ZWEI

»Guten Morgen. Ich hoffe, Sie haben die erste Nacht in Hannover gut verbracht«, begrüßte sie Nathan Madsack. Der Oberkommissar saß bereits am Schreibtisch, als Frauke das Büro betrat. Heute trug er ein graues Tweedsakko, ein weißes Hemd und eine unifarbene Krawatte.

»Danke, es geht«, antwortete Frauke zurückhaltend. Sie vermied es, von ihrem Gespräch mit Lars von Wedell zu berichten. Sie hatte auch eine Pizzeria aufgesucht, allerdings nicht die vom jungen Kommissar so angepriesene. Die überbackenen Penne waren sättigend gewesen, mehr auch nicht, und der Rotwein stammte aus dem großen Fass unbestimmter Herkunft. In dem kleinen Hotel war es bis Mitternacht lebhaft zugegangen. Die Gäste, so hatte sie beim Frühstück festgestellt, fielen überwiegend in jene Kategorie Menschen, die man unter dem Begriff »Vertreter« zusammenfassen konnte. Zumindest schienen einige der Mitbewohner an irgendwelchen Aktivitäten teilgenommen zu haben, bei denen der Alkohol nicht rationiert war.

»Wenigstens regnet es heute nicht«, sagte Madsack und sah automatisch aus dem Fenster. Kleine Schäfchenwolken zogen wie zerrupfte Wattetupfer am sonst makellos blauen Himmel entlang.

Madsack öffnete den Mund, schluckte dann aber den nächsten Satz unausgesprochen herunter.

Frauke war nicht an Konversation gelegen, obwohl sie anerkannte, dass ihr Gegenüber es gut meinte und in dieser ihr noch fremden Umgebung zu den freundlichen Zeitgenossen gehörte. Selbst bei der Einfahrt auf das Gelände des Landeskriminalamtes hatte sie Probleme gehabt, weil man ihr den Zutritt verweigern wollte und sie für eine Besucherin hielt, die keinen Anspruch auf einen der wenigen Parkplätze hatte.

Madsack saß an seinem Schreibtisch und bediente mit ausgestreckten Armen die Tastatur seines Computers. Zwischendurch griff er automatisch zu einem mit Butter beschmierten Croissant, das auf einem Teller neben dem Telefon lag. Erst als er ebenso mechanisch zur Kaffeetasse griff, hielt er mitten in der Bewegung inne. »Entschuldigung. Möchten Sie auch eine?«

»Danke. Ich kenne mich inzwischen aus und hole mir selbst eine.« Sie stand auf und trat auf den Flur, um Uschi Westerwelle im Geschäftszimmer aufzusuchen. Im Türrahmen stieß sie mit der Schreibkraft zusammen.

»Morgen, Frau Dobermann. Ich wollte gerade Bescheid sagen. Der Chef bittet darum, dass wir uns zusammensetzen.«

»Richter?«

Frau Westerwelle grinste. »Nee. Herr Ehlers.« Während die Sekretärin die anderen Mitglieder des Teams informierte, ging Frauke in das Besprechungszimmer.

»Guten Morgen«, begrüßte sie Kriminaloberrat Ehlers, der hinter einem Stapel Unterlagen am Kopfende Platz genommen hatte. »Haben Sie sich schon eingelebt?«

»Gut Ding will Weile haben«, antwortete Frauke nach der Begrüßung. »Im Augenblick fehlt es noch an der Infrastruktur. Ausweis. Waffe. Büro. Arbeitsmittel.«

Ehlers lachte. »Es gibt den uralten Spruch: Schneller, als die Polizei erlaubt. Dabei darf man nicht übersehen, dass wir eine Behörde sind. Ich werde noch einmal nachhaken.«

»Können Sie bei der Gelegenheit auch fragen, wo die Ermittlungsakten des früheren Falles bleiben?«

Ehlers zog fragend die Augenbrauen in die Höhe.

»Vor zwei Jahren wurde schon einmal gegen das jetzige Opfer ermittelt. Wir müssen die Akten studieren, ob sich da eventuell Zusammenhänge ergeben.«

»Das klingt plausibel. Wer hat die Unterlagen?«

»Ich weiß es nicht. Seit gestern warten wir darauf.«

Er wurde durch die anderen Mitarbeiter abgelenkt, die im Gänsemarsch den Raum betraten und mehr oder minder leise ein »Guten Morgen« murmelten, das Frauke und der Kriminaloberrat erwiderten. Richter blickte dabei starr an ihr vorbei zu Ehlers, während Putensenf es ganz unterließ, zu grüßen.

»Ich wünsche auch Ihnen, Herr Putensenf, einen wunderschönen guten Morgen«, konnte sich der Kriminaloberrat nicht verkneifen.

»Hallo, Herr Ehlers«, quetschte der Angesprochene zwischen den Zähnen hervor.

»Und die Dame?«, fragte Ehlers zurück.

»Die habe ich schon begrüßt«, log Putensenf und nahm geräuschvoll neben von Wedell Platz.

Richter fasste die am Vortag gesammelten Erkenntnisse zusammen und las stichwortartig den Obduktionsbefund vor.

»Genau, wie Frau Dobermann vermutet hatte«, warf von Wedell dazwischen und wurde von Richter mit einem bösen Blick abgestraft.

Dann berichteten reihum die anderen Teammitglieder.

»Ich habe mich am Arbeitsplatz erkundigt, wann Thomas Tuchtenhagen gestern dort eingetroffen ist. Er war eine halbe Stunde später als sonst. Das ist mit dem Zeiterfassungsgerät nachweisbar, das bei Schröder-Fleisch eingesetzt wird.«

»Das verstehe ich nicht«, unterbrach ihn Putensenf. »Ich war gestern noch einmal bei den Nachbarn unterwegs. Zwei Häuser weiter wohnt ein Hubert Lehndorfer. Der ist Lehrer und verlässt jeden Morgen zur gleichen Zeit sein Haus. Er behauptet, dabei immer Tuchtenhagen getroffen zu haben, der sich ebenfalls um diese Zeit auf den Weg zur Arbeit macht. Und zwar mit konstanter Regelmäßigkeit, wie Lehndorfer behauptet.«

»Und wie war es gestern?«, fuhr Frauke dazwischen.

»Herrje, nun lassen Sie mich doch ausreden«, schimpfte Putensenf in ihre Richtung. »Glauben Sie, ich bin doof?«

Frauke hielt mit Mühe ein »Ja« zurück, nickte aber unmerklich, was nur von Wedell registrierte, der den Anflug eines Lächelns nicht zurückhalten konnte.

»Dem Nachbarn war gestern nichts aufgefallen. Tuchtenhagen hat sich wie immer verhalten.«

»Dann ist es doch merkwürdig, dass er ausnahmsweise später am Arbeitsplatz eingetroffen ist«, fuhr Lars von Wedell dazwischen. »Und der unbekannte Anrufer, der gestern mit Jakob sprach und glaubte, der wäre Tuchtenhagen, hat erzählt, dass Manuela Tuchtenhagen ein Verhältnis mit ihrem Chef hatte.« Der junge Kommissar sah in die Runde. »Wäre es nicht denkbar, dass ihr Ehemann Manfredi zur Rede stellen wollte? Dabei ist es zum Streit gekommen, und …«

»Bum«, sagte Putensenf laut und ließ dabei seine geschlossene Faust auf die Tischplatte fallen.

»Das ist die Spur, die wir verfolgen«, versuchte Richter die Diskussion zu kanalisieren und überging Fraukes Wortmeldung, die sie dezent durch ein leichtes Heben der Hand angedeutet hatte.

»Die Kollegin Dobermann wollte etwas sagen«, unterbrach Ehlers.

»Der Anruf bei Tuchtenhagen, den Herr Putensenf entgegengenommen hat und in dem der Unbekannte mitteilte, dass die Frau ein Verhältnis mit Manfredi hat, erfolgte aber erst nach dem Mord. Wenn Thomas Tuchtenhagen der Mörder ist, muss er einen anderen Grund gehabt haben.«

Richter lehnte sich zurück und ließ ein fast höhnisch klingendes Lachen hören. Er hatte Frauke bei einem nicht logischen Einwand erwischt. Sie selbst hatte es auch bemerkt und ärgerte sich über sich selbst.

»Der Ehemann kann es doch schon früher aus einer anderen Quelle erfahren haben.« Dann drehte sich Richter zu von Wedell. »Sie sind noch jung in unserer Branche. Darum nehme ich es Ihnen nicht übel, wenn Sie voreilige Schlüsse ziehen. Und nun sollten wir uns um die wichtigen Dinge kümmern. Als vordringlich sehe ich die Fahndung nach dem Ehepaar Tuchtenhagen. Frau Dobermann sollte sich der Sache annehmen. Irgendwelche Einwände?«

Wegen des vorhergehenden Patzers konnte Frauke nicht aufbegehren. Das gehörte zu den Spielregeln. Sie wusste ebenso wie Richter, dass der gesamte Fahndungserfolg im Augenblick davon abhing, dass sie den beiden auf die Spur kamen. Richter konnte sie dafür verantwortlich machen. Auf der anderen Seite wusste der Teamleiter, dass ihr als neuer Mitarbeiterin die Kommunikationswege und Verfahrensweisen in Hannover unbekannt waren. Außerdem verfügte sie weder über einen eigenen Arbeitsplatz noch über die erforderlichen Einrichtungen und Papiere für eine effiziente Polizeiarbeit. Das war Mobbing in Reinkultur. Und sie war im Augenblick machtlos.

»Wo sind die Akten der früheren Ermittlung, Herr Richter?«, fragte der Kriminaloberrat. »Ich habe gehört, dass die Unterlagen gestern angefordert wurden und immer noch nicht vorliegen.«

»Ich kümmere mich darum«, antwortete Richter und warf Frauke einen giftigen Blick zu.

Ehlers klopfte als Zeichen für das Ende der Besprechung einmal kurz auf den Tisch. Schweigend schoben die Polizisten ihre Stühle zurück, standen auf und verließen den Raum.

»Frau Dobermann«, wurde Frauke auf dem Flur von Lars von Wedell angesprochen. »Das war unfair von Richter.«

Frauke antwortete nicht.

»Ich meine, wie Richter Sie vorführen wollte.«

»Das ist ein Naturgesetz. Wenn ein fremdes Tier die Lichtung betritt, röhrt der Platzhirsch laut und vernehmlich.«

»Sie sind aber kein Hirsch«, wandte von Wedell ein. »Schade, dass Sie gestern keine Zeit hatten, mit uns in die Pizzeria zu gehen. Da war gestern Abend ordentlich Betrieb, sodass meine Freundin und ich an einem fremden Tisch Platz nehmen mussten. Dort saß einer, der sich mit seiner Begleitung über den verschwundenen Ehemann unterhielt. Teilweise sprachen sie deutsch, zum Teil italienisch. Der Gast sprach davon, dass er bei Schröder-Fleisch arbeiten würde. Da ist das natürlich Tagesgespräch. Ich habe mich neugierig gestellt, und er hat eifrig erzählt. Er behauptete, Tuchtenhagen zu kennen. Der ist dort für die Qualitätskontrolle zuständig. Und für die Hygiene. Dabei hat er sich alles andere als beliebt gemacht. Und Manuela Tuchtenhagen will er auch schon begegnet sein. Die war ein- oder zweimal in der Wurstfabrik und hat dort Fleischpakete abgeholt. Direkt in den Kofferraum.«

»Mensch. Das ist doch ein wichtiger Hinweis. Das hätten Sie eben in der Besprechung sagen müssen«, sagte Frauke in leicht tadelnder Tonlage.

»Nachdem Richter mich so abgebürstet hat?«

»Haben Sie Name und Anschrift Ihres Gesprächspartners?«

Von Wedell schüttelte den Kopf. »Ich wollte mich nicht als Polizist zu erkennen geben. Ich habe aber Judith, die Wirtin, gefragt. Sie hat mir versichert, sie würde Simone kennen. Er würde dort oft verkehren.«

»Simone? Eben sprachen Sie von einem Mann.«

Von Wedell lächelte und zeigte dabei zwei Reihen weißer Zähne. »Simone ist ein Mann. Er ist auch Italiener.«

»Mir begegnen im Augenblick zu viele Südeuropäer. Schließlich vermutet Jakob Putensenf anhand des Dialekts, dass der unbekannte Anrufer in Tuchtenhagens Haus auch Italiener war.«

»Kann das Zufall sein?«

»Das sind zu viele Zufälle«, meinte Frauke skeptisch. »Ich wäre jedenfalls gern dabei, wenn Sie das nächste Mal die Pizzeria Italia aufsuchen. Dann können wir nur hoffen, dass wir diesem Simone noch einmal begegnen.«

Frauke bedauerte insgeheim, dass sie von Wedells Vorschlag am Abend zuvor nicht gefolgt war.

»Da wäre noch etwas.« Der junge Kommissar flüsterte fast. »Ich habe noch nicht herausgefunden, ob Tuchtenhagen gestern am Arbeitsplatz angerufen wurde.«

»Dann aber hurtig«, sagte Frauke und ging langsam den Flur hinab zu Madsacks Büro, in dem sie immer noch ihren vorläufigen Arbeitsplatz hatte.

»Hallo«, sagte der rundliche Polizist, ohne aufzusehen, und konzentrierte sich weiter auf seinen Bildschirm.

Mit Verlierern spielt man nicht mehr, dachte Frauke bitter, da sie den Eindruck hatte, dass der sich bisher so freundlich gebende Madsack sehr reserviert zeigte. Sie setzte sich ihm gegenüber und war ratlos. Wie sollte sie die Fahndung nach dem Ehepaar Tuchtenhagen effizient steuern und leiten?

Sie wurde durch Madsacks Räuspern unterbrochen. Der zeigte mit seinem Wurstfinger auf den Bildschirm.

»Die Kriminaltechniker haben die Lieferung, die der Paketbote gestern gebracht hat, einwandfrei identifiziert.«

»Und?«

»Marmor.«

»Tatsächlich?«, fragte Frauke.

»Sie haben richtig gehört. Verschiedene Sorten Marmor. Das waren Gesteinsproben.«

»Was wollte Manfredi damit?«

»Tja. Fragen können wir ihn leider nicht mehr.« Madsack klang schon wieder zugänglicher. Er schenkte Frauke einen langen Blick. »War ein wenig unglücklich – vorhin«, sagte er.

»Wer kümmert sich jetzt darum?«

Frauke bewunderte an Madsack, dass er seine Gemütsregungen mit seiner Miene ausdrücken konnte. Er sah jetzt einen Hauch traurig aus. »Da muss jemand Kontakt mit dem Absender der Lieferung aufnehmen.«

»Hat Richter schon den Auftrag erteilt?«

Madsack stöhnte leise. »Ich frage ihn.« Dann erhob er sich. »Soll ich Ihnen eine Frikadelle aus der Kantine mitbringen?«, fragte er, bevor er den Raum verließ.

Sie drehte den Bildschirm zu sich herum und zog die Tastatur heran. Aber Madsack hatte sich ausgeloggt. Ihr waren noch keine eigene Benutzeridentifikation, geschweige denn ein Passwort zugeteilt worden, sodass sie nicht in das System hineinkam. Der Zorn keimte in ihr. Das war keine Arbeitsgrundlage. Und unter anderen Umständen als die, die ihrer Versetzung nach Hannover zugrunde lagen, wäre sie jetzt zu Ehlers gegangen und hätte ihm in harschen Worten ihre Vorstellung vom Umgang mit neuen Mitarbeitern vorgetragen.

»Hallo«, hörte sie hinter sich die Stimme Uschi Westerwelles. »Herr Ehlers hat mich gebeten, nach dem Verbleib der angeforderten Akten zu suchen. Ich habe mit dem Archiv gesprochen. Die sind nicht hier.«

»Was heißt das?«

»Die Unterlagen sind noch bei der Staatsanwaltschaft in Oldenburg.«

»Um das festzustellen, benötigt man einen ganzen Tag?«

»Dazu kann ich nichts sagen. Die Kollegin aus dem Archiv meint, das hätte sie schon gestern mitgeteilt.«

Richter!, dachte Frauke. Der Hauptkommissar musste in großer Sorge um seine Autorität sein, dass er mit allen Mitteln versuchte, ihr das Arbeiten zu erschweren und sie in ein schlechtes Licht zu rücken. Für einen Moment durchzuckte sie der Gedanke, ob Richter den Grund ihrer Versetzung kannte. Natürlich war Ehlers eingeweiht. Aber hatte der Kriminaloberrat seinen Teamleiter auch in Kenntnis gesetzt?

»Danke«, sagte sie stattdessen. »Wie können wir die Unterlagen in Oldenburg anfordern?«

»Ich bemühe mich«, antwortete Uschi Westerwelle ausweichend und wollte gehen, als sie mit Jakob Putensenf zusammenstieß.

»Kannst du nicht aufpassen?«, knurrte er die Sekretärin an.

»Habe ich hinten Augen?«

»Du hast hinten und vorne nichts«, erwiderte Putensenf und rief dann Frauke zu: »Los. Vorwärts. Wir haben eine Spur von Tuchtenhagen.«

Seitdem Putensenf sich hinters Steuer gezwängt hatte, schwieg er. Frauke beobachtete ihn von der Seite. Der Kriminalhauptmeister machte einen nahezu verbissenen Eindruck.

»Es wäre hilfreich, wenn Sie mir vorab ein paar Informationen vermitteln könnten«, sagte Frauke schließlich.

»Mhhh«, grunzte Putensenf. Er wechselte die Fahrspur und begann zu berichten. »Ein kleines Hotel am Meersmannufer hat heute Morgen die zuständige Polizeidienststelle informiert, dass ein Gast das Haus verlassen hat, ohne zu bezahlen. Die Streife hat sich das angesehen, weil der Mann im Zimmer einen Koffer hinterlassen hat. Mit lauter Frauensachen. Das kam ihnen merkwürdig vor, weil das Hotelpersonal schwor, der Mann hätte allein in dem Zimmer übernachtet und wäre gestern mit zwei Stück Gepäck angereist. Und da er sich an der Rezeption mit seinem Namen angemeldet hat, haben die Kollegen geschaltet und uns informiert, weil einem unsere Fahndung in Erinnerung war.«

»Das soll doch nicht heißen, dass sich Thomas Tuchtenhagen unter seinem richtigen Namen dort eingemietet hat?«

»Doch. Oder jemand hat seine Identität benutzt.«

Es hätte nichts gebracht, Putensenf weiterzubefragen. Offenbar wusste er auch nichts.

Das Gebäude wirkte in dieser bürgerlichen Gegend urgemütlich. Man konnte sich schon von außen die familiäre Atmosphäre in dieser Pension vorstellen. Das lag nicht nur an der ruhigen Lage gegenüber dem Mittellandkanal, der durch einen dichten Grünstreifen und einen Wanderweg abgegrenzt wurde. Es war unproblematisch, direkt vor dem Haus einen Parkplatz zu finden.

Schon im Eingang kam ihnen ein aufgelöst wirkender älterer Mann entgegen, dem die Haare des grauen Kranzes vom Kopf abstanden, als hätte er kurz zuvor in eine Steckdose gefasst.

»Sie sind von der Polizei?«, fragte er atemlos, und als Putensenf nickte, ergänzte er: »Das ist vielleicht ein Ding. Es kommt nicht oft vor, dass jemand versucht, sich aus dem Staub zu machen, ohne zu bezahlen. Meine Frau hat den Gast gestern empfangen. Wir sind nämlich ein reiner Familienbetrieb. ›Komisch‹, hat sie zu mir noch gesagt. ›Der wohnt in Hannover. Warum nimmt er sich ein Hotelzimmer?‹ Ich habe gesagt, dass er vielleicht Ärger mit seiner Frau hat. Und dann reist er heute ab, ohne zu bezahlen. Dabei sah er wirklich solide aus. Und zwei Koffer hatte er dabei. Nein, so was.«

»Haben Sie oder Ihre Frau mit dem Gast gesprochen?«

»Nur meine Frau. Ich war gestern beim Zahnarzt. Das war schon seit Langem geplant. Ich plage mich …«

»Herr … ähhh«, unterbrach Putensenf den Redeschwall des Mannes.

»Kellermann. Wie Hotel Kellermann garni. Schon seit über dreißig Jahren.«

Der Hotelier war ins Haus zurückgekehrt, und die beiden Beamten folgten ihm.

»Der hat sich mit seinem richtigen Namen angemeldet. Als wir feststellten, dass er abgehauen war, ich – nix wie ans Telefon. Aber da hat sich keiner gemeldet. Das wundert mich nicht. Warum hat er sonst auswärts übernachtet?«

Frauke war ein wenig überrascht, als Putensenf ein Foto hervorzauberte und es Kellermann vor die Nase hielt.

»Erkennen Sie den Mann wieder?«

»Moment«, sagte der Hotelbesitzer und verschwand hinter dem Tresen an der Rezeption. »Wo ist nur meine Brille?«, murmelte er mehrfach, bis ein erleichtertes »Ach, hier« zu hören war. Dann tauchte er wieder auf, nahm Putensenf das Bild aus der Hand.

»Ist er das?«, fragte Kellermann nach einer Weile.

»Das möchten wir gern von Ihnen wissen«, antwortete Putensenf.

»Ja – wieso? Ich habe ihn doch nicht gesehen. Das war doch meine Frau.«

»Können wir mit ihr sprechen?«

»Sicher. Natürlich. Kleinen Moment. Ich rufe sie.« Er verschwand durch eine Tür in den hinteren Bereich und kehrte kurz darauf mit einer im Alter zu ihm passenden Frau mit erkennbar blond gefärbtem Haar zurück. »Das ist meine Frau«, erklärte er und zeigte auf die beiden Beamten. »Die Herrschaften sind von der Polizei, Monika«, sagte er.

Frau Kellermann reichte erst Frauke, dann Putensenf die Hand. »Haben Sie mit Harry, meinem Mann, gesprochen?«

»Er hat uns schon in Kenntnis gesetzt«, nickte Putensenf und gab ihr das Foto zur Ansicht. »War das der Gast, den Sie gestern aufgenommen haben?«

Sie warf nur einen kurzen Blick auf das Bild. »Hundertprozentig«, bestätigte sie.

»Man gewinnt in unserem Geschäft Routine im Merken von Gesichtern«, sagte Harry Kellermann. »Sie können ja nicht jeden Gast fragen, welche Zimmernummer er hat, wenn er das zweite Mal an die Rezeption kommt. Das darf man sich in einem Familienbetrieb wie unserem nicht erl…«

»Ich glaube, das interessiert die Polizei nicht«, bremste Frau Kellermann ihren Gatten.

»Dürfen wir die Anmeldung sehen?«, bat Putensenf.

»Die haben wir schon rausgelegt«, sagte Kellermann und griff zu einem einzelnen Blatt Papier, das auf dem Tresen lag.

Frauke sah Putensenf über die Schulter. Tuchtenhagen hatte die Anmeldung korrekt mit seinen persönlichen Daten ausgefüllt.

»Dürfen wir das mitnehmen?«, fragte Putensenf.

»Na klar. Wir haben eine Fotokopie davon gemacht«, sagte der Hotelier.

Putensenf wandte sich an Frau Kellermann. »Sie sind sich absolut sicher, dass der Gast keinen Besuch in seinem Zimmer empfangen hat?«

»Das sagte ich schon«, empörte sich der Mann. »Was glauben Sie? Wir sind ein seriöses Hotel.«

»Ich würde das gern von Ihrer Frau hören.«

»Mein Mann hat recht«, bestätigte Frau Kellermann.

»Wir würden gern wissen, ob in der letzten Nacht eine einzelne Dame bei Ihnen ein Zimmer gebucht und bar bezahlt hat«, mischte sich Frauke ein.

Eine leichte Zornesröte überzog Harry Kellermanns Gesicht. »Wieso fragen Sie das dauernd?«

»Wir unterstellen Ihnen nichts. Es ist für uns nur wichtig, zu wissen, ob sich Ihr Gast mit einer Frau getroffen hat. Wir gehen davon aus, dass es seine Ehefrau ist.«

Kellermann atmete tief aus. »Nun verstehe ich überhaupt nichts mehr«, stöhnte er.

Seine Frau nahm die Brille ab und drehte sie am Bügel. »Wir hatten zwei weibliche Logiergäste. Frau Neuhof wohnt schon seit eineinhalb Jahren bei uns. Immer von Montag bis Freitag. Sie wohnt in Münster und arbeitet hier. Irgendwo bei einer Versicherung. Die zweite Dame ist heute abgereist. Sie hat drei Nächte hier gewohnt und eine alte Schulfreundin besucht. Die war schon über siebzig. Ich glaube nicht, dass sie sich mit Herrn Tuchtenhagen getroffen hat. Ob er allerdings mit einem anderen unserer Gäste gesprochen hat, kann ich nicht sagen.«

Das war eher unwahrscheinlich, überlegte Frauke. Und die beiden Frauen schieden auch aus. »Hat er allein gefrühstückt?«

»Das ist es ja«, kam Kellermann seiner Frau zuvor. »Der ist ohne Frühstück weg. Dabei gibt es daran nichts zu mäkeln. Da hat sich noch nie jemand beschwert über …«

»Lass, Harry. Das hat keiner behauptet.« Frau Kellermann legte ihrem Gatten sanft die Hand auf den Unterarm.

»Wir würden jetzt gern das Zimmer sehen«, bat Putensenf.

»Kommen Sie«, sagte die Frau und ging die Treppe voran. Die weiß gestrichenen Wände waren mit Drucken alter Hannoveraner Ansichten verziert. Die frühen Herrenhäuser Gärten schienen es dem Hotelierehepaar besonders angetan zu haben. Auf einzelnen Treppenstufen und auch im Gang lockerten sauber gepflegte Topfpflanzen die Hotelatmosphäre auf. Frau Kellermann blieb vor der Tür mit der Aufschrift »14« stehen, fingerte aus einem Bund den passenden Schlüssel heraus und öffnete.

Der kleine Raum war schlicht und sauber. Ein Schrank, ein schmaler Schreibtisch mit Stuhl und ein Doppelbett waren neben der Kofferbank die ganze Einrichtung.

»Sie haben nur Doppelzimmer und vermieten es auch als Einzelzimmer?«, fragte Frauke.

»Nein. Die Mehrzahl unserer Räume sind Einzelzimmer. Aber der Gast hat ausdrücklich nach einem Doppelzimmer gefragt.«

»Und es nicht benutzt«, stellte Frauke fest. Das Bett auf der Fensterseite war zurückgeschlagen und sah benutzt aus, während auf dem zweiten ein offener Koffer lag.

»Wir haben da hineingesehen«, entschuldigte sich die Frau. »Und Ihre Kollegen auch. Wir wollten ja wissen, was los ist.«

»Ist schon gut«, beruhigte sie Putensenf.

Frauke warf einen Blick ins Badezimmer. Es war benutzt worden. Aber Tuchtenhagen hatte nichts zurückgelassen. Auch die Schränke waren leer.

»Hat der Mann telefoniert?«, fragte Putensenf.

»Wir haben in den Zimmern kein Telefon mehr«, sagte Frau Kellermann. »Es lohnt nicht. Heute hat jeder sein eigenes Handy. Und die hohen Kosten für die Anlage rechnen sich nicht. Dafür hat er aber ferngesehen.«

Frauke warf einen Blick in den Papierkorb. Dort fanden sich eine leere Mineralwasserflasche und die Verpackungen zweier Minisalamis.

»Wann können wir das Zimmer wieder nutzen?«, fragte Frau Kellermann.

»Wir nehmen die Sachen mit. Auch den Inhalt des Papierkorbs. Dann ist der Raum wieder frei«, erklärte Frauke und fuhr fort, als Putensenf sie fragend ansah: »Die Spurensicherung benötigen wir nicht. Für uns steht einwandfrei fest, wer hier übernachtet hat.«

Frauke hatte noch einen Blick zum Fenster hinausgeworfen.

Es war zwar nicht gänzlich unmöglich, von der Rückseite aus hineinzugelangen, aber so viel Artistik traute sie Manuela Tuchtenhagen nicht zu. Für Frauke stand fest, dass Thomas Tuchtenhagen die Nacht allein zugebracht hatte.

Sie verließen das Zimmer und kehrten zur Rezeption zurück.

»Wer bezahlt uns jetzt die Rechnung? Wir kleinen Hotelbesitzer haben nichts zu verschenken«, fragte Harry Kellermann.

»Wir werden nach dem Mann suchen. Versprochen«, sagte Putensenf und drückte dem Hotelier so kräftig die Hand, dass der zusammenzuckte.

»Es scheint, als hätten sich die Tuchtenhagens hier verabredet, da sie davon ausgehen müssen, dass ihre Wohnung überwacht wird«, überlegte Putensenf laut, als sie wieder im Auto saßen.

»Der Mann hat auf Anweisung seiner Frau ein paar persönliche Gegenstände zusammengerafft und mit ins Hotel geschleppt. Aus irgendeinem Grund ist Manuela Tuchtenhagen aber nicht erschienen«, stimmte Frauke zu.

»Wenn er bar bezahlt hätte und mit seinen beiden Koffern wieder verschwunden wäre, hätten wir nicht gewusst, wo sich Tuchtenhagen aufgehalten hat«, sagte Putensenf.

»Uns fehlt im Augenblick die Antwort auf die Frage, warum er anscheinend überhastet aufgebrochen ist und die Sachen seiner Frau zurückgelassen hat. Weiß er oder geht er davon aus, dass sie die Dinge nicht mehr benötigt?«

»Wie soll Manuela Tuchtenhagen zur notwendigen Grundausstattung gekommen sein? Nach unserem Erkenntnisstand ist sie ohne Geld und Papiere unterwegs. Irgendwo ist sie untergeschlüpft und wird versorgt.«

»Selbst wenn ihr Ehemann davon erfahren hat, lässt man die Sachen nicht liegen. Außerdem gibt es keinen Grund, die Rechnung nicht zu begleichen. Nein, Herr Putensenf. Da steckt etwas anderes dahinter.«

»Sie sind doch sonst immer so überschlau. Nun verraten Sie mir die Lösung.«

»Haben Sie schon einmal etwas von den weiblichen Geheimnissen gehört?«, erwiderte Frauke.

Richter hatte sich den Bericht der beiden Beamten angehört, als die vom Hotel ins LKA zurückgekehrt waren.

Frauke musste sich überwinden, den Hauptkommissar nicht zu bitten, mit dem nervösen Tippen seines Kugelschreibers auf die Schreibtischplatte aufzuhören.

Frauke hatte es Jakob Putensenf überlassen, vom Einsatz zu erzählen, während sie abwechselnd Richter und die von Kinderhand gemalten Bilder, die mit Tesafilm an der Wand befestigt waren, betrachtete. Der Teamleiter musste unter einer enormen Anspannung stehen, denn er war ihrem Blick sofort ausgewichen. Frauke fragte sich, ob Kriminaloberrat Ehlers ein paar kritische Worte hatte verlauten lassen. Tatsächlich hatte sie Grund zur Klage und konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass insbesondere Richter abblockte. Umso überraschter war sie, als der Teamleiter sie nach dem Ende von Putensenfs Bericht ansprach.

»Das ist ein merkwürdiges Verhalten, das Tuchtenhagen an den Tag legt. Wie denken Sie darüber?«

»Ich kann es mir nicht erklären. Man könnte sich eine Theorie zusammenreimen, wenn der Mann seiner Frau beim Untertauchen hilft. Losgelöst von rechtlichen Tatbeständen wäre das eine nachvollziehbare Reaktion. Offensichtlich war das auch so beabsichtigt, aber die Eheleute müssen sich verpasst haben. Wir wissen nicht, was Manuela Tuchtenhagen daran gehindert hat, ins Hotel Kellermann zu kommen. Ebenso rätselhaft ist es, dass ihr Mann fluchtartig verschwunden ist und den Koffer seiner Frau zurückgelassen hat.«

Richter entspannte sich ein wenig. Er schien zufrieden zu sein, dass Frauke keine Lösung herbeizaubern konnte und genauso ratlos schien wie er selbst.

»Ich habe die Genehmigung zum Abhören von Tuchtenhagens Handy und dem Festnetzanschluss bekommen. Die Technik ist am Ball. Außerdem erhalten wir Unterstützung vom Mobilen Einsatzkommando. Das MEK wird für zunächst zwei Tage eine Rund-um-die-Uhr-Überwachung des Wohnhauses vornehmen, falls einer der beiden dort auftauchen sollte. Außerdem haben wir die Genehmigung, Tuchtenhagens Konto zu überwachen. Sobald er mit seiner EC- oder einer seiner beiden Kreditkarten bezahlt, werden wir informiert.«

»Mehr können wir im Augenblick nicht unternehmen«, pflichtete Frauke ihm bei, während Putensenf voller Erstaunen über das plötzliche Einvernehmen abwechselnd Frauke und Richter ansah.

»Nathan ist dabei und eruiert, ob Tuchtenhagen Verwandte rund um Hannover hat«, sagte Richter. »Übrigens … Frau Westerwelle hat mit der Staatsanwaltschaft in Oldenburg gesprochen. Jetzt sucht man dort die Akten.«

»Kann ich Sie unterstützen und die beschlagnahmten Geschäftsunterlagen aus Manfredis Büro mit sichten?«, fragte Frauke.

»Soweit ich sehen konnte, gab es dort nichts Bemerkenswertes. Da ein Großteil der Dokumente und Briefe auf Italienisch abgefasst war, habe ich alle Papiere zur Übersetzung gegeben, nachdem Sie versichert hatten, dieser Sprache nicht mächtig zu sein. So, nun habe ich zu tun«, entließ Richter die beiden Beamten.

Frauke machte den Umweg über das Geschäftszimmer und besorgte sich einen Becher Kaffee, dann kehrte sie an ihren behelfsmäßigen Arbeitsplatz zurück.

Madsack hatte sich, soweit es seine Statur zuließ, zurückgelehnt und telefonierte. Er nickte Frauke freundlich zu. »Gut. In einer halben Stunde«, sagte er und legte auf. »Das war die Dolmetscherin«, erklärte er. »Ich habe versucht, mit dem Absender der kleinen Marmorsteine zu sprechen. Die Rufnummer ging aus den Lieferpapieren hervor. Aber dort spricht niemand Deutsch. Und auch nicht Englisch. Der Telefonhörer wurde ein paar Mal weitergereicht, bis es jemand auf Französisch versuchte.« Madsack hob beide Schultern in die Höhe. »Das ist aber nicht meine Welt. Jetzt habe ich eine Dolmetscherin bestellt. Sie haben es gehört – ungefähr eine halbe Stunde.« Dann musterte er Frauke neugierig. »Und? Was gab es bei Ihnen?«

Er hörte sich geduldig Fraukes Bericht an, dann fuhr er sich mit der Hand über den Nasenrücken, als wäre dort ein lästiges Insekt gelandet. »Da kann ich mir keinen Reim drauf machen.«

»Thomas Tuchtenhagen legt in der Tat ein merkwürdiges Verhalten an den Tag.«

»Entschuldigung, aber ich habe noch etwas zu erledigen«, sagte Madsack und widmete sich seinem Computer, während Frauke zum tatenlosen Warten verurteilt war.

Die Übersetzerin hielt Wort. Nach einer knappen halben Stunde klopfte es an der ohnehin offenen Tür und eine Frau Anfang vierzig betrat den Raum.

»Guten Tag. Mein Name ist Sonja Wilhelmsen«, stellte sie sich vor und reichte zuerst Frauke, dann Madsack die Hand.

Der rundliche Hauptkommissar sprang auf, bot der Dolmetscherin seinen Platz an und erklärte ihr den Sachverhalt. Dann wählte er erneut die Rufnummer des Paketabsenders. Über den Zimmerlautsprecher konnten Frauke und Madsack das Gespräch verfolgen. Sonja Wilhelmsen wurde mehrfach verbunden, bis sie schließlich einen Mann in der Leitung hatte, der abenteuerlich schnell sprach. Frauke hatte den Eindruck, der Italiener könne Tolstois »Krieg und Frieden« in einer halben Stunde komplett vorlesen. Die Übersetzerin schien keine Probleme mit der Redegeschwindigkeit ihres Gesprächspartners zu haben. Sie fiel ihm regelmäßig ins Wort, und am veränderten Tonfall glaubte Frauke zu erkennen, dass der Italiener sofort auf die neuen Fragen einging, ohne seinen Redefluss zu unterbrechen.

Ebenso wortreich wie das gesamte Telefonat fiel die Verabschiedung aus. Frauke hätte gern gewusst, ob der temperamentvolle Marmorversender sich gleich mit der Übersetzerin verabredet hatte.

Sonja Wilhelmsen lächelte sanft, als sie das Gespräch wiedergab.

»Toni, so hat er sich genannt, wollte mir einen halben Marmorsteinbruch verkaufen. Er schwor bei der Jungfräulichkeit seiner Mutter, dass es zwischen Palermo und Mailand keinen schöneren Marmor gäbe. Ach was, bis rauf zum Nordkap.« Die Dolmetscherin lachte und zeigte dabei zwei Reihen ebenmäßiger Zähne. »Toni hat von Manfredi aus Hannover eine Anfrage bekommen. Natürlich wollte Toni wissen, wie der Hannoveraner an seine Adresse gekommen war. Manfredi hat behauptet, ein Bauunternehmer habe ihn aufmerksam gemacht. Den wiederum kennt Toni, weil er ihn mit exquisitem Marmor beliefert. Nun wollte Manfredi auch in das Geschäft einsteigen. Groß einsteigen, wie Toni mehrfach betonte. Deshalb hat er Muster nach Hannover geschickt. Obwohl das eigentlich überflüssig sei, denn jeder auf der nördlichen Halbkugel, der wisse, wie man Marmor buchstabiert, sei auch darüber informiert, dass es nirgendwo besseren Marmor gäbe als bei Toni.«

»Haben Sie den Namen des Bauunternehmers? Oder müssen wir den aus der Gesprächsaufzeichnung herausfischen?«, fragte Frauke, weil Sonja Wilhelmsen sich keine Aufzeichnungen gemacht hatte.

Die Dolmetscherin sah Frauke ein wenig überrascht an. »Das ist nicht erforderlich. Schröder-Bau. Den kennt hier jedes Kind.«

Madsack nickte zur Bestätigung.

»Sie sind schon öfter für die Polizei tätig gewesen?«, fragte Frauke.

»Ja. Ich bin vereidigte Gerichtsdolmetscherin.«

»Hat man Ihnen Dokumente mit der Bitte um Übersetzung ausgehändigt?«

Sonja Wilhelmsen sah Frauke irritiert an. »Sie meinen, jetzt – vor Kurzem?«

»Gestern oder heute?«

»Nein. Nicht von der Polizei.«

Sie bedankten sich bei der Frau, und als sie wieder allein waren, fragte Madsack: »Sie meinen sicher die Unterlagen, die wir bei Manfredi konfisziert haben?«

»Richtig. Richter sagte, dass die beim Übersetzer wären. Wissen Sie, bei welchem?«

»Wir haben eine Stelle im Hause, die sich damit beschäftigt«, antwortete Madsack ausweichend.

»Und warum hat man die nicht angefordert, als es um das Telefonat mit Italien ging?«

»Das kann ich Ihnen nicht beantworten.«

»Wir kommen an keiner Stelle voran. Warum hat sich Manfredi Marmormuster schicken lassen? Wollte er wirklich in das Geschäft einsteigen? Früher hat er doch mit Lebensmitteln gehandelt.«

»Das sind nicht die einzigen Absonderlichkeiten«, stimmte Madsack zu.

»Sie waren vorhin nicht erstaunt, als der Name Schröder-Bau fiel.«

»Das Unternehmen ist im Großraum Hannover bekannt. Die sind an jeder Straßenecke aktiv und machen auch viel für die Stadt.«

»Gibt es Querverbindungen zu Schröder-Fleisch?«

»Das weiß ich nicht. So ungewöhnlich ist der Name Schröder ja nicht.«

»Nicht in Hannover«, sagte Frauke. Dann stand sie auf. »Ich fahre jetzt zum Arbeitsplatz Tuchtenhagens. Warum ist der Mann vom Veterinäramt in die Privatwirtschaft gewechselt? Kommen Sie mit?«

»Ich bin hier mit Recherchen beschäftigt«, bedauerte Madsack. »Fragen Sie doch Lars von Wedell.«

Der junge Kommissar war sofort bereit, Frauke zu begleiten.

Sie fuhren noch einmal zum Wohnhaus der Eheleute. Ein wenig abseits des Hauses war das Überwachungsfahrzeug zu erkennen, in dem zwei Männer saßen und gelangweilt aus dem Fenster sahen. Als sie auf den Opel Vectra zugingen, ließ der Beifahrer die Seitenscheibe herab und sah Frauke und von Wedell auffordernd an.

»Hallo«, grüßte Frauke. »Wir sind von der organisierten Kriminalität. Gab es schon etwas?«

Die beiden Männer im Wagen wechselten einen raschen Blick. »Soso«, sagte der Beifahrer. Erst als sich von Wedell auswies, berichtete der Beamte von der Observation. »Ihr habt uns das hier eingebrockt. Dafür müsst ihr aber einen ausgeben.« Er grinste von Wedell an. »So gut wie ihr möchten wir das auch haben. Hier ein bisschen herumlaufen, dort ein paar Fragen stellen und andere bei der Überwachung schmoren lassen.«

»Sie können sich bei Hauptkommissar Richter beschweren«, mischte sich Frauke ein.

»Jedem das Seine«, erwiderte der Aschblonde mit dem schütteren Haar und legte seinen Unterarm auf die herabgelassene Scheibe. »Hier gab es nichts. Alles tot. Nicht einmal eine blonde Nachbarin im kurzen Rock ist vorbeigelaufen.«

»Muss es eine echte Blonde sein?«, fragte Frauke.

Der Beamte im Auto lachte. »Eigentlich ist die Haarfarbe egal. Hauptsache, die Waden sind klasse und der Hintern wackelt.«

»Dann wünschen wir Ihnen noch viel Spaß beim voyeuristischen Treiben. Und achten Sie immer schön auf das Zielobjekt.«

»Sehen wir aus, als wären wir erst einen Monat dabei?«, maulte der Mann und erwiderte das von Frauke hingeworfene »Tschüss«.

Als sie zu ihrem eigenen Wagen zurückgingen, sagte von Wedell ein wenig kleinlaut: »Der kennt mich zwar nicht, aber jeder fängt einmal an. Und dass ich erst einen Monat dabei bin, habe ich nicht zu vertreten.«

»Das war ein leerer Spruch«, tröstete ihn Frauke. »Und im nächsten Jahr sind Sie auch schon zwölf Monate dabei. Irgendwann werden Sie feststellen, dass Sie schon viel zu lange irgendwelchen krummen Gesellen hinterherlaufen.« Sie merkte selbst, dass der letzte Satz fast wie ein Seufzer klang.

Eine Weile später standen sie vor dem Werktor von Schröder-Fleisch. Der Pförtner ließ sich trotz des Polizeiausweises nicht erweichen und verwehrte ihnen die Zufahrt zum Gelände. Er wies ihnen den Weg zu einem abseits gelegenen Besucherparkplatz. Von Wedell war noch beim Rückwärtsfahren, als der ältere Mann zum Telefonhörer griff und mit gestenreichen Worten den Besuch der Polizei ankündigte. Das zumindest vermutete Frauke. Als sie ein paar Minuten später erneut beim ihm vorstellig wurden, ließ er sich noch einmal von Wedells Dienstausweis zeigen und erklärte ihnen den Weg zum Verwaltungsgebäude. Das Haus schien Ende der sechziger Jahre gebaut worden zu sein und wirkte mit den rötlichen Klinkern und den dicht beieinanderstehenden Fenstern eher unauffällig.

Sie hatten den halben Weg zurückgelegt, als sich die Tür des gläsernen Windfangs öffnete und eine zur Rundlichkeit neigende Frau mit kurzem Raspelschnitt sie erwartete. Sie trug einen dunkelbraunen Pullover und spielte mit der Kette aus verschiedenen Modeschmuckmotiven, die über dem weit ausladenden Busen lag.

»Guten Tag«, grüßte sie von Weitem. »Sie sind von der Polizei?« Die Frau wartete die Antwort nicht ab. »Darf ich Sie zur Geschäftsleitung führen?«

Sie ging durch den schmalen Flur, der eher in eine Kaserne gepasst hätte, klopfte am Ende des Ganges kurz an eine Tür, öffnete sie und trat zur Seite. »Bitte«, sagte sie.

Ein braun gebrannter Mann, vielleicht Anfang vierzig, stand vom Schreibtisch auf und kam ihnen mit federndem Schritt entgegen. Die dunkelbraunen Haare lagen in Wellen über den Ohren. Er trug zu einer grauen Stoffhose ein dunkelblaues Pilotenhemd, das am Kragen offen war und den Blick auf ein paar vorwitzige schwarze Brusthaare freigab. Erst beim Näherkommen waren die zahlreichen Aknenarben im Gesicht zu erkennen.

»Guten Tag. Mein Name ist Steinhövel. Ich bin der kaufmännische Geschäftsführer.« Er reichte zuerst Frauke, dann von Wedell die Hand. Dann zeigte er auf die beiden bequemen Besucherstühle vor seinem Schreibtisch. »Bitte. Kann ich Ihnen eine kleine Erfrischung kommen lassen?«

»Kaffee wäre nett«, sagte Frauke, ohne von Wedell zu fragen. Der Geschäftsführer nickte in Richtung der Tür, in der die Blonde einen Moment gewartet hatte.

»Was führt Sie zu uns?«

»Es überrascht uns ein wenig, wie Sie uns empfangen«, sagte Frauke.

Steinhövel ließ ein jungenhaftes Lachen hören. »Der Pförtner hat Sie angekündigt. Das macht er mit jedem Besuch. Wir führen hier rigide Zugangskontrollen durch. Zum einen sind wir es als Lebensmittel verarbeitender Betrieb der Hygiene schuldig, zum anderen werden wir oft von der Presse oder irgendwelchen Ideologen behelligt, die in jeder Wurstfabrik den Skandal schlechthin vermuten.«

»Haben Sie etwas zu verbergen?«

Der Geschäftsführer lachte. »Nein. Um Himmels willen. Natürlich nicht. Ich fühle mich gänzlich unschuldig, wenn die Polizei hier erscheint, obwohl es nicht oft vorkommt.« Er legte den Zeigefinger an die Nasenspitze, als müsse er überlegen. »Eigentlich ist es das erste Mal.«

»Wir würden gern mit Herrn Tuchtenhagen sprechen«, sagte Frauke. »Und da wir ihn zu Hause nicht erreichen können, hoffen wir, dass Sie uns helfen können.«

»Das ist eine merkwürdige Geschichte.« Steinhövel machte gar nicht den Versuch, uninformiert zu wirken. »Man hat mich in Kenntnis gesetzt, dass Herr Tuchtenhagen gestern Hals über Kopf seinen Arbeitsplatz verlassen hat. Als leitender Angestellter hat er natürlich mehr Freiheiten als andere Mitarbeiter. Aber trotzdem ist das unter außergewöhnlichen Umständen geschehen. Man hat mir berichtet, dass er einen Anruf bekommen habe. Er war gerade in der Produktion unterwegs, und man hat das Gespräch von seinem Apparat dorthin durchgestellt. Seine Frau hat angerufen. Daraufhin hat er ohne jede Erklärung den Betrieb verlassen. Seitdem ist er verschwunden.«

»Kann sich jemand daran erinnern, ob eine Rufnummernidentifikation auf dem Display erschienen ist, als Frau Tuchtenhagen anrief?«

»Danach hat schon jemand von der Polizei gefragt. Nein. Der Anrufer war ›unbekannt‹, wurde mir berichtet. Halten Sie es für möglich, dass die Eheleute etwas mit dem Mord an dem Italiener zu tun haben?«

»Wie kommen Sie darauf?«

»Ich lese Zeitung. Heute Morgen wurde in der Hannoverschen Allgemeinen ausführlich darüber berichtet. Auch, dass ein Ehepaar T. von der Polizei als Zeugen gesucht wird. Und hier im Hause war bekannt, dass Tuchtenhagens Ehefrau bei einem italienischen Importunternehmen arbeitete. Die beiden sind Italienfans, und Herr Tuchtenhagen hat gelegentlich davon gesprochen, dass es ihn und seine Frau in jedem Urlaub immer wieder zum Stiefel Europas hinzöge. Kultur. Wetter. Lebensart. Einfach alles.«

»Kannten Sie Marcello Manfredi?«

»Ist das der Italiener?«

Frauke nickte.

»Nein. Der Name sagt mir nichts.«

»Immerhin war der Mann auch in Ihrer Branche tätig. Gegen ihn wurde vor zwei Jahren im Zusammenhang mit einem sogenannten Gammelfleischskandal in Oldenburg ermittelt.«

»Das meinen Sie. Das war eine dumme Sache, in die wir verwickelt waren.«

Bevor Frauke es verhindern konnte, fragte von Wedell überrascht: »Schröder-Fleisch war das?«

»Nicht direkt. Wir haben in Oldenburg ein Tochterunternehmen. Ammerländer Landwurst. Das hat Herr Schröder irgendwann aufgekauft. Es ist übrigens nicht die einzige Tochter. Man hat sich in Oldenburg jedenfalls dazu verleiten lassen, unsaubere Geschäfte zu tätigen, die der Philosophie von Schröder-Fleisch grundsätzlich nicht entsprechen. Daraufhin sind auch Köpfe gerollt, und sowohl die Betriebsleitung in Oldenburg wie die Geschäftsführung am Stammsitz in Hannover wurden ausgetauscht. Ich bin danach gekommen. Und mein Kollege Bergner auch. Der ist Geschäftsführer für die Produktion.«

»Wo waren Sie vorher?«

»Ich war für eine Wirtschaftsprüfungsgesellschaft tätig«, erklärte Steinhövel bereitwillig. »Also völlig branchenfremd.«

»Und Herr Schröder?«

»Das ist ein alter Familienbetrieb. Der wird immer noch als Einzelunternehmen geführt. Der Großvater, Friedrich Schröder, hatte eine kleine Landschlachterei in Pattensen. Die hat er ausgebaut. Sein Sohn Arthur hat das übernommen und mit Geschick weiterentwickelt, bis der jetzige Inhaber Paul Schröder in das Unternehmen einstieg und es zu seiner heutigen Größe und Bedeutung führte.«

»Und wo ist Paul Schröder?«

»Der alte Herr ist Mitte achtzig, das vierte Mal verheiratet. Mit einer vierzig Jahre jüngeren Frau. Er hat sich auf seinen Alterssitz im Tessin zurückgezogen. Keines seiner sechs Kinder aus den verschiedenen Ehen ist an der Geschäftsführung interessiert. So liegt diese jetzt in fremden Händen. Das heißt aber nicht, dass der alte Schröder die Sache nicht im Griff hat. Einmal im Monat müssen Bergner und ich im Tessin zum Rapport antreten.«

»Ist Paul Schröder mit Schröder-Bau verwandt?«

Steinhövel schüttelte den Kopf. »Geschäftlich gibt es keine Beziehungen. Ich bin mir nicht sicher, glaube aber, dass der Bauunternehmer ein Cousin ist.«

Es ist wie überall, dachte Frauke. Hinter den Kulissen gab es eine Handvoll Familien, die offen oder aus dem Verborgenen heraus die Geschicke, wenn auch nicht bestimmen, so doch erheblich beeinflussen konnten. Die Leute mit Einfluss, wie der Volksmund zu sagen pflegte.

»Herr Tuchtenhagen war Amtsveterinär in Oldenburg und dort mit zuständig für die Überwachung der lebensmittelrechtlichen Bestimmungen. Mutet es nicht merkwürdig an, wenn er nach dem Skandal, der offenbar mangels hinreichender Beweise im Sande verlaufen ist, die Seiten gewechselt und ein lukratives Angebot Ihres Hauses angenommen hat?«

»Wie gesagt. Ich war damals noch nicht bei Schröder-Fleisch. Wenn ich richtig informiert wurde, hat Herr Tuchtenhagen maßgeblich an der Aufdeckung der damaligen Missstände mitgewirkt. Das trifft nicht auf jeden Mitarbeiter der Lebensmittelüberwachung zu. In bestimmten Regionen sind die Fleischerzeuger und -verarbeiter wirtschaftlich so stark, dass sie die Behörden unter Druck setzen können. Das geht von der Andeutung, man könne als Steuerzahler seinen Standort auch in die Nachbargemeinde verlegen, bis hin zum Abbau von Arbeitsplätzen. Tuchtenhagen hat sich offenbar davon nicht abschrecken lassen. Das hat den Senior beeindruckt, und er hat Thomas Tuchtenhagen für uns gewinnen können. Ein tüchtiger Mann. Durchsetzungsstark. Eloquent. Das wird unseren Qualitätsanforderungen nur gerecht.«

»Das sind ja wahre Lobeshymnen«, sagte Frauke.

»Ich versuche objektiv zu sein. Umso mehr verwundert es mich, dass er überraschend abgetaucht ist. Glauben Sie, dass er und seine Frau etwas mit dem Mord zu tun haben?«

»Im Rahmen der Ermittlungen befragen wir viele Leute. Dazu gehören auch die Eheleute Tuchtenhagen«, antwortete Frauke ausweichend. »Wir haben aber noch eine andere Bitte. Wir würden gern mit einem anderen Mitarbeiter Ihres Betriebes sprechen. Leider kennen wir nur den Vornamen. Simone. Das ist in diesem Fall ein männlicher Vorname.«

Steinhövel betätigte ein paar Knöpfe auf seinem Telefonapparat. Über Raumlautsprecher meldete sich eine Frauenstimme. »Gerke.«

»Steinhövel. Frau Gerke, suchen Sie bitte alle Mitarbeiter mit dem Vornamen Simone heraus.«

Einen kurzen Augenblick herrschte Schweigen in der Leitung. Dann war die Mitarbeiterin wieder zu hören. »Ist das ein Scherz?«

»Wir haben eine sündhaft teure Software in Ihrer Personalabteilung installiert. Die muss solche Möglichkeiten bieten. Ende.« Steinhövel betätigte erneut einen Knopf, ohne die Erwiderung abzuwarten. Dann sah er in Richtung Tür, als die blonde Frau mit den Getränken erschien. Sie balancierte eine Kaffeekanne, Tassen, Zuckerwürfel und ein kleines Milchtöpfchen auf einem Tablett, stellte das Geschirr vor den dreien ab, schenkte ein und verschwand diskret.

Frauke interessierte sich für das Produktspektrum des Unternehmens, und Steinhövel hielt einen Stegreifvortrag, als müsse er kritische Neukunden überzeugen, bis sich sein Telefon meldete.

»Gerke. Wir haben vier Frauen, die Simone heißen. Simone Eberwald, Simone Herzog, Simone Müller und Simone Schwarzenbeck.«

Frauke schüttelte den Kopf. »Ich sagte ausdrücklich, dass wir einen Mann suchen.«

Die Mitarbeiterin der Personalabteilung hatte Fraukes Einwand mitgehört.

»Das gibt’s doch nicht«, sagte sie. »Simone ist weiblich.«

»Es ist ein italienischer Männername. Haben Sie schon einmal etwas von dem blinden Sänger Andrea Bocelli gehört?«

»Ja, aber …«

»Suchen Sie weiter«, sagte Steinhövel barsch. Dann sagte er mehr zu sich selbst: »Wo war ich stehen geblieben? Ach ja.« Und er setzte seinen Bericht fort. Diesmal dauerte es nicht lange, bis sich Frau Gerke erneut meldete.

»Das gibt ja immer wieder tolle Sachen«, sagte sie. »Wir haben einen. Simone Bassetti.«

»Was macht der bei uns?«

»Moment.« Man hörte durchs Telefon, wie Frau Gerke ihre Tastatur bearbeitete. »Ich hab ihn. Der arbeitet in der Wurstproduktion. In H25.«

»Danke«, sagte Steinhövel und stand auf. »Wenn es Ihnen recht ist, gehen wir direkt dorthin. Oder möchten Sie nicht mit Herrn Bassetti sprechen?«

»Natürlich. Gern«, sagte Frauke und folgte mit von Wedell dem Geschäftsführer aus dem Verwaltungsgebäude. Sie überquerten den Hof, auf dem es von firmeneigenen und fremden Fahrzeugen wimmelte, und gingen durch eine Eisentür in ein von außen unscheinbar wirkendes fensterloses Gebäude.

Steinhövel blieb in einem Vorraum stehen und wies auf ein Regal. »Stülpen Sie sich bitte die Hauben über die Haare und vom linken Stapel jeweils einen Überzieher über die Schuhe. Hier vorn liegen Kittel für Gäste.« Nachdem sich die beiden Beamten verkleidet hatten, mussten sie sich noch die Hände desinfizieren, bevor sie die nächste Tür passieren konnten. In einem weiß gekachelten Raum, der Frauke in seiner Sterilität an die Gerichtsmedizin erinnerte, folgte Steinhövel einem Weg und wich zwischendurch immer wieder Arbeitern aus, die große fahrbare Bottiche transportierten. Ein geschäftiges Treiben erfüllte die Luft. Und spätestens die an Haken unter der Hallendecke dahinschwebenden Hälften geschlachteter Schweine ließen Fraukes kurzen gedanklichen Ausflug an die Räume der Kieler Gerichtsmedizin enden.

»Unsere Produktion«, erklärte Steinhövel gegen den Lärm an. »Vieles ist schon automatisiert, aber dennoch bleibt genug Handarbeit.«

Die Kette mit den schwebenden Schweinehälften endete an einem Laufband. Sie wurden durch eine Vorrichtung automatisch abgekippt. An dieser Stelle begann ein langer Tisch, auf dem die Tiere an zahlreichen nebeneinanderliegenden Arbeitsplätzen von Männern zerlegt wurden.

»Das ist alles noch Handarbeit«, sagte Steinhövel, als sie kurz hinter einem der Arbeiter stehen blieben. Der Mann hatte in der rechten Hand ein langes, spitz zulaufendes Ausbeinmesser, während die linke Hand durch einen Kettenhandschuh vor der scharfen Klinge geschützt war. Unglaublich geschickt fuhr der Mann mit dem Messer in die Tierhälfte und schnitt Teile davon heraus, die er in verschiedene hinter sich stehende Bottiche warf.

»Arbeiten die im Akkord?«, fragte von Wedell.

Steinhövel nickte. »Das kann uns noch keine Maschine abnehmen. Das Zerlegen will gelernt sein. Je nach Verwendung des Ausgangsprodukts unterscheiden wir zwischen Wurst- und Fleischschwein. Abhängig davon müssen die Schnitte beim Zerteilen angelegt werden.«

Sie verließen die Halle und betraten andere Räume, die wie eine große Küche wirkten.

»Hier werden die unterschiedlichen Produkte weiterverarbeitet«, erläuterte Steinhövel und führte sie zu einem Bereich, in dem auch ein Laie wie Frauke erkennen konnte, dass hier Schinken zubereitet wurden.

»Das ist eines der Markenzeichen unseres Hauses.« Der Stolz schwang in Steinhövels Stimme mit. »Für unseren Delikatessschinken sind wir weithin bekannt.«

Ein Mann mit dichtem Schnurrbart und dunklen Augen, die unter der Schutzhaube aus einem finster wirkenden Gesicht blinzelten, kam auf sie zu. Es sah aus, als wollte er die Besucher anschnauzen, als er den Geschäftsführer erkannte.

»Wir suchen Simone Bassetti«, sagte Steinhövel.

Der Mann zeigte auf einen abgetrennten Glaskasten. »Der sitzt da«, erklärte er. Seine Stimme hatte einen harten osteuropäischen Klang.

Steinhövel und die beiden Beamten sahen, dass der kleine Raum leer war. »Macht er Pause? Oder ist er irgendwo im Betrieb?«, fragte der Geschäftsführer.

»Der Scheißitaliener ist heute nicht gekommen«, erklärte der Mann und schrie zwischendurch in einer fremden Sprache einen der Arbeiter an, der große Schinken in einem Salzfass wälzte.

»Sie scheinen nichts von Herr Bassetti zu halten?«, fragte Frauke.

»Nix.« Er tippte sich gegen die Brust. »Wir arbeiten wie Hunde. Und Simone sitzt da drin, tut nix und macht den Dicken.«

»Ist er Abteilungsleiter?«, wollte Frauke wissen.

»Nix. Chef ist Herr Bringschulte. Guter Kollege. Ich bin Vorarbeiter.« Erneut schrie er einem anderen Mann etwas zu. »Wir machen Knochenarbeit. Bassetti nur sitzt und gafft. Blöde Sprüche macht. Überflüssig wie Sehne in gutem Fleisch. Noch was? Ich muss aufpassen wie Luchs. Sonst die Kerle machen nur Scheiß.«

»Wie heißen Sie?«, fragte Frauke noch.

»Marek Besofski«, erwiderte der Vorarbeiter und tauchte wieder in seine Arbeit ein, ohne die Antwort abzuwarten. Steinhövel eilte hinter ihm her, hielt ihn an der Schulter fest und fragte etwas, das die Beamten im Lärm nicht verstehen konnten. Dann kehrte der Geschäftsführer zu ihnen zurück.

»Herr Bringschulte, sein Chef, ist zur Kur. Den können wir leider nicht fragen. Möchten Sie noch etwas sehen?«

Die Polizisten verneinten und folgten Steinhövel aus dem Produktionskomplex zurück auf den Hof.

»Falls Sie noch weitere Fragen haben oder ich Ihnen irgendwie behilflich sein kann – jederzeit. Meine Telefonnummer haben Sie.« Steinhövel fingerte aus der Brusttasche seines Hemds eine Visitenkarte heraus. »Hier finden Sie alle Angaben, wie Sie mich erreichen können.«

Von Wedell und Frauke kehrten zu ihrem Fahrzeug zurück.

»Ist das Zufall, dass Tuchtenhagens Name in einem Zusammenhang mit dem Fleischskandal in Oldenburg zu stehen scheint?«, fragte der junge Kommissar. »Oder ist er für sein Wohlverhalten mit einem gut dotierten Posten in Hannover belohnt worden?«

»Die Frage habe ich mir auch gestellt. Wir müssen den Mann finden. Und dringend in die damaligen Ermittlungsakten Einblick nehmen. Vielleicht finden wir dort einen Hinweis auf die Rolle Tuchtenhagens.«

»Wohin jetzt?«, fragte von Wedell, nachdem er den Motor gestartet hatte.

»Zur Dienststelle.«

Sie waren erst ein paar hundert Meter gefahren und hatten noch nicht die Hans-Böckler-Allee erreicht, als sich von Wedells Handy meldete. »Sorry«, sagte der junge Kommissar und hielt sich das Gerät vorschriftswidrig ans Ohr.

»Bitte?«, fragte er erstaunt, nachdem er sich gemeldet und einen Moment gelauscht hatte. »Sagen Sie das noch einmal?« Da hörte er wieder zu. »Gut. Ich werde …« Offenbar wurde er unterbrochen. »Ja. Das habe ich verstanden. Wollen Sie mir nicht Ihren Nam…«

Er warf einen kurzen Blick auf das Display seines Handys. »Weg«, sagte er. »Hat aufgelegt.«

»Wer war das?«, fragte Frauke.

»Der Anrufer hat keinen Namen genannt. Natürlich war der Anruf ohne Identifikation.« Von Wedell wurde kurz abgelenkt, als er sich beim Einbiegen in die Berliner Allee auf den Verkehr konzentrieren musste. Dann fuhr er fort. »Der Anrufer – männlich, ich schätze ihn auf mittleres Alter – sprach deutsch mit deutlichem italienischem Akzent. Er hat gesagt, ich würde etwas wissen. Dazu hätte er ergänzende Informationen zum Mordfall Manfredi. Er hat mir einen Treffpunkt genannt. Dort wolle er mir Einzelheiten berichten.«

»Warum kommt er nicht einfach ins LKA?«, fragte Frauke.

Von Wedell zuckte die Schultern. »Sie haben es doch mitbekommen. Der Anrufer hat mir keine Chance gegeben, ihm weitere Fragen zu stellen. Auf jeden Fall soll ich allein kommen.«

»Und wohin hat er Sie bestellt?«

»Heute Abend. Viertel nach neun.«

»Schön. Aber wohin?«

»Das ist das Merkwürdige. Auf das Messegelände. Zum Eingang des Convention Center.«

»Ist das ein Platz von besonderer Bedeutung?«

Von Wedell warf ihr einen ungläubig wirkenden Blick zu. »Das ist das Herzstück des Messegeländes überhaupt. Das muss man doch kennen. Waren Sie schon mal auf der CeBIT

»Ich gestehe, kein Computerfreak zu sein«, sagte Frauke. »Läuft derzeit eine Veranstaltung auf dem Messegelände?«

»Nicht dass ich wüsste.« Er musterte Frauke von der Seite. »Was sollen wir jetzt machen? Soll ich hingehen?«

»Wir müssen jeder Spur nachgehen«, sagte Frauke nachdenklich. »Natürlich gilt der eherne Grundsatz, dass in jedem Fall der Eigenschutz Vorrang hat. Sie werden nicht allein gehen.«

»Wollen Sie mich begleiten?«

»Nein«, sagte Frauke entschieden. »Sie werden den Dienstweg einhalten und Richter informieren. Der soll alles organisieren.«

»Hm«, nickte der junge Kommissar.

»Haben Sie die Stimme schon einmal gehört?«

»Nicht am Telefon. Ich bin mir nicht sicher. Aber mit ein wenig Phantasie könnte es Simone Bassetti gewesen sein.«

»Die Zufallsbekanntschaft aus der Pizzeria, die ebenso zufällig bei Schröder-Fleisch tätig und heute nicht zur Arbeit erschienen ist.«

Nach ihrer Rückkehr von Schröder-Fleisch hatten Frauke und Lars von Wedell Hauptkommissar Richter aufgesucht. Von Wedell hatte von dem anonymen Anruf berichtet, der ihn um einundzwanzig Uhr fünfzehn zur Messe bestellt hatte.

Richter überlegte und wirkte irritiert, weil Frauke ihn nur musterte, sich aber jeden Kommentars enthielt.

»Was meinen Sie?«, fragte er sie.

Sie zuckte die Schultern und zeigte mit der ganzen offenen Hand auf ihn. »Die Entscheidung liegt bei Ihnen.«

Daraufhin bat Richter die beiden anderen Teammitglieder dazu, und von Wedell musste erneut berichten.

»Da will uns einer verarschen. Der tickt doch nicht richtig«, empörte sich Putensenf.

»Nun mal langsam, Jakob. Immerhin glaubt unser junger Kollege, dass es sich bei dem Anrufer um den Mann handeln könnte, den er zufällig in der Pizzeria Italia getroffen hat. Wir wissen inzwischen, dass er Simone Bassetti heißt«, erklärte Richter.

»Simone? Ein italienisches Mannweib? Oder eine Schwuchtel?«

»Irrtum, Jakob. Das ist ein durchaus gebräuchlicher Männername jenseits der Alpen«, mischte sich Madsack ein.

Putensenf tippte sich an die Stirn. »Die haben’s doch nicht mehr ganz. So ist das, wenn man hinter den Bergen wohnt.«

»Die Römer hatten schon eine Hochkultur, als unsere Vorfahren noch in Höhlen hausten und Wölfe jagten«, sagte Frauke. »Und wenn Sie einem Italiener Ihren Zunamen erklären, wird der sich totlachen. Pute in der Bratröhre – ja. Aber doch nicht mit Senf.«

Putensenfs Gesichtsmuskeln zuckten. »Wollen Sie persönlich werden?«, keifte er.

»Ich habe mich nur Ihrem Stil angepasst. Seitdem ich hier bin, höre ich von Ihnen nur solche Äußerungen.«

»Dobermann! Sie brauchen wohl immer einen Knochen, an dem Sie herumnagen können!«, schimpfte Putensenf.

»Manchmal dauert es ein wenig. Aber bisher habe ich alle Knochen kleinbekommen. Auch die alten.«

»Sie! Sie …«

Putensenf schoss das Blut in den Kopf. Bevor er mit knallrotem Kopf antworten konnte, fuhr Richter dazwischen. »Schluss jetzt! Ich dulde keine Albernheiten dieser Art in meinem Team. Sie halten sich jetzt zurück. Beide! Sonst donnert es.«

Frauke neigte den Kopf ein wenig zur Seite und grinste Putensenf an.

»Dumme Ziege«, zischte der zurück und faltete die Hände so heftig zusammen, dass die Knöchel weiß hervortraten.

Während des Disputs hatten Madsack und von Wedell betreten einen imaginären Fixpunkt irgendwo im Raum angestarrt.

»Wir müssen den Anruf ernst nehmen«, beschied Richter. »Simone Bassetti ist auch bei Schröder-Fleisch beschäftigt. Dort übt er nach den Worten des polnischen Vorarbeiters – wie heißt der noch gleich?«

»Marek Besofski«, half von Wedell aus.

»Danke, Lars. Bassetti kennt Tuchtenhagen. Vielleicht hat der Mann uns etwas zu erzählen. Wir sollten der Spur nachgehen.«

»Warum meldet sich der Italiener nicht bei der Polizei, wie es jeder andere tun würde?«, gab Madsack zu bedenken.

»Das werden wir erfahren, wenn wir heute Abend mit ihm sprechen«, sagte Richter.

»Wir?«, fragte Putensenf, nicht ohne zuvor einen giftigen Blick auf Frauke zu werfen.

»Richtig. Lars wird den Termin wahrnehmen. Und wir werden ihn begleiten.«

»Und wie stellst du dir das vor?«, wollte Madsack wissen.

Richter erläuterte seinen Plan.

Die Dämmerung war hereingebrochen, und das letzte Restlicht des Tages ließ das verlassen daliegende Messegelände finster erscheinen. Während sich hier zu Zeiten der CeBIT, der Hannover-Messe oder anderer Veranstaltungen die Menschenmassen tummelten, wirkte der Platz an der großen Freitreppe bei der ehemaligen Exponale trist und verlassen.

Der leichte Nieselregen hatte bereits am Nachmittag wieder eingesetzt, und Pfützen übersäten die Fläche, über die sonst Besucher aus aller Welt hinwegtrampelten. Mobile Eisverkäufer, Zeitungsstände, rollende Werbung von Ausstellern und Stellwände und Plakate verliehen dem Areal ein buntes Aussehen. Jetzt war eine Baustelle an der Hallenecke, an der man sich nicht einmal die Mühe gemacht hatte, sie abzusperren, der einzige Blickfang. Ein Minibagger stand neben dem Erdaushub vor einem Loch. Frauke konnte nicht erkennen, nach welchem Schatz man dort grub.

Madsack hatte in der Teambesprechung einen Plan des Messegeländes besorgt, und sie hatten gemeinsam festgelegt, an welcher Stelle jeder Position beziehen sollte.

Madsacks Überlegungen, weitere Beamte der Einsatzbereitschaft oder des SEKs anzufordern, hatte Richter zurückgewiesen.

»Wir machen uns lächerlich, Nathan, wenn wir mit einer Hundertschaft aufziehen und alles war ein Dummejungenstreich. Wir haben es hier nicht mit einer gewalttätigen Bande zu tun, sondern mit einem Informanten, der – aus welchem Grund auch immer – diesen ungewöhnlichen Ort gewählt hat.«

»Aber es muss doch einen Grund dafür geben«, hatte Madsack noch einmal einzuwenden versucht. Aber Richter hatte sich nicht beirren lassen.

Der Platz am Fuß der großen Freitreppe lag verlassen. Das runde Convention Center schwebte förmlich auf filigranen Stelzen über dem Eingang, den der Anrufer zum Treffpunkt bestimmt hatte. So entzog er sich auch Fraukes direktem Blick. Das Areal wurde auf der gegenüberliegenden Seite durch die Hallen 14 und 15 begrenzt, während ein weiteres Gebäude auf dem Platz, das mit seiner einfallsreichen Architektur aussah, als wäre es seitlich verrutscht, und dem schiefen Turm von Pisa überdeutlich Konkurrenz machte, ihr die freie Sicht versperrte.

Madsack hatte sich Schlüssel für eines der Tore besorgt, durch die Lieferanten auf das Messegelände fuhren. Die beiden Dienstwagen hatten sie auf Richters Geheiß ein wenig abseits im Schatten der Halle 12 geparkt.

Frauke drückte sich dichter an die Hallenwand, als ihr zwei dicke Tropfen vom Dachüberstand ins Gesicht klatschten. Mit dem Handrücken wischte sie die Feuchtigkeit weg und unterdrückte einen leisen Fluch. Dann versuchte sie die Dunkelheit zu durchdringen. Sie nahm ihre Brille ab, auf der sich der feine Sprühregen niederschlug und sie in der ohnehin mageren Sicht behinderte. Ohne Brille, stellte sie resignierend fest, konnte sie auch nicht besser sehen. Du wirst langsam alt, durchzuckte sie ein Gedanke voller Bitternis. Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Es war sechs Minuten nach neun Uhr abends. Seit über zwanzig Minuten harrte sie schon in dieser Position aus.

»Alles klar bei euch?«, vernahm sie Richters Stimme aus dem Ohrhörer. Nachdem sich die anderen drei mit einem »Ja« gemeldet hatten, wisperte auch sie ein gehauchtes »Alles okay« in das kleine Mikrofon, das am Kragen ihrer durchnässten Jacke befestigt war.

»Ist schon etwas zu sehen, Lars?«, wandte sich Richter an den jungen Kommissar, der vor dem Eingang des Convention Centers auf und ab ging und gelegentlich aus dem Schatten auftauchte, wenn er in Richtung des »schiefen« Gebäudes schlenderte.

»Nichts.«

»Gut. Sofort melden, wenn jemand etwas sieht. Verstanden?«

Wieder kamen leise »Ja« übers Mikrofon.

»Sie auch, Frau Dobermann?«, sprach Richter sie direkt an, nachdem sie nicht geantwortet hatte.

»Die ist etwas Besseres. Warum soll die sich an die Disziplin halten?«, war Putensenf über den Ohrhörer zu vernehmen.

»Jakob, halt die Klappe!«, schalt ihn Richter, während Frauke ein »Ja« ins Mikrofon schickte. Dann herrschte wieder Schweigen. Es war nur das Rauschen der Autos auf der B 6, dem Messeschnellweg, zu hören, der gleich hinter den Hallen entlangführte. Deutlich vernahm man das typische Geräusch, wenn Autos über nassen Asphalt brausen. Sonst war Stille. Merkwürdig, dachte Frauke. Wie oft sehnen sich die Menschen nach der Stille, wenn sie Tag und Nacht dem Geräuschpegel der Stadt ausgesetzt waren. Verglichen mit Flensburg schien ihr Hannover laut und von einer steten Betriebsamkeit erfüllt. Überall war etwas zu hören. Auch nachts, lange nach Mitternacht, schien die Stadt nicht zu schlafen. Selbst durch die geschlossenen Fenster ihres Hotelzimmers drang der Puls Hannovers. Und jetzt, wo neben dem Rauschen der fernen Straße nur das Plätschern des Regens zu vernehmen war, lauschte sie gebannt in die dunkle Nacht. Auch das leiseste Geräusch hätte einen Teil ihrer Anspannung abgebaut. Doch es blieb ruhig. Von ihrem Standort aus konnte sie die Lichtkuppel über der Niedersachsenmetropole sehen. Wie eine Glocke hing der rötlich gefärbte Schein über dem fern wirkenden Horizont, während es immer schwieriger wurde, auf dem Platz vor der Freitreppe etwas zu erkennen. Vorsichtig lugte sie um die Ecke. Von Wedell war nur noch als dunkler Schatten erkennbar, der nervös vor dem Eingang des Convention Centers auf und ab wanderte.

Es war das Ausharren, das geduldige Warten auf ein ungewisses Ereignis, das von Außenstehenden bei der Tätigkeit eines Polizeibeamten im Zuge einer Observation unterschätzt wurde. Auch wenn es lange dauerte, durfte die Konzentration nicht nachlassen. Aber der Anspruch war einfacher gestellt als in der Praxis durchgeführt. Wieder und immer wieder versuchte sie, die Dunkelheit zu durchdringen. Es war kaum etwas zu sehen. Vielleicht, so überlegte sie, wäre es doch sinnvoll gewesen, das SEK einzuschalten. Die Beamten waren technisch besser ausgerüstet und auf solche Situationen eingestellt. Mit einem Nachtsichtgerät hätte man das Areal besser überwachen können. Andererseits hatte Richter recht. Es ging schließlich nur um das Treffen mit einem offenbar harmlosen Informanten. Und kein Einsatzleiter machte sich gern lächerlich, indem er bei einfachen Einsätzen das große Arsenal anforderte und damit auch ein wenig eigene Unvollkommenheit offenbarte. Sie selbst hätte in Flensburg, als die Einsatzleitung ausschließlich bei ihr lag, auch nicht anders entschieden.

Erneut sah sie auf die Uhr. Der Minutenzeiger schien festgewachsen zu sein. Es waren erst vier Minuten vergangen, seitdem sie das letzte Mal die Zeit kontrolliert hatte. Langsam stieg die feuchte Kälte hoch, und sie begann zu frösteln. Ihre Kleidung war nicht regendicht und inzwischen völlig durchnässt. Sicher spielte auch die unruhige vergangene Nacht, in der sie in der ungewohnten Umgebung immer wieder wach geworden war, eine Rolle. Sie bewegte vorsichtig ihre Füße und trat auf der Stelle. Dann schlug sie die Arme um den Oberkörper.

»Welcher Trottel macht so einen Lärm?«, hörte sie Richters Stimme im Ohrhörer. »Stillhalten. Das rauscht wie verrückt im Netz.«

Abrupt stoppte sie die Bewegung. Das Schlagen der Arme am Oberkörper musste bei den anderen durch das angeheftete Mikrofon wie ein Gewitter geklungen haben. Ich habe mich im Stillen über die manchmal unbeholfen wirkende Art des jungen von Wedell amüsiert, dachte Frauke. Und nun verhalte ich mich selbst wie ein undisziplinierter Anfänger. Auch die nervöse Anspannung durch das unausgeglichene Verhältnis zu den Kollegen und die aus ihrer Sicht unfreundliche Aufnahme bei der Hannoveraner Kripo sollten keine Entschuldigung für ihr Verhalten sein. Sie beugte sich vor und blinzelte über den Rand der mit Regentropfen übersäten Brille hinweg um die Ecke. Nichts war zu sehen. Dafür wurde sie mit einem neuen Guss vom Dach bestraft. Sie unterdrückte einen Fluch und versuchte, sich die Feuchtigkeit mit einem Papiertaschentuch vom Gesicht und aus dem Kragen zu tupfen. Mit einem weiteren Tuch putzte sie ihre Brille. Doch davon wurde die Sicht nicht besser. Jetzt waren Schlieren auf den Augengläsern.

Dann begann sie still zu zählen. Immer wieder von einundzwanzig bis dreißig. Nach jedem Durchgang streckte sie einen Finger der rechten Hand in die Länge. Nach sechs Durchgängen, was ungefähr einer Minute entsprach, einen Finger der linken Hand. Die Zeit dehnte sich endlos. Man glaubt nicht, wie lang eine Minute sein kann. Wie grauenvoll mag es sein, wenn Menschen in einem abstürzenden Flugzeug sitzen? Es dauert Minuten, bis die Maschine am Boden zerschellt. Wie unendlich lang mag dieser grauenhafte Augenblick der Erkenntnis sein?, schoss es ihr durch den Kopf. Konzentriere dich, kam ein anderer Gedanke dazwischen. Solche Fragen gehören nicht an diesen Ort. Sie begann gerade, die neunte Minute anzuzählen, als sie ganz leise Lars von Wedell im Ohrhörer vernahm.

»Ich glaube, da kommt jemand.« Die Stimme klang aufgeregt.

»Ruhe, ich sehe ihn auch«, zischte Richter dazwischen.

Frauke versuchte, etwas zu erkennen, doch sie sah nur den Schattenriss von Wedells, der seine unruhige Wanderung unterbrochen hatte. Für einen Moment herrschte Schweigen im Ohrhörer. Frauke schien, als würde sie ganz schwach von Wedells unruhigen Atem vernehmen. Angespannt lauschte sie. Außer dem monotonen Rauschen der Straße in ihrem Rücken war nichts zu hören. Sie wagte es nicht, weiter an den Rand der Treppe heranzutreten. Es bestand die Gefahr, dass sich ihre Silhouette gegen den Nachthimmel abhob und dem erwarteten Besucher ihre Position verriet. Dann geschah minutenlang nichts. Der Ohrhörer war tot, und zu sehen war auch nichts. Wäre sie Einsatzleiterin gewesen, hätte sie längst abgefragt, ob von Wedells Vermutung, es komme jemand, vielleicht ein Irrtum gewesen war. Aber Richter hatte es auch gesehen.

Frauke zuckte zusammen, als urplötzlich ein Schuss durch die Stille hallte. Das Echo schien sich an den Fassaden der Hallen zu brechen, und die angespannten Sinne gaukelten ihr vor, dass der Knall durch den gesamten Innenhof rollte.

»Verdammt. Was war das?«, rief Richter.

»Der schießt auf mich«, antwortete von Wedell aufgeregt.

»Lage!«, schrie Richter dazwischen. »Ich will eine Lage!«

»Nichts. Ich sehe nichts«, hörte Frauke Madsack, dessen Stimme durch Putensenf überlagert wurde.

»Scheiße«, knurrte der Kriminalhauptmeister.

»Negativ«, sagte auch Frauke. Dann tauchte vor der Fassade der Halle 14 ein Schatten auf, der die Expo-Allee mit ihrem breiten Grünstreifen in der Mitte überquerte und in Richtung Eingang Süd 1 lief. Kurz darauf sah sie eine zweite dunkle Gestalt, die hinterherlief.

Noch einmal knallte es.

»Wer schießt dort?«, keuchte Richter, um dann erneut zu brüllen: »Lage!«

Frauke hielt es nicht länger auf ihrem Posten. Sie verfluchte die unbewegliche Verwaltung, die es immer noch nicht zustande gebracht hatte, ihr eine Dienstwaffe zu beschaffen. Sie rannte die breite Freitreppe hinab. Offensichtlich entfernte sich der Täter. Der zweite Schatten musste von Wedell gewesen sein, der den Schützen verfolgte. Sie nahm mehrere Stufen auf einmal, kam ins Stolpern, fing sich wieder und hastete weiter. Als sie auf dem Platz vor dem Convention Center angekommen war, konnte sie niemanden entdecken. Sie lief den beiden Gestalten hinterher.

Noch einmal durchschnitt der peitschende Knall eines Schusses die Dunkelheit. Frauke stockte mitten im Lauf. Es schien ganz in ihrer Nähe gewesen zu sein, obwohl sie nicht den Eindruck hatte, dass man auf sie schoss. Dann wurde erneut geschossen. Zwei Mal kurz hintereinander.

»Was ist da los?«, brüllte Richter atemlos. »Verflixt! Ich möchte eine Lage!«

Niemand antwortete.

Sie rannte nicht mehr, sondern ging geduckt weiter. Nichts war zu sehen. Sie hatte jetzt den Rand des kleinen Platzes erreicht und umrundete vorsichtig die Baustelle mit dem Minibagger, als sie in eine große Pfütze trat. Das Wasser schwappte in ihre Schuhe und durchnässte in Sekundenschnelle die Füße. Dann hielt sie abrupt inne. Neben dem kleinen Hügel mit Aushub, den der Bagger aus dem Erdloch herausgeholt hatte, lag eine Gestalt. Sie warf noch einen Blick in die Runde, dann kniete sie sich neben den Mann nieder. Ein eisiger Schreck durchfuhr sie, als sie Lars von Wedell erkannte. Der junge Kommissar lag auf dem Bauch, einen Arm weit nach vorn gestreckt, den anderen vor dem Gesicht, als wollte er sich schützen. Die Beine waren leicht gespreizt, der linke Fuß verdreht. Von Wedell musste im vollen Lauf niedergestreckt worden sein.

Frauke legte zwei Finger an seine Halsschlagader. Sie vernahm ein schwaches Pulsieren. Lars von Wedell lebte noch. »Schnell! Beim Bagger! Lars ist verletzt! Wir brauchen Hilfe! Einen Notarzt!«, rief sie ins Mikrofon.

»Ich komme«, keuchte Madsack.

Während Frauke vorsichtig versuchte, sich ein Bild von der Art der Verletzung zu machen, hörte sie eine Weile später über den Kopfhörer, wie Putensenf offensichtlich per Handy den Rettungsdienst alarmierte.

Im Unterbewusstsein vernahm sie Richters sich überschlagende Stimme. »Bleib stehen! Polizei!«, rief der Hauptkommissar in abgehackten Wortfetzen. Dann waren wieder Schüsse zu hören. Drei Mal. Sie vernahm am Klang, dass es zwei unterschiedliche Waffen waren. Irgendwo in der Nähe fand ein Feuergefecht statt.

»Ich brauche Unterstützung«, rief Richter. »Hier. Richtung Eingang Süd. Kronsbergstraße. Ich verfolge bewaffneten Täter. Vorsicht. Schusswaffengebrauch.«

»Halt ihn fest. Bin unterwegs«, rief Putensenf.

Lars von Wedell lag reglos, den Kopf seitlich in der Pfütze. Frauke sah, dass Mund und Nase oberhalb des flachen Wasserspiegels lagen. Mit dem Display ihres Handys leuchtete sie zunächst auf den Kopf. Der junge Kommissar hatte das sichtbare Auge geöffnet, während das zweite im Wasser lag. Es schien, als würde er Frauke fragend anblicken.

»Ganz ruhig«, zwang sich Frauke zu einer bedächtigen Sprechweise. »Hilfe ist unterwegs. Gleich werden Sie versorgt. Alles ist gut.«

Das Augenlid des Verletzten flackerte kurz. Dann leuchtete Frauke den Hinterkopf des Liegenden ab.

»Mein Gott«, entfuhr es ihr, als sie den Einschuss sah. Als sie das Handy abwärts wandern ließ, entdeckte sie zwei weitere Treffer im Rücken von Wedells. Der Polizist war von hinten angeschossen worden. Dann musste der Täter an den Gestrauchelten herangetreten sein und noch einmal geschossen haben. Das musste nach der kurzen Pause im Anschluss an den einzelnen Schuss gewesen sein. Im selben Augenblick hatte der Täter ein weiteres Mal abgedrückt und die Waffe auf den Kopf des Wehrlosen gerichtet. Frauke durchfuhr ein eiskalter Schauder. Das war eine Hinrichtung.

»Hallo? Wo seid ihr?«, hörte sie Madsacks Stimme.

»Hier! Bei der Baustelle«, rief sie zurück.

Gleich darauf vernahm sie das Schnaufen des korpulenten Hauptkommissars, der sich mit einem Ächzen neben ihr niederkniete.

»Von Wedell?«, fragte Madsack.

»Ja.«

»Herrje. Schlimm?«

»Noch hat er Puls. Drei Einschüsse, soweit ich es oberflächlich feststellen konnte.«

Madsack zauberte eine Mini-Maglite hervor und leuchtete von Wedell aus.

»Ich wage nicht, ihn zu bewegen. Ein Geschoss ist in den Kopf eingedrungen«, sagte Frauke. »Hoffentlich kommt der Notarzt bald.« Sie zögerte einen Moment. »Wir legen ihn doch in die stabile Seitenlage. Können Sie mir behilflich sein?«

Madsack nahm seine Taschenlampe in den Mund, und vorsichtig drehten sie das Opfer. Als sie ihn etwas bewegt hatten, sahen sie, dass das Geschoss, das in den Hinterkopf eingedrungen war, durch das bisher im Wasser liegende Auge den Kopf wieder verlassen hatte.

Madsack würgte und stöhnte leise. Auch Frauke verspürte einen Druck in der Magengegend. Erneut legte sie zwei Finger an die Halsschlagader.

»O Gott. Sein Puls. Ich spüre keinen Puls mehr!« Frauke suchte erneut die Stelle am Hals, an der sie zuvor noch eine schwache Reaktion gefunden hatte.

»Er stirbt. Schnell. Wir müssen ihn reanimieren.«

Trotz seines Übergewichts packte Madsack beherzt mit an, und sie drehten von Wedell auf den Rücken. Nun konnten sie keine Rücksicht mehr auf innere Verletzungen nehmen.

Frauke riss den leichten Blouson auf, den der junge Kommissar über einem T-Shirt trug. Sie fuhr mit zwei Fingern von links am unteren Rippenbogen bis zum Sternum entlang. Dann hatte sie den Druckpunkt am Brustbein gefunden. Sie fixierte die Stelle mit dem Finger, legte den Handballen darauf, sodass Zeige- und Mittelfinger Richtung Kopf wiesen, und presste die andere Hand darüber. Dann begann sie rhythmisch zu drücken und zählte dabei laut. Eins, zwei, drei … Sie drückte den Brustkorb etwa vier Zentimeter tief ein. Wenig später spürte sie, wie der zunächst vorhandene Widerstand nachgab, als die Rippen brachen.

Sie hörten sich nähernde Schritte. »Hallo!«, rief eine unbekannte Stimme.

Madsack stand auf und zielte mit seiner Waffe in die Dunkelheit, aus der eine Gestalt auftauchte. Ein Mann in Jeans und einer hellen Jacke stockte, als er die Waffe auf sich gerichtet sah.

»Ich bin von der Messe«, stammelte er erschrocken. »Ich habe den Auftrag, hier wieder für Ordnung zu sorgen, wenn die Polizei weg ist.« Dann sah er von Wedell auf dem Boden liegen.

»Um Himmels willen. Das glaubt man nicht. Ist er … tot? Hat man auf ihn geschossen?«

Madsack machte eine Winkbewegung mit der Waffe.

»Ausweis. Und halten Sie die Hände so, dass ich sie sehen kann. Keine hastigen Bewegungen.«

Der Mann griff mit einer Hand zur Gesäßtasche und zog ein abgegriffenes Portemonnaie hervor. Er öffnete es und zeigte Madsack den Personalausweis, der in einer Sichthülle in der Geldbörse steckte. Anschließend zerrte er an einem weiteren Ausweis, den er an einem Band um den Hals trug. »Mein Betriebsausweis«, erklärte er mit zittriger Stimme und starrte dabei unverwandt auf Frauke, die neben von Wedell kniete.

»Neunundzwanzig … dreißig.«

Frauke unterbrach das Pressen, beugte sich zum Kopf hin, kontrollierte den Mund, ob er frei war, und ignorierte den dünnen Blutfaden, der aus einem Winkel rann. Sie setzte ihre Lippen auf die von Wedells und spendete zwei Mal Atemluft. Dann begann sie erneut mit dem rhythmischen Drücken auf den Brustkorb.

»Geben Sie mir Ihre beiden Ausweise, und dann ziehen Sie sich bitte außer Sichtweite zurück«, hörte sie Madsack zum Messemitarbeiter sagen.

»Okay«, antwortete der Mann mit schwacher Stimme.

Während Frauke sich weiter auf die Reanimation konzentrierte und Madsack mit zwei Fingern den Puls fühlte, hörten sie sich nähernde Stimmen. Deutlich war Richter zu erkennen, der lautstark Anweisungen erteilte.

Frauke warf Madsack einen fragenden Blick zu.

»Nichts«, sagte der Hauptkommissar leise. »Ich spüre keinen Puls.«

Unbeirrt drückte Frauke weiter und zählte dabei bis dreißig. Dann erteilte sie von Wedell zwei Atemspenden, bevor sie erneut zu pressen begann. Sie spürte die Anstrengung, die von der Reanimation ausging. Die Zahlen, die sie laut vor sich hersagte, kamen zunehmend stoßartig über die Lippen.

»Wo bleibt der Notarzt?«, fragte Madsack. »Wir brauchen den Arzt.« Er fuhr mit dem Handrücken über von Wedells Wange. »Komm, Junge. Komm zurück.«

In die lauten Stimmen von Richter und Putensenf mischte sich jetzt das entfernte Martinshorn eines Rettungswagens.

»Sechzehn … siebzehn … achtzehn.«

»Sie kommen«, sagte Madsack. Nun waren die Töne mehrerer Einsatzfahrzeuge zu unterscheiden.

Aus dem Dunkeln tauchten die beiden anderen Polizisten auf.

»Was ist mit Lars?«, fragte Richter.

»Es steht nicht gut«, antwortete Madsack leise.

Dann gab Richter wieder Anweisungen übers Handy weiter. »Schusswechsel auf dem Messegelände. Kollege verletzt. Rettungskräfte sind alarmiert. Einzeltäter flüchtig. Vermutlich handelt es sich um Thomas Tuchtenhagen.« Es folgte eine kurze Beschreibung des Mannes. »Vorsicht. Schusswaffengebrauch. Der Täter konnte mit einem dunklen Audi A6 entkommen. Kennzeichen: Hannover – zweimal Theodor.« Richter nannte eine dreistellige Zahlenfolge. »Gesuchtes Fahrzeug ist vom Tor Kronsbergstraße des Messegeländes auf den Messeschnellweg in südlicher Richtung abgebogen. Er will entweder auf die A 37, die in die A 7 mündet. Die nächste Abfahrt wäre Hildesheim-Drispenstedt. Oder fährt die B 6 Richtung Sarstedt. Umgehend Fahndung auslösen.« Es folgte eine kurze Pause. »Nein. Keine Straßensperren. Der Täter ist gefährlich. Er macht sofort von der Schusswaffe Gebrauch. Wir dürfen kein Risiko eingehen und Unschuldige gefährden. Gesuchtes Fahrzeug observieren und auf das SEK warten. Jeden eigenen Kontakt vermeiden. Schickt eine Hundertschaft. Und die Spurensicherung. Ende.«

Frauke hatte erneut beatmet und war wieder dabei, zu zählen. »Acht, neun, zehn.«

Madsack leuchtete mit seiner Taschenlampe.

»Halt. Wer sind Sie?«, bellte Putensenf dazwischen.

»Mein Name ist Marx. Ich bin von der Hannover-Messe«, antwortete der Mann, der zaghaft aus dem Schatten trat.

»Das haben wir schon geklärt, Jakob«, fuhr Madsack dazwischen, als endlich zuckende Blaulichter der Szene eine mystisch wirkende Atmosphäre verliehen. Die Scheinwerfer des ersten Rettungswagens waren auf die Gruppe gerichtet. Prompt hielt sich Putensenf schützend die Hand vor die Augen.

Zwei Rettungsassistenten sprangen aus dem Fahrzeug. Bevor sie fragen konnten, setzte Madsack sie ins Bild.

»Das ist ein Kollege von uns«, sagte er und zeigte auf von Wedell. »Er hat Schussverletzungen. Zweimal im Rücken und einmal im Kopf. Ein Durchschuss. Wir spüren keinen Puls mehr. Deshalb reanimiert Frau Dobermann.«

Aus einem zweiten Fahrzeug waren weitere Rettungsleute gekommen. Einer kniete sich zu Frauke hinab.

»Wir übernehmen«, sagte er und tastete mit geübten Fingern von Wedell ab.

»Defi. Schnell«, wies er an und gab außerdem Anweisungen, Medikamente aufzuziehen. Erschöpft erhob sich Frauke und nahm aus den Augenwinkeln den Schriftzug »Notarzt« auf dem Rücken der Jacke wahr. Jetzt war Lars von Wedell in professioneller Obhut, wenn es gelingen sollte, eine erfolgreiche Reanimation durchzuführen. Für einen kurzen Moment dachte sie daran, dass wahrscheinlich irreparable Schäden eingetreten sein mochten. Doch diesen Gedanken wollte sie nicht zu Ende führen.

Jemand fasste sie vorsichtig am Unterarm und zog sie behutsam, aber bestimmt ein Stück fort. Als sie sich umblickte, sah sie in das besorgte Gesicht Putensenfs.

»So eine Schweinerei«, fluchte er leise. »Hoffentlich kriegen wir das Schwein. Bernd hat eine Großfahndung veranlasst.«

»Ich habe bruchstückhaft mitgehört. Er ist entkommen.«

»Wir haben ihn bis zum Tor verfolgen können. Dort stand sein Auto. Mit laufendem Motor. Er ist quer über die Straße und dann auf die Auffahrt zum Messeschnellweg.«

»Sie haben Tuchtenhagen erkannt?«

»Bernd Richter war mir ein ganzes Stück voraus. Als ich ankam, waren nur noch die Rücklichter zu sehen. Richter hat aber eindeutig Tuchtenhagens Fahrzeug identifiziert.«

»Und wer hat geschossen?«

Putensenf schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung. Ich habe keinen einzigen Schuss abgegeben.«

»Wir müssen von Wedells Waffe sicherstellen«, sagte Frauke. Sie fanden die Dienstpistole ein wenig abseits des Kopfs am Rande der Pfütze.

Mittlerweile waren mehrere Streifenwagen und ein weiterer Rettungswagen eingetroffen.

»Müssen Sie ärztlich versorgt werden?«, fragte Madsack, der hinzugetreten war.

»Danke«, antwortete Frauke. »Alles in Ordnung. Haben Sie geschossen?«

»Nein. Nicht einmal.« Madsack schien fast ein wenig froh zu sein, dass er keinen Gebrauch von seiner Pistole hatte machen müssen.

Sie standen schweigend beisammen und sahen den Rettungsleuten zu, während Richter den Einsatz der Polizisten organisierte. Ein eisiger Schreck durchfuhr Frauke, als der Notarzt sich im Zeitlupentempo erhob, einen langen Blick auf Lars von Wedell warf und dann auf die drei Polizisten zukam.

»Es tut mir leid. Wir haben alles versucht«, sagte er leise.

Ein ohnmächtiger Zorn erfasste Frauke. Warum war der junge Kollege kaltblütig von hinten erschossen worden? Sie konnte es nicht verstehen. Die ganze Aktion schien relativ harmlos zu sein. Gut. Der Ort des konspirativ anmutenden Treffens war merkwürdig. Warum sollte Simone Bassetti ausgerechnet das zu dieser Stunde verlassen liegende Messegelände gewählt haben? Und warum hatte Thomas Tuchtenhagen, den Richter einwandfrei identifiziert hatte, auf die Polizisten geschossen? Ob er auch von Wedells Mörder war oder sich noch weitere Personen auf dem Gelände aufgehalten hatten, mussten die Ergebnisse der Spurensicherung zeigen.

Sie standen zu dritt beieinander und schwiegen. Richter wies die eingetroffene Hundertschaft ein und erklärte ihnen, wonach sie suchen sollten. Indessen hatte die Spurensicherung mit ihrer traurigen Arbeit begonnen. Der Fotograf schoss seine Aufnahmen, jemand hatte nummerierte Schilder aufgestellt, ein Beamter im weißen Schutzanzug sicherte von Wedells Dienstwaffe, und mehrere Beamte schwärmten aus, die Patronenhülsen zu suchen. Schließlich fand Richter Zeit, sich zu den drei Polizisten zu stellen. Er schluckte schwer, bevor er sprach. »Ich kann es nicht fassen. Warum hat man auf uns geschossen? Weshalb wurde Lars so unglücklich getroffen, dass er jetzt daliegt?«

»Das war kein zufälliger Treffer aus einem Schusswechsel. Man hat ihn kaltblütig ermordet. Von hinten. Zunächst mit einem Schuss niedergestreckt. Dann ist der Mörder herangetreten, hat einen weiteren Schuss auf den Rücken abgegeben und seine Tat mit einem gezielten Kopfschuss vollendet«, erklärte Frauke.

»Haben Sie das beobachtet? Oder einer von euch?« Richter sah Putensenf und Madsack an.

Beide schüttelten stumm die Köpfe.

»Ich war auch kein Augenzeuge«, erklärte Frauke. »Aber von der Art der Verletzungen muss es so gewesen sein.«

»Wie kommen Sie darauf, dass der Kopfschuss der letzte war?«

»Logik. Wenn der Täter von Wedell bereits mit dem zweiten Schuss in den Hinterkopf final erledigt hätte, wäre der zweite Schuss in den Rücken überflüssig gewesen. Das deutet darauf hin, dass dem Mörder erst danach der Gedanke gekommen ist, mit dem Kopfschuss unseren Kollegen endgültig zu töten.«

»Aber warum wolle er unbedingt Lars’ Tod?«, fragte Madsack dazwischen.

»Vielleicht hat er seinen Mörder erkannt?«, überlegte Richter.

»Dann ist es umso erstaunlicher, dass Lars in den Rücken geschossen wurde«, sagte Putensenf. »Wie soll er jemanden erkennen, der hinter ihm ist?«

»Er kann ihn zuvor gesehen haben«, erklärte Richter. »Von Angesicht zu Angesicht.« Der Hauptkommissar drehte sich ein wenig zur Seite und rief dem leitenden Beamten der Hundertschaft zu: »Durchkämmt das ganze Messegelände. Vielleicht ist noch ein zweiter Täter unterwegs. Simone Bassetti«, sagte zu den drei anderen Polizisten gewandt. »Was ist, wenn die zu zweit waren?«

»Welche Verbindung sollte es zwischen Tuchtenhagen und Bassetti geben?«, fragte Madsack.

»Immerhin kennen die sich aus der Firma. Beide sind bei Schröder-Fleisch. Und der Italiener hat sich über Tuchtenhagen ausgelassen. Auf diese Weise ist Lars über ihn in der Pizzeria gestolpert.« Alle sahen Putensenf an.

»Jakob hat recht«, pflichtete Richter ihm bei.

»Mich interessiert etwas anderes«, sagte Frauke und zog die Blicke auf sich. »Ich habe insgesamt acht Schüsse gehört. Drei haben wir geklärt. Nachdem keiner von uns dreien geschossen hat«, dabei zeigte sie auf Madsack, Putensenf und sich, »bleiben noch fünf übrig.«

»Drei kann ich erklären«, sagte Richter. »Ich habe den Täter verfolgt. Er lief den Weg Richtung Tor entlang.«

»Hast du ihn erkannt?«, fuhr Putensenf dazwischen.

»Dafür war es zu dunkel. Er hatte einen zu großen Abstand. Plötzlich blieb er stehen und feuerte auf mich. Zwei Mal. Er hat mich aus dieser Distanz aber nicht getroffen. Gott sei Dank.« Automatisch ging sein Blick zu von Wedells Leichnam. »Ich habe daraufhin einen Schuss auf den Täter abgegeben.«

»Dann bleiben noch zwei Schüsse, die wir aufklären müssen«, sagte Frauke.

Richter nickte stumm.

»Wer fährt jetzt zu Lars’ Freundin und erklärt es ihr?«, durchbrach Putensenf die Stille, die für einen Moment herrschte. »Du?« Er zeigte auf Richter.

»Ich …« Richter schluckte. Deutlich war sein auf und ab springender Adamsapfel zu sehen. »Ich werde es wohl machen müssen.«

»Wenn Sie damit einverstanden sind, übernehme ich es«, bot sich Frauke an.

Man sah Richter deutlich die Erleichterung an. »Danke«, sagte er. »Vielen Dank, Frau Dobermann.« Dann gab er ihr die Adresse.

»Ich fahre Sie«, bot sich Madsack an.

Frauke lehnte dankend ab. »Ich nehme den Wagen, mit dem Herr von Wedell hergekommen ist«, sagte sie und ließ sich von einem Beamten der Spurensicherung die Fahrzeugschlüssel aushändigen.

»Die Tante hat Nerven«, hörte sie hinter ihrem Rücken Putensenf sagen.

Frauke hatte nicht gewusst, dass von Wedell nur einen Steinwurf vom Landeskriminalamt und ihrer vorübergehenden Bleibe, dem kleinen Hotel, entfernt gewohnt hatte. Die Fridastraße lag nahe der Fußgängerzone Lister Meile und machte mit ihrer dichten Bebauung einen ruhigen Eindruck. Der Altbau mit den Stuckornamenten in der Fassade strahlte Behaglichkeit aus. Frauke blieb vor der Doppeltür mit den Kassettenelementen im Holz und dem schmiedeeisernen Gitter vor den Fenstern eine Weile stehen.

»Von Wedell – Krafft« stand auf dem beleuchteten Klingelschild. Frauke hatte kaum die Klingel betätigt, als der Summer ertönte und die Tür aufsprang.

Das junge Paar hatte eine Wohnung in der obersten Etage gemietet. Langsam erklomm Frauke Stufe um Stufe. Mit jedem Schritt schlug ihr Herz schneller. Es war aber nicht die Treppe, die ihren Puls beschleunigte. Als sie um den letzten Absatz bog und nur noch eine halbe Treppe zu bewältigen hatte, sah sie Gesa Krafft. Die junge Frau stand – auf Socken – vor der Wohnungstür. Sie trug eine helle Hose und ein Top, das ihren Bauchnabel und den Blick auf ein Piercing frei ließ. Die blonden Haare hatte sie mit einem Gummiband zu einem Pferdeschwanz gebunden. Erstaunen zeigte sich in ihrem Antlitz, als sie Frauke gewahrte.

»Hallo?« Von Wedells Freundin zog eine Augenbraue fragend in die Höhe.

»Hallo«, antworte Frauke. »Sie sind Lars’ Freundin?«

»Ja?« Die Antwort klang wie eine Frage.

Frauke hatte die letzte Stufe erreicht. Sie stand jetzt vor der jungen Frau.

»Ich bin Frauke Dobermann. Eine Kollegin von Lars.« Sie sah zur angelehnten Haustür. »Darf ich reinkommen?«

»Ja – natürlich.« Gesa Krafft ging voran. In dem kleinen Flur, der von einer Glühbirne, die mit einem einfachen Stromkabel an der Decke hing, beleuchtet wurde, standen noch Umzugskartons. Frauke entsann sich, dass von Wedell erzählt hatte, das junge Paar habe die Wohnung erst vor Kurzem bezogen.

»Hier entlang«, sagte die junge Frau und führte Frauke in den Wohnraum.

Ein Sideboard, das noch nicht eingeräumt war, eine Anbauwand, die halb aufgebaut war, zwei Freischwinger und ein schräg in den Raum gestelltes Sofa, davor ein niedriger Tisch stellten die Möblierung dar. Auf dem Tisch standen ein halb gefülltes Glas und eine Flasche Cola. Es lagen ein paar bedruckte Blätter herum, auf denen jemand in gestochener Schrift Notizen gemacht hatte. Im Hintergrund lief der Fernseher, auf dessen Bildschirm sich ein paar Musiker in abenteuerlichem Outfit verrenkten und für Fraukes Ohren einen grauenvollen Geräuschsalat produzierten.

»Können wir den Fernseher einen Moment abschalten?«, bat Frauke und nahm auf einem der Freischwinger Platz, während sich Gesa Krafft auf dem Sofa niederließ und dabei das linke Bein unter den rechten Oberschenkel klemmte. Die junge Frau griff zur Fernbedienung, die unter den Papieren lag, und schaltete den Fernseher stumm.

»Ich mache gerade eine Ausarbeitung«, sagte von Wedells Freundin entschuldigend und zeigte auf die Papiere. »Sind Sie die Neue? Waren Sie das, die Lars in unsere Pizzeria eingeladen hat?«

Frauke nickte.

»Hi«, sagte die junge Frau, und ihre Gesichtszüge entspannten sich. Sie reichte Frauke die Hand. »Ich bin Gesa. Und du?«

»Frauke.«

Gesa Krafft nippte an ihrem Glas. »Möchtest du auch eines?«

»Nein. Vielen Dank.«

»Schön, dass wir uns kennenlernen. Lars hat viel von dir erzählt. ›Wir haben eine Neue‹, hat er gesagt. ›Die ist ganz in Ordnung. Von der kann ich viel lernen.‹« Dann stutzte Gesa. »Wo ist Lars? Kommt er gleich? Besorgt er noch etwas zu essen? Ich habe einen Bärenhunger und noch nichts gegessen. Ich habe auf ihn gewartet.« Ihr Gesicht nahm einen schwärmerischen Ausdruck an. Sie schlang die beiden Arme über Kreuz um ihre Schultern und wackelte ein wenig hin und her. »Das ist alles noch ungewohnt. Ich meine das Zusammenleben. Ich bin erst seit Semesterbeginn in Hannover und habe zuerst bei einer Freundin gewohnt. Wir kommen aus Holzminden, und ich habe jetzt einen Studienplatz für Veterinärmedizin bekommen. Das geht in Hannover am besten. Die Tierärztliche Hochschule hat ja einen Superruf. Geil, dass das auf Anhieb geklappt hat. Mann. Wo bleibt Lars bloß?«

Frauke räusperte sich. »Er kommt nicht.«

»Was soll das denn? Muss er Überstunden machen? Er hat gesagt, er muss noch ein kleines Gespräch mit einem harmlosen Trottel führen. Musste er nun zu einem anderen Einsatz?«

»Nein. Es war so, wie er es Ihnen – Verzeihung, dir – erzählt hat. Aber es hat einen Zwischenfall gegeben.«

Zum ersten Mal zeigte sich ein leichtes Erschrecken bei Gesa Krafft. »Was soll das heißen? Habt ihr einen verhaftet und Lars ist noch länger im Dienst, weil der Typ verhört werden muss – oder so?«

»Das, was sich heute ereignet hat, kommt ganz selten vor«, begann Frauke vorsichtig.

»Nun rede nicht so um den heißen Brei rum. Was ist? Ist Lars bei eurem Einsatz verletzt worden?«

Frauke schüttelte ganz langsam den Kopf. Dann streckte sie ihre Hand in Richtung der jungen Frau aus. Doch Gesa Krafft zog sich zurück.

»Du willst doch nicht sagen, dass er etwas abbekommen hat?«

»Leider doch. Es hat einen Schusswechsel gegeben.«

Von Wedells Freundin sprang auf. »Dann lass uns zu ihm. Hast du ein Auto dabei?«

Frauke war auch aufgestanden. Sie ergriff Gesa Kraffts Unterarm und versuchte, die Frau sanft auf das Sofa zurückzudrücken.

»Das geht nicht. Lars ist … Der Täter hatte es direkt auf ihn abgesehen. Lars ist … also … Er ist noch am Tatort seinen Verletzungen erlegen.«

»Dann müssen wir schnell zu ihm. Er ist doch schon im Krankenhaus. Was warten wir noch?« Gesa Krafft stand offensichtlich unter Schock. Sie hatte Fraukes Worte gar nicht richtig aufgenommen.

»Gesa – bitte hör mir zu. Lars ist tot.«

»Tot?« Die junge Frau schüttelte den Kopf, dass ihr Pferdeschwanz um den Hinterkopf schlug. »Tot?«, wiederholte sie. »Aber das geht doch nicht. Wir sind doch gerade erst eingezogen. Hier!« Sie zeigte auf die Möbel im Raum und wies dann Richtung Flur. »Die Sachen sind noch gar nicht ausgepackt. Die Lampen sind noch nicht dran. Nix. Da kann er doch nicht tot sein. Das geht doch nicht.«

Gesa Krafft starrte stumm auf die Tischplatte mit ihren Papieren. Dann griff sie mechanisch zum Colaglas und nippte vorsichtig daran. »Wir fangen doch erst an«, murmelte sie. »Ich kann das doch nicht alles allein auspacken. Da muss Lars doch mithelfen.«

Frauke stand auf und setzte sich neben die junge Frau. Sie legte ihren Arm um deren Schultern. »Soll ich einen Arzt rufen?«

Gesa Krafft schüttelte stumm den Kopf. »Wozu?«

»Hast du Verwandte in Hannover? Eine Freundin, die wir benachrichtigen können?«

Erneut schüttelte die junge Frau den Kopf. »Mein Vater. Ich möchte meinen Vater anrufen.« Sie griff zum Handy, tippte fahrig eine Nummer ein, schimpfte, weil sie sich vertippt hatte, und versuchte es erneut. »Hallo, Papi«, sagte sie mit erstickter Stimme. »Hier … ich … weißt du …«

Vorsichtig nahm Frauke ihr das Handy vom Ohr.

»Herr Krafft?«, fragte sie.

»Hier Krafft«, hörte sie eine sonore Männerstimme. »Was ist da los?«

»Dobermann ist mein Name. Polizei Flens… Landeskriminalamt Hannover. Ich bin in der Wohnung Ihrer Tochter.«

»Ist was mit ihr?«, wurde sie durch den Vater unterbrochen.

»Nicht mit ihrer Tochter. Ich bin eine Kollegin von Lars. Der hatte einen Dienstunfall. Ist es Ihnen möglich, nach Hannover zu kommen? Ihre Tochter braucht sie.«

»Ich komme. Sofort«, sagte Herr Krafft.

Im Stillen bewunderte Frauke den ihr unbekannten Vater, der, ohne nach Einzelheiten zu fragen, sofort beschlossen hatte, sich auf den Weg in die niedersächsische Landeshauptstadt zu machen.

»Ich bleib bei dir, bis dein Vater da ist«, sagte Frauke. »Soll ich einen Tee machen?«

Gesa Krafft schüttelte den Kopf. »Keinen Tee.« Sie hatte einen glasigen Blick, weinte aber nicht. »Ich muss hier raus«, sagte sie. »Ich kann hier nicht bleiben. In diesem Zimmer. In der Wohnung.«

»Wollen wir auf der Dienststelle warten?«

»Nein. Bloß nicht bei der Polizei. Ich möchte in unsere Pizzeria«, sagte sie plötzlich. »Die, in die Lars dich einladen wollte.« Plötzlich sprang sie auf und rannte aus dem Raum. Durch die offenen Türen hörte Frauke, wie sich Gesa Krafft im Badezimmer erbrach.

Ein paar Stufen führten zum Eingang der Pizzeria Italia. Durch eines der beiden Fenster war der große Pizzaofen zu sehen. Ein junger Mann wirbelte gekonnt einen runden Teigfladen in die Höhe, sah dem in der Luft rotierenden Pizzaboden nach und fing ihn geschickt mit einer Hand wieder auf. Zwischendurch fand er auch noch Zeit, den beiden Frauen, die zum Eingang strebten, zuzulächeln. Frauke verharrte für einen kurzen Moment in ihrer Bewegung.

Für die Mehrheit der Menschen bedeutet der Besuch eines Restaurants Abwechslung, Heiterkeit, das Treffen mit Freunden. Wie lange war es her, setzte sie ihren Gedanken fort, dass sie zum eigenen Vergnügen ein Lokal aufgesucht hatte? War der berufliche Erfolg es wert, das eigene Leben aufzugeben? Und selbst der freundliche Pizzabäcker konnte ihre innere Zerrissenheit nicht heilen. Sie war nicht freiwillig in Hannover. Ein Schauder lief ihr über den Rücken. Wer nahm sich ihrer eigenen Sorgen an? Stattdessen musste sie Lars’ Freundin trösten.

Dann öffnete sie die Tür. Wenn man Italien als Duftnote beschreiben müsste, so war es die Luft, die ihr entgegenkam. Der Geruch von Pizza, Wein, Kerzen, überbackenem Käse … Eine Sinneswahrnehmung al forno.

»Zwei Plätze?«, begrüßte sie ein Kellner freundlich.

Frauke nickte.

»Hier bitte.« Der Mann mit den schwarzen Haaren und der beginnenden Lichtung seines Haupthaares führte sie zu einem Vierertisch in den Hintergrund des Raumes. Frauke bemerkte einen schmalen Durchgang, der zu einem Gastraum führte.

»Ist es dort ruhiger?«, fragte sie mit einem Blick auf die lebhaft an den Tischen geführten Unterhaltungen, obwohl niemand der Anwesenden den beiden Beachtung schenkte.

»Sonst ja«, bedauerte der Kellner. »Aber heute ist es leider voll.« Er neigte sich ein wenig zu Frauke vor. »Dort sind lauter Frauen.« Er verdrehte dabei gekonnt die Augen und ließ offen, ob er sich dadurch genervt fühlte oder die von Südeuropäern oft erwartete besondere Aufmerksamkeit gegenüber dem weiblichen Geschlecht gemeint war.

Sie nahmen Platz an dem Vierertisch.

»Darf es etwas zu trinken sein?«, fragte der Kellner und wedelte mit einer Serviette ein paar Brotkrumen von der Tischdecke.

Frauke sah Gesa Krafft fragend an.

»Ein Rotwein«, sagte die junge Frau.

»Für mich auch. Valpolicella«, ergänzte Frauke und nahm die Speisekarten entgegen, die ihnen der Kellner reichte.

Es hatte eine Weile gedauert, bis von Wedells Freundin wieder aus dem Bad gekommen war. Frauke hatte ihr bewusst Zeit gelassen. Gesa Krafft musste allein mit der Nachricht fertig werden. Sie hatte sich danach stumm neben Frauke gesetzt, den Kopf an ihre Schulter gelegt und still geweint. Obwohl sie ihre Augen mit kaltem Wasser ausgewaschen und anschließend ein wenig Make-up aufgelegt hatte, sah man Gesa Krafft an, dass sie geweint hatte.

»Warum musste das sein?«, fragte sie. »Warum ausgerechnet Lars? Erst vor Kurzem ist er Kommissar geworden. Lars war stolz, in dieser Spezialeinheit eingesetzt zu werden. Was ist das überhaupt für ein Team?«

»Es gibt Fragen, die man nicht so einfach beantworten kann«, sagte Frauke ausweichend und wurde durch den Kellner unterbrochen, der den Wein brachte.

»Haben Sie schon gewählt?«, fragte er und zeigte auf die Speisekarten.

»Ich möchte eine Pizza Caprese«, sagte Gesa Krafft, ohne zu gucken. »Die esse ich immer. Und Lars hatte auch die Caprese.«

Frauke schlug die Karte auf und wanderte mit dem Zeigefinger die Seite mit den Pizzen abwärts.

»Ich möchte die Pugliese«, sagte sie. »Aber statt der Zwiebeln bitte mit Salami. Ist das möglich?«

»Sicher«, bestätigte der Kellner und zog sich zurück.

Sie prosteten sich zu, und Gesa Krafft nippte an ihrem Rotwein, genauso wie sie es zuvor an ihrem Colaglas getan hatte. Während Frauke die junge Frau musterte, das hübsche ebenmäßige Gesicht, die Stupsnase, die ausdrucksvollen grünbrauen Augen unter den sorgfältig gezogenen Brauen und die dezenten Ohrringe, begann Gesa Krafft unaufgefordert zu erzählen.

Sie hatten sich in einem Bistro kennengelernt, das sie mit ein paar Freundinnen besucht hatte. Lars hatte sie angesprochen, man hatte sich verabredet und stellte sehr schnell fest, dass die Sympathie füreinander beiderseitig war.

»Er ist ein großer Junge. Manchmal ein bisschen tollpatschig. Wie oft lässt er etwas fallen oder kleckert. Ich mag ihn, so wie er ist. Er kann wie ein großer Bruder sein. Wir wollen noch unheimlich viel entdecken. Jetzt, wo er auch mehr Geld hat. Mit dem, was mein Vater mir fürs Studium gibt, kommen wir ganz gut zurecht.« Plötzlich fiel ihr auf, dass sie in der Gegenwart sprach, so als würde ihr Freund noch leben. Der feuchte Schimmer trat wieder in ihre Augen, und Frauke befürchtete, dass Gesa Krafft erneut zu weinen beginnen würde, aber die junge Frau tupfte sich die Augen ab und stierte in ihr Weinglas. Mit ihrem Finger malte sie Figuren auf die Tischdecke.

»Hat Lars dir etwas über seinen heutigen Einsatz erzählt?«

»Lars? Erzählt?«, erwiderte sie geistesabwesend. »Nein. Nichts.«

»Er hat keine Bemerkung fallen lassen, mit wem er sich treffen wollte?«

»Nö. Er erzählt immer nur mit großen Augen – wie ein kleiner Junge –, wie viel Spaß der Job macht. Über seine Sachen, was er getan hat und so, hat er nie was gesagt.«

Der Kellner brachte das Essen. Mit einem »Bitte« stellte er die großen Teller vor die Frauen hin. Frauke faltete die Papierserviette auseinander und legte sie sich auf den Schoß. Dann begann sie, ein Stück vom Rand abzuschneiden.

»Lars sagt, hier gibt es die beste Pizza Deutschlands«, erklärte Gesa Krafft und starrte auf ihr Essen, ohne es anzurühren.

Frauke nahm den ersten Bissen. Nach drei weiteren hatte sie sich vom Rand zur Mitte durchgearbeitet. Von Wedell hatte recht. Die Pizza war wirklich außergewöhnlich gut.

»Möchtest du nicht?«, fragte Frauke und zeigte mit ihrer Gabel auf Gesa Kraffts Essen.

»Was?«, fragte die junge Frau abwesend zurück.

Vom Nachbartisch drang fröhliches Gelächter herüber. Ein Mann mit einem dröhnenden Bass schien der Mittelpunkt der kleinen Gesellschaft zu sein. Auf der anderen Seite mühte sich ein Ehepaar zu dieser schon späteren Stunde damit ab, seine Kinder bei Laune zu halten.

Gesa Krafft griff zur Gabel und stocherte damit in der Pizza herum. Sie fuhr über den Belag und kratzte ein wenig Mozzarella ab, pikte ein Blatt frisches Basilikum auf und führte es zum Mund. »Dass du jetzt etwas essen kannst«, sagte sie zu Frauke. Es klang wie ein Vorwurf.

»Reine Vernunft. Ich habe zuletzt etwas zum Frühstück zu mir genommen.«

Gesa Krafft fuhr erneut mit ihrer Gabel über den Belag, schien es sich dann aber doch anders überlegt zu haben und legte das Besteck an die Seite. Unentschlossen nahm sie das Weinglas, nippte daran und hielt es in Augenhöhe hoch. Vorsichtig drehte sie das Trinkgefäß und kniff dabei das linke Auge zu. Dann peilte sie über den Rand einen imaginären Punkt im Hintergrund an. Plötzlich zuckte sie wie unter einem Peitschenhieb zusammen. Sie streckte die Hand mit dem Glas aus und zeigte auf etwas in Fraukes Rücken.

»Das ist er«, schrie sie fast. Dabei schwappte der Rotwein über und ergoss sich über den Tisch. Mit Glück blieb Frauke von Spritzern verschont.

Frauke hatte sich umgedreht und sah einen jungen Mann, der noch die Türklinke in der Hand hielt und beim Ausruf der jungen Frau wie zur Salzsäule erstarrte.

»Das ist der, der von diesem Fleischheini erzählt hat. Der, den ihr wegen Mordes sucht.«

Schlagartig war es still geworden im Restaurant. Gesa Krafft hatte so laut gesprochen, dass jeder Gast es hatte hören können.

Frauke warf ihr Besteck auf den Teller, schob den Stuhl zurück und sprang auf. Im selben Moment hatte sich der neue Gast umgedreht und das Restaurant verlassen. Frauke hechtete hinterher, stolperte über einen Rucksack, den ein Gast neben seinen Stuhl gestellt hatte, wich dem verdutzten Kellner aus, der ein Tablett mit Getränken balancierte und ihr entgegenkam, und rannte auf die Straße. Da sie aus dem Hellen kam, dauerte es einen Augenblick, bis sie sich im Dämmerlicht der Straße orientieren konnte. Dann sah sie die fliehende Gestalt die Straße abwärtsrennen. Sie lief hinterher, musste aber bereits nach wenigen Metern feststellen, dass sich der Abstand vergrößerte. Es wäre sinnlos gewesen, den Mann zu verfolgen. Sie griff zum Handy und rief die Polizei an. Ihr schien es ewig zu dauern, bis die Verbindung hergestellt war und der Beamte beim Notruf begriff, dass er umgehend die Fahndung einleiten sollte.

»Simone Bassetti«, erklärte sie.

»Nennen Sie Ihren Standort.«

»Pizzeria Italia.«

»Geht es etwas genauer? Straße?«

Das war der Unterschied zu Flensburg. Dort kannte jeder Polizist die Örtlichkeiten, wenn der Name eines Lokals genannt wurde. In einer Stadt wie Hannover war das anders, musste sie erfahren. Du bist ein Landei, schoss es ihr durch den Kopf.

»Gretchenstraße. Das ist eine Nebenstraße von der Lister Meile.«

»In welche Richtung ist der Gesuchte flüchtig?«

»In die andere Richtung. Hören Sie. Ich kenne mich hier nicht aus. Warum werden Sie nicht einfach aktiv?«

»Sollen wir ganz Hannover umkrempeln? Wir brauchen exakte Angaben. Dann muss ich noch Ihren Namen haben.«

»Dobermann. Erste Kriminalhauptkommissarin. LKA Hannover.«

»Wieder so eine Tussi von der Kripo«, hörte sie jemanden im Hintergrund raunen. »Die haben doch von nix ‘ne Ahnung.«

Nachdem Frauke dem Beamten alle Angaben gemacht hatte, kehrte sie in die Pizzeria zurück. Das aufgebrachte Durcheinander verstummte abrupt, als sie in das Restaurant eintrat. Eine resolute Frau kam auf sie zu. »Was hat das alles zu bedeuten? Können Sie mir das mal erklären?«

»Darf ich fragen, wer Sie sind?«

»Die Wirtin.«

»Das Ganze hat nichts zu bedeuten«, beschwichtigte Frauke die Frau. »Es war ein Irrtum. Ich bitte um Entschuldigung. Außerdem hätte ich gern die Rechnung.«

Frauke zahlte, und gemeinsam brachen sie auf. Vor der Tür stießen sie mit einem hochgewachsenen Mann zusammen.

»Papi«, rief Gesa Krafft und fiel ihrem Vater um den Hals.

Frauke setzte Herrn Krafft davon in Kenntnis, dass Lars von Wedell einen tödlichen Unfall erlitten hatte. Er versprach, sich um seine Tochter zu kümmern.

Es würde sicher kein beschaulicher Abend werden, dachte Frauke, als sie in ihr Hotel zurückkehrte.