SECHS
Der Sonnabend oder Samstag, wie man in Hannover zu sagen pflegte, unterschied sich in seiner Ruhe deutlich von den übrigen Werktagen der Woche. Hinter den Bürotüren war es still, keine hastigen Schritte eilten über den Flur, nirgendwo war das schrille Geräusch eines Telefons zu hören.
Frauke hatte nach der Rückkehr von Thomas Tuchtenhagen ihr Hotel aufgesucht. Nachdem sie lange wach gelegen hatte, war sie in einen unruhigen Schlaf verfallen. Bereits um sechs Uhr konnte sie keine Ruhe mehr finden, war aufgestanden und ins LKA gefahren.
Sie studierte noch einmal die Protokolle. Immer wieder las sie die Schriftstücke durch. Sie hatte sich Kopien angefertigt und fügte in die Dokumente ihre eigenen Gedanken ein. Sie markierte Stellen, unterstrich andere Passagen in einer zweiten Farbe, leuchtete einzelne Sätze an und machte Frage- und Ausrufezeichen am Rand.
So arbeitete sie viele Schriftstücke mehrfach durch. Sie ertappte sich dabei, dass sie, sicher auch durch den unzureichenden Schlaf bedingt, Passagen überlas. Es war jene Nachlässigkeit, die einem automatisch bei mehrfachem Lesen eines Schriftsatzes überkommt. Man glaubt, den Text zu kennen, und huscht darüber hinweg. Gerade das wollte sie jedoch nicht. Sie suchte nach kleinen Ungereimtheiten, nach dem Haken, den sie bisher übersehen hatten.
Das neue Material, das sie entdeckt hatte, war so umfangreich, dass sie es damit bewenden ließ, die dicken Akten zu überfliegen. Das reichte, um ihr ein Bild zu vermitteln.
Nach vier Stunden konzentrierter Arbeit fasste sie ihre Erkenntnisse stichwortartig zusammen. Dann versuchte sie, die Nummer des privaten Anschlusses von Kriminaloberrat Ehlers herauszufinden.
Im örtlichen Telefonbuch von Hannover fanden sich fast neunzig Ehlers, darunter aber nur ein Michael und ein M. Ehlers. Außerdem war sie sich nicht sicher, ob der Kriminaloberrat überhaupt in der Stadt wohnte oder nicht in einem der vielen Orte in der Peripherie.
Sie rief deshalb Madsack an. Der Hauptkommissar meldete sich sofort, als hätte er am Telefon gesessen und auf einen Anruf gewartet.
»Ich brauche die Privatnummer von Herrn Ehlers.«
»Er mag es nicht, wenn damit ein schwunghafter Handel betrieben wird«, gab Madsack zu bedenken.
»Es wäre aber wichtig. Ich bin auf etwas gestoßen, das keinen Aufschub bis Montag duldet.«
»Wollen Sie sich nicht zuvor mit Bernd Richter abstimmen?«, schlug Madsack vor. »Ach, lassen Sie. Mit dem kommen Sie ohnehin nicht zurecht«, schob er aber gleich hinterher und nannte Frauke eine Rufnummer.
»Bis Montag«, verabschiedete sich Madsack.
»Das glaube ich nicht«, sagte Frauke, nachdem sie aufgelegt hatte. Dann wählte sie Ehlers’ Nummer. Es dauerte ewig, bis sich eine verschlafene Frauenstimme meldete.
»Jaaa!!?«
»Frau Ehlers?«
»Was wollen Sie?«, antwortete die Frau und konnte ein Gähnen nicht unterdrücken.
»Dobermann. LKA Hannover. Ich hätte gern Ihren Mann gesprochen.«
»Er ist nicht mein Mann«, sagte die Frau unwirsch. Dann hörte Frauke, wie sie in den Hintergrund rief: »Michi, da will eine was von dir.«
»Wer denn?«, meldete sich Ehlers aus der Tiefe des Raumes.
»Keine Ahnung. Irgendeine Tante. Sagt, sie wär vom LKA.«
Kurz darauf hörte Frauke die vertraute Stimme des Kriminaloberrats.
»Entschuldigen Sie, dass ich am Wochenende störe. Aber ich bin auf etwas gestoßen, das keinen Aufschub bis Montag duldet. Und allein kann ich das Problem nicht lösen. Dazu ist das ganze Team erforderlich. Und Sie.«
Ehlers fragte nicht nach.
»Ist in Ordnung«, sagte er. »In einer Stunde auf der Dienststelle. Reicht das?«
Frauke stimmte zu.
»Ich benachrichtige die Kollegen«, sagte der Kriminaloberrat.
Bei Frauke meldete sich der leere Magen. Sie hatte ihr Hotel in aller Frühe verlassen, als es noch kein Frühstück gegeben hatte. Das wollte sie jetzt nachholen und sich ein paar belegte Brötchen und einen »Coffee to go«, wie es im Neudeutschen seit einiger Zeit hieß, im nahen Hauptbahnhof besorgen. Sie würde rechtzeitig wieder zurück sein.
Nacheinander trafen die Mitglieder der Ermittlungsgruppe ein. Nathan Madsack war der Erste. Er trug eine beigefarbene Stoffhose; ein zartblaues Hemd spannte sich über seinen mächtigen Bauch. Die Knopfleiste war auch am Sonnabend durch eine Krawatte verdeckt. Das Samtsakko war ein wenig dunkler als die Hose, passte aber.
Wesentlich legerer war Putensenf gekleidet. Eine schwarze Jeans, ein offenes Sporthemd und ein leichter gelber Pulli waren seine Freizeitbekleidung.
Ehlers und Richter trafen zusammen ein. Beide sahen aus, als hätte man sie versehentlich in einem Brauereikeller eingeschlossen.
Frauke hatte die Zeit genutzt und eine große Kanne Kaffee gekocht.
»Danke«, sagte Ehlers und goss sich ein.
Richter schwieg. Er hatte es auch nicht für nötig befunden, Frauke zu begrüßen.
»Wie gut, dass wir jetzt eine Frau im Team haben«, knurrte Putensenf und schob nach dem ersten Schluck hinterher: »Kaffee kochen kann sie.«
»Heute ist Samstag«, knurrte Richter. »Ich hoffe, Sie haben etwas Wichtiges.«
»Für Polizisten ist der Sonnabend nicht heilig«, erwiderte Frauke und musste sich von Putensenf belehren lassen: »Bei uns heißt es Samstag!«
Der Kriminaloberrat bat Frauke, vorzutragen.
Sie fasste noch einmal die bisherigen Ergebnisse zusammen und erläuterte ihre Idee, dass Bassetti nur vorgeschickt worden sei.
»Für diesen hanebüchenen Blödsinn müssen wir herkommen?«, fluchte Richter.
Frauke sah an den Gesichtern der anderen, dass auch sie nicht begeistert waren. Madsack war der Einzige, der seine Enttäuschung verbarg.
»Es gibt Verbindungen zwischen dem Vorfall in Oldenburg und dem Betrug mit dem falsch deklarierten Schinken in Hannover.«
»Sind das auch nur Vermutungen?«, fragte Richter.
Statt einer Antwort stand Frauke auf und holte einen Aktenstapel von einem Stuhl am anderen Ende des Tisches. Sie hatte ihn dort platziert. Niemand hatte ihn bisher bemerkt. Während sie die Unterlagen vor sich auf den Tisch legte, sah sie reihum in die Gesichter der Beamten.
»Hier ist der Beweis.«
»Was ist das?«, fragte Ehlers.
»Die Ermittlungsakten aus Oldenburg.«
»Nach denen wir so lange gesucht haben?« Ehlers tat erstaunt.
»Wo haben Sie die her?« Auch Richter schien interessiert.
»Darin sind die Vorgänge in Oldenburg aufgezeichnet. Tuchtenhagens Rolle wurde in den Protokollen ebenso heruntergespielt wie der gesamte Vorgang.«
»Das ist ja ein Ding«, staunte Madsack.
»Wo kommen diese wichtigen Dokumente her?«, fragte Richter. Er hatte sich über den Tisch gebeugt. Seine Stimme klang eindringlich.
»Ich habe sie im Schrank eines Kollegen gefunden.«
»Wer hat das verschlafen?« Putensenf sah nacheinander alle Anwesenden an.
»Wollen Sie damit sagen, dass Sie in den Schränken der Kollegen geschnüffelt haben?« Ehlers war anzusehen, dass er verärgert war.
»Ich habe nicht geschnüffelt, sondern in einer Mordsache ermittelt.«
»Das verstehe ich nicht«, sagte Richter.
»Das ist doch ganz einfach. Jemandem war daran gelegen, diese Akten zu verbergen.«
»Könnte es nicht ein Versehen gewesen sein?«, mischte sich der Kriminaloberrat ein.
»Nein«, antwortete Frauke eine Spur zu scharf. »Jeder hier im Raum wusste, dass wir die Akten gesucht haben. In Oldenburg gab es sehr hässliche Details. Die haben dort Gammelfleisch verkauft, Abfälle, die für den menschlichen Verzehr nicht geeignet waren. Därme, Adern, Sehnen, Augen – das alles ist in die Wurst gekommen. Wollen Sie noch mehr hören?« Sie sah reihum die anderen an. »Es gab ein berechtigtes Interesse, die Verbindung zu Schröder-Fleisch zu unterdrücken. So konnte die These, es wäre ein Eifersuchtsdrama, eher gestützt werden. Dann waren da noch die Geschäftsunterlagen, die wir bei Manfredi sichergestellt haben. Selbst ohne Sachverständigengutachten war erkennbar, dass man von den normalen Geschäften, die der getätigt hat, nicht leben konnte. Dort wurde im großen Stil Geld gewaschen, indem imaginäre, ich vermute, nur auf dem Papier existierende Ware quer durch Europa verschoben wurde. Manfredi war der ›Geldwäscher‹ einer sehr viel mächtigeren Organisation.«
»Eine große Verschwörungstheorie, für die uns die Beweise fehlen«, warf Ehlers ein.
»Noch. Die Organisation ist aber in vielen Geschäftsfeldern tätig und gibt sich einen seriösen Anstrich. So überrascht es nicht, dass sie auch einen schwunghaften Handel mit gefälschten Produkten treibt. Textilien. Elektronik. Alkohol. Zigaretten. Medikamente. Und Lebensmittel. Die schrecken vor nichts zurück. Dummerweise reichte es Manfredi nicht, was er als Handlanger der Organisation verdiente. Er stockte die Bestellungen bei Schröder-Fleisch auf und lieferte den angeblichen Original Parmaschinken über den arglosen Hamburger Exporteur auf eigene Rechnung nach Skandinavien.«
»Das klingt wirklich gewaltig«, brummte Madsack mehr zu sich selbst.
»Das ist aufgeflogen, weil Bassetti, der als Aufpasser der Organisation bei Schröder-Fleisch installiert war, auch ein kleines privates Nebengeschäft betrieb. Er schmuggelte über den Schinken Rauschgiftpäckchen in die Vereinigten Arabischen Emirate. Beide wussten nichts von ihren kleinen Privatgeschäften, die aufflogen, als die heroinbestückten Schinken in Norwegen auftauchten. So kam es zur Auseinandersetzung zwischen Bassetti und Manfredi. Das Ergebnis kennen wir. Manuela Tuchtenhagen war ein unglückliches weiteres Opfer.«
»Schön. Aber was hat das mit dem Mord an Lars von Wedell zu tun?«, sagte Ehlers.
»Ich vermute, von Wedell hatte die Akten zufällig entdeckt und sich etwas zusammengereimt. Man hat ihm vielleicht auch einen Brocken hingeworfen, der in eine bestimmte Richtung deutete. Der junge Mann war ehrgeizig und begierig, bei seinem ersten großen Fall einen bedeutsamen Anteil zur Lösung beizutragen. Für mich liegt der Schlüssel in der zufälligen Begegnung mit Bassetti in der Pizzeria.«
»Graue Theorie«, sagte Putensenf. »Miss Marple kann das besser.«
»All das, was wir über die ›Organisation‹ zu wissen glauben, konnte dieser nicht gefallen. Die mühsam aufgebauten Strukturen wurden durch das Fehlverhalten und die Eigenmächtigkeit Einzelner gefährdet. Wenn man zunächst glaubte, Bassetti durch die Beseitigung der Zeugin heraushalten zu können, erwies sich das später als Irrtum. So wurde Bassetti geopfert und soll nun wegen der angeblichen Eifersuchtstat dafür büßen.«
»Gut. Das hört sich spannend an. Da bleibt uns noch eine Menge Arbeit, alles so wasserdicht aufzubereiten, damit die Staatsanwaltschaft mit der Anklage vor Gericht standhält.« Richter wollte aufstehen.
»Bleiben Sie bitte«, bat Frauke. »Es gibt noch einen Punkt: Lars von Wedell.«
Es schien, als würden alle Beamten die Luft anhalten. Nur schwach drangen ein paar Geräusche von draußen herein.
»Von Wedell bekam den Anruf, der ihn abends auf das Messegelände bestellte, in meiner Gegenwart. Es war Bassetti. Die beiden hatten sich aber nur kurz in der Pizzeria getroffen. Es ist kaum anzunehmen, dass sie dort Handynummern ausgetauscht haben. Also?« Frauke sah Putensenf an. Der zuckte die Schultern.
»Keine Ahnung.«
»Bassetti hat von Wedells Handynummer von jemand anderem erfahren. Und den Auftrag erhalten, ihn auf das Messegelände zu bestellen. Der Italiener war nicht selbst dort.«
»Woher wollen Sie das wissen?«, warf Richter ein.
»Wir hätten ihn gefunden.«
»Und wer ist vor mir geflüchtet? Tuchtenhagen?«
»Nein. Der hat vor dem Tor, wo ihn ebenfalls Bassetti hinbestellt hatte, gewartet.« Frauke sah Madsack an. »Hat man eigentlich Bassettis Telefongespräche zurückverfolgt?«
Madsack sah hilflos in die Runde. »Ich habe das nicht angeordnet«, sagte er entschuldigend.
»Sie sind für die Koordination zuständig, Herr Richter«, warf Frauke dem Ermittlungsgruppenleiter vor.
»Für solche Aufgaben ist Nathan zuständig.« Richter zeigte auf den korpulenten Hauptkommissar.
»Du wirst mir das doch nicht anheften wollen?«, empörte sich Madsack.
»Doch. Das ist eine Schlamperei.« Richter war zornig.
»Wir klären später, wer hier versagt hat«, entschied Ehlers und zeigte auf Frauke. »Bitte.«
»Wir waren alle anwesend, als der Mord an Lars von Wedell geschah. Es gibt kaum bessere Zeugen als vier erfahrene Kriminalbeamte, unter deren Augen so etwas geschah. Nur Herr Ehlers gab vor, nicht am Tatort gewesen zu sein.«
»Ich muss doch sehr bitten.« Der Kriminaloberrat ließ seiner Empörung freien Lauf.
Frauke gebot ihm durch eine Handbewegung, nicht weiterzusprechen. »Keiner hat ihn gesehen. Ich auch nicht. Und niemand ist auf die Idee gekommen, ihn nach seinem Alibi zu fragen.«
»Das wird mir langsam zu dumm«, sagte Richter sichtlich aufgebracht. »Sie wollen den Mord an Lars doch keinem von uns in die Schuhe schieben.«
»Doch!«
Dieses eine Wort saß wie ein Peitschenknall. Entsetzen breitete sich in den Gesichtern der Beamten aus.
»Ich glaube, Sie gehen jetzt entschieden zu weit. Wir sollten das Gespräch an dieser Stelle abbrechen«, entschied Ehlers.
»Nein!«, sagte Frauke mit fester Stimme. »Ich bin noch nicht fertig. Und bei einem Mord, zumal an einem Polizisten, mag ich keine disziplinarischen Beschränkungen akzeptieren.«
Sie rückte den vor ihr liegenden Papierstapel zurecht.
»Noch einmal: Was ist auf dem Messegelände passiert? Wir haben gewartet, bis von Wedell meldete, er glaubte, es würde sich jemand nähern.«
»Was heißt ›glaubte‹?«, warf Richter ein. »Ich habe es auch gesehen.«
»Wer noch?«, fragte Frauke in die Runde. Nachdem niemand antwortete, fuhr sie fort: »Entweder haben wir anderen drei es nicht gesehen, oder es war einer von uns.«
»Ich bin empört«, schimpfte Putensenf. »Was soll dieser Quarkikram? Sie spinnen doch.«
»Was geschah danach? Wir haben alle einen Schuss gehört. Von Wedell rief, dass er glaubte, auf ihn würde geschossen.«
»Richtig«, sprach Madsack dazwischen.
»Danach habe ich von meinem Standort aus eine Gestalt gesehen, die davonlief. Sie wurde von einer anderen Person verfolgt.«
»Das habe ich auch gesehen«, bestätigte Richter. »Von Wedell hat den Unbekannten verfolgt.«
»Es war kein Unbekannter«, beharrte Frauke auf ihrer Meinung.
»Er ist doch nicht hinter einem Kollegen hergelaufen«, gab Ehlers zu bedenken.
Frauke lehnte sich zurück.
»Lars war unerfahren. Und überaus diensteifrig. Und wir, die sogenannten alten Hasen, haben uns von einem Denkfehler leiten lassen. Wir sind wie selbstverständlich davon ausgegangen, dass von Wedell jemanden verfolgt hat. Nein! Er war der Erste und wurde von einem anderen verfolgt. Das war genau umgekehrt.«
»Warum sollte er unmotiviert losjagen?«, sagte Putensenf und kratzte sich den Hinterkopf.
»Das kann keiner mehr beantworten. Wie gesagt – es war der erste Einsatz unter realistischen Bedingungen.«
Zur Überraschung aller hob Richter den Zeigefinger und meldete sich zu Wort: »Wenn wir annehmen, dass Sie eventuell recht haben, dann war von Wedell der erste und ich der zweite Mann, den Sie gesehen haben. Schließlich bin ich auch losgerannt, als der erste Schuss fiel.«
»Schön. Damit hätten wir diesen Punkt geklärt. Ich bin, obwohl damals noch unbewaffnet, ebenfalls hinterhergelaufen. Dann haben wir vier weitere Schüsse gehört. Wir sind davon ausgegangen, dass der Täter noch einmal auf die Verfolger geschossen hat. Irrtum. Es waren die Schüsse, die unseren Kollegen niedergestreckt haben. Heimtückisch von hinten, als er an der kleinen Baustelle ankam.«
»Dort muss ihm jemand aufgelauert haben«, sagte Richter und sah vorwurfsvoll Madsack und Putensenf an.
»Du willst mich doch nicht mit einem solch absurden Vorwurf konfrontieren«, sagte Madsack, dessen Gesicht feuerrot angelaufen war.
»Oder mich?« Auch Putensenf war außer sich.
»Und ich glaubte, einem Fremden auf der Spur gewesen zu sein.« Richter fasste sich an die Stirn. »Das ist ja unfassbar. Dann hat einer von euch Lars erschossen, ich habe ihn verfolgt, und der Mörder hat sich seitlich in die Büsche geschlagen. So kommt es, dass Tuchtenhagen, der vielleicht wirklich ahnungslos vor der Tür gewartet hatte, mich sah und erschrocken flüchtete. Ein wahrlich teuflischer Plan. Pfui.«
»Wir haben danach noch drei Schüsse gehört. Einer wurde von Herrn Richter abgegeben, als er den vermeintlichen Täter verfolgte. Zwei vom Täter. Die Sache hat aber einen Haken.«
Gespannt waren alle Blicke auf Frauke gerichtet.
»Die Reihenfolge war: Bum. Das war der Schuss, von dem Lars glaubte, er galt ihm. Bum. Bum-bum. Dann die beiden Schüsse in von Wedells Rücken. Pause. Bum.« Frauke schluckte. »Hier ist der Mörder an sein Opfer herangetreten und hat ihn mit einem Kopfschuss final getötet. Bum. Noch mal Bum. Das waren die Schüsse auf Richter, als der den Mörder verfolgte. Und – bum – Richters letzter Schuss.« Sie sah in die Runde. »Haben wir das alle so erlebt?«
Putensenf und Madsack nickten. Richter stimmte zu.
»Im Protokoll steht aber folgender Takt: Bum-bum. Bum-bum-bum. Pause. Bum. Bum. Bum. Demnach sind drei Schüsse gewechselt worden, als Richter dem Mörder hinterherjagte.«
»Das ist ein Widerspruch«, erkannte der Kriminaloberrat. »Was ist nun richtig?«
»Meine erste Version. Das Protokoll ist falsch.«
»Das kann nicht sein«, warf Richter ein.
»Bernd hat recht«, pflichtete ihm Putensenf bei.
Madsack wischte sich den perlenden Schweiß von der Stirn. »Verdammt. Ich weiß es nicht mehr.«
»Ich habe auch lange darüber gegrübelt. Aber die Reihenfolge der Schüsse hat mich auf die Spur gebracht. Es war einer von uns. Deshalb haben wir auch keine Patronenhülsen oder keine Geschosse gefunden, weil die in die Luft abgegeben wurden und die Hülsen eingesammelt wurden.«
»Wo ist die Tatwaffe abgeblieben?«, fragte Madsack
»Das können Sie selbst beantworten«, erwiderte Frauke.
Der Hauptkommissar schüttelte den Kopf und sah nervös seine Kollegen an, als alle Blicke auf ihn gerichtet waren.
»Der Mörder hatte zwei Waffen. Seine Dienstwaffe und die Tatwaffe. Das war gerissen, denn bei einer solchen Aktion durchsucht niemand die anwesenden Polizisten nach der Tatwaffe.«
»Richtig«, sagte Putensenf. »Aber wenn es wirklich einer aus diesem Kreis war, ich betone: – wenn! –, dann hatte er doch Schmauchspuren an der Hand.«
»Haben Sie bei Richter oder Madsack danach gesucht?«, warf ihm Frauke vor.
Putensenf schüttelte den Kopf.
Richter zeigte auf ihn. »Wenn du der Todesschütze warst, Jakob, wirst du kaum bei dir selbst gesucht haben.«
»Spinnst du?«, gifte Putensenf ihn an.
»Niemand begeht den perfekten Mord. Auch ein Profi nicht, wenn ich erfahrene Kriminalbeamte so bezeichnen darf.« Frauke zeigte den Anflug eines Lächelns, das auf die anderen überheblich wirken musste.
»Fangen wir beim Motiv an. Der Mörder ist in die Machenschaften der Organisation, die hinter allem steckt, verstrickt und wird von ihr bezahlt und/oder erpresst. Unter Umständen hat man ihn zu alldem gezwungen. Er hat bereits bei der Oldenburger Ermittlung gekungelt. Deshalb hat er auch die Akten verborgen gehalten.«
»Nun sagen Sie uns, in welchem Schrank Sie die gefunden haben«, forderte der Kriminaloberrat Frauke auf.
»Bei Bernd Richter.«
»Sie schnüffeln in meinem Büro herum? Das ist ja unerhört!«, empörte sich Richter. »Wo sollen die dort gelegen haben?«
»Im linken Schrankteil. Unten rechts.«
»Und wer hat sie dort deponiert? Jeder hier in der Runde weiß, dass ich meine Unterlagen auf dem Sideboard vor der Fensterbank lagere.«
»Das wird noch zu klären sein. Fingerabdrücke heißt das Zauberwort«, entgegnete Frauke ungerührt. »Dann haben wir die Anrufe bei Bassetti. Es lässt sich zurückverfolgen, von wem der seine Aufträge erhielt. Das ist eine Fleißarbeit, alle bei ihm eingegangenen Anrufe zu analysieren. Also …« Frauke brach mitten im Satz ab und fuhr mit dem gestreckten Zeigefinger durch die Luft. »Ich hätte Bassetti nicht von meinem Handy aus angerufen. Ich würde Sie bitten, Ihre Mobiltelefone sofort abzugeben und Herrn Ehlers treuhänderisch zu überlassen.«
Richter legte sein Telefon auf die Tischplatte. »Nur unter Protest.«
»Nein«, sagte Madsack. »Das brauche ich. Ich bin darauf angewiesen. Das geht nicht.«
»Ich habe meins nicht mit«, erklärte Putensenf.
»Bassetti kann natürlich auch aus dem LKA von einem Diensttelefon aus angerufen worden sein.«
»Das ist doch kein schlüssiger Beweis«, sagte Madsack. »Jeder hätte in das Büro des anderen gehen können.«
»Langsam«, bremste Frauke. »Putensenf und ich wurden von Bassetti angerufen, als wir bei Tuchtenhagen waren. Wer wusste davon? Nur die Mitglieder der Ermittlungsgruppe. Und einer hat das an Bassetti weitergegeben.«
»Ich war dabei«, sagte Putensenf, und ihm war deutlich anzuhören, wie erleichtert er war. »Wir haben den Anruf zurückverfolgen lassen. Er kam von einer öffentlichen Telefonzelle am Kröpcke. Wie ich es vermutet hatte, weil ich im Hintergrund die Straßenmusiker gehört hatte, die oft vor dem Café spielen und ihren ganz eigenen Sound haben.«
»Genau«, sagte Frauke.
»Ich war zu dem Zeitpunkt in meinem Büro«, stellte Richter fest. »Kurz zuvor hatte mich Jakob Putensenf angerufen und mich über das Ergebnis der Durchsuchung von Tuchtenhagens Haus informiert.« Er zeigte auf Madsack. »Und wo warst du, Nathan?«
Madsack wischte sich erneut die Schweißperlen von der Stirn. »Woher soll ich das wissen?«
»Kommen wir zum Ende, nachdem wir die Puzzleteile so sauber sortiert haben. Zu guter Letzt passen sie erstaunlich gut zueinander«, sagte Frauke.
»Herr Ehlers scheidet aus. Er war zwar über die Aktionen informiert, aber auf dem Messegelände wäre er einem von uns aufgefallen. Wir haben dort nur zwei Männer laufen sehen. Von Wedell als ersten und Sie, Richter, der ihn verfolgt hat.«
»Sicher. Ich habe, wie wir alle, den Schuss gehört und bin auch in die Richtung gelaufen.« Er schlug sich gegen die Stirn. »Wenn ich das gewusst hätte … An der Baustelle bin ich links abgebogen, während du, Nathan Madsack, dort gelauert und Lars ermordet hast.«
Madsack war kreideweiß geworden. »Das – ist – doch – nicht – wahr«, stöhnte er, und jedes Wort kam stoßweise über seine Lippen.
»Doch, Nathan. Ich gebe es nicht gern zu, dass ich mit Frau Dobermanns eigenmächtigen Ermittlungsmethoden nicht einverstanden war.« Richter schnalzte mit der Zunge. »Eine so perfide und heimtückische Tat hätte ich dir nicht zugetraut.«
»Bin ich froh, nicht mehr verdächtigt zu sein«, sagte Putensenf, und die Erleichterung war ihm deutlich anzunehmen. Er sah Madsack an und schüttelte den Kopf, als würde er sich allein vor dem Blick ekeln.
»Sie waren mit mir im Haus von Tuchtenhagen, als Bassetti anrief und uns weismachen wollte, dass Manuela Tuchtenhagen ein Verhältnis mit Manfredi hatte«, sagte Frauke. »Mensch, Putensenf. Schalten Sie Ihren Denkapparat ein. Was war noch?«
Putensenf sah ratlos in die Runde. »Was sollte sein?«
»Sie haben Richter danach verständigt.«
»Und?«
»Wo war der?«
»Ich Idiot.« Es sah aus, als wollte Putensenf sich auf Richter stürzen. »Du hinterhältiger Hund. Du warst in der Passerelle. Die führt vom Kröpcke durch den Hauptbahnhof. Diesen Weg nimmt man, wenn man von der Telefonzelle ins LKA zurückgeht.«
»Richter war es auch, der auf dem Messegelände von Wedell hinterhergelaufen ist. Erst hat er ihn im Laufen mit zwei Schüssen niedergestreckt und dann an der Baustelle den tödlichen Kopfschuss abgegeben. Schließlich sind Sie weitergelaufen und haben uns weismachen wollen, Sie hätten den Mörder verfolgt. Und dass Tuchtenhagen dorthin bestellt wurde, war auch Teil Ihres Plans.«
»Das ist doch nicht wahr …!«, schrie Richter.
Frauke schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. »Ruhe! Selbst wenn jemand auf die abwegig erscheinende Idee gekommen wäre, nach Schmauchspuren zu suchen, hätten Sie eine Erklärung gehabt. Schließlich haben Sie auch auf den Flüchtigen geschossen. Das wollten Sie uns verkaufen. Das war Ihnen auch gelungen. Ich bin erst darüber gestolpert, als ich mir noch einmal klarmachte, in welcher Folge der Schusswechsel stattfand. Wie ich es vorhin erläutert habe.«
»Bum-bum«, murmelte Putensenf selbstvergessen und wurde von Madsack mit einem tadelnden »Aber Jakob« zurechtgewiesen.
»Sie haben die ganze Zeit die Ermittlungen boykottiert und vordergründig alles auf einen Zweikampf zwischen Ihnen und mir geschoben, so getan, als würden die Hahnenkämpfe um die Karriere zwischen uns beiden zu den Komplikationen führen. Wenn Sie mit Schrecken feststellten, dass ich ein kleines Stück des Puzzles entdeckt hatte, versuchten Sie es mit der ›Das ist unprofessionell‹-Masche.«
»Ich glaube Frau Dobermann, das klingt alles sehr schlüssig«, sagte der Kriminaloberrat. »Herr Richter. Ich verhafte Sie hiermit wegen des Verdachts, den Polizeibeamten Lars von Wedell aus niederen Beweggründen getötet zu haben.«
Richter sackte in seinem Stuhl zusammen. Er stützte die Ellenbogen auf die Tischplatte und ließ sein Gesicht darin verschwinden. Er schwieg.
»Sie hatten gute Gründe, mich in jeder Weise in der Ermittlungsarbeit zu behindern und mir die Akten aus Oldenburg vorzuenthalten. Das galt auch für die Geschäftsunterlagen Manfredis, die Sie zunächst unter dem Vorwand, sie müssten übersetzt werden, zurückgehalten hatten.«
Frauke lehnte sich erschöpft zurück. »Heute mache ich mir große Vorwürfe, weil ich Lars von Wedell empfohlen hatte, sich Ihnen anzuvertrauen, als der anonyme Anruf kam, der ihn zur Messe bestellte. In der Vorbesprechung zu diesem Einsatz hatte Madsack vorgeschlagen, mehr Beamte einzusetzen oder das SEK zu alarmieren. Das haben Sie, Richter, kategorisch abgelehnt. Auch das hatte ich damals unterstützt, weil ich Ihren hinterhältigen Argumenten folgen konnte. Wer ahnt schon, dass ein junger Beamter vor den Augen der Polizeikollegen so kaltblütig ermordet werden sollte. Ich habe schon vielen verzweifelten, brutalen und hinterhältigen Mördern gegenübergestanden, aber so etwas ist mir noch nicht begegnet.«
Putensenf war aufgestanden und hatte den Raum verlassen. Kurz darauf kam er mit zwei uniformierten Beamten zurück. Er zeigte auf den immer noch zusammengesunken hockenden Richter.
»Abführen!«
»Bitte?«, fragte der größere der beiden Beamten ungläubig.
Erst als Ehlers nickte, brummte er: »Meinetwegen«, und packte Richter am Oberarm.
Der ehemalige Ermittlungsgruppenleiter ließ sich widerstandslos aus dem Raum bringen.
»Für uns ergibt sich jetzt eine völlig neue Situation«, sagte der Kriminaloberrat. »Frau Dobermann wird ab sofort die Leitung der Gruppe übernehmen.«
»Ach du Elend«, sagte Putensenf.
»Hatten Sie etwas anzumerken?«, fragte ihn Ehlers.
Doch Putensenf winkte nur ab.
Madsack erhob sich schwankend. Er wirkte immer noch angeschlagen. Mit beiden Händen ergriff er Fraukes rechte Hand und schüttelte sie heftig.
»Danke«, sagte er. »Danke. Danke.« Er atmete tief durch. »Da ist mir der Schreck aber heftig in die Glieder gefahren.«
Stumm traten die Beamten auf den Flur hinaus. Während Ehlers und Madsack vorangingen, zupfte Putensenf Frauke am Ärmel.
»Da ist noch was«, sagte er leise und hielt sie ein wenig zurück. »Eigentlich wollten meine Frau, Richter und ich heute Abend etwas zusammen unternehmen. Das fällt nun ins Wasser. Also – ja – ähm – hätten Sie nicht Lust, mitzukommen? Wir würden uns freuen.«
Frauke wollte ablehnen, doch bevor sie etwas erwidern konnte, sagte Putensenf eindringlich: »Ablehnen gilt nicht. Um neunzehn Uhr ›unterm Schwanz‹.«
Sie sah ihn ratlos an.
»Da trifft man sich in Hannover. Auf dem Bahnhofsvorplatz steht ein Denkmal mit einem Reiter und einem Pferd. Also – ›unterm Schwanz‹.«
Dann folgte er mit raschen Schritten Ehlers und Madsack.
Frauke vermochte nicht zu sagen, ob das lebhafte Treiben dem spätsommerlich guten Wetter zu verdanken war. Zumindest trug es dazu bei, dass viele Menschen den Bahnhofsvorplatz bevölkerten. Manche eilten hastig über das Pflaster, andere schlenderten gemächlich und scheinbar ziellos umher, wieder andere hatten sich zu kleinen Gruppen zusammengefunden und hielten muntere Schwätzchen.
Frauke kam sich inmitten der vielen Menschen ein wenig verloren vor, als sie »unterm Schwanz« auf Putensenf wartete. Sie war bereits mehrfach um das Denkmal von Ernst August herumgeschlichen, dem König von Hannover, das – laut Inschrift – dankbare Bürger ihrem Herrscher errichtet hatten. Sie musterte die Bronzefigur, die auf einem Pferd thronte. Die Statue mit dem Federbusch am Hut erinnerte Frauke ein wenig an das Bildnis des Sarotti-Mohrs, der auf jeder Tafel Schokolade abgebildet war.
König Ernst August hätte dieses Denkmal sicher nicht gespendet bekommen, hätte er wie einer seiner gleichnamigen Nachfahren an den türkischen Pavillon auf der Weltausstellung gepinkelt, dachte Frauke.
Tatsächlich schienen sich die Hannoveraner hier zu verabreden. Gerade eben hatte ein junger Mann ein gleichaltriges Mädchen fest umarmt. Dann waren beide eng umschlungen Richtung Innenstadt davongegangen. Zuvor hatten zwei Mädchen ein weiteres ebenso herzlich begrüßt.
Von Weitem sah sie Putensenf, der heftig winkte. Sie ging ihm entgegen.
»Meine Frau wartet da vorn im Auto«, sagte er. »Das ist eine ungünstige Stelle.«
Sie folgte ihm zu einem älteren Audi A4, in dem eine im Alter zu Putensenf passende Frau am Steuer auf sie wartete.
Putensenf quälte sich auf den Rücksitz. »Meine Frau – Frau Dobermann«, stellte er die beiden einander vor.
Frauke nahm auf dem Beifahrersitz Platz.
»Schön, Sie kennenzulernen«, sagte Frau Putensenf.
Die mittellangen, in Wellen gelegten kastanienbraunen Haare waren gefärbt. Sonst wären graue Strähnen sichtbar gewesen, dachte Frauke. Lachfalten lagen um die Augenwinkel, weitere, die ein sicher über fünfzigjähriges Leben ins Gesicht eingegraben hatte, waren durch eine sorgsame kosmetische Pflege vor dem Verlassen des Hauses verdeckt worden. Brille, Ohrringe und das dezente Rouge auf den Wangen unterstrichen den Eindruck einer gepflegten Frau, die aber keine Anstrengungen unternahm, die Lebensjahre zu vertuschen.
Sie steuerte das Fahrzeug routiniert durch den dichten Verkehr. Mittlerweile war Frauke so weit mit den Örtlichkeiten vertraut, dass sie das Neue Rathaus erkannte, das Innenministerium an der Lavesallee und das zu Zeiten der Gründung zukunftsweisende Ihme-Zentrum, das heute aber einen weniger guten Ruf genoss.
Frauke fragte nicht nach dem Ziel. Das Ehepaar Putensenf hätte es ihr ohnehin nicht verraten.
Frau Putensenf war auf Nebenstraßen ausgewichen und durchfuhr ein gewachsenes Wohngebiet.
»Das ist Linden-Süd«, erklärte sie, bevor die Straße über den Westschnellweg hinwegführte. Kurz darauf hatten sie ihr Ziel erreicht.
»Ein Jazz-Club?«, fragte Frauke ein wenig erstaunt, als sie auf dem Parkplatz hielten, wo die Plane eines orangefarbenen Anhängers auf den Zielort hinwies. Gegenüber einem eigentümlichen Gebäude, dessen Bedeutung sich Frauke auch auf den zweiten Blick nicht erschloss, residierte der Jazz-Club Hannover in einem von einem rustikal belassenen Park umgebenen Haus.
»Ich hoffe, Sie mögen es«, sagte Frau Putensenf. »Lassen Sie sich überraschen. Jakob und ich lieben es. Im Park finden übrigens auch Veranstaltungen statt.«
Ein paar Stufen führten zu einer schwarzen Tür hinab. Der poppige Baldachin über dem Eingang bildete den Auftakt für das im gleichen Orange gehaltene Etablissement mit seinen verschachtelten Räumen, die teilweise eher Nischen glichen.
Putensenf steuerte einen Tisch in der Nähe der Bühne an, auf der ein großer Flügel stand.
In den engen Räumen herrschte ein hoher Geräuschpegel. Leute unterhielten sich, es wurde gelacht, gescherzt und auch quer durch den Raum gerufen. Viele Menschen aus dem Publikum schienen das gemeinsame Interesse an dieser Musik zu teilen und kannten sich.
»Hallo«, sagte ein hagerer Mann mit eingefallenen Wangen und struppeligem Rauschebart zum Ehepaar Putensenf, als er den Tisch passierte.
Jemand tippte Frau Putensenf von hinten auf die Schulter. »Hat es noch geklappt?«, fragte eine Frau mit einem runden Vollmondgesicht und sagte: »Prima«, nachdem Frau Putensenf ihr mit »Wir haben noch Glück gehabt« geantwortet hatte.
Wie auf Kommando erstarb die Geräuschkulisse, als der Pianist eintrat. Er verharrte einen Moment am Flügel und verneigte sich, um den Beifall der Gäste über sich ergehen zu lassen. Dann setzte er sich an das Instrument, ließ dreimal in der Luft seine Hände über die Tastatur gleiten, schüttelte seine Finger demonstrativ aus, schlug mit dem rechten Fuß zweimal auf den Fußboden, murmelte dabei sicht-, aber unhörbar: »Drei – vier«, und hämmerte ansatzlos in atemberaubender Geschwindigkeit in die Tasten.
Frauke war sprachlos. Es war faszinierend, in welchem Tempo der Künstler »Boogie Woogie with me« intonierte. Ein Lächeln erschien auf seinem sonst konzentriert wirkenden Gesicht, als mitten im Stück Beifall aufbrandete.
Auch Frauke spendete Applaus. Den hatte sich der Mann redlich verdient. Es folgte der »Swanee River Boogie«, und beim »Powerhouse Boogie Woogie« gab es kein Halten mehr unter den Zuschauern. Der Pianist hatte sie alle in seinen Bann gezogen.
Frauke war überrascht, überwältigt und begeistert. Das hätte sie Nathan Madsack nicht zugetraut.
In einer Pause zwischen zwei Stücken beugte Putensenf sich zu ihr herüber. »Na? Zu viel versprochen?«
Sie wollte antworten, konnte aber nur nicken, weil die Worte in den ersten Tönen des nächsten Stücks untergegangen wären.
Madsack hatte sich den tosenden Applaus und die Pause redlich verdient.
»Ich kümmere mich um den Getränkenachschub«, sagte Putensenf und wurde kurz abgelenkt, als Fraukes Handy klingelte.
Böse Blicke und launische Kommentare von anderen Tischen straften sie dafür ab, dass sie vergessen hatte, das Telefon auszuschalten.
»Dobermann«, sprach sie leise in das Gerät und deckte das Telefon mit der flachen Hand ab.
»Sie haben einen Fehler gemacht«, sagte eine fremdländisch klingende Männerstimme. »Sie werden sterben.«