VIER

Der Besprechungsraum mit seinen kahlen Wänden und der nüchternen Atmosphäre ödete Frauke an. Erst weit nach Mitternacht hatte sie einen unruhigen Schlaf gefunden. Müde hatte sie am Frühstückstisch gesessen und musste am Nebentisch die Beiträge eines anderen Gastes über sich ergehen lassen, der in einem ausgeprägt bayerischen Dialekt lautstark und ungefragt die Situation der Weltpolitik erläuterte. Und wenn von seinem Begleiter ein sachlicher Einwand kam, hatte der Mann noch einmal von seinem Brötchen abgebissen und mit vollem Mund alle Argumente des anderen als »deppert« vom Tisch gewischt.

Frauke war froh, dass Putensenf und Madsack, die mit ihr auf Richter und den Kriminaloberrat warteten, schwiegen. Madsack hatte sie mit einem »Guten Morgen« begrüßt, während Putensenf etwas Unverständliches geknurrt und sich auf der anderen Seite des großen Tisches niedergelassen hatte.

Mit zehn Minuten Verspätung erschienen Ehlers und Richter. Der Kriminaloberrat sagte ein paar Worte zur Begrüßung. »Leider sind wir in der Sonderkommission, die an der Aufklärung des Mordfalls von Wedell arbeitet, noch nicht weitergekommen«, fuhr er fort. »Wir verfolgen eine Reihe von Spuren, aber keine ist als wirklich heiß einzustufen. Die Spurensicherung war gestern noch einmal draußen und hat das gesamte Areal abgesucht, auf dem der Schusswechsel stattgefunden hat. Sie haben alles durchkämmt und auch Metalldetektoren eingesetzt, aber nichts gefunden. Wir haben weder die Geschosse noch die Geschosshülsen des Täters noch das einzelne Geschoss gefunden, dass Herr Richter abgegeben hat. Nach unseren bisherigen Ermittlungen wird Thomas Tuchtenhagen der Tat dringend verdächtigt. Er ist zweifelsfrei vom Kollegen Richter erkannt worden, als der ihn verfolgte. Der Flüchtige ist auf der A 7 Richtung Süden entkommen und … Aber das wissen Sie ja schon. Erfolg versprechend ist die Verhaftung von Simone Bassetti, die gestern Abend durch den lobenswerten Einsatz unserer neuen Mitarbeiterin Frau Dobermann vollzogen werden konnte. Den Ablauf der Aktion sollten Sie uns vortragen.« Ehlers sah sie an.

Frauke schilderte die Verhaftung. Sie hatte kaum ausgesprochen, als sich Richter zu Wort meldete.

»Auch wenn Sie den Erfolg hervorheben, Herr Ehlers, kann ich eine solche unabgestimmte Aktion nicht gutheißen. Wir sind ein Team und leben vom Erfolg der koordinierten Zusammenarbeit. Es wäre sinnvoll gewesen, die überstürzte Verhaftung nicht im Alleingang, sondern kontrolliert vorzunehmen.«

»Sie schätzen das falsch ein«, wehrte sich Frauke. »Wenn Bassetti seine Wohnung wieder verlassen hätte, wäre er weiter flüchtig.«

»Trotzdem. Sie sind nicht allein auf der Welt, Frau Dobermann. Ihre Absicht, die Wohnung zu observieren, hätten Sie mit mir abstimmen sollen. Was wäre geschehen, wenn sich dort weitere Verdächtige mit Bassetti getroffen hätten? Sie können von Glück sagen, dass sich der Mann ergeben hat. Hätten Sie eine Schießerei in der Wohnung verantworten können?«

»Das sind zu viele ›Wenns‹, Herr Kollege. Unsere Arbeit muss auch …«

»Wollen Sie mir erklären, wie man taktisch bei schwierigen Ermittlungen vorgeht?«, unterbrach Richter sie. »Wir hier – in diesem Team – waren auch vor Ihrem Erscheinen erfolgreich.«

»Keiner zweifelt daran. Sie erwarten aber nicht, dass alle aus diesem Team ihre eigenen Ideen unter den Scheffel stellen müssen.«

»Sie rufen lautstark nach Anarchie«, entrüstete sich Richter und fuhr Madsack wütend an, als der ein leises »Aber, Bernd, vielleicht …« einfügte.

»Halt dich da raus, Nathan. Die Arbeit der Ermittlungsgruppe muss koordiniert ablaufen. Und dafür bin ich verantwortlich.«

Frauke zeigte mit ausgestreckter Hand auf Richter. »Ihre Profilneurose lässt keinen Teamkonsens aufkommen.«

»So geht das nicht«, fuhr Ehlers energisch dazwischen, aber Richter ließ sich nicht aufhalten.

»Ich habe gestern Nachmittag mit den Kollegen von der Wirtschaftskriminalität zusammengesessen. Natürlich war mir aufgefallen, was Nathan und die da«, er zeigte dabei auf Frauke, »herausgefunden haben.«

»Warum hast du nichts gesagt?«, fragte Madsack.

»Du kennst Bernd«, mischte sich Putensenf ein. »Der gackert nicht, bevor das Ei gelegt ist.«

Richter wandte sich an Ehlers. »Ich bitte Sie, Frau Dobermann in einer anderen Dienststelle unterzubringen. In unserer Ermittlungsgruppe sehe ich keine Möglichkeit einer gedeihlichen Zusammenarbeit.«

»Sie beide, Frau Dobermann, Herr Richter, kommen im Anschluss in mein Büro«, entschied der Kriminaloberrat. »Nun sollten wir zur Sacharbeit zurückkehren. Gibt es bereits Ergebnisse der Wohnungsdurchsuchung?«

Richter zog ein Blatt Papier aus dem Stapel hervor, der vor ihm lag. »Der PC und das Handy werden noch ausgewertet. Sonst wurde nichts gefunden, bis auf die Waffe.«

»Mensch, das ist doch was«, sagte Putensenf.

»Nun wart’s doch ab. Die steckte in der Tasche einer Lederjacke, die an der Flurgarderobe hing. Sie wird von der Kriminaltechnik untersucht. Die beiden Beamten vom Kriminaldauerdienst äußerten die Vermutung, dass die Waffe vor nicht allzu langer Zeit benutzt worden ist. Das wollen sie anhand einer Schnupperprobe festgestellt haben. Außerdem liegt das Ergebnis der KTU aus Braunschweig noch nicht vor. Die haben Tuchtenhagens Audi in der Mache, auf den vor der Kaiserpfalz in Goslar geschossen wurde. Wenn die Waffe und das Geschoss aus dem Audi miteinander verglichen sind, wissen wir mehr. Vermutlich handelt es sich aber nicht um die Waffe, mit der Lars von Wedell erschossen wurde.«

»Stimmen Bassettis Fingerabdrücke mit denen auf dem Fleischhammer überein, mit dem Manfredi erschlagen wurde?«, fragte Frauke dazwischen.

»Wenn Sie das Protokoll aufmerksamer gelesen hätten, wüssten Sie, dass dort keine verwertbaren Spuren gefunden wurden. Die Abdrücke, die wir identifizieren konnten, waren alle zuzuordnen. Der Tote, Manuela Tuchtenhagen, der griechische Putzmann. Sie alle wurden von anderen Spuren überlagert, die verwischt waren.«

»Es bietet sich aber ein DNA-Abgleich an«, sagte Frauke. »Haben Sie das veranlasst?«

»Herrje noch mal. Wann hätte ich das alles tun sollen?«

»Kollege Richter wird sich gleich nach der Teambesprechung darum kümmern«, sagte Ehlers beschwichtigend.

»Ich werde als Nächstes Simone Bassetti verhören. Madsack wird mich dabei unterstützen«, sagte Richter.

»Ich wäre gern dabei«, erklärte Frauke.

»Nein! Nathan und ich sind ein eingespieltes Team.«

»Das will ich gelten lassen«, sagte Ehlers. Seinem Tonfall war anzumerken, dass er keine weitere Diskussion wünschte. »In zehn Minuten in meinem Büro.« Der Kriminaloberrat sah nacheinander Frauke und Richter an, stand auf und verließ den Besprechungsraum.

Der Teamleiter folgte ihm, ohne Frauke eines Blickes zu würdigen. Als Letzte standen Madsack und sie selbst auf und kehrten in das Büro des korpulenten Hauptkommissars zurück. Schwer atmend ließ sich Madsack in seinen Schreibtischstuhl fallen.

»Das ist nicht sehr erfreulich – die Auseinandersetzung zwischen Ihnen und Bernd Richter. Ich möchte nicht in Ehlers’ Haut stecken und Schiedsrichter spielen müssen.« Madsack griff zu einer Brötchentüte, riss sie auf und nahm ein Croissant zur Hand. »Das brauche ich jetzt. Dann kümmere ich mich um den Exporteur aus Hamburg.«

Zur verabredeten Zeit suchte Frauke Ehlers’ Büro auf. Das war leer. Auch von Richter war nichts zu sehen. Sie wartete ein paar Minuten und fragte dann bei Frau Westerwelle nach.

»Der Chef musste überraschend zum Lagebericht zum Präsidenten. Wenn Sie Herrn Ehlers sprechen möchten, versuchen Sie es später noch einmal.«

Frauke seufzte, nahm zwei Becher Kaffee aus dem Geschäftszimmer mit und kehrte zu Madsack zurück.

Der telefonierte angeregt und nahm mit einem dankbaren Nicken den für ihn bestimmten Becher mit dem heißen Getränk entgegen.

Sie lauschte schweigend den Telefonaten. Nach einer guten Stunde hatte Madsack den Inhaber des Hamburger Exportunternehmens am Apparat. Er schaltete den Raumlautsprecher ein.

»Berenberg«, meldete sich eine sonore Männerstimme.

»Madsack, Landeskriminalamt Hannover.«

»Madsack, wie die gleichnamige …«

»Nicht verwandt und nicht verschwägert«, fiel der Hauptkommissar dem Hamburger ins Wort. »Sie exportieren Parmaschinken in die Vereinigten Arabischen Emirate?«

»Muss ich mit Ihnen darüber reden?«

»Sie würden uns in einer Mordsache helfen. Ihr Geschäftspartner, Marcello Manfredi aus Hannover, ist ermordet worden.«

Einen Moment herrschte Sprachlosigkeit am anderen Ende der Leitung.

»Tatsächlich?«

»Ja. Wir haben im Zuge der Amtshilfe vom Zoll erfahren, dass Sie Original Parmaschinken von Manfredi bezogen und diesen weiterverkauft haben.«

»Das ist richtig.«

»Warum haben Sie Manfredi als Zwischenhändler eingeschaltet?«

Ein leises Lachen drang aus dem Lautsprecher. »Junger Mann. Wenn ich Kontakte zum Produzenten gehabt hätte, hätte ich die Marge des italienischen Kollegen gern selbst eingesteckt.«

»Ist es nicht außergewöhnlich, dass Original Parmaschinken aus Italien über Hamburg rund um Europa nach Arabien verschifft wird? Es wäre doch wirtschaftlicher, die Ware von Italien aus dorthin zu versenden.«

»Die wenigsten Schiffe gehen durch den Suezkanal. Der Weg führt um das Kap der Guten Hoffnung. Da macht es fast keinen Unterschied, ob Sie ab Hamburg verschiffen. Abgesehen davon laufen die Geschäfte in diesem Fall eben über diesen Weg.«

»Wieso liefern Sie Schinken in den arabischen Raum? Es handelt sich schließlich um ein Produkt aus Schweinefleisch.«

»Sie werden sich wundern, aber beste Qualität ist gefragt. In den führenden Hotels der Region finden Sie nur Spitzenprodukte, sei es Schweinefleisch oder Alkohol. Vermuten wir beide, dass diese Artikel nur von Touristen konsumiert werden.«

»Und es gab nie Reklamationen zum Parmaschinken?«

»Nie«, versicherte Berenberg. »Es handelt sich eben um eine typische italienische Spezialität erstklassiger Qualität.«

»Kannten Sie Marcello Manfredi persönlich?«

»Sicher.« In Berenbergs Stimme klang ein Hauch Melancholie mit. »Man kann es sich kaum vorstellen, dass Manfredi tot sein soll.« Dann versicherte der Hamburger Kaufmann, dass er jederzeit für weitere Auskünfte zur Verfügung stehen würde.

»Sind die so doof in Hamburg oder mischt Berenberg bei diesem Betrug mit?«, fragte Madsack. »Wenn der so erfahren ist, wie er vorgibt, müsste er doch gemerkt haben, dass sein ›Original Parmaschinken‹ vom Oldenburger Mastschwein stammt und bei Schröder-Fleisch in Hannover geräuchert wird.«

»Sind Sie sich sicher? In der Branche läuft viel auf Vertrauensbasis. Wenn es nie Reklamationen gab, hatte Berenberg keine Veranlassung, Manfredi gegenüber argwöhnisch zu sein« Sie nahm einen Schluck vom mittlerweile kalten Kaffee. »Die Masche ist nicht neu. Die Mafia mischt in vielen Bereichen mit. Sie hat längst das lukrative Geschäft mit Produktfälschungen entdeckt. Eine unauffälligere Geldmachmaschine werden Sie kaum finden. Die Ware wird günstig eingekauft und zu exorbitanten Preisen weiterveräußert.«

Madsack musterte sie aus seinen kleinen Augen. »Sie haben eben einen schwerwiegenden Verdacht ausgesprochen: Mafia.«

»Das ist doch nicht so abwegig«, sagte Frauke.

Madsack wiegte den Kopf. »Es ist kaum vorstellbar, dass die ehrenwerte Gesellschaft sich hier in Hannover niedergelassen hat.«

»Die sind überall. Und Manfredi war eine Geldwaschanlage. So kann man es vermuten, wenn man an die Luftgeschäfte denkt, die wir seinen Geschäftsunterlagen entnommen haben. Durch die nebulösen Verkäufe merkwürdigster Güter rund um den Globus wurde das Geld gewaschen. Als Erlös eines erfolgreichen Geschäftes mit irgendwelchem Schrott in Afrika war es sauber und konnte in den legalen Kreislauf gepumpt werden. Und da die Mafia auf vielen Hochzeiten tanzt, wurde die Relaisstation Manfredi auch genutzt, um mit gefälschtem Parmaschinken aus Niedersachsen einen zusätzlichen Reibach zu machen.«

»Und was ist mit den Gesteinsproben, die der Bote am Mordtag bei Manfredi abgeliefert hat?«

»Darauf haben wir noch keine Antwort«, sagte Frauke. »Schade. Ich würde gern Bassettis Vernehmung beiwohnen.«

In diesem Moment klingelte Madsacks Telefon.

»Ich komme«, sagte der Hauptkommissar und stand auf. »Das war Richter«, erklärte er. »Wir wollen jetzt mit der Vernehmung beginnen.«

Putensenf saß in seinem Büro, machte einen missmutigen Eindruck und blätterte in einem blassblauen Aktendeckel. Er sah auf, als Frauke an den Türrahmen klopfte.

»Ich will zu Schröder-Fleisch. Begleiten Sie mich?«

Er schlug den Altendeckel zu, vergewisserte sich, dass sein Rechner passwortgeschützt war, griff sich das Sakko, das über der Lehne des Besucherstuhls hing, und drängte sich wortlos an Frauke vorbei auf den Flur. Im Gehen zog er ein Schlüsselbund aus seiner Hosentasche und drehte es in der Luft.

Frauke verstand es richtig. Putensenf wollte damit andeuten, dass er die Autoschlüssel hatte.

Auf dem Parkplatz öffnete er mit der Fernbedienung die Wagentüren und stieg auf der Fahrerseite ein. Der Kriminalhauptmeister sagte auch kein Wort, als Frauke ihn mit wenigen Worten über die neuen Erkenntnisse, die sie und Madsack erarbeitet hatten, informierte.

»Verstehen Sie mich nicht falsch«, knurrte Putensenf, nachdem Frauke fertig war. »Ich habe nichts gegen Frauen, aber dieser Job ist nichts für das weibliche Geschlecht. Verstehen Sie etwas von Anatomie?«

»Ein wenig.«

»Warum sind Frauen anders gebaut? Sie haben von der Natur eine andere Bestimmung. Niemand erwartet, dass Frauen gemeinsam mit den Männern Fußball spielen, gegeneinander im Boxen antreten oder um die Wette laufen. Warum also soll eine Frau sich in diesem harten Geschäft austoben?«

»Lars von Wedell war ein Mann und wurde Opfer eines Mörders.«

»Wie groß wäre die Empörung gewesen, wenn eine Polizistin ermordet worden wäre?«, fragte Putensenf zurück.

»Beruht Ihr ganzes merkwürdiges Gebaren nur auf dem Bedürfnis, um als Kavalier alter Schule aufzutreten?«

»Quatsch. Aus Ihrer Antwort entnehme ich, dass Frauen auch ein kleineres Gehirn haben.«

»Sie sind ein eigenartiger Mensch.«

»Nennen Sie es, wie Sie wollen, und erwarten Sie nicht, dass ich Ihnen um den Hals falle.«

»Sie sind wirklich nicht mein Typ.«

»Na, das beruhigt meine Frau.«

»Warum sind Sie eigentlich nicht im gehobenen Dienst?«, wechselte Frauke abrupt das Thema.

»Wollen Sie meine Lebensgeschichte erforschen?«

»Ich halte Sie nicht für dumm.«

»Zu meiner Zeit hat man die Volksschule besucht, danach eine Lehre absolviert. Ich habe Dreher gelernt, mich dann bei der Polizei beworben. Ochsentour. Wach- und Wechseldienst, dann zur Kripo. Von der Pike auf. Gestartet als Kriminalassistent und in Jahrzehnten aufwärtsgedient. Für so einen gibt es keinen Aufstieg in den gehobenen Dienst.« Putensenf zog die Mundwinkel herab. »Und heute? Da kommen die Grünärsche frisch zur Polizei und beginnen gleich als Kommissar.«

»Und das hat Sie verbittert?«

»Hm!«

Für den Rest der Fahrt verfiel Putensenf erneut in eisiges Schweigen.

Am Eingang des Fleischbetriebes wiederholte sich die Prozedur, die Frauke von ihrem ersten Besuch bereits kannte, obwohl diesmal ein anderer Pförtner Dienst hatte. Die beiden Beamten wurden von der Frau mit dem kurzen Raspelschnitt abgeholt und zu Alexander Steinhövel geleitet.

Der Geschäftsführer empfing sie mit einem jovialen Händedruck.

»Frau, äh … wie war noch gleich Ihr Name?«

»Dobermann.«

»Richtig. Entschuldigung. Letztes Mal waren Sie in Begleitung eines anderen Herrn hier.«

Frauke wies auf Putensenf. »Das ist mein Kollege, Herr Putensenf.«

Steinhövel drückte dem Kriminalhauptmeister die Hand. Es schien, als wollte er sie gar nicht mehr loslassen.

»Nehmen Sie bitte Platz. Kann ich Ihnen etwas bringen lassen?«

Die beiden Polizisten lehnten dankend ab.

»Gibt es etwas Neues? Das ist schon merkwürdig, was Tuchtenhagen widerfahren ist.«

Frauke ging nicht auf Steinhövels Frage ein.

»Uns interessiert, welche Funktion Simone Bassetti in Ihrem Betrieb wahrnimmt.«

Steinhövel legte den Daumen auf die Wange, spreizte die Finger und drückte Zeige- und Mittelfinger gegen die Schläfe.

»Bassetti? Bassetti?«, murmelte er.

»Wie kommen Sie bei dem schlechten Namensgedächtnis zu Ihrem Job?«, fuhr Putensenf ihn an.

»Entschuldigung, aber haben Sie eine Vorstellung, wie viele Mitarbeiter wir haben?«, empörte sich der Geschäftsführer.

»Immerhin wissen Sie, dass es sich um einen Angestellten handelt«, entgegnete Putensenf.

Frauke sah das Erschrecken in Steinhövels Augen. Er fühlte sich offensichtlich ertappt.

»Bei unserem ersten Besuch haben Sie uns an den Arbeitsplatz von Simone Bassetti geführt«, sagte sie.

»Ach ja. Ich erinnere mich. Das war in der Schinkenräucherei.«

»Und da ergibt sich für uns ein merkwürdiger Zufall. Simone Bassetti kennt Thomas Tuchtenhagen, der ebenfalls bei Ihnen beschäftigt ist.«

»Das ist wirklich ein Zufall«, sagte Steinhövel. »Fachlich haben die nichts miteinander zu tun.«

»Komisch«, fuhr Putensenf dazwischen. »Plötzlich wissen Sie genau, an welchen Positionen die beiden Männer beschäftigt sind, obwohl Sie sich eben nicht an Bassetti erinnern konnten.«

»Die beiden scheinen sich aber intensiver zu kennen«, fuhr Frauke fort. »Sie haben sich, nachdem beide nicht mehr an ihren Arbeitsplatz zurückgekehrt sind, nachweislich noch einmal getroffen.«

»Wo denn?«, fragte Steinhövel.

Frauke wollte dem Geschäftsführer nichts von der Begegnung in Goslar erzählen. Stattdessen fragte sie: »Bassetti ist in der Schinkenräucherei beschäftigt?«

»Jaa«, antwortete Steinhövel gedehnt.

»Und Marcello Manfredi ist ein wichtiger Abnehmer Ihrer Schinkenprodukte?«

»Manfredi? Der Name sagt mir nichts. Doch! Warten Sie. Ist das nicht der Mann, der vor Kurzem ermordet wurde?« Steinhövels Blick wechselte zwischen Frauke und Putensenf hin und her.

»Da haben wir ja Glück, dass Sie sich nicht erneut auf Ihr schwaches Namensgedächtnis berufen«, sagte Putensenf.

»Und Sie wollen nicht wissen, dass Manfredi ein Kunde von Schröder-Fleisch ist?«

»Hören Sie. Wissen Sie, wie groß der Betrieb ist? Da kenne ich doch nicht jeden Abnehmer.«

»Nur die Großkunden?«, fragte Frauke.

»Sicher.«

»Und bei welcher Umsatzhöhe beginnt ein Großkunde?«

»Das kann man so nicht sagen«, wand sich Steinhövel.

»Dürfen wir einen Blick in Ihre Buchhaltung werfen? Dann könnten wir uns selbst überzeugen, welche Bedeutung der Kunde Manfredi für Sie hatte«, sagte Frauke.

»Das dürfen Sie nicht so ohne Weiteres.«

»Wir besorgen uns einen Beschluss des Richters, und in einer halben Stunde wimmelt es hier von Polizisten und Mitarbeitern der Staatsanwaltschaft. Organisierte Kriminalität heißt das Zauberwort.«

Steinhövel lehnte sich zurück. Er war leichenblass geworden. »Das können Sie doch nicht machen.«

»Das ist erst der Anfang. Was meinen Sie, wie begierig die Presse einen neuen Skandal in der Fleisch verarbeitenden Industrie aufgreift? Ich kann mir gut vorstellen, dass die großen Handelsketten über solche Publicity nicht begeistert sind.«

Steinhövel zog ein Papiertaschentuch aus der Tasche und tupfte sich damit die feinen Schweißperlen von der Stirn.

»Es hat früher schon einmal Probleme gegeben. Mit unserem Tochterunternehmen in Oldenburg. Wir sprachen darüber.«

»Dann haben Sie jetzt das nächste Problem an der Backe«, sagte Putensenf.

»Also … das läuft ganz sauber. Wir haben einem guten Kunden lediglich einen Gefallen getan«, stammelte Steinhövel.

»Und der gute Kunde war Manfredi?«

Der Geschäftsführer nickte.

»Das war kein Geschäft, das für uns Substanz erhaltend war. Wir hätten unsere Ware auch an anderer Stelle gut absetzen können. Es ist sicher unbestritten, dass wir für unsere herausragende Qualität bekannt sind.«

»Wir wollen jetzt keinen Marketingvortrag hören«, sagte Putensenf und beugte sich ein wenig vor.

»Ich hätte dem auch keine Bedeutung beigemessen, aber dieses Geschäft war ein persönlicher Wunsch unseres Chefs.«

»Des alten Herrn Schröder? Ich denke, der hat sich in eine stille Ecke der Schweiz zurückgezogen?« Frauke erinnerte sich an Steinhövels frühere Aussage.

»Deshalb ist er aber noch lange nicht senil. Sagt Ihnen Schröder-Bau etwas?«

Frauke und Putensenf nickten im Gleichklang.

»Deren Baustellen finden Sie hier in Hannover an jeder Straßenecke. Ferdinand Schröder. Der jetzige Inhaber von Schröder-Bau ist der Sohn des Cousins unseres Chefs.«

Irgendwie scheinen alle miteinander verwandt und verschwägert zu sein, dachte Frauke. Schröder-Bau war schon einmal aufgetaucht. Für dieses Unternehmen waren die Marmormuster bestimmt, die der Bote in Manfredis Büro gebracht hatte.

Laut sagte sie: »Und was ist mit Schröder-Bau?«

»Die haben sich in den letzten Jahren stark im Ausland engagiert. Sie bekommen viele Aufträge aus Italien.«

»Und was hat das mit Ihnen zu tun?«

»Nun ja …« Steinhövel hob die Hände und drehte die Handflächen nach oben. »Es war eine Anweisung von Herrn Schröder. Ich vermute, er hat seinem Großneffen damit einen Gefallen getan.«

»Es bleibt Ihnen überlassen, wem Sie Ihren Schinken verkaufen. Sie sollten ihn dabei aber korrekt auszeichnen«, sagte Frauke.

Steinhövel tupfte sich erneut die Schweißperlen von der Stirn.

»Ich war strikt dagegen. Das dürfen Sie mir glauben. Auf den Rechnungen und den Lieferpapieren war die Ware auch als Katenschinken ausgezeichnet. Auch unser Preis hat sich am Marktüblichen für diese Spezialität orientiert. Lediglich die Verpackung …«

»Was war mit der Verpackung?«

»Wir haben die Ware gleich für den Export verpackt. Und auf der Verpackung stand »original italienischer Parmaschinken«. Auf Italienisch. Und als Herkunftsland wurde Italien angegeben.«

»Das ist Betrug.«

Steinhövel winkte ab. »Ich hatte doch keine andere Chance. Man hat mich dazu gezwungen.«

»Paul Schröder?«

Der Geschäftsführer nickte resigniert.

»Und welche Funktion hatte Bassetti?«

»Der hat das Ganze überwacht.«

»Das ist doch lächerlich. Überall ist man bestrebt, Personal abzubauen und den Betriebsablauf zu rationalisieren, und Sie beschäftigen einen Mitarbeiter, der nichts anderes macht, als auf das Einpacken des Schinkens zu achten.«

»Es ist wirklich so«, jammerte Steinhövel.

Frauke erinnerte sich an den polnischen Vorarbeiter Marek Besofski, der sich bitter darüber beklagt hatte, dass der unbeliebte Simone Bassetti nur herumlungern und offensichtlich nicht arbeiten würde.

»Wo haben Sie das Verpackungsmaterial für den Schinken?«, fragte Frauke.

»In der Produktionshalle. In einem Extrafach. Das war verschlossen und wurde von Bassetti verwaltet.«

Als die beiden Beamten aufbrachen, ließen sie einen sichtlich konsternierten Alexander Steinhövel zurück.

»Wenn man Sie ansieht, könnte man vermuten, Sie wären eine Frau, obwohl Ihr Auftreten alles andere als weiblich war. Sie sind beinhart«, brummte Putensenf im Auto.

»Sollte das ein Kompliment sein?«, fragte Frauke und lächelte in sich hinein.

»Das erwarten Sie von mir nicht wirklich.«

»Nein.«

»Dann will ich Sie auch nicht enttäuschen.«

Als sie zurück im LKA waren, leiteten sie die weiteren Maßnahmen gegen Schröder-Fleisch, den Geschäftsführer und weitere Mitwisser ein. Um den Betrug mit dem falsch deklarierten Schinken würden sich andere Dienststellen kümmern.

Frauke hatte das Büro leer vorgefunden. Madsack war ausgeflogen und hatte auch keine Nachricht für sie hinterlassen. Sie probierte, sich in den Rechner des Hauptkommissars einzuloggen, aber es gelang ihr nicht. Sie hätte gern das Protokoll über ihren Besuch bei Schröder-Fleisch erstellt.

Es war früher Nachmittag, als Madsack zurückkam. Er sah abgekämpft aus und ließ sich schwer atmend in seinen Stuhl fallen.

»Das ist ein harter Brocken«, stöhnte der schwergewichtige Hauptkommissar. »So etwas habe ich selten erlebt. Der schweigt eisern.«

»Haben Sie ihn mit allen gegen ihn gerichteten Verdachtsmomenten konfrontiert?«

»Sicher. Wir haben alles versucht. Bassetti saß nur da, grinste und schwieg. Er hat nicht einmal behauptet, dass er Probleme mit der Sprache hätte. Das hören wir oft bei Ausländern. Er hingegen hat sich zurückgelehnt, die Arme vor der Brust verschränkt und geschwiegen. Gelegentlich hat er dumm gegrinst. Das war alles.«

»Irgendwann kommt der Punkt, an dem die Verdächtigen ihre Unschuld beteuern, die Polizei verhöhnen oder nach Beweisen fragen.«

»Nichts. Kein Wort.«

»Er muss sich seiner Sache sehr sicher sein. Anders ist das nicht erklärbar.«

Putensenf erschien in der Tür, warf Madsack ein Blatt Papier auf den Tisch und erklärte: »Das hat mir Mölders in die Hand gedrückt. Das wird euch interessieren.« Dann verschwand der Kriminalhauptmeister wieder.

Madsack las das Papier. »Das hätten wir wissen müssen«, sagte er dann und reichte es Frauke.

Es war ein Kurzbericht der ballistischen Untersuchung. Die KTU teilte mit, dass aus der Waffe, die in Bassettis Wohnung gefunden wurde, in Goslar auf Tuchtenhagens Auto geschossen wurde. Außerdem konnten auf der Waffe Bassettis Fingerabdrücke sichergestellt werden.

»Da wird er sich kaum herauswinden können«, sagte Frauke. »Die Beweise sprechen gegen ihn. Er wird mit Sicherheit keinen Waffenschein haben.«

»Hat er nicht.« Madsack atmete tief durch. »Das habe ich vorher geprüft. Es überrascht nicht, dass es sich um eine Pistole aus italienischer Fertigung handelt.«

»Die Beretta 92 FS Neun-Millimeter-Parabellum ist in der ganzen Welt verbreitet. Die M 9, wie sie auch genannt wird, ist als Ordonanzwaffe bei vielen Armeen und Polizeiorganisationen im Einsatz. Es hat nichts zu sagen, dass es sich um ein Produkt aus dem Land jenseits der Alpen handelt.« Dann berichtete Frauke vom Ergebnis ihres Besuchs bei Schröder-Fleisch.

»Ein weiteres Mosaiksteinchen«, sagte Madsack. »Das sollte reichen, um einen Haftbefehl zu bekommen. Vielleicht wird Bassetti zugänglicher, wenn er eine Weile eingesessen hat.«

»Liegt schon ein Ergebnis der DNA-Analyse vor?«

»Welcher?«, fragte Madsack.

»Vom Fleischhammer, mit dem Manfredi erschlagen wurde.«

»Ich frage einmal nach.«

Madsack rief die KTU an.

»Frisch eingetroffen«, sagte er, nachdem er aufgelegt hatte. »Wir haben aber keine Vergleichsprobe.«

»Versuchen Sie es mit Tuchtenhagen, seiner Frau und Bassetti. Um sicherzugehen, sollten wir auch die beiden Griechen einbeziehen, die in Manfredis Büro geputzt haben. Vielleicht können wir auf diese Weise den Mörder identifizieren. Auch wenn seine Fingerabdrücke verwischt sind, hat er seine ›Duftmarke‹ in Form der DNA über den Hautschweiß hinterlassen.«

Madsack machte sich ein paar Notizen. Dann wuchtete er sich aus dem Stuhl.

»Ich schicke Jakob Putensenf los. Der kann die Vergleichsproben besorgen.« In seinem typischen Watschelgang verließ er den Raum.

Als er zurückkehrte, balancierte er zwei Kaffeebecher.

»Hier.« Er stellte einen vor Frauke ab. »Das haben wir uns jetzt verdient.«

Sie nahmen einen Schluck.

»Es sieht so aus, als wären wir einer Zelle der organisierten Kriminalität auf der Spur«, sagte Madsack. »Geldwäsche. Produktfälschung. Diesmal auf eine Art, die mir bisher auch noch nicht untergekommen ist. Textilien, Uhren, Raubkopien, gefälschte Arzneien. All das überrascht uns nicht mehr. Aber guten niedersächsischen Schinken als Original aus Parma auszugeben? Das ist wirklich etwas Neues.«

»Die Mafia streckt ihre Fühler immer weiter aus. Sie hat längst den Dunstkreis des Halbseidenen verlassen. Der Laie irrt, der glaubt, Mafia wäre gleichbedeutend mit Zwangsprostitution, Drogenhandel und Schutzgelderpressung. Erinnern Sie sich an das große Müllchaos in Neapel? Man munkelt, dass dahinter die Mafia steckte. Die ehrenwerte Gesellschaft ist rund um den Globus tätig und hat sich schon lange in seriösen Geschäftsfeldern festgesetzt. Die Herren tragen Brioni-Anzüge und mischen im globalen Business mit.«

»Probieren wir einmal, ob wir in den Niederungen unseres Geschäfts weiterkommen.« Madsack griff zum Telefon und fragte nach, ob es neue Anhaltspunkte bei der Überwachung von Tuchtenhagens Handy und Kreditkarte gegeben hatte.

»Telefoniert hat er nicht. Aber zwei Mal Gebrauch von der Kreditkarte gemacht. Er hat sich in Goslar bei einem Autoverleiher in der Bismarckstraße einen Ford Focus Turnier besorgt. Auf seinen Namen und mit seiner Kreditkarte. Das ist nicht sehr professionell.«

»Der Mann ist Tierarzt und nicht Berufsverbrecher«, gab Frauke zu bedenken. »Es geht ihm wie der Mehrheit der Bevölkerung. Die Leute wissen gar nicht, wie sie es auf die krumme Tour anstellen sollen. Ihnen fehlt die kriminelle Energie.«

»Dafür zeigt Tuchtenhagen auf der anderen Seite aber viel Geschick, um vor der Polizei zu flüchten«, sagte Madsack. »Wollen Sie das Kennzeichen des Leihwagens haben?«

Frauke nickte und notierte sich die Münchener Zulassungsnummer.

Sie wurden durch Richter unterbrochen. Er warf Frauke einen unfreundlichen Blick zu und sagte mit mürrisch klingender Stimme zu Madsack: »Bassettis Anwalt ist da.«

»Wer ist es?«

»Dottore Alberto Carretta«.

»Ach du Schande«, entfuhr es Madsack.

»Was ist mit dem?«, fragte Frauke.

»Wir haben jetzt keine Zeit für große Erklärungen«, schimpfte Richter. »Komm schon, Nathan. Das macht alles keinen Spaß.«

Madsack schnappte sich seine Unterlagen und folgte in seinem typischen Watschelgang dem Leiter der Ermittlungsgruppe.

Frauke nahm sich noch einmal die Protokolle vor. Mehrfach las sie die Berichte vom Mord an Marcello Manfredi und vom Einsatz auf dem Messegelände. Sie suchte nach Ungereimtheiten, verglich die Aussagen der Zeugen mit den Ergebnissen der Spurensicherung, überdachte kritisch ihre eigene Wahrnehmung vom Schusswechsel, bei dem Lars von Wedell hatte sterben müssen, und fertigte sich schließlich auf mehreren Papierbogen kleine Zeichnungen an. Dann nahm sie eine Karte der Region um Goslar zur Hand und studierte sie sorgfältig.

»Wo sind die anderen?«, wurde sie unterbrochen. Ehlers hielt sich am Türrahmen fest.

»Richter und Madsack verhören Simone Bassetti. Da ist inzwischen der Anwalt aufgetaucht.«

»Wer?«

»Dottore Alberto Carretta.«

»Ausgerechnet. Schlimmer hätte es nicht kommen können. Wo ist Putensenf?«

»Der ist unterwegs und besorgt DNA-Vergleichsproben vom Ehepaar Tuchtenhagen und den beiden griechischen Reinigungskräften aus Manfredis Büro.«

Ehlers fuhr sich mit der gespreizten Hand über die Mundwinkel. »Ich hätte gern das ganze Team dabeigehabt. Dann kommen Sie bitte mit.«

Sie folgte dem Kriminaloberrat in dessen geräumiges Büro. Dort saß ein Mann, etwa Mitte vierzig, mit einem buschigen Oberlippenbart, der ein wenig an Albert Einstein erinnerte. Die runde Nickelbrille verlieh ihm ein fast fröhliches Aussehen, während die ordentlich gescheitelten grau melierten Haare nicht dazu passten. Der Mann in der leichten Wildlederjacke erhob sich, sagte: »Hoppla«, als er eine abgestoßene Aktentasche umstieß, die er gegen das Stuhlbein gelehnt hatte.

Er gab Frauke die Hand. »Hilbiger«, stellte er sich vor.

»Regierungsamtmann Hermann-Josef Hilbiger vom Zollkriminalamt in Köln«, erklärte Ehlers und zeigte auf Frauke. »Erste Hauptkommissarin Frauke Dobermann.«

Hilbiger zeigte ein leises Lächeln, als Ehlers Fraukes Zunamen nannte.

Nach Aufforderung durch den Kriminaloberrat begann der Zollbeamte zu berichten: »Wir haben einen Tipp aus Norwegen bekommen. Dort hat man eine Lieferung Heroin entdeckt. Nicht viel. Eine eher geringe Menge. Auffällig war die Art des Verstecks. Die kleinen Päckchen waren in Parmaschinken versteckt. Original italienische Ware, die von einem Hannoveraner Exporteur geliefert wurde.«

»Manfredi«, unterbrach Frauke den Zollfahnder.

»Genau. Das Heroin war so gut getarnt, dass es dem Zoll nicht aufgefallen war. Ein Delikatessengeschäft in Oslo hat den Schinken erworben und ist beim Anschneiden auf das Tütchen Rauschgift gestoßen. Ein eifriger Mitarbeiter hat die Polizei verständigt, die diskret ermittelt hat. Dabei stellte sich heraus, dass auch noch drei andere Kunden unfreiwillig Heroin erhalten haben. Nach Auskunft des norwegischen Zolls sind die Empfänger ebenso unbeteiligt wie der norwegische Importeur, der versicherte, das erste Mal Ware von Marcello Manfredi bezogen zu haben. Wir müssen deshalb davon ausgehen, dass die Parmaschinken gar nicht für Norwegen bestimmt waren.«

Frauke berichtete von ihrer Entdeckung, dass es sich bei dem Parmaschinken um eine Fälschung aus dem Hause Schröder-Fleisch handeln würde.

»Damit erklärt sich auch, weshalb Simone Bassetti die Produktion überwachte. Der Mann hat vermutlich die Heroinpäckchen in die Schinken platziert, bevor die mit falschen Etiketten verpackt wurden«, schloss Frauke ihren Bericht. »Der polnische Vorarbeiter Marek Besofski hat sich gewundert, weshalb ein weiterer Mann dort tätig war, der nach seiner Aussage nicht in den eigentlichen Herstellungsprozess eingebunden war.«

»Es ist schon erstaunlich, dass ausgerechnet das verpönte Schweinefleisch als ›Hülle‹ für den Rauschgiftschmuggel in den arabischen Raum genutzt wird. Irgendwer hat sich bei den Lieferungen vertan, und die präparierten Schinken sind aus Versehen nach Norwegen gegangen.«

Hilbiger nickte. »Die Skandinavier waren überrascht, als ihnen plötzlich Rauschgift frei Haus geliefert wurde. Und die nächste Überraschung war, als wir hörten, dass unser Hauptverdächtigter Manfredi ermordet wurde.«

»Das könnte dem ganzen Fall eine Wendung geben«, überlegte Frauke.

Ehlers erhob sich. »Dann wollen wir unsere neuen Erkenntnisse in die Tat umsetzen.« Er zwinkerte Frauke zu. »Wir beide werden Richter und Madsack ablösen und die Vernehmung Bassettis fortsetzen.«

Zu dritt gingen sie in den Nebenraum des Verhörzimmers. Durch einen venezianischen Spiegel konnten sie einen Blick auf die vier Männer werfen.

Bassetti hatte sich auf dem Stuhl hingeflegelt und kaute mit offenem Mund Kaugummi. Neben ihm saß ein kleines Hutzelmännchen. Der Anwalt mit dem faltenreichen Gesicht und der zerbrechlichen Gestalt blätterte in seinen Unterlagen. Madsack hatte sich ein wenig zurückgelehnt und die Hände vor der Brust verschränkt, während Richter die Unterarme auf der Tischkante liegen hatte, die Hände gefaltet hielt und nervös seine Finger bewegte.

Das ist kein gutes Signal für den Verdächtigten und seinen Anwalt, dachte Frauke. Sie war überzeugt, dass Dottore Carretta ein gewiefter und erfahrener Advokat war. Dem alten Mann blieb sicher nicht verborgen, wie nervös Richter auftrat.

»Ihr Schweigen bringt Sie nicht weiter«, sagte Richter zu Bassetti. Seine Stimme klang müde und abgespannt. »Ihr Anwalt sollte Sie beraten, dass ein Geständnis vor Gericht strafmildernd gewertet wird.«

»Man kann nur etwas gestehen, das man auch begangen hat«, sagte der Anwalt. Er sprach mit hoher und brüchiger Stimme.

»Wie alt ist der Mann?«, fragte Frauke.

»Ich weiß es nicht«, antwortete Ehlers. »Ich schätze, er hat die siebzig locker überschritten. Deshalb sollte man aber nicht hoffen, dass er senil ist. Carretta ist schon lange in Deutschland. Er ist mit allen Wassern gewaschen.« Ehlers griff zum Telefonhörer, drückte auf einen Knopf und hatte Kontakt zu Richter.

»Hier Ehlers. Frau Dobermann und ich werden Sie jetzt ablösen«, sagte er.

Durch den einseitigen Spiegel sah man, wie der Hauptkommissar ungläubig in Richtung der unsichtbaren Beamten im Nebenraum sah. Zunächst schien es, als wolle er protestieren. Dann nickte er unmerklich und sprach Madsack an. »Die Kollegen übernehmen.«

Madsack schien genauso überrascht, ließ es sich aber kaum anmerken. Die beiden Beamten rafften ihre Unterlagen zusammen und gingen zur Tür.

Auch Bassetti und sein Rechtsbeistand waren verblüfft. Beide wechselten einen Blick. Bassetti sah Carretta fragend an, und der alte Anwalt hob kurz die Augenbrauen.

Bassetti straffte sich. Er sah den beiden Beamten nach, die den Verhörraum verließen. Mit dem Kopf wies der Italiener in Richtung Tür. Dann sprach er lebhaft auf seinen Anwalt ein. Er bediente sich des Italienischen, wurde aber abrupt durch Dottore Carretta unterbrochen. Der Anwalt hatte nur wenige Worte gesprochen. Es war sehr leise gewesen, klang aber wie das Zischen einer Natter.

»Der Fuchs ist schlau«, sagte Ehlers zu Frauke. »Er weiß, dass alles aufgezeichnet wird, auch wenn die beiden Verhörbeamten den Raum verlassen haben. Es nützt auch nichts, wenn die beiden italienisch sprechen. Wir übersetzen es.« Er nickte in Richtung des venezianischen Spiegels. »Kommen Sie, Frau Dobermann.«

Frauke folgte Ehlers.

»Guten Tag«, grüßte der Kriminaloberrat, als er den Raum betrat. »Ich bin Kriminaloberrat Ehlers. Das ist Frau Erste Hauptkommissarin Dobermann.«

Bassetti wollte aufspringen, als er Frauke sah, wurde aber von Carretta daran gehindert. Seine Augen funkelten böse. Er zeigte auf Frauke und schimpfte: »Die verdammte Ziege hat mir das eingebrockt. Die ist an allem schuld. Weiber sollen sich um die Kinder kümmern. Und wenn sie keine haben, gehören sie in den Puff.«

Erneut wies der Anwalt seinen Mandanten zurecht. Es sah aus, als wollte Bassetti aufbegehren, dann beließ er es aber doch bei einer wütenden Handbewegung.

»Warum tauschen Sie das Personal aus?«, fragte Dottore Carretta.

Ehlers hatte einen Stuhl zurückgeschoben und hielt ihn Frauke hin. Nachdem sie Platz genommen hatte, setzte er sich neben sie.

»Das ist keine Frage, die für die Rechtsfindung von Bedeutung ist«, sagte Ehlers.

»Oh, ein ganz harter Hund«, erwiderte Bassetti.

Ehlers ignorierte die Bemerkung ebenso, wie Frauke darüber hinwegsah, dass der Italiener eine Grimasse in ihre Richtung zog.

»Seit gestern Abend halten Sie meinen Mandaten widerrechtlich fest, ohne bisher einen konkreten Grund dafür genannt zu haben.« Dottore Carretta sprach leise. Man musste sich konzentrieren, um seine Worte zu verstehen.

Frauke musterte den zerbrechlich wirkenden Mann. In dem faltenreichen Gesicht zeigte sich kein Mienenspiel. Der Anwalt warf ihr einen kurzen Blick zu und konzentrierte sich wieder auf den Kriminaloberrat.

»Herr Bassetti weiß genau, weshalb wir ihn verhaftet haben«, sagte Ehlers.

»Er ist sich keiner Schuld bewusst. Außerdem ist es Ihre Aufgabe, angebliche Schuldzuweisungen zu erheben.«

»Haben Sie überhaupt eine Zulassung als Anwalt in Deutschland?«, fragte Ehlers und lächelte Carretta milde an.

»Lassen Sie solche Mätzchen. Ich sitze hier nicht als Freund der Familie.«

»Der Familie?«, mischte sich Frauke ein.

Für einen kurzen Moment war es totenstill im Raum. Den beiden Beamten war das unmerkliche Zucken von Carrettas Augenlidern nicht entgangen.

»Was wollen Sie damit andeuten?«, fragte der Anwalt.

»Sie gelten als erfahrener und gerissener Rechtsvertreter«, sagte Frauke. Sie machte nicht den Fehler, Ehlers anzusehen, um sich durch einen Seitenblick zu vergewissern, dass der Kriminaloberrat sich nicht übergangen fühlte.

Ehlers erwies sich als ausgesprochen geschickt. Auch er sah nicht zur Seite, sondern lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. Frauke verstand die Geste richtig. Ihr Vorgesetzter hatte ihr das Verhör überlassen.

Prompt fiel Bassetti darauf herein.

»Soll die da das jetzt machen?« Seine Stimme schwankte zwischen Keifen und Erstaunen.

»Ihr Mandant ist aber kein wohlerzogenes Kind der Familie. Da wird der Patron wenig erfreut sein«, sagte Frauke.

»Die blöde Kuh will doch nicht behaupten, ich hätte etwas mit der Mafia zu tun.« Bassetti unterstrich jeden seiner Sätze mit lebhaften Gesten. Zuletzt hatte er sich heftig gegen die eigene Brust geklopft.

»Ihre Worte zeigen mir, dass es Ihnen an jeder Ernsthaftigkeit mangelt«, sagte Dottore Carretta und raffte die vor ihm liegenden Papiere zusammen. »Das Gespräch ist hiermit beendet. Wir werden gehen.«

Er zögerte einen Augenblick, um die Reaktion der beiden Beamten abzuwarten. Als die reglos sitzen blieben, wirkte der Anwalt für einen Moment unsicher. Dann stand er auf.

»Wir gehen«, sagte er noch einmal mit Nachdruck.

Auch Bassetti hatte sich erhoben.

Frauke zeigte mit dem ausgestreckten Finger zunächst auf den Anwalt. »Sie – ja.« Dann schwenkte ihr Finger zu Bassetti. »Der bleibt.«

»Nein!«

»Doch!« Sie hatte ruhig gesprochen und ebenfalls die Stimme gesenkt.

Dottore Carretta streckte den Kopf etwas in ihre Richtung.

»Können Sie ein wenig lauter sprechen? Ich höre schwer.«

»Man sagt, Sie würden sonst die Flöhe husten hören. Bitte.« Sie zeigte zur Tür. »Wir werden ihn da weiterverhören.«

»Wie spricht die mit mir?« Bassettis Stimme klang erregt. »Er da. Ihn. Der. Ich heiße Simone Bassetti. Wo bleibt die Höflichkeit? Muss ich mir das gefallen lassen? Und dieser Schwachsinn von der Mafia.«

Dottore Carretta nahm wieder Platz.

»Behaupten Sie ernsthaft, mein Mandant hätte Kontakte zur organisierten Kriminalität?«

»Ja.«

Als wären sie ein seit Langem eingespieltes Team, trugen Frauke und Ehlers im Wechsel die gegen Bassetti erhobenen Beschuldigungen vor. Zunächst berichtete Frauke von der Produktfälschung bei Schröder-Fleisch.

»Das müssten Sie fundierter beweisen«, unterbrach sie Dottore Carretta, nachdem er eine Weile still zugehört hatte, während Bassetti sich wie ein kleines Kind aufführte, Laute wie »Pah«, »No, no, no« und »Tsch« einstreute und nicht nachließ, seine Hände lebhaft zu bewegen.

»Dazu gibt es Zeugenaussagen. Und wir werden seine Fingerabdrücke vorlegen.«

»Das kannst du nicht, du blöde Ziege. Du hast ja keine Ahnung. Bei Schröder-Fleisch habe ich immer Handschuhe getragen. Allein aus Gründen der Hygiene.«

Bassetti war der Einzige im Raum, der nicht bemerkt hatte, wie er sich verplapperte.

»Wir haben ein ballistisches Gutachten, dass mit der Waffe, die wir in Ihrer Wohnung gefunden haben, in Goslar ein Mordanschlag auf Thomas Tuchtenhagen verübt wurde«, sagte Frauke.

»Mordanschlag. Wenn ich gewollt hätte, hätte ich Tuchtenhagen doch umlegen können.«

»Immerhin leugnen Sie nicht, in Goslar auf dem Parkplatz geschossen zu haben. Auch dafür gibt es zahlreiche Augenzeugen. Und die Waffe wurde nachweislich von Ihnen benutzt. Sie sollten sich von Ihrem Anwalt aufklären lassen, dass man heutzutage auch nach einer gründlichen Reinigung der Hände die Schmauchspuren noch nachweisen kann, wenn jemand eine Waffe benutzt. Und Sie haben sich die Hände schmutzig gemacht.«

Dottore Carretta war die Doppeldeutigkeit von Fraukes Bemerkung nicht entgangen. Klugerweise schwieg er aber zu den vorgetragenen Fakten.

Bassetti richtete sich kerzengerade auf. »Mordanschlag. Sie glauben doch nicht im Ernst, dass ich vorbeigeschossen hätte, wenn ich Tuchtenhagen hätte töten wollen.«

»Bei Marcello Manfredi haben Sie gründlicher gearbeitet und nicht gepfuscht. Der war tot.«

Bevor Bassetti antworten konnte, fuhr der Anwalt dazwischen. »Mein Mandant wird jetzt kein Wort mehr sagen. Ihre ganzen sogenannten Anschuldigungen sind ein reines Phantasiegebäude.«

»Wir haben auf dem Fleischhammer, mit dem Manfredi erschlagen wurde, DNA-Spuren sichern können. Der Täter trug keine Handschuhe – wie in der Fleischfabrik –, sondern hat die Tatwaffe mit schwitzenden Händen angefasst.«

Frauke sah Bassetti mit durchdringendem Blick an. »Vielleicht wollten Sie Manfredi gar nicht ermorden. Es ist zum Streit gekommen, und Sie haben den Fleischhammer gegriffen, von dem wir wissen, dass er als Zierrat auf der Schreibtischkante lag. Hat Manfredi Sie angegriffen, und Sie haben im Affekt gehandelt? Mit Glück könnte Ihnen ein Gericht mildernde Umstände zubilligen. Das trifft aber nicht auf den Mord an unserem Kollegen zu. Das war eiskalt und berechnend.«

»Schluss. Wir sagen nichts mehr«, sagte Dottore Carretta mit Entschiedenheit. Zum ersten Mal hatte er laut gesprochen. Seine Worte waren so energisch vorgetragen, dass Bassetti sich zurücklehnte, die Hände unter den Oberschenkeln vergrub und wie ein trotziges Kind die Lippen zu einem schmalen Spalt zusammenpresste.

Obwohl Frauke und Ehlers es noch auf verschiedene Weise versuchten, war dem Gespann keine weitere Äußerung mehr zu entlocken. Der Kriminaloberrat brach das Verhör schließlich ab und ließ Bassetti in die Zelle zurückbringen, während Dottore Carretta sich ohne Verabschiedung entfernte.

Im Nebenraum wurden sie von Richter und Madsack erwartet.

Ehlers machte einen zufriedenen Eindruck. »Das war für den Anfang schon eine ganze Menge«, sagte er. »Das haben Sie gut gemacht, Frau Dobermann.«

»Woher stammen die Informationen? Und warum hat man sie uns vorenthalten?« Bernd Richter sah Frauke mit einem finsteren Blick an.

»Niemand hat etwas zurückgehalten«, sagte Ehlers und machte mit beiden Händen eine beschwichtigenden Geste. »Die neuen Erkenntnisse sind von den Kollegen Dobermann und Putensenf erarbeitet worden. Außerdem haben wir Amtshilfe vom Zollkriminalamt aus Köln erhalten. Ein Zufallsfund in Oslo führte direkt zu Manfredi und Schröder-Fleisch. So war es nicht schwer, eine Verknüpfung zwischen Bassetti und den anderen Taten herzustellen. Die Beschaffung hieb- und stichfester Beweise sollte nur noch Fleißarbeit sein.« Ehlers nickte Frauke zu. »Fassen Sie bitte die neue Lage zusammen.«

Frauke berichtete von den Ermittlungen in der Fleischfabrik und gab auch eine Zusammenfassung der Fahndungsergebnisse des Zolls und der norwegischen Polizei ab.

»Es wäre doch ein Leichtes gewesen, uns schlauzumachen.« Richter war immer noch aufgebracht. »Stattdessen lassen Sie Madsack und mich da drinnen«, dabei zeigte er auf den Spiegel, der den Blick in den Verhörraum freigab, »wie die Deppen aussehen.«

»Beruhigen Sie sich, Herr Richter.«

»Nein«, unterbrach der Hauptkommissar Ehlers. »Das untergräbt unsere Autorität für die Zukunft. Dieser italienische Winkeladvokat nimmt künftig weder Madsack noch mich für voll.«

»Wie bringen wir das Ganze in Verbindung mit dem Mord an – äh – Lars von Wedell?« Madsack war sichtlich bemüht, durch einen Wechsel des Themas die Gemüter zu beruhigen.

Frauke hatte das zögerliche »Äh« vor dem Aussprechen von von Wedells Namen bemerkt. Der rundliche Hauptkommissar war immer noch vom Tod des jungen Kollegen berührt.

»Das wissen wir noch nicht. Alle anderen Taten können wir uns zusammenreimen. Das erscheint mir ziemlich schlüssig«, sagte Frauke. »Aber warum Lars ermordet wurde …?« Sie zuckte mit den Schultern.

Richter schüttelte heftig den Kopf. »Ich stimme Ihrer Theorie noch nicht zu. Noch nicht! Es gibt vieles, was gegen Thomas Tuchtenhagen und seine Frau spricht. Schließlich sind beide auf der Flucht. Haben Sie einen Grund dafür?« Die Frage galt Frauke.

»Das kann ich nicht erklären«, gestand sie ein.

»Es ist doch merkwürdig, dass sich das Ehepaar Tuchtenhagen unserem Zugriff entzieht. Vergessen Sie nicht, dass der Mann auf dem Messegelände nicht nur von mir gesehen wurde, sondern es zahlreiche andere Zeugen gibt, die ihn erkannt haben.«

»Ja. Das verstehe ich auch nicht.«

»Na prima.« Richter klang schon wieder eine Spur selbstzufriedener. »Wissen Sie, was ich glaube? Wir jagen einem Phantom hinterher. Mag sein, dass Bassetti in krumme Geschäfte verwickelt war. Wer sagt uns, dass der Geschäftsführer von Schröder-Fleisch …«

»Steinhövel«, unterbrach ihn Madsack.

»Ich weiß, wie der Mann heißt«, sagte Richter gereizt. »Der steckt meines Erachtens mit Bassetti unter einer Decke. Die haben den profanen niedersächsischen Landschinken als Original Parmaschinken verschoben. Es ist gut möglich, dass Manfredi da mitgemischt hat. Aber das dürfte schon alles sein.«

»Und das Heroin? Wer hat das im Schinken versteckt?«, gab Frauke zu bedenken.

»Manfredi. Der wollte zusätzlich etwas verdienen und hat Rauschgift geschmuggelt. Dabei ist ein Teil der Ware irrtümlich nach Norwegen exportiert worden, und der Schwindel ist aufgeflogen.«

»Und deshalb musste Manfredi sterben?«, fragte Frauke.

Richter antwortete nicht.

»Wenn Manfredi Geschäfte auf eigene Rechnung gemacht hat, ich meine das Heroin, dann hat er die Kreise der Mafia gestört. Dafür musste er sterben«, fuhr Frauke fort.

»So ein Blödsinn – Mafia. Sie glauben doch nicht im Ernst, dass die sich mit solchem Kinderkram abgibt. Sie beleidigen die Cosa Nostra, wenn Sie unterstellen, dass die so blutige Amateure wie Simone Bassetti als Killer schickt. Nein! Die Zeiten sind vorbei, in denen die sogenannte Mafia ihre Mörder in die Welt reisen ließ.«

»Beide Theorien haben etwas für sich«, unterbrach Ehlers das Streitgespräch zwischen Frauke und Richter. »Fakt ist, dass wir keine Erklärung für den Mord an Lars von Wedell haben.«

»Wir müssen das Ergebnis der Kriminaltechnik abwarten«, sagte Frauke. »Dann wissen wir, ob unser Kollege mit der Waffe erschossen wurde, die wir bei Bassetti sichergestellt haben.«

»Wenn ich mal etwas anmerken darf«, mischte sich Madsack ein. »Lars von Wedell wurde mit einer Waffe vom Kaliber 7,65 Browning erschossen. Die KTU hat sechs Züge Rechtsdrall festgestellt.«

»Toll«, antwortete Richter scharf. »Das haben fast alle Waffen.«

»Nur Bassettis nicht«, entgegnete Frauke, und ihre Stimme klang ein wenig resigniert. »Das war eine Neun-Millimeter-Parabellum. Das könnte dafür sprechen, dass Bassetti nicht von Wedells Mörder ist.«

»Herrje – davon spreche ich die ganze Zeit.« Richter war immer noch aufgebracht.

»Wir wissen, dass es noch viel zu klären gilt. Also – ran an die Arbeit«, schloss Ehlers die Gesprächsrunde.

Fünf Minuten später las Madsack eine neu eingetroffene Nachricht der Kriminaltechnik vor.

»Lars von Wedell wurde nicht mit Bassettis Waffe erschossen. Das steht definitiv fest.«

Frauke setzte ihren Kaffeebecher ab, den der schwergewichtige Hauptkommissar bei der Rückkehr vom Verhörraum in das gemeinsam genutzte Büro besorgt hatte.

»Das hatte ich erwartet.«

Madsack schüttelte den Kopf. Dabei bewegte sich sein Doppelkinn heftig.

»Ich verstehe die Zusammenhänge nicht. Auch wenn Bassetti noch leugnet, sprechen viele Indizien dafür, dass er der Mörder Manfredis ist. Ich glaube aber nicht, dass er aus eigenem Antrieb gehandelt hat. Bassetti ist ein Handlanger. Er hat die Manipulation des Schinkens gesteuert und das Rauschgift versteckt. Auch wenn uns noch der letzte Beweis fehlt, gehe ich davon aus, dass er Manfredi erschlagen hat. Aber warum?«

Frauke pustete vorsichtig in ihren Kaffeebecher, bevor sie versuchte, die Spur Lippenstift vom Rand abzuwischen. Madsack schien das nicht entgangen zu sein. Diskret wandte er sich ab und kramte in seiner Schreibtischschublade. Er tauchte mit einer Packung Geleebananen auf und hielt sie Frauke hin.

»Dieser Versuchung kann ich selten widerstehen«, gestand er.

Sie lehnte mit einem Lächeln dankend ab und betrachtete Madsack einen Moment versonnen. Sie hatte noch keine Erklärung dafür, warum der Hauptkommissar bei jeder Gelegenheit Süßes und Kalorienhaltiges in sich hineinstopfte. Er war stets tadellos gepflegt, achtete auf seine Kleidung und, das war besonders auffällig, hatte ein feines Gespür für die Seelenlage seines Gegenübers. Madsack hatte nicht nur ein höfliches Auftreten, sondern verstand es auch, durch sein Verhalten und die Art, wie er ein Gespräch führte, dem anderen das Selbstwertgefühl zu belassen. Eine Eigenschaft, dachte Frauke, die manchem Polizisten im Laufe vieler Dienstjahre abhandengekommen ist. Wie komme ich jetzt darauf?, überlegte sie. Ach ja. Natürlich hat er gesehen, dass ich den Lippenstift beseitigen wollte. Sein Herumkramen nach den Süßigkeiten war nur ein Ablenkungsmanöver. Madsack war sicher ein feiner Kerl, fast eine Art Teddybär. Dann gab sie sich einen Ruck. Hier und jetzt war kein Platz für Sentimentalitäten.

»Ich stimme Ihrer Einschätzung in jedem Punkt zu. Die DNA-Spuren am Fleischhammer werden Bassetti überführen.«

Madsack schenkte ihr ein Lächeln, als er sich in seinem Sessel zurücklehnte. Er kniff die Augen zusammen, dass sie kaum noch zu erkennen waren.

»Ich kenne Kollegen, die hätten jetzt formuliert: Ich wette, dass wir Bassetti überführen können.«

»Solche Sprüche werden Sie von mir nie hören. Unsere Arbeit ist kein Wettgeschäft. Da gibt es nur Fakten.«

Madsack schlug mit der flachen Hand auf die Schreibtischplatte.

»Fakten! Fakten! Fakten!«, sagte er dabei im Takt.

Jetzt mussten beide lachen, zumal der Hauptkommissar jenem übergewichtigen Journalisten nicht unähnlich sah, der diesen Spruch geprägt hatte.

»Das werde ich jetzt beherzigen«, sagte Frauke. »Was haben wir übersehen?«

»Das immer noch flüchtige Ehepaar Tuchtenhagen?« In Madsacks Stimme lag etwas Lauerndes.

Frauke nickte. »Das ist immer noch eine große Unbekannte in unserer Gleichung. Alles deutet darauf hin, dass Thomas Tuchtenhagen der Mörder von Wedells ist. Richter wird sich kaum geirrt haben. Und warum ist Manuela Tuchtenhagen so eilig aus dem Büro Manfredis geflüchtet? Sicher wird sie erschrocken gewesen sein, als sie ihren toten Chef entdeckte. Aber das sollte kein Grund sein, sich vor der Polizei zu verstecken.«

Madsack nickte versonnen. Dann zeigte er mit der Spitze seines Kugelschreibers auf Frauke. »Genau das ist es, was ich auch nicht verstehe.«

»Ich werde jetzt das tun, was den ehemaligen bayerischen Ministerpräsidenten ausgezeichnet hat.«

Madsack stöhnte theatralisch auf. »Sie wollen mir doch nicht erklären, wie man in München vom Hauptbahnhof zum Flughafen kommt?«

»Nein.« Frauke lächelte entspannt. »Ich werde jetzt die Akten studieren.«

Sie widmete sich in den nächsten Stunden der Durchsicht der Akten, las wiederholt die Protokolle, studierte Landkarten, machte sich Aufzeichnungen, verwarf sie wieder, notierte sich Stichworte, knüllte manche der Notizen wieder zusammen und stopfte sie in ihre Handtasche. Es tat ihr leid, als sie zwischendurch aufsah und gewahrte, dass Madsack sich getroffen fühlte, weil sie ihm durch ihr Verhalten zeigte, dass sie ihm nicht vertraute.

»Das ist meine Arbeitstechnik«, erklärte Frauke und markierte von nun an die nicht mehr benötigten Zettel mit einem Kreuz, sodass es ihrem Gegenüber nicht auffiel, dass sie weiterhin überflüssiges Papier produzierte.

Madsack führte eine Reihe von Telefongesprächen und widmete sich ansonsten seinem Rechner. Die Stunden vergingen, ohne dass sie miteinander sprachen. Auch von Richter oder Putensenf sah man nichts an diesem Nachmittag.

Gegen fünf Uhr verabschiedete sich Frauke von Madsack.

»Sie wollen schon Feierabend machen?«

Sie nickte.

»Sie wollen Hannover entdecken?«

Erneut nickte sie. Der zugängliche Kollege musste nicht wissen, dass Frauke auch noch andere Dinge zu entdecken hoffte.

»Tschüss«, sagte sie und verließ ihren Gastarbeitsplatz im Landeskriminalamt.

Es kam Frauke wie eine Ewigkeit vor, bis sie endlich die Autobahnauffahrt Richtung Süden erreicht hatte. Auch hier rollte der Verkehr nur mit mäßiger Geschwindigkeit dreispurig Richtung Hildesheim. Dies waren Augenblicke, in denen ihr der Unterschied zwischen Hannover und dem heimischen Flensburg bewusst wurde.

Heimisch? Wohl kaum, dachte sie voller Bitternis. Die Region an der dänischen Grenze war ihr »Revier« gewesen, wie andere Polizisten hinter ihrem Rücken spotteten. Es war ein beschwerlicher Weg gewesen bis zur Leiterin des K1, der »Mordkommission«.

Harte Arbeit, Durchsetzungsvermögen und ein geballtes Maß an Energie hatten ihr einen außergewöhnlichen Ruf eingebracht. Sie nahm es hin, dass man ihren Familiennamen Dobermann verhunzte und ihre Bissigkeit darauf zurückführte.

Sie war ehrgeizig und immer bemüht, ihre Ziele zu erreichen. Beruflich hatte sie es geschafft. In Flensburg. Sie hatte sich – nomen est omen – in einer immer noch von Männern dominierten Welt durchgebissen.

Dabei war das Privatleben auf der Strecke geblieben. Es gab zwar einen Herrn Dobermann. Aber der hatte sich im Laufe der Ehejahre eher zu »Herrn Pinscher« zurückentwickelt. Das war vor zwanzig Jahren anders gewesen.

Wer ständig unter Hochspannung in einem sehr schwierigen beruflichen Umfeld engagiert ist, geht irgendwann an der Aufgabe kaputt. Es sei denn, er versteht es, einen Ausgleich zu schaffen. Und nachdem der Herr Dobermann nur noch als Schoßhund in der Sofaecke lag, hatte sie sich als Frau emanzipiert und für das »Wohlfühlen« andere Männer ausgesucht. Nichts Festes. Nur für den Augenblick. Natürlich hatte das nicht verborgen bleiben können und ihr neben ihrem herben Auftreten zusätzlich einen »schlechten Ruf« eingebracht. Doch darüber war sie erhaben.

Frauke verzog die Mundwinkel zu einem bitteren Lachen. »Ha!«, entfuhr es ihr, und sie erschrak über diese Art der Selbstartikulation. Der smarte und von sich überzeugte Dr. Starke hatte die Leitung der Bezirkskriminalinspektion immer nur als Durchgangsposten und Sprungbrett für die große Kieler Karriere angesehen, obwohl es unter seinen Mitarbeitern niemanden gab, der nicht von der absoluten Unfähigkeit des Mannes überzeugt war. Vielleicht hatte der schmuddelige Husumer Große Jäger recht, dachte Frauke, der den Kriminaldirektor stets als »Scheiß-Starke« bezeichnete.

Und da jeder hoch oben im Norden von Fraukes großzügigem Umgang mit Männern wusste, war es Dr. Starke leichtgefallen, Frauke der sexuellen Belästigung eines Vorgesetzten zu bezichtigen. Sie hatte stets Fehlentscheidungen ihres Vorgesetzten gedeckt und durch eigenes Engagement und das ihrer Mitarbeiter auszugleichen gewusst, während der Kriminaldirektor es immer wieder verstanden hatte, die Erfolge der Mordkommission in der Außendarstellung als eigene zu verkaufen. Als er – wieder einmal – mit falschen Angaben zu einem Fall an die Öffentlichkeit und die Medien herangetreten war und daraus kritische Nachfragen erwachsen waren, hatte er das als Fehler seiner Mitarbeiter herausgestellt. Dagegen hatte sich Frauke gewehrt. Dr. Starke hatte auf seiner Weisungsbefugnis und ein in der Polizei nach seinen Vorstellungen wohlgeordnetes disziplinarisches Verhältnis beharrt. Diesem »Maulkorberlass« hatte Frauke zu widersprechen gedroht. So hatte der Kriminaldirektor wahrheitswidrig behauptet, Frauke habe sich durch eindeutige sexuelle Angebote ihm gegenüber Vorteile verschaffen wollen, und sie auf diese Weise als unglaubwürdig dargestellt.

Danach waren genau drei Tage verstrichen, und sie hatte den Dienst im Landeskriminalamt in Hannover angetreten.

Wer glaubte schon einer »mannstollen« Frau, wie böse Zungen hinter ihrem Rücken kolportierten? Aber das Kapitel »Dr. Starke« war für sie noch nicht abgeschlossen.

Frauke schrak hoch, als ihr bewusst wurde, dass sie eine ganze Weile ihren Gedanken nachgehangen hatte und dabei unkonzentriert im fließenden Verkehr mitgeschwommen war. Sie gab sich einen Ruck und richtete ihre Aufmerksamkeit auf das Geschehen auf der Autobahn.

In Derneburg verließ sie die Autobahn und wunderte sich, dass offenbar doch zahlreiche Menschen in Hannover arbeiteten und in dieser ländlichen Region wohnten. Zumindest ließ das der dichte Verkehr vermuten.

Sie folgte der B 6 in Richtung Goslar und bog in Haverlah von der Schnellstraße ab. Die nächsten zwei Stunden verbrachte sie damit, die kleinen Orte dieser Gegend abzuklappern. Lutter am Barenberge erinnerte sie an jene Schlacht, von der sie im Geschichtsunterricht gehört hatte. Andere Ortsnamen waren ihr bisher fremd gewesen. Ringelheim, Groß Elbe, Upen, Klein Mahner und so weiter. Merkwürdige Bezeichnungen gab es hier, wenn man heimische Namen wie Klanxbüll, Langballig und Süderbrarup gewohnt war.

Auf den teilweise engen und schlechten Nebenstraßen begegneten ihr nur wenige Fahrzeuge, und so legte sie zügig die Distanzen zwischen den Orten zurück. In den kleinen Dörfern hielt sie Ausschau, insbesondere nach den Gasthöfen. Hotels gab es kaum. Der Harhof erwies sich als Ruine, und »Zur Ohlei« wurde schon seit mehreren Jahren angeblich renoviert, wie ihr ein freundlicher Einheimischer erklärte.

Sie kurvte in konzentrischen Kreisen durch das Harzer Vorland und hakte jeden Ort, den sie besucht hatte, auf der Karte ab. Über irgendwelche Nebenstraßen erreichte sie Liebenburg, eine Gemeinde, die nach dem Kartenmaterial ein zentraler Ort zwischen Goslar und Salzgitter sein sollte. Nichts.

Es war eine Schnapsidee, sagte sie sich. Früher hätte sie solche Aktionen nicht ausgeführt, auch nicht durch ihre Mitarbeiter ausführen lassen, sondern als ineffektiv verworfen. Insgeheim ärgerte sie sich über sich selbst, dass der ausgeprägt um den Erhalt seines Status bemühte Bernd Richter sie so weit gebracht hatte. Mobbing-Bernd nannte sie den Teamleiter im Stillen.

Auf der linken Seite lag eine große Domäne, dahinter folgten zwei Weiher, die von der Straße in einem sanften Bogen umrundet wurden. Sie folgte dem schmalen Asphaltband, das bergan führte, ließ eine kleine unbedeutende Siedlung hinter sich und überquerte in einem Einschnitt einen Bergkamm. In der Ferne musste der Saum des Harzes liegen, der in der Dunkelheit aber nicht erkennbar war. Vor Frauke tauchten die Lichter des nächsten Ortes auf. »Othfresen« stand auf dem gelben Schild.

Sie fuhr langsam am Gasthof vorbei und warf einen Blick auf die davor parkenden Fahrzeuge. Nichts. Ein Bahnübergang markierte schon wieder das Ende des Ortes. Nach einem Feldstück folgte ein unscheinbares Gewerbegebiet mit einem Raiffeisenmarkt, einer Tankstelle und zwei Lebensmittelmärkten.

In der Ferne konnte Frauke die Lichterkette der Bundesstraße erkennen. Sie hatte beschlossen, ihre erfolglose Suche aufzugeben und nach Hannover zurückzukehren, als sie auf der linken Straßenseite ein paar Häuser sah.

»Hotel Terrasse Korfu«, las sie über einem schmiedeeisernen Eingangstor, von dem eine Sonne lachte. Neben dem in die Vorharzlandschaft passenden Gebäude mit der mediterran anmutenden Terrasse befand sich ein griechisches Restaurant mit dem originellen Namen »Gasthaus zum Posthof«. Links und rechts des vorgebauten Eingangs befand sich je ein Fenster, vor dem Fahrzeuge parkten. Der rechte Wagen war ein Ford Focus Turnier mit einem Münchener Kennzeichen, das typisch für einen bekannten Autoverleiher war.

Frauke bog nach links in die holprige Seitenstraße ab und fand auf der gegenüberliegenden Straßenseite eine Parkmöglichkeit. Sie überquerte die Fahrbahn und bemerkte das Etikett mit dem Strichcode links neben dem hinteren Nummernschild. Auch daran war für Eingeweihte der Leihwagen erkenntlich.

Es hatte den Anschein, als hätte Thomas Tuchtenhagen in diesem kleinen Hotel Unterschlupf gefunden.

Hinter der Außentür fand sich eine Glastür, die auf den Tresen des Lokals führte. Rechts stand ein Salatbuffet, während sich die Tische vor den Fenstern und links am Tresen entlangzogen.

Tuchtenhagen saß mit dem Rücken zur Tür vor dem linken Fenster und stocherte mit der Gabel in seinem Essen herum. Frauke trat an den Tisch.

»Guten Abend, Herr Tuchtenhagen.«

Erschrocken fuhr der Mann zusammen. Er zog ruckartig den Kopf zwischen die Schultern, rutschte mit der Gabel, die er in der rechten Hand hielt, über den Teller und sah Frauke aus weit geöffneten Augen an. Das ohnehin bleiche Gesicht wurde kalkweiß, dann schoss ein Feuerrot aufs Antlitz.

»Darf ich?«, fragte Frauke und bemühte sich, ruhig und gelassen zu wirken. Sie zeigte auf den Platz gegenüber und setzte sich, ohne die Antwort abzuwarten.

Noch im Stehen hatte Frauke ihre Jacke ausgezogen und über die Lehne des benachbarten Stuhls gelegt.

»Dobermann, Polizei Hannover. Wir haben miteinander telefoniert.«

Tuchtenhagen sah sich um. Als er keinen weiteren Besucher sah, musterte er Frauke. Er sah übernächtigt aus. Schwarze Ringe lagen unter den Augen, die er zusammengekniffen hatte. Zwei tiefe Falten hatten sich von den Nasenflügeln zu den Mundwinkeln ins Antlitz eingegraben, die Rasur war unsauber, und die Bartstoppeln warfen dunkle Schatten.

»Sie sind doch nicht allein?«, fragte Tuchtenhagen und sah sich erneut um.

»Wir haben Sie gefunden«, antwortete Frauke ausweichend.

»Steht das andere Aufgebot draußen vor der Tür?« Es folgte erneut das hektische Umsehen.

Niemand im Restaurant hatte von den beiden Notiz genommen. Der Nachbartisch war unbesetzt, am übernächsten amüsierte sich ein Ehepaar mit einem achtjährigen blonden Mädchen.

Der Wirt war an den Tisch getreten und reichte Frauke die Karte. Dabei warf er einen missbilligenden Blick auf Tuchtenhagen, der wieder mit der Gabel in seinem Essen herumstocherte.

»Danke«, sagte Frauke zum Wirt. »Ich möchte einen griechischen Salat und ein großes Wasser.«

»Ist was mit dem Essen?«, fragte der Wirt schließlich, an Tuchtenhagen gewandt.

Der legte die Gabel ab und schob den Teller ein Stück von sich.

»Nein danke. Der Korfuteller war gut. Ich habe keinen Appetit. Sie können abräumen.«

Der Wirt zuckte mit den Schultern und nahm den Teller. Er hatte sich schon zwei Schritte entfernt, als Tuchtenhagen ihm hinterherrief: »Noch ein Radeberger und einen Ouzo.«

Frauke legte die Hände auf den Tisch.

»Ihr Versteckspiel hat alle Beteiligten viel Kraft gekostet. Sie sollten froh sein, dass es vorbei ist.«

Tuchtenhagen nickte. Er atmete tief durch und stieß dabei einen Seufzer aus. Frauke kannte ein solches Verhalten. Personen, nach denen gesucht wurde, waren oft erleichtert, wenn die Polizei sie gestellt hatte. Dem Fahndungsdruck und dem Zwang, sich verbergen zu müssen und in jedem Menschen, der einem begegnete, den Jäger zu vermuten, waren viele nicht gewachsen. Und Thomas Tuchtenhagen hatte keine Erfahrungen mit dem kriminellen Milieu.

Er fuhr sich mit dem Handrücken über die Stirn und nahm dem Wirt den Ouzo aus der Hand. Noch bevor das Bier auf dem Tisch abgestellt war, hatte Tuchtenhagen den Schnaps heruntergestürzt.

»Das ist alles ganz anders«, sagte er dann.

Fast hätte Frauke laut gelacht. Diesen Satz hatte sie oft gehört. Und er gehörte zum Standard der Autoren von Boulevardkomödien, wenn die Ehefrau ihren untreuen Gatten mit der Gespielin in flagranti überraschte.

»Erzählen Sie.«

»Noch einen Ouzo«, rief Tuchtenhagen dem Wirt zur Theke hinüber.

Man merkte ihm an, dass er im Laufe des Abends schon einige getrunken hatte. Frauke wollte ihm aber keine Vorhaltungen machen. Das hätte womöglich die Bereitschaft, zu reden, beeinflusst.

»Meine Frau«, stammelte Tuchtenhagen. Dann schluckte er tief. Er wischte sich mit Daumen und Zeigefinger zwei Speichelfäden aus den Mundwinkeln. »Die ist weg.«

»Wir suchen Ihre Frau ebenso wie Sie.«

Tuchtenhagen schüttelte den Kopf. »Sie haben keine Ahnung.«

»Sie unterschätzen uns. Ihre Frau ist aus Manfredis Büro geflüchtet und hat Sie verständigt. Sie sind daraufhin in die Wohnung gefahren und haben Sachen für Ihre Frau eingepackt.«

»Quatsch.« Tuchtenhagen wischte mit dem Finger Speicheltropfen vom Tisch, die ihm bei seiner heftigen Antwort entwichen waren. Dann tippte er sich an die Stirn. »Manuela war schon im Büro, als Bassetti auftauchte.«

»Und dann?«

Tuchtenhagen stierte zu einem imaginären Punkt an der Wand hinter Frauke.

»Keine Ahnung.«

»Was hat Ihnen Ihre Frau erzählt?«

»Nichts. Begreifen Sie es doch endlich.«

Frauke starrte Tuchtenhagen ratlos an.

»Sie konnte mir nichts erzählen, weil ich nicht mit ihr gesprochen habe. Sie ist weg.«

»Ihre Frau ist auf der Flucht? Und Sie sind hinter ihr her?«

Tuchtenhagen stieß einen tiefen Seufzer aus. »Wie dumm sind Sie eigentlich? Die haben meine Frau entführt.«

Das gibt dem Fall eine völlig neue Wendung, dachte Frauke, und würde manches am merkwürdigen Verhalten Tuchtenhagens erklären.

»Sie haben sich nicht vor der Polizei versteckt?«

»Ich? Warum denn? Ich suche meine Frau. Am Montag erreichte mich ein Anruf, dass Manuela meine Hilfe benötigt. Ich sollte ein paar Sachen aus unserem Haus besorgen. Später dirigierte mich der Anrufer zu dem Hotel am Meersmannufer.«

»Warum sind Sie von dort geflüchtet, ohne zu bezahlen?«

»Mann, ich hatte den Kopf voll. Die Nacht nicht geschlafen. Und dann rief mich der Unbekannte wieder an. Ich habe dort auch den Koffer meiner Frau vergessen.«

Das war eine der Fragen, auf die die Polizei noch keine Antwort hatte, erinnerte sich Frauke. Ebenso war das Rätsel gelöst, wie Tuchtenhagen informiert worden war. Seine Frau war ohne Handtasche, Handy und Portemonnaie aus Manfredis Büro geflüchtet. Die Ermittler hatten sich gefragt, wie die Frau Kontakt zu ihrem Ehemann aufgenommen hatte.

»Kannten Sie den Anrufer?«

»Woher denn.«

»War es Simone Bassetti?«

In Tuchtenhagens Augen funkelte es böse.

»Sind Sie schwer von Begriff? Ich sagte bereits, dass ich den Anrufer nicht kannte.«

»Ein Mann? Deutscher?«

»Klar – ein Mann. Und Deutscher.« Tuchtenhagen stutzte. »Oder nicht?« Er ließ den Kopf auf die Brust sinken. »Ist das so wichtig? Ich will nur meine Frau wieder.«

»Was hat man Ihnen aufgetragen?«

Tuchtenhagen sah sich nach dem Wirt um. Frauke befürchtete, er würde erneut Ouzo bestellen. Doch der Restaurantbesitzer tat klugerweise so, als hätte er es nicht bemerkt.

»Verschiedenes. Zunächst sollte ich am Dienstagabend zur Messe kommen. Genau am Tor Kronsbergstraße. Man sagte mir, ich würde dort meine Frau treffen. Oder jemanden, der von ihr wüsste.«

»Wie haben Sie das Tor zum Messegelände geöffnet, als Sie hineingeschlüpft sind?«

»Ich war doch nicht drinnen, sondern habe im Auto gewartet. Dann hörte ich Schüsse. Als jemand aus dem Dunkeln auf mich zugelaufen kam, habe ich Gas gegeben und bin in Panik weg.«

»Wohin?«

»Keine Ahnung.« Tuchtenhagen malte mit dem Zeigefinger unsichtbare Figuren auf die Tischplatte. »Irgendwie mit Wolf hieß das Nest. Am Harz. Wenn Sie wollen, kann ich nachsehen. Die Quittung vom Hotel habe ich in die Tasche gesteckt.«

»Und dann?«

»Am nächsten Tag bin ich nach Goslar bestellt worden. Zur Kaiserpfalz. Dort hat mich Bassetti erwartet. Er wollte mir nicht sagen, wo meine Frau ist. Auch nicht, woher er den Treffpunkt kannte. Irgendwer muss es ihm aber gesagt haben. Es war doch kein Zufall, dass er mich dort erwartet hat.«

»Warum hat Bassetti auf Sie geschossen? Wollte er Sie töten?«

Tuchtenhagen lachte laut auf. Es klang voller Bitternis, sodass die Familie am Nebentisch aufmerksam wurde und zu ihnen herübersah.

»Der blöde Italiener. Ein kleiner unbedeutender Scheißer ist der. Ich habe keine Ahnung, was der mit der Entführung meiner Frau zu tun haben sollte. Der kann doch nicht bis drei zählen.«

Frauke ließ unerwähnt, dass Bassetti im dringenden Tatverdacht stand, Marcello Manfredi mit dem Fleischhammer erschlagen zu haben.

»Worüber haben Sie in Goslar gesprochen?«

Tuchtenhagen wischte sich Speichel aus den Mundwinkeln. »Das habe ich nicht verstanden, was der wollte. Der hat nur herumgefaselt. Ich soll mich raushalten, wenn ich meine Frau gesund wiedersehen will. Und so.«

»Was heißt ›und so‹

Tuchtenhagen stierte sie aus glasigen Augen an. Dann drehte er sich um. »Verflixt, wo bleibt der Ouzo?«, rief er quer durch das Lokal, dass die anderen Gäste aufmerksam wurden und zu ihnen herüberstarrten.

Der Wirt eilte herbei.

»Möchten Sie wirklich noch einen?«, fragte er leise.

»Klar. Und so ein Dings noch.« Tuchtenhagen drehte das Bierglas, bis es ihm aus der Hand glitt. Es gelang ihm gerade noch, das Gefäß abzufangen und unbeschädigt auf den Tisch zurückzustellen.

»Sie noch etwas?«, wandte sich der Wirt an Frauke.

Sie lehnte dankend ab.

Tuchtenhagen zeigte deutliche Spuren einer beginnenden Trunkenheit. Frauke war sich sicher, dass er sonst anders sprach. Nicht nur seine Artikulationsfähigkeit, auch die Wortwahl und der aggressive Unterton passten nicht zu dem, was sie über Thomas Tuchtenhagen zu wissen glaubte.

»Haben Sie noch mehr von dem Unbekannten gehört?«

»Würde ich sonst hier sitzen und mich volllaufen lassen?«, antwortete er mit einer Gegenfrage.

»Wie soll es weitergehen?«

»Verflixt noch mal. Woher soll ich das wissen? Halten Sie sich da raus. Dann ist die ganze Scheiße vorbei.« Er schluckte tief, während sich eine Träne aus den Augenwinkeln löste. »Hoffentlich«, fügte er leise an.

»Warum haben Sie sich nicht vertrauensvoll an die Polizei gewandt?«

Tuchtenhagen lachte bitter auf. »Ha. Das bringt doch nichts. Sie sitzen hier und quatschen mich voll. Können Sie mir sagen, wo Manuela ist, hä?«

»Kannten Sie Bassetti aus Oldenburg? Dort waren Sie früher tätig.«

»Der Arsch ist erst in Hannover aufgetaucht. Kam angeblich hier aus diesem Nest. Darum suche ich in dieser Gegend.«

»Und wie sind Sie zu Schröder-Fleisch gekommen? Schließlich waren Sie Amtsveterinär in Oldenburg.«

Sie wurden durch den Wirt unterbrochen, der Bier und Ouzo brachte. Tuchtenhagen stürzte den Schnaps in einem Sturz hinunter und wedelte mit dem leeren Glas.

»Das Beste ist, Sie bringen die Flasche.«

Der Wirt machte ein betrübtes Gesicht. »Das ist dumm. Wir hatten die ganze Woche über Veranstaltungen im Hause. Man hat mir den ganzen Vorrat leer getrunken. Der Lieferant kommt erst morgen, am Freitag. Das war die letzte Flasche.« Er machte mit beiden Händen eine Geste des Bedauerns. »Es tut mir leid, aber das war der letzte.« Ohne dass Tuchtenhagen es sehen konnte, zwinkerte der Mann Frauke zu.

»Was ist das für ein Scheißladen«, fluchte Tuchtenhagen.

»Sie wollten mir erzählen, was Sie nach Hannover geführt hat.«

»Ich komme aus Stolzenau an der Weser, einer Kleinstadt, in der die Welt noch in Ordnung ist. Manuela aus Husum.«

»Nordsee?«

Zum ersten Mal zeigte Tuchtenhagen ein entspanntes Lächeln. »Nein. Aus einem kleinen Dorf nahe Nienburg an der Weser. Von dort ist es auch nicht weit bis in meinen Heimatort.«

»Und warum haben Sie Ihren Beamtenjob aufgegeben?«

»Man hat mir ein gutes Angebot gemacht. Als Leiter der Qualitätssicherung.«

»Und außerdem wurde Ihnen in Oldenburg nahegelegt, die Behörde zu verlassen«, vermutete Frauke.

»Warum fragen Sie so blöde, wenn Sie schon alles wissen? Das war doch nur Unerfahrenheit, dass ich die Schweinerei dort nicht entdeckt habe. Schließlich bin ich mit einem blauen Auge davongekommen.«

Frauke nahm sich vor, auf die Akteneinsicht zu drängen. Es war jetzt noch wichtiger geworden, dass die angeforderten Unterlagen aus Oldenburg endlich wiederauftauchten.

»Und wie verhält es sich mit den Manipulationen bei Schröder-Fleisch? Die falsch etikettierten Schinken, die in die Emirate verschifft werden?«

»Davon weiß ich nichts. Wir haben keinen Kunden in Arabien.«

»Das läuft über den Hamburger Exporteur Berenberg.«

»Ach so. Manuela hat davon erzählt. Beiläufig. Wir haben an Manfredi verkauft. Was der mit der Ware gemacht hat – keine Ahnung. Vielleicht weiß der Steinhövel mehr.«

Tuchtenhagen lehnte sich zurück, verschränkte die Arme vor der Brust und schloss die Augen.

Frauke wartete eine Weile, aber der Mann schien eingeschlafen zu sein. Darauf deuteten zumindest die regelmäßigen Atemzüge.

Sie stand auf, trat an den Tresen und verlangte ihre Rechnung.

»Und Ihr Mann?«, wollte der Wirt wissen.

»Sehen wir aus, als wären wir verheiratet?«

Der Wirt grinste. »Sie haben zumindest so gestritten.« Er nickte in Tuchtenhagens Richtung. »Was ist mit ihm?«

»Er hat doch ein Zimmer bei Ihnen.«

»Schon.«

»Sehen Sie. Dann ist doch alles geklärt.« Sie strich das Wechselgeld ein und wünschte einen guten Abend.

Vor der Tür sog sie die frische Nachtluft ein, obwohl sie fröstelte. Es war eine andere Kälte als die Kühle, die sie aus Flensburg kannte.