hol­lo­way, schnee­weiß, von Furcht ge­schüt­telt. Hol­lo­way hat­te ge­spro­chen.

»Da un­ten ist kei­ne Luft«, sag­te Je­li­nek. »Kei­ne Nah­rungs­mög­lich­keit und kein Was­ser. Kei­ne fünf Mi­nu­ten könn­te ein Mensch da un­ten le­ben, ge­schwei­ge erst drei­und­sieb­zig Ta­ge.«

»Es muß kein Mensch sein«, sag­te Hol­lo­way.

»Was sonst soll­te es sein?« schrie Barr.

Hol­lo­way gab kei­ne Ant­wort.

»Ihr wollt mir Angst ein­ja­gen, was?« brüll­te Barr. »Es ist doch ein Witz, nicht wahr, Ted? Du willst dich an mir rä­chen?«

»Für ihn ist es kein Witz, Barr«, sag­te Je­li­nek. »Er hat Angst. Es war ei­ne Il­lu­si­on. Wir al­le nei­gen da­zu, Din­ge zu se­hen. Aber erst, wenn wir al­le die glei­che Il­lu­si­on ha­ben, ist es zu spät. Barr, geh nach un­ten und sieh nach, was es war.«

Barr schwang sich eif­rig von sei­ner Ko­je. »Und ob!«

»Mig!« keuch­te Je­li­nek. »Hilf mir, ihm den An­zug ab­zu­strei­fen.«

Crad­dock schi­en sich nicht rüh­ren zu kön­nen. Als sie ihm end­lich den An­zug vom Lei­be ge­zo­gen hat­ten, zit­ter­te er an je­dem Mus­kel. Al­le paar Se­kun­den schüt­tel­te ihn ein neu­er Hus­ten­an­fall. Mig­liar­do führ­te ihn zu sei­ner Ko­je. Als er ihn fest­ge­schnallt hat­te, hol­te Je­li­nek ei­ne Sprit­ze aus der Schub­la­de.

»Ich ge­be ihm ei­ne Do­sis Re­ser­pin.«

»Hat dich Teds Be­schrei­bung an et­was er­in­nert?« frag­te Mig­liar­do lei­se.

»An das Ge­sicht, das Burt sah? Das ist na­tür­lich. Sug­ge­s­ti­on ist ei­ne star­ke Macht.«

Wie­der kam ein Schrei vom Vor­rats­deck. Je­li­nek und Mig­liar­do ver­steif­ten sich, aber es war ein Wut­schrei. Barr schweb­te in den Raum. Er hing wie ein zor­ni­ger ro­ter Af­fe am Mit­tel­pfahl. »Je­mand hat ver­sucht, mich um­zu­le­gen.«

»Wir wa­ren al­le hier«, sag­te Je­li­nek.

Barrs Stim­me wur­de schril­ler. »Je­mand hat mit dem Sau­er­stoff­meß­ge­rät mei­nes An­zugs her­um­ge­fum­melt. Das Meß­ge­rät zeigt auf Voll, aber der Tank ist leer.«

»Es muß ein Un­fall ge­we­sen sein«, sag­te Je­li­nek mit har­ter Stim­me.

»Ich weiß, wer es war«, schrie Barr. »Die­ser dre­cki­ge, klei­ne Lüg­ner da.« Er deu­te­te mit zit­tern­den Fin­gern auf Crad­dock. »Er hat es ge­tan, be­vor er mir zu­rief, daß er das Was­ser ver­dor­ben hät­te. Er woll­te, daß ich nach un­ten käme. Und dann wä­re er nach oben ge­gan­gen, und ihr hät­tet be­haup­tet, es sei ein Un­fall. Scha­de, aber nicht zu än­dern.«

»Das ist ab­surd, Barr«, fauch­te Je­li­nek. »Schnall einen an­de­ren Tank an und un­ter­su­che die Ra­ke­ten­son­den.«

Barr dreh­te sich um und sah ihn tückisch an. »O nein. Viel­leicht stimmt mit mei­nem An­zug auch sonst et­was nicht. Es wä­re leicht, in ei­nes der Ge­len­ke zu ste­chen oder ein Ven­til zu lö­sen. Ich wer­de den An­zug nie wie­der an­zie­hen. Wenn ihr mich schon um­brin­gen wollt, dann möch­te ich es se­hen.« Er zit­ter­te am gan­zen Kör­per.

»Mig. Sieh nach«, sag­te Je­li­nek.

Mig tauch­te durch die Öff­nung.

»Barr!« sag­te Je­li­nek scharf. »Leg dich jetzt hin. Lies ei­nes dei­ner schmut­zi­gen Bü­cher. Aber halt den Mund.« Er sah Hol­lo­way star­res, wei­ßes Ge­sicht und sei­ne vor­quel­len­den Au­gen. »Burt! Ver­giß nicht, daß du Wa­che hast.«

Ei­ne un­na­tür­li­che Stil­le mach­te sich breit.

Mi­nu­ten ver­gin­gen, kei­ner reg­te sich. Schließ­lich hör­te man die Luft­schleu­sen­tür zu­schla­gen. Je­mand streif­te den An­zug ab.

»Nichts«, sag­te Mig­liar­do, als er an dem Mit­tel­pfos­ten auf­tauch­te. »Nichts Wei­ßes. Und nichts Be­weg­li­ches. Über­haupt nichts.«

Drau­ßen schob sich der Erd­schat­ten ru­hig über die Son­ne.

 

Jim Faust schüt­tel­te den Kopf, als Lloyd die Lich­ter an­knips­te. Sein Ge­sicht war so blaß wie das von Hol­lo­way. »Schlimm«, mur­mel­te er. »Wirk­lich schlimm.«

»Denk dar­an, daß du nur das Schlimms­te siehst«, sag­te Lloyd. »Es gibt auch ru­hi­ge Ta­ge.«

»Du lie­be Gü­te«, flüs­ter­te Faust, »wie ich die­sen Barr has­se!«

Lloyd räus­per­te sich. »Er ist ein gu­ter Kerl. Er war un­ser Ex­tro­ver­tier­ter. Als Gleich­ge­wicht. Wenn al­le wie Mig­liar­do oder Je­li­nek ge­we­sen wä­ren, hät­ten sie längst den Ver­stand ver­lo­ren. Barr gibt ih­nen Grund zu Haß­ge­füh­len. So schlimm hat­ten wir es uns zwar auch nicht vor­ge­stellt, aber das kann man nicht än­dern.«

»Man kann nicht im Haß le­ben«, sag­te Faust.

»Manch­mal kann man nicht oh­ne Haß le­ben«, sag­te Lloyd. »Die San­ta Ma­ria ist nun schon fünf­mal so lang wie die Pin­ta und drei­mal so lang wie die Ni­na un­ter­wegs.«

»Noch ist sie nicht am Ziel«, sag­te Faust.

»Bei ei­ni­gen Spu­len, die wir über­spran­gen«, sag­te Lloyd, »be­gann Je­li­nek mit Psy­cho­ana­ly­se.«

»Der Mann ist da­zu nicht in der La­ge«, sag­te Faust of­fen. »Er ist selbst nicht nor­mal. Er kann Barr nicht un­ter Kon­trol­le hal­ten. Er hat ihm im­mer mit dem Tod ge­droht. Das ist kei­ne Art und Wei­se ei­nes Psy­cho­lo­gen. Barr ist oh­ne­hin schon ge­nug ver­ängs­tigt. Er hat ver­sucht, sich selbst ein­zu­re­den, daß die Rei­se fast vor­bei ist. Aber er weiß, daß das nicht stimmt und rea­giert die­ses Wis­sen ab, in­dem er die an­de­ren quält. Man kann einen Mann nicht be­dro­hen, wenn er schon halb irr vor Angst ist.«

»Je­li­nek hat sei­nen gan­zen Glau­ben auf das ver­sie­gel­te In­stru­men­ten­brett ge­rich­tet«, er­klär­te Lloyd. »Barr be­droht die­sen Glau­ben. Was ist mit Mig­liar­do?«

»Mit den an­de­ren ver­gli­chen, scheint er nor­mal zu sein. Viel­leicht wird er in­ner­lich ver­rückt. Sie al­le ha­ben An­zei­chen von Pa­ra­noia. Men­schen un­ter­neh­men An­schlä­ge ge­gen sie, spio­nie­ren ih­nen nach …«

Lloyd schüt­tel­te den Kopf. »Se­hen wir uns die nächs­te Spu­le an.«

Faust und Dan­ton dreh­ten ih­re Stüh­le her­um und sa­hen wie­der die graue Lein­wand an, als Lloyd das Licht aus­schal­te­te.

 

Ein­hun­dert­drei­und­drei­ßig Ta­ge drau­ßen. Die San­ta Ma­ria schweb­te lang­sam auf ei­ner El­lip­sen­bahn von sie­ben­hun­dert­fünf­und­drei­ßig Mil­lio­nen Mei­len. Von hier aus wür­den die Män­ner end­gül­tig zum Mars ge­lan­gen.

Auf dem Mann­schafts­deck war al­les ru­hig.

Die Lu­ken wa­ren ge­schlos­sen. Der Raum lag im Dun­kel. Es war drei Uhr Schiffs­zeit. Es war ei­ne Art Un­tä­tig­keits­pe­ri­ode, die sich die Mann­schaft an ei­nem Ort auf­zwin­gen muß­te, an dem die Son­ne nie un­ter­ging, weil die Nacht nie schwand.

Nur das tie­fe, re­gel­mä­ßi­ge At­men der schla­fen­den Män­ner war zu hö­ren und hin und wie­der das Kli­cken ei­nes Re­lais auf dem Steu­er­deck. Dann wand sich ei­ne dunkle Ge­stalt in ih­rer Ko­je und be­gann zu schrei­en.

Män­ner tau­mel­ten aus ih­ren Ko­jen und such­ten in der Schwe­re­lo­sig­keit nach ei­nem fes­ten Halt.

Mig­liar­do fand den Licht­schal­ter, und die Schre­cken der Dun­kel­heit wur­den von der nüch­ter­nen Wirk­lich­keit ver­trie­ben. Je­li­nek, Barr und Mig­liar­do schweb­ten im Raum. Hol­lo­way hat­te sich in sei­ner Ko­je auf­ge­setzt. Er schrie im­mer noch.

Je­li­nek klam­mer­te sich mit den Bei­nen an ei­nem Pfos­ten fest und schüt­tel­te Hol­lo­way. Die Au­gen des Na­vi­ga­tors öff­ne­ten sich. Als er Je­li­nek er­blick­te, hör­te er zu schrei­en auf.

»Was, zum Teu­fel, ist denn mit dir los?« frag­te Barr ge­reizt.

»Ich hat­te einen Traum«, sag­te Hol­lo­way. »Ich träum­te, ich wür­de nach un­ten fal­len.«

»Ach –«, sag­te Barr mit Ver­ach­tung in der Stim­me. »Einen von de­nen. Wenn ich nur ei­ne Zi­ga­ret­te hät­te. Ich gä­be mein Recht zu … für ei­ne Zi­ga­ret­te.«

Hol­lo­way fuhr fort, als hät­te Barr nichts ge­sagt. Sei­ne Au­gen wa­ren geis­tes­ab­we­send. Er dach­te nach. »Ich träum­te, ich sei tot. Ich lag in ei­nem Me­tall­sarg, und ich fiel. Ich wür­de nie be­gra­ben wer­den, und des­halb konn­te ich nie ru­hen. Ich war tot, aber ich konn­te im­mer noch se­hen und hö­ren und füh­len, und ich konn­te nicht ru­hen, weil ich in ei­nem Me­tall­sarg lag und fiel.«

»Sind wir nicht al­le in ei­nem Me­tall­sarg?« frag­te Mig­liar­do.

Barr dreh­te sich mit ei­nem Ruck um. »Was sind wir?«

»Wir sind al­le in ei­nem Me­tall­sarg, den wir Schick­sals­rei­se nen­nen«, er­klär­te Je­li­nek.

Mig­liar­do sah ihn an. »Jetzt weiß ich, wo­her ich den Na­men ken­ne. Es ist ein al­tes Stück. Ei­ne Grup­pe von Leu­ten war auf dem Schiff und se­gel­te auf einen un­be­kann­ten Ha­fen zu. Und schließ­lich er­kann­ten sie, daß sie al­le tot wa­ren.«

Barr hat­te von ei­nem zum an­de­ren ge­se­hen. Auf sei­nem Ge­sicht spie­gel­te sich wach­sen­des Ent­set­zen. »Wo­von re­det ihr Ker­le? Wir sind nicht tot.«

»Nein«, sag­te Je­li­nek. »Es ist ein ma­ka­b­rer Scherz, den wir uns nicht leis­ten kön­nen.«

»Emil«, sag­te Hol­lo­way mit ru­hi­ger, schreck­li­cher Stim­me. »Emil! Ted liegt in sei­ner Ko­je und rührt sich nicht.«

Je­li­nek dreh­te sich her­um und hielt sich an dem Alu­mi­ni­um-Git­ter­werk fest. Er starr­te Crad­dock an. »Mig, wirf mir das Stetho­skop her­über.« Aber er war­te­te nicht, son­dern leg­te sein Ohr an Crad­docks Brust. Im nächs­ten Au­gen­blick hob er den Kopf. »Laß es«, sag­te er lei­se. »Er ist tot.«

Mig­liar­do ging selbst hin­über und mur­mel­te et­was vor sich hin. Barrs Au­gen wei­te­ten sich vor Angst. Hol­lo­way schweb­te zit­ternd über sei­ner Ko­je und schlug die Ar­me um den Leib.

»Mich friert«, sag­te Hol­lo­way. »Fin­det ihr nicht auch, daß es kalt ist? Und die Luft ist schlecht. Mir wird übel.«

Je­li­nek be­gann Crad­dock zu un­ter­su­chen. Plötz­lich sah er scharf auf und blick­te sich im Raum um, als wol­le er die Män­ner zäh­len. Sei­ne Lip­pen be­weg­ten sich. »Wer hat Wa­che?« frag­te er schnei­dend. »Barr. Das ist dein Werk, nicht wahr?«

»She­pherd hat sich an­ge­bo­ten, sie für mich zu über­neh­men«, sag­te Barr gleich­gül­tig.

»Er hat ei­ne Men­ge dei­ner Wa­chen über­nom­men, nicht wahr?«

»Nicht mehr als für Burt oder Crad­dock.« Barrs Stim­me zit­ter­te. »Wor­an ist er ge­stor­ben?«

»Je­mand hat ihn um­ge­bracht«, sag­te Je­li­nek lang­sam.

In der fol­gen­den Stil­le sah Je­li­nek von ei­nem zum an­de­ren.

»Wo­her weißt du das?« frag­te Barr. »Er lag schon im Ster­ben. Das war uns al­len be­kannt. Seit ei­nem Mo­nat konn­te er kein Es­sen mehr be­hal­ten.«

»Je­mand konn­te es nicht ab­war­ten. Er wur­de er­würgt.«

»W-wer?« stam­mel­te Hol­lo­way. »Wer – hat das ge­tan?«

Je­li­nek sah sie nüch­tern an. »Wol­len wir das wirk­lich er­grün­den? Wenn wir es wis­sen, wer­den wir et­was ge­gen den Tä­ter un­ter­neh­men müs­sen. Wenn wir es nicht wis­sen, kön­nen wir so wei­ter­le­ben.«

»Mit ei­nem Mör­der un­ter uns?« frag­te Mig­liar­do. »Wie sol­len wir wis­sen, ob er nicht noch ein­mal tö­tet?« Er sah von Barr zu Je­li­nek und Hol­lo­way.

»Viel­leicht weiß es der Mör­der gar nicht«, sag­te Barr. »Viel­leicht hat er es im Wahn ge­tan.«

»Das ist ein gu­ter Ein­wand«, mein­te Je­li­nek. »Viel­leicht ist ein Schi­zo­phre­ner un­ter uns mit ei­nem Tö­tungs­wahn. Mig hat recht. Wir soll­ten nach ihm su­chen. So kön­nen wir dem Mör­der viel­leicht sa­gen, wer er ist.«

»Wie sol­len wir das her­aus­brin­gen?« frag­te Hol­lo­way schwach. »Je­der von uns kann es ge­tan ha­ben. Barr – du hast im­mer we­gen sei­nes Hus­tens und Trin­kens Streit mit ihm ge­habt. Du sag­test, du wür­dest ihn um­brin­gen. Und jetzt hast du es ge­tan! Wie du es ihm ver­spro­chen hat­test.«

»Ich!« schrie Barr wü­tend. »Und du? Du hast ihn ge­haßt. Du woll­test mit Mig die Ko­je tau­schen, da­mit du nicht mehr ne­ben ihm schla­fen muß­test. Oder Mig! Dich hat er einen Falsch­spie­ler ge­nannt …«

»Wer hat nicht mit ihm oder sonst je­man­dem ge­strit­ten?« frag­te Je­li­nek mü­de. »Aber Ted hat den Mör­der ge­zeich­net. Er war doch stär­ker, als der Mör­der ge­glaubt hat­te. Un­ter sei­nen Fin­ger­nä­geln ist Haut und ein we­nig Blut. Der Mör­der muß Spu­ren an den Ar­men ha­ben, wo ihn Ted beim End­kampf kratz­te. Je­der streckt jetzt ein­mal die Ar­me aus.«

Hol­lo­way un­ter­such­te sei­ne Ar­me be­reits. Mig­liar­do eben­falls. Dann streck­te Hol­lo­way sei­ne Hän­de eif­rig vor. »Kei­ne Krat­zer! Seht ihr? Nichts.«

»Mig?«

Mit ei­nem Aus­druck der Er­leich­te­rung zeig­te Mig­liar­do sei­ne Ar­me.

»In Ord­nung. Iron?«

Barr hielt die Ar­me am Rücken ver­schränkt. »Laß mich zu­erst dei­ne se­hen.«

Je­li­nek streck­te lang­sam die Ar­me aus und dreh­te sie mit den Hand­flä­chen nach un­ten. Sie wa­ren un­ver­letzt. »Iron?«

Barr zö­ger­te. »Ich ha­be mir die Ar­me ges­tern ver­kratzt, als ich mei­nen An­zug an­zog. Je­mand hat­te wie­der dar­an her­um­ge­fum­melt. Je­mand will mich um­brin­gen! Nach dem müßt ihr su­chen.« Er spru­del­te die Wor­te her­vor. »Mich konn­te er nicht er­wi­schen, da hat er Ted ge­nom­men. Mit Ted war es ein­fach. Ted lag oh­ne­hin im Ster­ben. Ich war ihm zu zäh, al­so hol­te er sich Ted. Je­mand hat uns be­ob­ach­tet, um uns zu tö­ten, und jetzt hat er die Ge­le­gen­heit aus­genützt.«

»Iron?« wie­der­hol­te Je­li­nek ru­hig.

»Und was ist mit She­pherd?« frag­te Barr eif­rig. »Warum siehst du dir nicht sei­ne Ar­me an?«

»Ich glau­be nicht, daß wir wei­ter­su­chen müs­sen. Je­der, der sei­ne Ar­me nicht vor­zeigt, muß uns als der Schul­di­ge er­schei­nen.«

»Es ist ein Trick«, sag­te Barr plötz­lich. »Ich wet­te, daß un­ter Teds Nä­geln über­haupt kei­ne Haut ist. Das hast du nur ge­sagt, weil du ge­se­hen hast, daß ich mir ges­tern die Ar­me ver­kratz­te.« Er stieß sich ab und woll­te zu Teds Ko­je hin­über. »Du willst mir so lan­ge zu­re­den, bis ich selbst glau­be, daß ich ihn um­ge­bracht ha­be.«

»Da!« rief Mig­liar­do und deu­te­te auf Barrs Arm.

An der Au­ßen­sei­te, dicht über dem Hand­ge­lenk, lie­fen drei ro­te, senk­rech­te Spu­ren, aus de­nen wei­ße Flüs­sig­keit ent­wich.

Barr preß­te die Ar­me an den Kör­per. »Ich ha­be ihn nicht um­ge­bracht!« schrie er hys­te­risch. »Ich wür­de es wis­sen, wenn ich es ge­tan hät­te. Ich kann mich nicht dar­an er­in­nern.« Sei­ne Stim­me ging in ein hys­te­ri­sches Schluch­zen über.

»Was nun?« frag­te Mig­liar­do.

Je­li­nek hob die Au­gen­brau­en. »Ver­mut­lich müs­sen wir ihn bei­set­zen.«

»Was willst du mit der Lei­che ma­chen?« frag­te Hol­lo­way.

»Ted be­kommt ein Raum­fah­rer­grab. Mehr kön­nen wir nicht für ihn tun.«

»Da­mit er dem Schiff bis zum Mars folgt?« Hol­lo­ways Stim­me zit­ter­te. »Da­mit wir ihn je­des­mal, wenn wir hin­aus­se­hen, hin­ter uns her­schwe­ben se­hen?«

»Wenn wir ihn gut ab­sto­ßen, wird er sich so weit ent­fer­nen, daß er au­ßer Sicht bleibt«, er­klär­te Je­li­nek.

»Man müß­te ihn be­gra­ben«, mur­mel­te Hol­lo­way. »Er wird nicht ru­hen, bis er nicht be­gra­ben ist.«

Je­li­nek zuck­te mit den Schul­tern. »Wir ge­ben ihm ein Raum­fahr­er­be­gräb­nis. Er hät­te es sich so ge­wünscht. Weißt du über die Be­er­di­gungs­ze­re­mo­nie Be­scheid, Mig?«

»Ich wer­de es ver­su­chen.«

»Es­sen«, sag­te Barr schlau. »Un­se­re Vor­rä­te könn­ten knapp wer­den. Warum soll­ten wir …«

»Wenn wir je so ver­zwei­felt sein soll­ten«, sag­te Je­li­nek trau­rig, »sind wir oh­ne­hin er­le­digt. Schnall ihn von der Ko­je los und bring ihn auf das Vor­rats­deck!«

Bar stieß sich lang­sam von der Ko­je ab. »Ich? Ich will ihn nicht be­rüh­ren. Ein an­de­rer soll es tun. Ich kann nicht. Sagt es She­pherd.«

Mit kal­ter, har­ter Stim­me sag­te Mig­liar­do: »Bring ihn hier her­über, Barr, oder wir le­gen ihn dir um die Schul­tern.«

»Nein«, wim­mer­te Barr. »Nein!«

»Nimm ihn, Barr«, sag­te Hol­lo­way mit ge­preß­ter Stim­me.

Lang­sam be­weg­te sich Barr auf die Ko­je zu. Er lös­te die Gur­te zu bei­den Sei­ten so vor­sich­tig, daß er den Kör­per des To­ten nicht be­rüh­ren muß­te. Er zog an ei­ner Schlin­ge. Der Kör­per roll­te in der Luft und folg­te ihm. Plötz­lich öff­ne­ten sich die ge­schlos­se­nen Au­gen­li­der. Die blick­lo­sen Au­gen starr­ten Barr an­kla­gend an.

Barr ließ die Schlin­ge fal­len, als ha­be sie sich in sei­ne Hand ge­brannt, und schlug die Ar­me vor sein Ge­sicht. »Ted!« schrie er. »Ich war es nicht!«

Der Kör­per trieb auf Je­li­nek zu, der sich am Mit­tel­pfos­ten fest­hielt. Er er­griff den To­ten an ei­nem Arm. »Barr!«

Wie in Tran­ce dreh­te sich Barr um und stieß sich zu Je­li­nek ab. Er hielt sich am Pfos­ten fest und nahm die Gür­tel­schlau­fe in die Hand. Er schweb­te durch die Öff­nung.

Die an­de­ren folg­ten – Je­li­nek, Mig­liar­do, Hol­lo­way. Sie bil­de­ten einen Kreis um den Pfos­ten. Je­li­nek streck­te den Kör­per so aus, daß er zu ih­ren Fü­ßen lag. Die Au­gen­li­der lie­ßen sich nicht schlie­ßen.

»Was ist mit She­pherd?« frag­te Mig­liar­do.

»Er hat Wa­che«, er­wi­der­te Je­li­nek.

Mig­liar­do räus­per­te sich. »Der Mensch, aus dem Wei­be ge­bo­ren, lebt nur kur­ze Zeit, und sein Le­ben ist vol­ler Elend. Er wächst und wird nie­der­ge­mäht wie ei­ne Blu­me. Er flieht da­hin wie ein Schat­ten und bleibt nie lan­ge an ei­nem Ort …«

Sie senk­ten die Köp­fe.

Je­li­nek sah auf. »Zieh dei­nen An­zug an, Barr.«

Barr dreh­te sich me­cha­nisch um, öff­ne­te einen Spind und zog sei­nen An­zug an. Sei­ne Be­we­gun­gen wa­ren starr. Als er fer­tig war, öff­ne­te Mig­liar­do die Tür zur Luft­schleu­se.

»Bring den To­ten hin­aus«, sag­te Je­li­nek, »und gib ihm einen or­dent­li­chen Stoß.«

Barr nahm das Gür­te­len­de in die Hand und be­weg­te sich schwer­fäl­lig auf die Luft­schleu­se zu. Der To­te schau­kel­te hin und her. Je­li­nek half Barr, den Kör­per in die Luft­schleu­se zu brin­gen.

Das Zu­schla­gen der Tür hat­te et­was End­gül­ti­ges. Sie starr­ten sie einen Au­gen­blick an und schweb­ten dann ei­ner nach dem an­de­ren zu­rück auf das Wohn­deck.

Hol­lo­way ging so­fort auf ei­ne der Sicht­lu­ken zu, öff­ne­te sie und sah hin­aus. »Ich se­he nichts.«

»Was sol­len wir mit Barr ma­chen?« frag­te Mig­liar­do. »Wir kön­nen ihn nicht frei her­um­lau­fen las­sen.«

»Ra­che­durst?« frag­te Je­li­nek.

»Nur ge­sun­der Men­schen­ver­stand. Glaubst du wirk­lich, daß mit sei­nem An­zug et­was nicht in Ord­nung war?«

Je­li­nek schüt­tel­te düs­ter den Kopf. »Zu ein­fach. Und zu iro­nisch. So di­rekt ar­bei­tet die Ge­rech­tig­keit nicht. Nein, Barr war der ein­zi­ge Mann mit schi­zo­phre­ner An­la­ge. Und wir müs­sen die nächs­ten zwei Jah­re mit ihm zu­sam­men le­ben. Net­te Aus­sich­ten.«

»Kannst du nicht …« Mig­liar­do schluck­te. »Kannst du ihn nicht aus dem Weg räu­men?«

»Nein. Ich muß dar­an den­ken, daß er mein bes­ter Freund war. Er könn­te es wie­der wer­den.« Je­li­nek senk­te die Stim­me. »Barr hat Ted nicht um­ge­bracht. Es war der Raum. Wie kannst du einen Mann für et­was ver­ur­tei­len, das du selbst mit küh­lem Ver­stand in Er­wä­gung ge­zo­gen hast? Könn­test du Barr tö­ten?«

Mig­liar­do zö­ger­te. »Nein.«

»Kei­ner von uns bräch­te es fer­tig.«

»Ich se­he sie nicht«, sag­te Hol­lo­way drän­gend. »Da stimmt et­was nicht. Drau­ßen ist nie­mand.«

Die Luft­schleu­sen­tür wur­de plötz­lich zu­ge­schla­gen. Je­li­nek sah sich im Raum um, schweb­te schnell auf Barrs Schrank zu, öff­ne­te ihn und hol­te einen klei­nen Rohr­schlüs­sel her­aus.

»Leg dich in dei­ne Ko­je, Burt. Ver­steck das. Und be­nut­ze es im Not­fall.«

Hol­lo­way starr­te Je­li­nek aus schreck­ge­wei­te­ten Au­gen an und glitt dann auf sei­ne Ko­je zu. Er ver­stell­te die Rie­men, so daß er aus­ge­streckt dalag. Den Schlüs­sel schob er zwi­schen Bein und Wand.

Barr hat­te sei­nen An­zug ab­ge­streift. Er glitt am Mit­tel­pfos­ten her­auf.

»Hast du den To­ten hin­aus­ge­sto­ßen?«

»Ja.« Barrs Au­gen streif­ten die ge­öff­ne­te Sicht­lu­ke.

»Mig«, sag­te Je­li­nek ru­hig. »Sieh nach.«

Mig­liar­do sah Barr nur kurz an und ging hin­aus.

»Barr«, sag­te Je­li­nek, »was sol­len wir mit dir tun?«

Barrs mus­ku­lö­se Hän­de zuck­ten ner­vös. »Ich weiß nicht.«

»Du könn­test wie­der tö­ten.«

»Nein!« schrie Barr. »Ich wür­de es nicht tun. Ich war nur … Ich schwö­re dir, Emil, ich ha­be ihn nicht um­ge­bracht.«

»Iron«, mein­te Je­li­nek kopf­schüt­telnd, »wie sol­len wir dir glau­ben? Wie kön­nen wir dir ver­trau­en?«

Er stieß sich mit ei­ner Hand von der Mau­er ab. Er schweb­te auf Barr zu. Barr wich zu­rück. »Ver­such nichts!« sag­te er wild. »Ich war­ne dich. Ich ver­grei­fe mich. Ich – ich wer­de mit euch al­len fer­tig. Ich brin­ge dich um, Emil, wenn du mich an­rührst.« Er schob sei­ne Fäus­te vor und ließ sich ge­gen die Wand trei­ben, an der Hol­lo­ways Ko­je be­fes­tigt war.

Je­li­nek be­weg­te die Hand. Ei­ne Sprit­zen­na­del glit­zer­te.

»Du willst mich ver­gif­ten!« schrie Barr. »Ich brin­ge euch um – al­le …«

Hol­lo­way schlug den Rohr­schlüs­sel auf Barrs Hin­ter­kopf. Es war ein dump­fer, hoh­ler Schlag. Barrs Kör­per bäum­te sich ein­mal auf und schweb­te dann ru­hig in der Luft.

»Dan­ke, Burt«, sag­te Je­li­nek und zerr­te Barr auf sei­ne Ko­je. Er ver­schloß die Gur­te. Dann hol­te er Kle­be­band aus sei­nem Schrank. Er wi­ckel­te es sorg­fäl­tig um Barrs Hand­ge­len­ke und um sei­ne Ko­je. Dann stach er die Na­del in Barrs Ell­bo­gen­beu­ge.

Die Luft­schleu­sen­tür schlug zu. Ein paar Se­kun­den spä­ter kam Mig­liar­do in den Raum. Er über­blick­te die Si­tua­ti­on so­fort. Je­li­nek rieb ein Des­in­fek­ti­ons­mit­tel in die Platz­wun­de, die Barr er­lit­ten hat­te.

»Er hat Teds Lei­che zwi­schen die Ra­ke­ten­son­den ge­stopft«, be­rich­te­te Mig­liar­do. »Ich stieß ihn hin­aus. Wie ich se­he, hast du hier Ord­nung ge­schaf­fen.«

Je­li­nek sah är­ger­lich auf. »Für wie lan­ge? Mein Mor­phi­um reicht für drei­ßig Ta­ge. Was ma­chen wir dann?«

»Viel­leicht, wenn wir den Mars er­reicht ha­ben …« Mig­liar­do sprach nicht wei­ter.

»Kön­nen wir ihm dann trau­en?«

Mig­liar­do zuck­te hilf­los mit den Schul­tern. »Du bist der Arzt.«

Barrs Au­gen­li­der flat­ter­ten. »Ma­ma«, sag­te er.

Mig­liar­do schweb­te zu­rück zum Mit­tel­pfos­ten. »Ich spre­che mit She­pherd.«

Auf dem Deck war es still. Man hör­te nur die Stim­me ei­nes Kin­des, das sich im­mer wie­der be­klag­te: »Ma­ma.«

 

Als die Lich­ter auf­blitz­ten, muß­te Faust blin­zeln. »Die­se ar­men, ar­men Teu­fel«, sag­te er lei­se. Es klang wie ein Ge­bet.

Dan­ton starr­te mit lee­ren Au­gen auf den Schirm. Er hat­te die Hän­de auf dem Schoß ver­krampft. »Ich kann das nicht mehr er­tra­gen«, sag­te er hei­ser.

»Du brauchst dir kei­ne Vor­wür­fe zu ma­chen, Ar­nos«, er­klär­te Faust.

Dan­ton sah Faust aus schuld­be­wuß­ten, grau­en­er­füll­ten Au­gen an. »Ich ha­be sie hin­aus­ge­schickt, Jim. Ich ha­be ih­nen das an­ge­tan. Ich ha­be Ted um­ge­bracht. Ich ha­be Iron zum Mör­der, zum Wahn­sin­ni­gen ge­macht.«

»Ich ha­be sie aus­ge­wählt«, warf Lloyd ein.

»Nie­mand hat schuld«, mein­te Faust. »Es ist der Raum. Die Män­ner gin­gen hin­aus, weil sie nicht an­ders konn­ten. So wie du hier oben bleibst, weil du nicht an­ders kannst, Ar­nos. Neu­er­o­ber­te Ge­bie­te sind nun mal un­er­sätt­lich. Man kann sie nur zäh­men, in­dem man für sie stirbt. Die Men­schen star­ben für den Wes­ten, für die Ant­ark­tis, für die Atom­kraft, für neue Stra­ßen und Wol­ken­krat­zer. Män­ner star­ben für den Bau des Klei­nen und des Großen Ra­des. Der Raum ist gie­rig. Und die Men­schen ste­cken ihm die Köp­fe in den Ra­chen, weil sie Men­schen sind und nicht an­ders kön­nen.«

»Zu alt«, sag­te Dan­ton. Sei­ne wel­ke Hand zit­ter­te. »Ich bin zu früh alt ge­wor­den.« Er dreh­te sich um und ging hoch­auf­ge­rich­tet aus dem Raum.

»Dan­ke«, sag­te Lloyd ru­hig.

»Du glaubst, ich woll­te es ihm nur leich­ter ma­chen?«

»Ich weiß, daß du es ehr­lich ge­meint hast. Aber du hast ihm nicht al­les ge­sagt. Du hast ihm ver­heim­licht, daß wir auf­ge­ben müs­sen, falls die San­ta Ma­ria es nicht schafft.«

»Er weiß es«, sag­te Faust.

»Noch ein Film?«

»Nein«, sag­te Faust und lä­chel­te mü­de. »Wie Ar­nos kann ich heu­te nicht mehr.« Er ver­such­te sei­ner Stim­me einen for­schen Klang zu ge­ben. »Nun, viel­leicht schaf­fen sie es. Schließ­lich sind sie noch zu fünft.«

»Si­cher. Barr, Je­li­nek, Hol­lo­way, She­pherd, Mig­liar­do.«

»Jim«, sag­te Lloyd, »als das Schiff zum Mars star­te­te, wa­ren nur fünf Män­ner an Bord. Ei­ner von ih­nen ist tot.«

»Aber es sind fünf.«

»Wie sieht She­pherd aus?«

Faust sah nach­denk­lich vor sich hin. »Er hat einen Bart. Blas­ses Ge­sicht, tief­lie­gen­de Au­gen …«

»Wo­her weißt du das, Jim? Du hast ihn nie ge­se­hen.«

Faust sah ihn ver­blüfft an. »Ich muß ihn ge­se­hen ha­ben. Ich ha­be sein Bild ge­nau vor mir – er muß sich ver­steckt ge­hal­ten ha­ben. Des­halb sah man ihn wäh­rend der ers­ten Fil­me nicht. Hin­ter dem ver­sie­gel­ten In­stru­men­ten­brett …?«

»Jim«, wie­der­hol­te Lloyd. »Du hast ihn nie ge­se­hen.«

Faust rieb sich mit den Knö­cheln der Hand über die Stirn. »Du hast recht. Er war wäh­rend des gan­zen Films auf dem Steu­er­deck. Ei­ne Hal­lu­zi­na­ti­on? Oder wie er­klärst du dir die Sa­che sonst?«

Lloyd zuck­te hilf­los mit den Schul­tern. »Ich weiß, wie die Sa­che an­ge­fan­gen hat, aber die Ent­wick­lung ist mir aus den Hän­den ge­glit­ten. Da ist die­ser Si­cher­heits­fak­tor, von dem wir ih­nen er­zähl­ten. Und wir hat­ten ih­nen pos­thyp­no­tisch fol­gen­des sug­ge­riert: Wenn sie in wirk­li­cher Not wä­ren, be­kämen sie Hil­fe.«

»Barr wuß­te, daß du einen Trick ver­su­chen wür­dest.«

»Kein Trick, Jim. Es stimmt. Sie er­hal­ten Hil­fe. Aber wir dach­ten nie, daß sie die­se Form an­neh­men wür­de.« Lloyd schob das Kinn vor. »Komm, Jim, ich zei­ge dir dei­ne Ka­bi­ne.«

Er führ­te Faust über die Spei­che auf die an­de­re Sei­te des Ra­des und in die Ka­bi­ne, die er auch da­mals be­wohnt hat­te, als er zum ers­ten­mal her­auf­ge­kom­men war.

»Ar­nos hat Es­sen für dich und sich be­stellt. Er er­war­tet dich um sechs in sei­ner Ka­bi­ne. Hast du noch einen Wunsch?«

Faust schüt­tel­te den Kopf. Als Lloyd sich wie­der um­dreh­te, frag­te Faust ver­wirrt: »Wo­her weiß ich, wie She­pherd aus­sah, wenn ich ihn noch nie ge­se­hen ha­be?«

»Ich woll­te, du könn­test mir die­se Fra­ge be­ant­wor­ten«, er­wi­der­te Lloyd.

Der hei­ße, feuch­te Hy­dro­po­ni­kraum be­fand sich auf der an­de­ren Sei­te des Ra­des, ge­gen­über der Kli­ma­an­la­ge. Ein brei­ter, fla­cher Tank mit grün­li­chem Was­ser be­deck­te den größ­ten Teil des Bo­dens. Die Al­gen im Tank ab­sor­bier­ten das Koh­len­di­oxyd aus der Luft des Ra­des und pro­du­zier­ten stünd­lich ein Fünf­zig­fa­ches ih­res ei­ge­nen Vo­lu­mens an Sau­er­stoff.

Ne­ben dem großen Tank stand ein klei­ne­rer, in dem Blu­men und Ge­mü­se wuch­sen. Ein al­ter Mann küm­mer­te sich um sie – na­tür­lich alt nur in den Au­gen ei­nes Raum­fah­rers. Er war fünf­zig.

Lloyd sa­lu­tier­te. »Ge­ne­ral Ko­vac!«

Ko­vac wink­te ihm läs­sig zu. »Rühr dich, Lloyd. Ich bin jetzt nur noch der Gärt­ner. Wenn Ar­nos und ich nicht als jun­ge Of­fi­zie­re zu­sam­men ge­dient hät­ten, hät­te er es nie zu­ge­las­sen, daß ich mich auf die­sen Pos­ten zu­rück­zie­he. Du weißt das ge­nau.« Sein fal­ti­ges Ge­sicht ver­zog sich zu ei­nem Lä­cheln. »Im­mer­hin dan­ke ich dir.«

Lloyd er­wi­der­te das Lä­cheln. »Ich möch­te wis­sen, Max, ob du ein paar Blu­men für mich üb­rig hast.«

Ko­vac zog ei­ne Kis­te her­vor, die dick ge­pols­tert war. »Al­les schon ver­packt und iso­liert. Es soll­ten Gar­de­ni­en sein, sag­te Ar­nos.«

Lloyd nahm die Kis­te, sah sie an und biß sich auf die Un­ter­lip­pe. »Gar­de­ni­en. Du und Ar­nos …«

»Halt jetzt den Mund«, brumm­te Ko­vac. »Ich will kei­nen Ton mehr da­von hö­ren. Und Ar­nos auch nicht. Sag Ter­ry, sie soll nicht al­bern sein.«

»Dan­ke, Max. Ich will es ver­su­chen.«

 

Das Spiel­zim­mer war leer. Lloyd frag­te sich, wo die Jun­gen wohl wa­ren. Er riß die Iso­lier­schicht von der Kis­te ab und mach­te sie auf. Die Gar­de­ni­en wa­ren so frisch und weiß, als ha­be man sie so­eben auf der Er­de ge­pflückt. Lloyd sah sie an, hol­te tief Atem und zog die Tür zum Wohn­zim­mer auf.

Ter­ry sah auf, als er die Lei­ter her­un­ter­kam. Sie bü­gel­te ein dün­nes Kleid. Sie hat­te et­was sa­gen wol­len, doch als sie ihn sah, schwieg sie. Lloyd ließ sich den letz­ten Me­ter fal­len und kam leicht auf dem Bo­den auf.

»Für dich«, sag­te er und hielt ihr die Gar­de­ni­en hin.

Ter­ry sah die Blu­men an, und ih­re Mund­win­kel zuck­ten. Blind vor Trä­nen streck­te sie die Hand aus und nahm sie ent­ge­gen. Sie drück­te ihr Ge­sicht in die Blü­ten und at­me­te ih­ren Duft ein.

»Ach, Lloyd«, sag­te sie. »Sie sind wun­der­voll.«

»Nicht so schön wie du«, sag­te Lloyd. Sei­ne Stim­me klang hei­ser.

Ter­rys Ge­sicht hat­te sich mit ei­nem ro­ten Schim­mer über­zo­gen. »Ich weiß nicht, was ich sa­gen soll.«

»Sag nichts. Wenn ich dir je­des­mal Blu­men bräch­te, wenn ich sa­gen möch­te: ›Ich lie­be dich‹, dann könn­ten wir in den Hy­dro­po­ni­kraum über­sie­deln. Ich ha­be dich wirk­lich lieb, Ter­ry. Mehr als al­les an­de­re. Mehr als mei­nen Be­ruf. Und wenn du nach un­ten willst – kom­me ich mit.«

»Ach, Lloyd!« Sie wisch­te sich mit dem Handrücken über die Au­gen. »Ich be­neh­me mich wie ein Schaf, nicht wahr? Du weißt, daß ich dich nicht von hier fortho­len wür­de. Ich – ich will mir nur nicht so nutz­los vor­kom­men.«

»Wenn du mich al­lein läßt, kön­nen mei­net­we­gen auch die Ster­ne aus dem Raum fal­len«, sag­te Lloyd.

Sie sah ihn for­schend an. »Fast könn­te man glau­ben, daß es dir ernst ist. Ach, ich möch­te es so ger­ne glau­ben, Lloyd!« Sie leg­te die Ar­me um sei­nen Hals und schmieg­te sich eng an ihn. »Ich bin so glück­lich.«

Er konn­te ihr Herz schla­gen hö­ren, schnell und hart. Wenn ich nur nicht Psy­cho­lo­ge wä­re, dach­te er. Wenn ich nur auf­hö­ren könn­te, mich und al­le an­de­ren zu ana­ly­sie­ren, wenn ich blind­lings han­deln könn­te, an­statt im­mer den rich­ti­gen Weg zu su­chen. Nun, liebst du sie et­wa nicht? Doch. Doch!

Sie hob ihr Ge­sicht mit ge­schlos­se­nen Au­gen. Er küß­te sie hart und for­dernd. Ih­re Lip­pen wa­ren weich.

Als er sich wie­der von ihr lös­te, spru­del­te er her­vor: »Ter­ry, wir ver­bin­den die neun Woh­nun­gen mit der lee­ren. Sie soll ein Er­ho­lungs­zen­trum wer­den. Dann kannst du die an­de­ren Frau­en öf­ter tref­fen. Wir wer­den Tanz­tees, Kar­ten­aben­de, Ki­no­vor­füh­run­gen und al­les an­de­re or­ga­ni­sie­ren. Wir wer­den ei­ne ech­te Ge­mein­schafts…«

Sie leg­te ihm den Fin­ger auf die Lip­pen und mur­mel­te: »Das ist schön, Lieb­ling. Das ist wirk­lich wun­der­voll.« Er küß­te sie wie­der. Mit je­ner Ge­dan­ken­ge­mein­schaft, die sich im Lau­fe ei­ner Ehe her­aus­bil­det und die lan­ge Er­klä­run­gen un­nö­tig macht, frag­te er: »Und die Jun­gen?«

»Die schla­fen ge­ra­de«, flüs­ter­te sie und schmieg­te sich an ihn.

Er hob sie hoch und trug sie in das Schlaf­zim­mer hin­über. Sie öff­ne­te die Au­gen und flüs­ter­te: »Das Bü­gel­ei­sen, Lieb­ling.«

Flu­chend stürm­te er zu­rück, riß die Schnur mit ei­nem Ruck her­aus und rann­te zu­rück ins Schlaf­zim­mer.

Ter­ry seufz­te. Aber sie lä­chel­te da­bei.

 

Ein­hun­dert­sie­ben­und­neun­zig Ta­ge drau­ßen. Die San­ta Ma­ria schweb­te mit ih­rer le­ben­den Fracht durch den Raum. Die Er­de lag jetzt weit zu­rück. Der Mars kam merk­lich nä­her – er war jetzt schon als Schei­be er­kenn­bar.

Hol­lo­way lag in sei­ner Ko­je. Mit ei­nem her­aus­ge­ris­se­nen Stück der Pols­te­rung stütz­te er sich ge­gen den Druck der Gur­te auf, um aus der Sicht­lu­ke in den Raum zu schau­en. Er war sehr viel schma­ler. Sei­ne Au­gen brann­ten tief in dem farb­lo­sen Ge­sicht.

Barr war im­mer noch mit dem Kle­be­band an den Rah­men sei­ner Ko­je ge­fes­selt. Mig­liar­do hielt sich mit ei­nem Bein am Pfos­ten fest. Er ver­such­te, Barr klein­ge­schnit­te­nes Steak mit ei­ner Pin­zet­te ein­zu­ge­ben. End­lich hat­te Barr ein Stück zwi­schen den Zäh­nen. Er spuck­te es wie­der aus.

»Ihr wollt mich ver­gif­ten!« schrie Barr. »Ich es­se nichts. Ich wer­de kei­nen Bis­sen es­sen. Ihr wollt mich los­wer­den!«

»Iron«, sag­te Mig­liar­do ge­dul­dig und fing das Fleisch­stück wie­der aus der Luft, »du hast ge­se­hen, wie ich das Es­sen aus der Kühl­tru­he hol­te. Du hast ge­se­hen, wie ich es in den Herd schob. Du hast ge­se­hen, wie ich es her­aus­hol­te und hier­her­brach­te. Wenn du nicht ißt, mußt du si­cher ster­ben.«

Barrs Kör­per bäum­te sich auf, als er ge­gen das Kle­be­band an­kämpf­te, das ihn auf der Ko­je fest­hielt. Aber er konn­te sich nicht be­frei­en. Selbst Barr war schwach ge­wor­den. »Ich es­se nichts«, schrie er. »War­tet nur, bis ich mich be­freie, dann brin­ge ich euch al­le um – dich und Emil und Burt und Ted … Al­le au­ßer She­pherd. Er ist nett zu mir.«

Mig­liar­do seufz­te und stieß sich ab. Er warf das Es­sen in den Ab­fall­ka­nal und schweb­te zum Mit­tel­pfos­ten hin­über. Barrs Be­schimp­fun­gen ver­folg­ten ihn un­auf­hör­lich. Mig zog sich hin­auf zum Kon­troll­deck. Je­li­nek saß auf dem Stuhl des Na­vi­ga­tors. Er be­ob­ach­te­te den Mars durch das Te­le­skop.

»Emil«, sag­te Mig­liar­do.

Je­li­nek zuck­te zu­sam­men und stieß mit dem Au­ge an den Te­le­sko­pan­satz. Er dreh­te sich um und rieb sich die ver­letz­te Stel­le.

»Was machst du hier?«

Je­li­nek grins­te ver­le­gen. »Ich po­lie­re mei­ne Na­vi­ga­ti­ons­kennt­nis­se auf. Burt ist kei­ne große Hil­fe, und wenn …«

»Wenn mir et­was ge­sche­hen soll­te?« Mig­liar­do nick­te. »Kei­ne schlech­te Idee. Ich müß­te mei­ne Pi­lo­ten­aus­bil­dung ein­set­zen. Aber ein großer Pi­lot war ich noch nie. Nun, wir ha­ben noch She­pherd.«

Sie sa­hen ein­an­der ru­hig an und wäg­ten nüch­tern al­le Mög­lich­kei­ten ab. Mig­liar­dos Ge­sicht ent­spann­te sich. »Wir kom­men doch durch, was, Emil?«

»Du und ich und She­pherd.«

»Du weißt, daß ich nie ein all­zu gu­ter Ka­tho­lik war, aber in letz­ter Zeit be­te ich. Zu­sam­men mit She­pherd. Viel­leicht hilft es.«

»Viel­leicht. Aber ver­giß nicht, daß der Herr de­nen hilft, die sich selbst hel­fen. Wie se­hen die Trieb­wer­ke aus?«

»Num­mer zwei ist zer­fres­sen. Aber einen Schub oder zwei hält es noch aus.«

Barr schrie im­mer noch. Mig­liar­do hör­te ihm einen Au­gen­blick zu. »Ich weiß nicht, wie lan­ge ich das noch er­tra­gen kann, Emil«, sag­te er. »Tag und Nacht geht das so fort. Man kann ihm nicht ent­rin­nen. Schläft er denn nie?«

»Er nickt hin und wie­der ein. Wir mer­ken es nur nicht. Wenn wir nur wie Burt wä­ren. Er nimmt nichts auf.« Je­li­nek sah Mig­liar­do prü­fend an. »Er muß schwä­cher wer­den. Seit ei­ner Wo­che ißt er nichts mehr. Wenn wir ver­su­chen wür­den, ihn wie Burt in­tra­ve­nös zu er­näh­ren, wür­de er sich von sei­nen Fes­seln los­rei­ßen.«

Mig­liar­do horch­te wie­der und zuck­te zu­sam­men. »Kön­nen wir gar nichts tun?«

»Mein Mor­phi­um war vor ei­nem Mo­nat zu En­de. Und Re­ser­pin hilft nicht. Au­ßer­dem glaubt er, ich wol­le ihn ver­gif­ten.«

Mig­liar­do leck­te sich ner­vös die Lip­pen. »Es ist, als müs­se man ein klei­nes Kind ver­sor­gen. Wa­schen, Füt­tern, Bett­schüs­sel – nur daß ein klei­nes Kind nicht spre­chen kann.«

»Ich wür­de dich gern ab­lö­sen, Mig­liar­do. Du weißt es. Aber das wä­re um so schlim­mer. Er hat Angst vor mir.«

Mig­liar­do biß sich auf die Un­ter­lip­pe. »Na­tür­lich. Ent­schul­di­ge. Aber manch­mal wird es mir ein­fach zu­viel.« Er dreh­te den Kopf her­um und horch­te. »Da! Er hat auf­ge­hört.« Sein Ge­sichts­aus­druck ver­än­der­te sich. »Das ging schnell. Zu schnell. Ich wer­de nach­se­hen.«

Er glitt den Mit­tel­pfahl nach un­ten. Ein kur­z­es Schwei­gen, und dann hör­te man Mig­liar­dos ent­setz­te Schreie: »Emil! Um Him­mels wil­len, Emil!«

Das Wohn­deck war in einen ro­ten Sprüh­ne­bel gehüllt. Ro­te Trop­fen schweb­ten in der Luft. Aus Barrs Hals­schlag­ader drang im­mer noch stoß­wei­se das Blut.

Je­li­nek hielt sich am Ko­jen­rand fest und preß­te die Hand ge­gen den brei­ten Schnitt in Barrs Keh­le. Aber das Blut ström­te be­reits lang­sa­mer. Es hör­te ganz auf, als Je­li­nek nach der Schlag­ader tas­te­te. Barr war tot.

Sei­ne Au­gen stan­den of­fen. In ih­nen war ein Ge­misch aus Haß und Angst zu le­sen. Die Schrank­tür über sei­nem Kopf war of­fen. Sein rech­ter Arm war frei. In der Hand hat­te er ein ra­sier­klin­gen­schar­fes Klapp­mes­ser.

Mig­liar­do, der sich ne­ben Je­li­nek an der Ko­je fest­hielt, war lei­chen­blaß.

»Es ist al­les vor­bei, Mig«, sag­te Je­li­nek ru­hig. »Mach lie­ber sau­ber.«

Mig­liar­do sag­te lang­sam: »Ich hät­te nie ge­dacht, daß in ei­nem Men­schen so viel Blut ist.«

Je­li­nek schob ihn zur Du­sche hin­über. »Los, wasch dich. Und steck dei­ne Shorts in den Ab­fall.« Als er das Zi­schen des Was­sers in der Ka­bi­ne hör­te, schweb­te Je­li­nek zu sei­nem Schrank hin­über und hol­te ein Hand­tuch her­aus. Lang­sam wisch­te er sich das Blut von der Hand. »Hast du et­was ge­se­hen, Burt?«

Hol­lo­way starr­te aus der Lu­ke. »Nein«, sag­te er geis­tes­ab­we­send. »Ich ha­be nichts ge­se­hen. Nur die Ster­ne. Die Er­de ist zu weit weg. Ich glau­be nicht, daß wir sie je er­rei­chen. Die Er­de ist nur ein Traum, den ich ei­nes Nachts ge­träumt ha­be. Es gibt kei­ne Er­de. Oder ich bin ein Traum, den je­mand an­ders träumt. Dann wä­re es gleich­gül­tig. Träu­me sind gleich­gül­tig.« Sei­ne Stim­me wur­de lei­ser.

Der ro­te Ne­bel war ver­schwun­den, auf­ge­saugt von den Kli­ma­ge­blä­sen, aber noch schweb­ten vie­le ro­te Trop­fen ziel­los in der Luft. Me­tho­disch zer­stäub­te Je­li­nek sie mit sei­nem Hand­tuch. Als nur noch win­zi­ge Trop­fen zu se­hen wa­ren, die die Kli­ma­an­la­ge auf­sau­gen konn­te, leg­te Je­li­nek das Hand­tuch Barr um den Hals und schloß die star­ren Au­gen.

Mig­liar­do kam aus der Dusch­ka­bi­ne. Er war to­ten­blaß. Ei­ne be­drücken­de Stil­le lag über dem Raum, als er zu sei­nem Spind hin­über­schweb­te, um sich neue Shorts zu ho­len.

»Barr hat es jetzt gut«, sag­te Je­li­nek. »Er war un­heil­bar krank, und es hät­te ihm nichts ge­hol­fen, wenn wir ihn wie­der auf die Er­de zu­rück­ge­bracht hät­ten. Schaf­fen wir ihn auf das Vor­rats­deck.«

Sie zo­gen den To­ten zum Mit­tel­pfos­ten und von dort zum Vor­rats­deck, das der Luft­schleu­se am nächs­ten war.

»She­pherd«, frag­te Je­li­nek.

Da stan­den sie mit ge­senk­ten Köp­fen ne­ben­ein­an­der, Je­li­nek und Mig­liar­do. Nach ei­ni­ger Zeit blick­ten sie auf. Der rast­lo­se Barr hat­te nun doch sei­nen Frie­den. »Dan­ke, She­pherd«, sag­te Je­li­nek. »Mig?«

Mig­liar­do nick­te schwei­gend und zog sei­nen Raum­an­zug an.

»Wenn du zu­rück­kommst, mach zu­sam­men mit She­pherd Ord­nung. Steck die Ko­jen­de­cke in den Ab­fall. Ich ge­he wie­der auf mei­nen Pos­ten.«

Wie­der nick­te Mig­liar­do. Er streif­te den Helm über. Je­li­nek zog ihm die Flü­gel­schrau­ben fest und ließ sich dann aufs Kon­troll­deck glei­ten. Als er am Wohn­deck vor­bei­trieb, warf er einen lan­gen Blick hin­ein und run­zel­te die Stirn. Dann schweb­te er wei­ter nach oben.

 

Oh­ne das Licht an­zu­schal­ten, sag­te Lloyd zu den bei­den Män­nern, de­ren Köp­fe er vor sich sah: »Der Film des zwei­hun­dert­sech­zigs­ten Tags ist so­eben ent­wi­ckelt wor­den. Sol­len wir ihn ab­spu­len?«

»Ja«, sag­te Dan­ton hei­ser. »Dann schwe­ben wir nicht mehr im Un­ge­wis­sen.«

»Laß ihn ab­lau­fen«, mein­te auch Faust.

Die Lein­wand strahl­te hell auf.

 

Zwei­hun­dert­sech­zig Ta­ge drau­ßen. Vor der San­ta Ma­ria lag der Mars – ei­ne große Schei­be, die in ro­ten, wei­ßen und grü­nen Far­ben auf­glüh­te. Sie war noch acht­tau­send­fünf­hun­dert Mei­len ent­fernt. Man konn­te deut­lich die Kanä­le se­hen, na­tür­li­che Ein­brü­che der Mar­s­krus­te, durch die vom Süd­pol her die Ne­bel wall­ten. Die Ober­flä­che schi­en sich im­mer schnel­ler zu dre­hen.

In vierund­sech­zig Mi­nu­ten soll­te die Zün­dung ein­set­zen.

Mig­liar­do saß in den Tisch­sch­lin­gen und las in ei­nem schwar­zen Le­der­band. Es war die Bi­bel.

Je­li­nek schweb­te ne­ben Hol­lo­ways Ko­je. Die Au­gen des Na­vi­ga­tors wa­ren ge­schlos­sen. Sei­ne Brust hob und senk­te sich kaum. Je­li­nek hielt sein Hand­ge­lenk und zähl­te lei­se. Schließ­lich nick­te er schwei­gend und sah auf die Uhr. »Zwei­und­sech­zig Mi­nu­ten bis zur Zün­dung, Mig. Wir ma­chen uns bes­ser fer­tig.«

Mig­liar­do sah nicht auf. »She­pherd macht das schon.«

»Mig …«, sag­te Je­li­nek zö­gernd. »Ich bin das Bord­buch durch­ge­gan­gen, Mig. Vor dem hun­dertzwölf­ten Tag fin­de ich nir­gends ei­ne Er­wäh­nung von She­pherd.«

Mig­liar­do zuck­te mit den Schul­tern. »Du wirst einen Feh­ler ge­macht ha­ben.«

»Nein. Ich war über­rascht. Ich ha­be zwei­mal nach­ge­se­hen, Mig. Wie sieht She­pherd ei­gent­lich aus?«

Mig­liar­do las wei­ter. »Das weißt du doch. Er hat einen Bart. Trau­ri­ge, tief­lie­gen­de Au­gen …«

»Ei­ne Art Hand­tuch um die Hüf­ten ge­schlun­gen?«

»Aber nein«, er­wi­der­te Mig­liar­do. »Er trägt Kha­kis­horts wie wir.«

Je­li­nek seufz­te und ließ sich auf Mig­liar­do zu­trei­ben. »Na­tür­lich. Es ist er­staun­lich, daß er für uns bei­de gleich aus­sieht.«

»Wes­halb? Er sieht nun mal so aus.«

Je­li­nek hielt sich am Tisch­rand fest und beug­te sich dicht zu Mig­liar­do her­un­ter. »Weil es ihn über­haupt nicht gibt, Mig.«

Mit ei­nem Ruck hob Mig­liar­do den Kopf. »Sag das nicht, Emil! Wir sind oh­ne­hin schon ängst­lich ge­nug. Wer­de du nicht auch noch ver­rückt!«

»Denk zu­rück, Mig«, sag­te Je­li­nek sanft. »Ganz weit zu­rück. Zu­rück bis zu dem Au­gen­blick, in dem wir vom Klei­nen Rad aus un­ser Schiff be­stie­gen. Phil­lips hat­te uns Le­be­wohl ge­sagt und Dan­ton eben­falls. Wir wa­ren al­lein, das Ta­xi hat­te uns zur San­ta Ma­ria ge­bracht, und nun sa­hen wir uns in den Räu­men um, die zwei­ein­halb Jah­re lang un­se­re Hei­mat sein soll­ten. Wer war da­bei, Mig?«

Mig­liar­do leg­te die Stirn in Fal­ten. »Du und ich und Burt und Ted und Iron – und …« Er sah Je­li­nek aus sei­nen großen, dunklen Au­gen an. »She­pherd war nicht bei uns.«

»Wann kam er, Mig?«

»Wie konn­te er auf das Schiff ge­lan­gen, nach­dem es ge­st­ar­tet war, Emil! Er war nicht da­bei, und jetzt ist er hier. Mehr weiß ich auch nicht.«

»Be­ant­wor­te mir ei­ne Fra­ge, Mig. Wer ist She­pherd?«

»Ich weiß es nicht. Und du?«

»Ich ha­be noch et­was nach­ge­prüft, Mig. Die Vor­rä­te. Nur wir zwei ha­ben ge­ges­sen, Mig. Mit Burt ha­ben drei ge­trun­ken und ge­at­met. She­pherd ißt nicht und trinkt nicht und at­met auch nicht.

Wie soll ich ihn nen­nen? Ei­ne Mas­sen­hal­lu­zi­na­ti­on, wenn es so et­was über­haupt gibt. Die Ge­stalt­wer­dung ei­nes tief­ver­wur­zel­ten Dran­ges, aus­ge­löst von ge­wis­sen In­struk­tio­nen, die man uns gab, viel­leicht so­gar durch pos­thyp­no­ti­sche Sug­ge­rie­rung. Aber ich glau­be nicht, daß es so ge­plant war.«

»Du sprichst wie ein He­xen­meis­ter, Emil.«

Je­li­nek nick­te. »Ge­wiß. So muß es dir er­schei­nen. Aber un­ser Un­ter­be­wußt­sein spielt uns nun mal selt­sa­me Strei­che. Und jetzt be­ant­wor­te mei­ne Fra­ge.«

»Es stimmt nicht, daß er erst am hun­dertzwölf­ten Ta­ge auf­tauch­te. Er­in­nerst du dich noch an das Ge­sicht, das Burt sah? Und an den Mann im Vor­rats­raum, von dem Ted er­zähl­te?«

»Das wür­de ihn zu et­was ma­chen – das mit ei­nem Men­schen nichts ge­mein hat.«

»Ein Mensch ist er auf kei­nen Fall. Ha­ben wir denn ei­ne Ah­nung, was den Men­schen im in­ter­pla­ne­ta­ri­schen Raum er­war­tet?«

»Das war kei­ne sehr gu­te Ant­wort, Mig.«

»Mei­ne bes­te Ant­wort ist der Glau­be, Emil. Warum nen­nen wir ihn She­pherd – den Hir­ten? Hat er uns sei­nen Na­men ge­sagt? Hat ei­ner von uns ihn so ge­tauft? Oder war es et­was, das uns ein­fach so zu­kam?«

»Sag du es mir.«

Mig­liar­do zi­tier­te lei­se: »Der Herr sei mein Hir­te. Ich wer­de nicht Not lei­den. Er be­rei­tet mein La­ger auf grü­ner Wei­de, er ge­lei­tet mich zu den stil­len Was­sern. Er er­quickt mei­ne See­le. In sei­nem Na­men führt er mich die We­ge der Recht­schaf­fen­heit. Ja, ob­wohl ich durch das Tal der Schat­ten wand­le, fürch­te ich das Bö­se nicht.«

»Das war ei­ne gu­te Ant­wort, Mig«, sag­te Je­li­nek lang­sam. »Viel­leicht bes­ser als mei­ne. Sie hat al­le An­zei­chen von psy­cho­lo­gi­scher Wahr­heit und Be­rüh­rungs­stel­len mit der Er­fah­rung – die stil­len Ge­wäs­ser und das dunkle Tal des To­des. Ich woll­te nur, ich wä­re nicht so ein Skep­ti­ker. Ich wür­de gern mit dir und She­pherd be­ten. Das Schlim­me ist nur – in den letz­ten Ta­gen ha­be ich She­pherd nicht mehr ge­se­hen.«

»Emil …«, be­gann Mig­liar­do. »Ich möch­te dir schon lan­ge et­was sa­gen.«

»Ei­ne Beich­te?« frag­te Je­li­nek sanft.

»In mehr als ei­ner Hin­sicht. Ich ha­be Barr um­ge­bracht.«

»Ich weiß. Das Kle­be­band, das ihn fes­sel­te, war durch­ge­schnit­ten und nicht zer­ris­sen. Wie soll­te er es durch­schnei­den, wenn er kein Mes­ser hat­te, und wie soll­te er sich ein Mes­ser be­schaf­fen, wenn er ge­fes­selt war? Au­ßer­dem hät­te Barr nie Selbst­mord be­gan­gen. Eher hät­te er auch die an­de­ren Fes­seln durch­ge­schnit­ten und wä­re über uns her­ge­fal­len.«

Mig­liar­do leg­te sich die Hand über die Au­gen. »Er war mein Freund.«

»Du hast ihm einen Freun­des­dienst er­wie­sen – und wenn er noch nor­mal ge­nug ge­we­sen wä­re, sei­ne Freun­de zu er­ken­nen, hät­te er es von dir ver­langt. Kei­ner un­ter uns ist oh­ne Schuld, Mig.« Je­li­nek sah auf die Uhr. »Noch fünf­und­zwan­zig Mi­nu­ten bis zur Zün­dung.«

Ein be­sorg­ter Aus­druck trat in Mig­liar­dos Ge­sicht. »Wenn She­pherd nicht wirk­lich ist, dann kön­nen wir nicht …« Er dreh­te sich zu Je­li­nek um. »Er ist doch da, Emil, nicht wahr? Er ist auf dem Steu­er­deck.«

Je­li­nek run­zel­te die Stirn. »Ich weiß nicht. In letz­ter Zeit ha­be ich ihn nicht mehr ge­se­hen.«

Mig­liar­do be­frei­te sei­ne Bei­ne schon aus den Schlin­gen. Er glitt has­tig den Mit­tel­pfos­ten ent­lang und streck­te sei­nen Kopf durch die Öff­nung auf das Kon­troll­deck.

»She­pherd! Emil, er ist fort!« Mig kam wie­der nach un­ten und such­te mit dunklen, er­schreck­ten Au­gen das Wohn­deck ab. »She­pherd! She­pherd!«

Er schweb­te nach un­ten ins Vor­rats­deck. »She­pherd?« Und im­mer wie­der, völ­lig ver­zwei­felt: »She­pherd?«

Plötz­lich zuck­te Je­li­nek zu­sam­men. »Mig!« Er jag­te auf den Mit­tel­pfos­ten zu.

»She­pherd!« rief Mig­liar­do noch ein­mal, und dann schlug die Luft­schleu­sen­tür zu. Be­vor Je­li­nek die Tür er­rei­chen konn­te, hör­te er das Zi­schen der ent­wei­chen­den Luft.

Je­li­nek dreh­te sich um. Er preß­te die Lip­pen zu­sam­men. Dann ging er auf die Spin­de zu. Mig­liar­dos Raum­an­zug hing im Schrank. Auch die An­zü­ge der an­de­ren vier wa­ren da. Je­li­nek warf einen Blick auf die Luft­schleu­sen­tür und sag­te lei­se: »Leb­wohl, Mig. Hof­fent­lich fin­dest du ihn.«

Mü­de schlepp­te er sich zu­rück aufs Wohn­deck. Ei­ne große Stil­le war im Schiff, ei­ne un­er­träg­li­che Stil­le. Je­li­nek sah auf die Uhr. Zwan­zig Mi­nu­ten bis zur Zün­dung. Er warf einen Blick auf Hol­lo­way. Die Brust des Kran­ken be­weg­te sich kaum.

»Die Stil­le«, mur­mel­te er. »Das ist das Al­ler­schlimms­te.«

Er schweb­te zu Hol­lo­way hin­über und fühl­te noch ein­mal sei­nen Puls. Er run­zel­te die Stirn, ging zu ei­nem Wand­schrank hin­über und hol­te das En­de ei­nes Plas­tik­schlauchs her­aus. Es war mit ei­ner Na­del aus­ge­rüs­tet. Je­li­nek such­te nach der Ve­ne in Hol­lo­ways Arm, stach die Na­del ein und setz­te den klei­nen Mo­tor in Be­we­gung, der die Zucker­lö­sung Trop­fen um Trop­fen in Hol­lo­ways Ve­ne zwang.

Je­li­nek schweb­te auf sei­nen Spind zu, öff­ne­te ihn und nahm die Sprit­ze her­aus, die be­reits mit ei­ner was­ser­kla­ren Flüs­sig­keit ge­füllt war. Er be­trach­te­te sie einen Au­gen­blick, sah auf Hol­lo­way, sah auf die Uhr. Noch fünf­zehn Mi­nu­ten bis zur Zün­dung.

Er schob die Sprit­ze zu­rück in den Schrank und schlug die Tür zu. Dann zog er sich schnell zum Kon­troll­deck hoch, setz­te sich in den Pi­lo­ten­sitz und schnall­te sich an. Sei­ne Au­gen über­flo­gen die Haupt­kon­trol­len, wäh­rend die Fin­ger su­chend über den Tas­ten und Knöp­fen schweb­ten. Noch zehn Mi­nu­ten. Zu we­nig Zeit.

Plötz­lich hör­te er das mah­len­de Ge­räusch von Pum­pen und das Zi­schen von Was­ser. Je­li­nek sah auf sei­ne Fin­ger. Sie hat­ten das In­stru­men­ten­brett noch nicht be­rührt.

Ir­gend­wo im Schiff­sin­nern er­folg­te ei­ne Rei­he klei­ner Ex­plo­sio­nen – sie er­in­ner­ten an das Ge­räusch von Knall­fröschen, die am vier­ten Ju­li los­ge­las­sen wer­den. Je­li­nek horch­te. Ir­gend­wo summ­ten Mo­to­ren auf. Schwungrä­der dreh­ten sich. Lang­sam ver­schwand der Mars von der Astro­kup­pel, als sich das Schiff dreh­te. Je­li­nek sah durch ei­ne seit­li­che Lu­ke, wie ein rie­si­ger, wei­ßer Glo­bus lang­sam weg­schweb­te. Ein lee­rer Treib­stofftank.

Je­li­nek lä­chel­te plötz­lich und nahm sei­ne Hand vom In­stru­men­ten­brett. »Ah, da bist du ja, She­pherd.«

Der Mars er­schi­en in der Sicht­lu­ke ne­ben Hol­lo­ways Ko­je – ei­ne ro­tie­ren­de, ro­te, grü­ne, wei­ße Ku­gel.

Hol­lo­way rich­te­te sich plötz­lich auf und deu­te­te mit dem Fin­ger nach drau­ßen. Sei­ne Au­gen wa­ren weit ge­öff­net, und vom Arm pen­del­te der Schlauch. »Die Er­de!« rief er. Sei­ne Au­gen­li­der flat­ter­ten. Die Au­gäp­fel roll­ten nach hin­ten. Lang­sam, un­ter dem Druck der Gur­te, sank er zu­rück auf die Ko­je. Als er wie­der aus­ge­streckt dalag, be­weg­te sich sei­ne Brust nicht mehr.

»Burt?« rief Je­li­nek vom Kon­troll­deck. Er rief kein zwei­tes­mal. Der Laut­spre­cher, der ne­ben Hol­lo­ways Ko­je im Bett­pfos­ten un­ter­ge­bracht war, blieb still. »Du warst kein schlech­ter Na­vi­ga­tor, Burt. Auch Ko­lum­bus wuß­te nicht, daß er Neu­land be­trat.«

Er sah sich im Raum um, er sah, wie die Lich­ter blink­ten und in an­de­re Far­ben über­wech­sel­ten, er sah, wie die Wähl­schei­ben sich dreh­ten und die Schiffs Sil­hou­et­te am künst­li­chen Ho­ri­zont all­mäh­lich ver­än­dert wur­de. Das Kon­troll­deck war zum Le­ben er­wacht …

Er hör­te den Ge­räuschen zu, dem Kli­cken der He­bel und dem Ti­cken der Uhr­wer­ke, all den mah­len­den, heu­len­den und knar­ren­den Ge­räuschen. Er roch die­ses Ge­misch aus Schweiß und ver­brauch­ten! Atem, als wür­de er es zum ers­ten­mal in sei­nem Le­ben rie­chen. Und es war ein be­se­li­gen­der Ge­ruch. Sei­ne Fin­ger glit­ten über die Stuhl­leh­ne.

Dann sah er das In­stru­men­ten­brett und drück­te auf einen Knopf. »Kli­ma­an­la­ge – AUS«, stand dar­auf. Ei­nes der Ge­räusche – ein Flüs­tern – ver­stumm­te. Wie­der drück­te er auf einen Knopf. »Luft – AUS.« Ei­ne ro­te Lam­pe leuch­te­te auf – ein Zi­schen.

»Lloyd«, sag­te Je­li­nek lei­se, »ver­mut­lich siehst du mir jetzt zu. Du hast es mir nie ge­sagt, aber ich dach­te mir, daß es so kom­men müß­te. Hof­fent­lich hast du et­was ge­lernt.« Er lach­te, und es war ein glück­li­ches La­chen. »Viel­leicht suchst du das nächs­te­mal einen bes­se­ren Psy­cho­lo­gen aus.«

Sei­ne Stim­me ver­än­der­te sich und wur­de nüch­tern. »Es tut mir leid, Lloyd. Ich konn­te es nicht er­tra­gen. Die Ein­sam­keit und das Schwei­gen. Ich glau­be, das Schwei­gen war das Schlimms­te.

Sag Ar­nos – die Mann­schaft war ein Fehl­schlag – aber das Schiff ein Er­folg. Und sag ihm – daß hier drau­ßen – ein gutes Schiff – mit Treib­stoff und Vor­rä­ten – war­tet, wenn es – je – ei­ner schafft …«

Nach ei­ner Wei­le ver­stumm­te das zi­schen­de Ge­räusch. Die Luft war ver­strömt. Am Kon­troll­deck starr­ten zwei blin­de Au­gen auf die krei­sen­den Ster­ne, und zwei tau­be Oh­ren horch­ten auf das Krei­schen der Ra­ke­ten­trieb­wer­ke.

 

Das Schwei­gen in dem klei­nen Raum war fast so un­er­träg­lich wie das auf der San­ta Ma­ria. Lloyd hat­te ver­ges­sen, das Licht an­zu­dre­hen. Nie­mand merk­te es. Nie­mand sag­te et­was. Als Lloyd es schließ­lich nach­hol­te, klam­mer­te Dan­ton im­mer noch die Hän­de um die Stuhl­leh­ne, so daß die Knö­chel weiß her­vor­tra­ten. Oh­ne Scham ließ er die Trä­nen über sei­ne Wan­gen lau­fen.

Faust be­deck­te die Au­gen mit der Hand. »Ich muß mich al­so auf das Schlimms­te vor­be­rei­ten«, sag­te er schließ­lich. »Es ist nur noch we­nig Zeit üb­rig.«

Lloyd kam sei­ne ei­ge­ne Stim­me fremd vor. Auch sei­ne Au­gen wa­ren feucht. »Was könn­test du in zwei Jah­ren an­fan­gen?«

Faust sah schnell auf. »Wo­her neh­me ich zwei Jah­re?«

»Das Schiff wird erst um die­se Zeit zu­rück­er­war­tet.«

»Und wie willst du die Leu­te so lan­ge be­ru­hi­gen?«

Lloyd sag­te be­däch­tig: »Die San­ta Ma­ria be­fin­det sich auf ei­ner Kreis­bahn um den Mars. Sie wird Be­rich­te von der te­le­sko­pi­schen Un­ter­su­chung des Bo­dens und von den Ra­ke­ten­son­den zu­rück­sen­den. Ei­ni­ge Ra­ke­ten sind so­gar da­zu be­stimmt, auf dem Mars zu lan­den, in be­schränk­tem Um­kreis geo­lo­gi­sche Un­ter­su­chun­gen an­zu­stel­len, die Pro­ben zu ana­ly­sie­ren und die Aus­wer­tun­gen zu uns zu si­gna­li­sie­ren.

Das war un­ser Si­cher­heits­fak­tor – daß das Schiff, ab­ge­se­hen von be­son­de­ren Not­fäl­len wie dem Me­teor­ein­schlag, al­lein die Rei­se ma­chen konn­te. Im Un­ter­be­wußt­sein er­kann­ten die Män­ner das. Sie per­so­ni­fi­zier­ten das Schiff und nann­ten es She­pherd. Es hat nicht ge­nügt …«

Lloyd hielt ein, fuhr aber nach kur­z­er Zeit wie­der fort: »Die Be­rich­te des Schif­fes kön­nen wir von Zeit zu Zeit ver­öf­fent­li­chen. Und was die Mann­schaft be­trifft, so müs­sen wir nicht un­be­dingt Be­scheid wis­sen. Wenn wir noch mehr Zeit brau­chen, kön­nen wir ver­kün­den, daß das Schiff die nächs­te güns­ti­ge Ge­le­gen­heit zur Rück­fahrt ab­war­tet.«

»Zu vie­le Leu­te wis­sen Be­scheid. Man könn­te es nicht ge­heim­hal­ten.«

Lloyd seufz­te. »Wir sind dar­an ge­wöhnt, Ge­heim­nis­se für uns zu be­hal­ten, nicht wahr, Ar­nos? Die Män­ner, die die Fil­me aus­wer­ten, blei­ben hier oben, bis wir die In­for­ma­tio­nen ver­öf­fent­li­chen kön­nen. Sie ha­ben noch jah­re­lan­ge Ar­beit vor sich.«

»Viel­leicht könn­te es so ge­hen«, gab Faust zu. »Aber wes­halb? Glaubst du, daß du ei­ne bes­se­re Mann­schaft zu­sam­men­stel­len kannst – ei­ne, der das ge­lingt, was der an­de­ren ver­sagt blieb?«

Dan­tons Stim­me war kalt und hart. »Es war die bes­te Mann­schaft.«

»Wo­her willst du dann die Raum­fah­rer neh­men?« frag­te Faust sanft.

»Wir schi­cken kei­ne Leu­te mehr hin­aus«, sag­te Dan­ton hef­tig. »Dreh den Film der San­ta Ma­ria noch ein­mal auf.« Das Bild des Schif­fes er­schi­en auf der Lein­wand, sil­be­rig und zer­brech­lich. »Da hast du dei­nen Raum­fah­rer. Un­ser bes­ter Mann – al­les brauch­ba­res Zeug. Kei­ne Neu­ro­sen, kei­ne Bauch­schmer­zen, kei­ne Schwä­chen, kein Zö­gern bei Ent­schei­dun­gen, kein Raum-Wahn­sinn. Es braucht kei­nen Sau­er­stoff, kei­ne Nah­rung, kein Was­ser, kei­ne Me­di­ka­men­te, kei­ne Un­ter­hal­tung, und was wir sonst noch ha­ben müs­sen, um über­le­ben zu kön­nen. Nur Ser­vo­me­cha­nis­men und Meß­ein­rich­tun­gen. Ro­bo­ter. Das ist dein Raum­fah­rer. Er kann über­all­hin rei­sen, al­les aus­fin­dig ma­chen, fast al­les al­lein tun. Und nie braucht er sich Sor­gen um sei­ne Rück­kehr zu ma­chen …«

Faust schüt­tel­te den Kopf.

»Nein, Ar­nos«, sag­te Lloyd. »Das ge­nügt nicht. Als For­schungs­werk­zeug schon, aber nicht als Sym­bol. Die Ver­tre­ter der Mensch­heit müs­sen le­ben und at­men, wenn sie ih­ren Sinn er­fül­len sol­len. Es müs­sen Men­schen sein, da­mit al­le auf der Er­de Zu­rück­ge­blie­be­nen sa­gen kön­nen: ›Das hät­te ich auch fer­tig­ge­bracht, wenn man mir die Chan­ce ge­ge­ben hät­te.‹ Sie möch­ten sich im Ab­glanz des Ruh­mes son­nen, den die Raum­fah­rer ern­ten. Das hast du mir ein­mal er­klärt, Ar­nos. Weißt du noch? Ich ha­be es nie ver­ges­sen.«

»Wie lan­ge wirst du brau­chen?« frag­te Faust lang­sam.

»Acht Jah­re viel­leicht, sa­gen wir zur Si­cher­heit zehn Jah­re.«

»Das ist ei­ne lan­ge Zeit.«

»Der Mars wird war­ten.«

»Und wo­her willst du sie neh­men?« frag­te Faust. »Die­se Raum­fah­rer?«

Lloyd wuß­te, daß ihm die nächs­ten zehn Jah­re ge­währt wor­den wa­ren. »Wenn sie sich nicht so fin­den, müs­sen wir sie uns selbst her­an­zie­hen.«

 

In der Luft­schleu­se sei­nes Heims schäl­te sich Lloyd aus dem Raum­an­zug, nahm die iso­lier­te Kis­te in die Hand und öff­ne­te die in­ne­re Tür. Zwei quir­li­ge Bün­del des Über­muts schos­sen ihm ent­ge­gen, Plas­tik­hel­me auf den braun­ge­brann­ten Ge­sich­tern, Strah­ler in der Hand. Sie be­grüß­ten ihn laut­stark. »Dad­dy, du bist heu­te so früh zu Hau­se. Spiel mit uns Raum­fah­rer. Los, Dad­dy!«

»Hal­lo!« sag­te Lloyd weich. »Hal­lo, Raum­fah­rer!«