Am gleichen Abend erhielt Hauptmann Barth in Orscha den Einsatzbefehl der Division.

Was Wiedeck geahnt hatte, als er die Sonderzuteilungen an Schnaps beim Furier sah, was Krüll und die anderen befürchteten, ohne zu wissen, was es eigentlich war, wovor sie Angst hatten, war mit einem kurzen Schreiben und einem Telefonanruf Wahrheit geworden. Hauptmann Barth las den Einsatzbefehl durch, las ihn zum zweitenmal, blieb eine Weile regungslos sitzen und kurbelte dann die Division an. Er verlangte den Adjutanten, einen Hauptmann, der sich sofort meldete.

»Ach, Barth – Sie sind es«, sagte er jovial. »Ich habe eben an Sie gedacht – und wenn ich ehrlich sein soll, habe ich auch Ihren Anruf erwartet.«

»Dann wissen Sie, worüber ich mit Ihnen sprechen will?«

»Aber klar.«

»Wie haben Sie sich das eigentlich vorgestellt? Warum müssen das gerade wir machen?«

»Da fragen Sie noch? Es ist zwar nicht die Regel, daß eine Einheit, wie Ihre solche heiklen Unternehmen durchführt, aber der General meint, daß es gelegentlich einen Grund gibt, da einmal eine Ausnahme zu machen. Sehen Sie, Barth, wir wollen uns nichts vormachen: Das Unternehmen ist verdammt gefährlich. Wir wissen das auch. Aber was sollen wir machen? Bei Witebsk greifen die Russen an, nur bei uns ist es noch still. Warum? fragt man sich bei der Armee. Der Boden ist hartgefroren, das beste Panzerwetter, das man sich wünschen kann. Und doch rührt sich nichts, obwohl die Russen wissen müßten, daß ihnen der Westen offenliegt, wenn sie hier durchbrechen. Es ist alles eben, keine großen Hindernisse … Wir haben den starken Verdacht, daß sich dahinten bei den Russen irgend etwas zusammenbraut. Wir haben es schon mit Flugzeugaufklärung versucht, aber die Wolken hängen zu tief, und außerdem hat man schon zwei unserer Aufklärer abgeschossen. Die Frage ist: Was geht da hinten, hinter den russischen Linien, vor sich? Und um das herauszubekommen, muß Ihre zweite Kompanie, die dafür am günstigsten liegt, eingeteilt in mehrere Gruppen, durch die russischen Linien hindurchsickern und nachsehen, was da los ist.«

»Das ist genau das, was man ein Himmelfahrtskommando nennt. Ich bezweifle, daß überhaupt jemand zurückkommt«, sagte Barth langsam.

»Einer muß zurückkommen. Wenn dieser eine es schafft, hat er mehr geleistet, als ein ganzes Regiment schaffen könnte. Aber weswegen ich mit Ihnen sprechen wollte: Wir wissen beide, Barth, daß es bei Ihnen sicher eine Menge Leute gibt, die bei der ersten sich bietenden Gelegenheit überlaufen würden. Das war auch unser einziges Bedenken, Ihr Bewährungsbataillon mit dieser Aufgabe zu betrauen. Wir riskieren es trotzdem, und wir werden es schriftlich machen, daß alle diejenigen, die das Unternehmen heil überstehen und zurückkommen, in ihre alten Einheiten versetzt werden und ihren ehemaligen militärischen Rang zurückbekommen. Das dürfte ein gewaltiger Anreiz sein.«

»Ich finde ihn gar nicht so gewaltig.«

»Ich weiß, was Sie meinen. Wenn man einmal drüben ist, dann ist für einen der Krieg aus. Wir beide – und mit uns alle alten Hasen wissen aber, daß es nicht so einfach ist. Die Russen sind keine sehr guten Gastgeber, wenigstens nicht für uns. Da weiß man nie, was passieren könnte. Im Gegenteil wissen dann Ihre Leute genau, was geschehen wird, wenn sie zurückkommen.«

»Wenn jemand zurückkommt …«

»Seien Sie doch vernünftig, Barth … Wir können nicht anders, Barth, wir brauchen die regulären Truppen zum Auffangen der Offensive. Sie wissen ja, wie knapp wir mit den Leuten sind.«

»Und mein Bataillon brauchen Sie zum – bums, weg ist's!«

»Warum eigentlich dieses lange Gespräch, Barth? Es stimmt, was Sie sagen – aber andererseits ist es die Bewährung für Ihre Männer. Gelingt der Erkundungsstoß oder besser – das Spähtruppunternehmen, dann wird eine Menge ihrer Leute rehabilitiert, und das ist ja auch etwas. Ansonsten ist es eben Krieg. Wir beide haben ihn nicht gemacht.«

»Nee«, sagte Barth, »das haben wir nicht.«

»Na, denn – ich wünsche Ihnen viel Glück. Sie haben den genauen Zeitplan – er ist zwar knapp, aber er wird einzuhalten sein, wenn sich Ihre Leute beeilen. Wir warten auf Ihre Meldung. Ich wünsche Ihnen, beziehungsweise Ihrer zweiten Kompanie, viel Glück!«

»Na, denn los!« sagte Hauptmann Barth müde, als er den Telefonhörer auflegte.

Tanja war aus Orscha verschwunden. Als Sergej eines Nachts an die Tür klopfte und sie aufbrach, weil er keine Antwort erhielt, fand er die Hütte leer.

Vergeblich suchte er nach ihr. Er fragte die Bauern und die als Bauern verkleideten Partisanen, er ließ sie von Tartuchin und seinen wilden Gesellen suchen – doch sie blieb verschwunden, nirgends fand sich eine Spur von ihr. Aber er gab nicht nach: Wenn sie irgendwo in der Nähe war, wenn es ihr nicht gelungen war, sehr weit zu entschlüpfen, dann würde er sie finden. Es gab nichts, was seinen Leuten entging, kein Mensch konnte sich so verstecken, daß sie ihn nicht finden würden.

Wütend – und verzweifelt ging Sergej zurück in die Wälder, in die ›Heimat der Wölfe‹, wie sie von den Einheimischen genannt wurden, jetzt selber zu einem Wolf geworden, von Hunger nach Rache gepeinigt, blutgierig und gnadenlos.

Nicht weit von Barssdowka, etwas abseits liegend, standen einige niedrige, halbverfallene, windschiefe Bauernhütten. Sie wurden von alten Leuten bewohnt, die ihre Häuser nicht verlassen wollten und sich lieber mit ihnen zusammenschießen ließen, als vor der Front zu flüchten. In einer dieser Hütten wohnte auch die alte Marfa, eine Frau von über 70 Jahren, die von der Milch und der Butter einer Ziege lebte und fast den ganzen Tag über durch das kleine, halb blinde Fenster die deutschen Soldaten und die vorbeirasselnden Nachschubkolonnen anstarrte. Nachts dann, wenn es ruhiger wurde, kamen durch den Hintereingang ab und zu dickvermummte Gestalten zu ihr, wärmten sich und verschwanden wieder, huschenden Schatten gleich, genauso leise, wie sie gekommen waren: die als Bauern verkleideten Partisanen, die durch die deutsche Front hindurchsickerten.

In einer dieser stillen, weißen, frostklirrenden Nächte kam Tanja zu der alten Marfa.

»Ach, du bist es, Tanjascha«, sagte die Alte und blinzelte das Mädchen mit ihren schwimmenden, farblosen Augen an. »Du bist es! Du warst schon eine ganze Weile nicht hier.«

»Wie geht es dir?«

»Gut, gut, Töchterchen.« Die Alte strich sich mit knorrigen, durch Gicht gekrümmten Fingern über das alte, geflickte Kleid. »Was machst du hier?«

»Ich möchte bei dir bleiben.«

Die alte Marfa nickte. Sie sprach nicht weiter darüber, und während Tanja ins Haus ging und sich auf dem Heuboden ein Lager zurechtmachte, setzte sich die Alte wieder vor das Feuer und starrte versunken in die flackernden Flammen.

Tanja war beinahe glücklich. Von einer Luke des Heubodens konnte sie hinüber nach Barssdowka sehen. Dort war Michael, dort lebte jener fremde Mensch, der ihr so vertraut geworden war wie keiner vor ihm, dem sie gehörte und dem sie folgen wollte, wohin er sie auch führen würde. Vielleicht würde sie ihn sehen. Vielleicht auch konnte sie ihn sprechen. Sie dachte daran, was sie ihm sagen wollte, wenn sie ihn fand, sie wollte ihm erzählen, wie die Welt plötzlich einsam war ohne ihn, wie sie auf ihn gewartet, und wie sie sich entschlossen hatte, hierherzukommen, um in seiner Nähe zu sein. Und sie würde ihm sagen, daß sie sich entschlossen hatte, alles hinter sich zu lassen, was ihr lieb und teuer war, um mit ihm sein zu können …

Hauptmann Barth war überraschend in Barssdowka eingetroffen. Für Oberleutnant Obermeier kam er nicht unerwartet, denn Wernher hatte ihn von Babinitschi aus angekündigt.

Ohne sich um den verblüfften, stramm grüßenden Krüll zu kümmern, ging der Hauptmann in Obermeiers Unterkunft. Hier lagen auf einem ramponierten, roh zusammengezimmerten Tisch die Meßtischblätter des Schanzsektors der zweiten Kompanie, die durchzogen waren mit grünen, roten und gelben Strichen.

»Schieben Sie den ganzen Kram beiseite«, sagte Barth, nachdem sich die beiden Offiziere begrüßt und die Hände geschüttelt hatten. »Sie brauchen das Zeug nicht mehr. Wenigstens vorläufig nicht.«

»Sie meinen …?«

»Ganz recht. Es ist soweit. Heute nachmittag geht's los. Gestern abend hat mich der General höchst persönlich angerufen, um mir die Sache noch einmal zu erzählen. Den Herren scheint es sehr wichtig zu sein.«

»Und wir sind also endgültig dazu auserkoren, das Unternehmen durchzuführen?«

»Jawohl. Welch eine Ehre, was?«

»Na, ich weiß nicht …«

Hauptmann Barth holte aus der Kartentasche eine Karte der Umgebung von Gorki und breitete sie auf dem Tisch aus.

»Sehen Sie, ungefähr hier verläuft die Front. Da ist die russische Linie und – dahinter sind höchstwahrscheinlich große Panzerverbände aufgefahren und liegen in Bereitstellungsräumen. Nur ist alles unheimlich still, im Gegensatz zu Witebsk, wo der Teufel los ist. Aber der Generalstab meint, daß hier bei uns mit größter Wahrscheinlichkeit eine neue russische Großoffensive anlaufen wird. Mit der Flugzeugaufklärung ist es nicht weit her, der Himmel ist zu verhangen – und sie wissen ja, daß die Russen Meister der Tarnung sind.«

»Und ob ich das weiß!«

»Die einzige Möglichkeit, die Lage zu erkunden – ist ein großangelegtes Spähtruppunternehmen. Und jetzt wird's kritisch. Unsere HKL ist ziemlich dünn besetzt. Alle vorhandenen Truppen werden für das Auffangen der ersten sowjetischen Angriffe gebraucht. Was dann kommt, wenn die Truppen verbraucht sind, wissen wir nicht. Die Armee hat auch keine nennenswerten Reserven. Kurz und gut, man kann keinen einzigen Mann der regulären Truppen aus der Front nehmen und zu dem Spähtruppunternehmen schicken. So kommt man auf die Idee, uns zu – verwerten …«

»Wie sinnig!« sagte Obermeier.

»Nicht wahr? Wir haben also den Befehl, in der kommenden Nacht über die deutsche HKL hinaus und durch die russischen Linien zu schleichen, gruppenweise, unter Benutzung des Partisanenwaldes von Gorki, wo wir ebenfalls Truppenansammlungen vermuten, vor allem eine Menge Minenwerfer und leichter Feldartillerie. Sie wissen ja, wie gefährlich die russische Artillerie sein kann. Sie müssen nun mit ihrer zweiten Kompanie hinter die russischen Linien und ausspionieren, was sich da alles angesammelt hat. Das wäre alles.«

»Mir genügt's. Glauben Sie, daß noch ein Mann zurückkommt?«

»Sie meinen – oder Sie befürchten, ihre Leute könnten sich scharenweise ergeben?«

»Auch wenn sie das nicht tun … aber es ist ja fast aussichtslos. Die Russen werden uns der Reihe nach schnappen.«

»Einer wenigstens muß zurückkommen, ich sagte es Ihnen schon. Um der ersten Gefahr, nämlich der des Überlaufens wenigstens etwas vorzubeugen, können Sie Ihren Leuten folgendes sagen: Jeder, der nach dem durchgeführten Auftrag zurückkommt, wird seinen früheren Rang zurückerhalten und in seine ehemalige Einheit überstellt werden. Für ihn ist dann die Episode ›Strafbataillon‹ zu Ende. Und was das übrige betrifft … ich weiß, was dieser Auftrag bedeutet. Und wir beide wissen, daß die Russen nicht auf den Kopf gefallen sind. Sie sind nicht blind. Aber Sie haben einige sehr gute, alte Soldaten dabei, alte Füchse, die sich nichts vormachen lassen und die mit fast jeder Situation fertig werden. Es stimmt schon: Ein Großteil Ihrer Leute wird draufgehen. Vor allem die, die noch nie an der Front waren, die zu erschöpft sind, um solche Anstrengungen durchzustehen, und die nicht wissen, wie man sich an der Front bewegen muß. Wir können da nichts ändern. Wichtig ist, wie gesagt, daß zumindest einige zurückkommen und berichten.«

»Wenn ich daran denke, komme ich mir vor wie ein Schlächter, der eine Viehherde in die Wurstfabrik treibt.«

»Aber, aber, Obermeier! Wie können Sie Ihre Leute mit Vieh vergleichen? Ich weiß gar nicht, was Sie haben? Wir mußten doch darauf vorbereitet sein, unter anderem auch solche Aufträge durchzuführen.« Barth beugte sich wieder über die Karte und ging mit der Bleistiftspitze die mit Rotstift eingezeichneten Linien ab.

»Das ist der Generalfahrplan, Oberleutnant. Sie teilen Ihre Kompanie in zehn Gruppen ein, die völlig selbständig operieren. Für dieses Unternehmen wird jede Gruppe vollständig bewaffnet. Sie bekommen also zehn leichte MG 42, also das Beste vom Besten, zehn Maschinenpistolen, die restlichen Leute werden mit Karabinern ausgerüstet. Dazu Handgranaten – eben das übliche. Sie haben doch genug Männer in der Kompanie, die am MG ausgebildet sind?«

Obermeier nickte.

»Also gut. Abgemacht. Sie werden mir aus Barssdowka melden, sobald jemand zurückkommt und etwas Konkretes zu berichten hat.«

»Das wird leider nicht gehen, Herr Hauptmann«, sagte Obermeier trocken. »An meiner Stelle wird Unteroffizier Wegner die Kompanie übernehmen.«

»Wegner? Kenne ich nicht. Warum Wegner?«

»Weil ich mitgehen werde.«

Barth warf seinen Bleistift auf den Tisch und starrte Obermeier an.

»Obermeier, was ist denn los mit Ihnen? Machen Sie mir keinen Unsinn. Sie bleiben hier!«

»Bitte, geben Sie mir nicht den dienstlichen Befehl, Herr Hauptmann.«

Barth sah Obermeier lange und prüfend an.

»Was steckt dahinter, Obermeier? Warum gerade Wegner? Machen Sie jetzt wieder Ihre alten, sentimentalen Touren? Wollen Sie unbedingt ein Held sein? Ist etwa dieser Wegner – ein Familienvater?«

»Das sind viele, Herr Hauptmann.«

»Wie viele Kinder hat er?«

»Fünf«, sagte Obermeier. »Aber Sie dürfen mir glauben, es ist nicht nur deswegen … ich will beileibe auch keinen Helden spielen. Ich will nur dort sein, wo meine Kompanie ist, und das, glaube ich, ist nur in Ordnung, oder nicht?«

»Mann … aber ich glaube, Sie haben recht. Es ist eine verdammte Sache! Aber ich brauche Sie noch … Stellen Sie sich vor, an Ihre Stelle würde so ein Heini kommen, wie Bevern, und das ist fast mit Sicherheit anzunehmen.«

»Sie würden schon mit ihm fertig werden, Herr Hauptmann. Im übrigen bin ich durchaus nicht bereit – nicht zurückzukommen. Ich komme wieder. Darauf können Sie sich verlassen. Schließlich bin ja auch ich ein alter Fuchs.«

Hauptmann Barth nagte nachdenklich, und wie es Obermeier schien, etwas niedergeschlagen an seiner Unterlippe. Dann sah er Obermeier an – und sah gleich wieder weg. »Nun gut«, sagte er leise, »nun gut … es tut mir leid … wir haben uns trotz allem sehr gut verstanden … ich mag Sie sehr gut leiden, Obermeier …«, seine Gestalt straffte sich, und er lächelte Obermeier an: »Wir wollen nicht sentimental werden. Ich werde Ihnen den Befehl, daß Sie hierbleiben müssen, nicht geben …«

Zu gleicher Zeit, als Barth mit Obermeier in Barssdowka über den bevorstehenden Einsatz der zweiten Kompanie sprach, bemühte sich Dr. Kukill in Berlin seit vier Stunden, eine Verbindung mit Orscha zu erreichen.

Er stand in der Heeresvermittlung neben einer Steckvermittlung, begleitet von einem SS-Gruppenführer, einem sehr guten Bekannten, dem er vor kurzem aus großer Verlegenheit geholfen hatte.

»Es muß doch möglich sein, Orscha zu erreichen!« sagte der Gruppenführer zu dem Soldaten an der Vermittlung. »Ich war zwar nie dort, aber dieses Kaff hat doch eine ziemlich große Bedeutung an unserer Front.« Und dann zu Dr. Kukill, der unruhig eine Zigarette nach der anderen rauchte und mit kurzen nervösen Schritten in dem Raum mit seinen vielen summenden Geräten herumlief: »Es wird schon klappen, Herr Doktor! Alles braucht eben seine Zeit. Bedenken Sie, welche Stellen wir in die Leitung einschalten müssen, um die Sprechbrücke zu erreichen. Wir schaffen es, Doktor, keine Bange!« Gutmütig stieß er den zusammenzuckenden Arzt gegen die Rippen.

»Ich hoffe, es wird nicht zu spät sein!« murmelte Kukill unruhig, und auf seiner Stirn bildeten sich Falten. Er setzte sich neben den Obergefreiten, der an der Steckvermittlung saß und angestrengt in seine Kopfhörer lauschte. »Vier Stunden dauert das schon. Ich muß wissen, ich muß wissen, wie die Dosierung ist … wir haben keine Zeit zu Experimenten …«

»Ach du liebe Zeit – so kenne ich Sie ja gar nicht, Doktor!«

»Orscha …!« sagte der Obergefreite. Kukill fuhr herum. »Geben Sie her!«

Aber der Obergefreite winkte ab. »Sie stecken weiter um – nach Babinitschi oder so ähnlich – Barssdowka. Wir müssen Geduld haben.«

»Herrgott – Geduld – Geduld – das sagen Sie schon die ganze Zeit!«

»Wenn wir Orscha erreicht haben, ist das andere halb so schlimm. Sie sehen, es klappt bei unserer Organisation!« sprach der Gruppenführer beschwichtigend.

»Da sind vier oder fünf andere in der Leitung«, sagte der Obergefreite nervös. Der verrückte Zivilist und das hohe SS-Tier gingen ihm auf die Nerven. Nun hockten sie schon seit geschlagenen vier Stunden hier und trampelten auf seiner Geduld herum, wegen diesem blödsinnigen Kaff Orscha … Der Teufel soll sie holen! Er sagte: »Irgend jemand meldet sich … aber es quatschen immerzu andere dazwischen!« Er rückte den Trichter näher an den Mund und brüllte hinein: »Hallo – hallo –! Hallo – Orscha! Hallo – Divisionsvermittlung Orscha! Trennen Sie die Störsprecher! Wichtige Durchsage aus Berlin. Geben Sie Babinitschi – Barssdowka – Hauptmann Barth. Trennen Sie …«

Dr. Kukill wischte sich über die Stirn. Sie war klebrig und weiß. Der Gruppenführer zündete sich eine Zigarette an.

Sie warteten.

Und dann sagte der Obergefreite:

»Bataillon 999? Hauptmann Barth? Hallo – ist dort Hauptmann Barth? Ist dort Barssdowka – Hauptmann Barth?« Er sah zu Kukill auf und nickte heftig. Dieser riß den zweiten Hörer an sich.

»Wer ist dort? Hauptmann Barth? Der Kommandeur? Hier ist Berlin, hier ist Berlin, hallo, Hauptmann Barth!«

In Barssdowka saß Hauptmann Barth am Telefon und preßte den Hörer des Feldfernsprechers an das Ohr.

»Berlin«, schrie er. »Wer macht hier faule Witze? Welcher Idiot ist in der Leitung? Hier ist Hauptmann Barth. Ist dort die Divisionsvermittlung, hallo – Divisionsvermittlung –!«

»Hier Dr. Kukill! Berlin!« rief in Berlin Dr. Kukill in den Apparat. »Holen Sie bitte Herrn Dr. Deutschmann an den Apparat, verstehen Sie – Dr. Deutschmann! Dr. Deutschmann! Zweite Kompanie!«

»Deutschmann?« Hauptmann Barth sah Obermeier verblüfft an. »Ist die Welt verrückt geworden? Hier wird ein Dr. Deutschmann aus Berlin verlangt. Unser Deutschmann – ich werd' verrückt!« Er preßte den Hörer ans Ohr und schrie in die Muschel: »Jawohl – Ich lasse den Schützen Deutschmann holen! Warten Sie fünf Minuten.«

Draußen, vor dem Haus, über die Straße hinweg, die Krülls Schneeschippkommando freischaufelte, gellten die Rufe: »Deutschmann zum Kommandeur! Deutschmann sofort zum Kommandeur!«

Der Ruf pflanzte sich fort und drang bis zu dem kleinen Revierbunker, in dem Deutschmann gerade einem Soldaten die Hand verband. Eine Quetschwunde.

»Deutschmann zum Kommandeur!« brüllte jemand in den Bunker, Deutschmann nickte:

»In zehn Minuten. Ich muß erst verbinden.«

»Telefon aus Berlin, du Knallkopf!«

»Aus Ber…« Deutschmann sprang auf, »…lin«, beendete er tief ausatmend. Er kümmerte sich nicht mehr um den Verletzten. »Ich bin in fünf Minuten wieder hier!« schrie er, während er hinauslief. »Berlin … meine Frau … ich komme wieder … halte die Binde solange … ich …«

Er stolperte über die Straße, über Schneehaufen, über Eisbuckel. Er rannte wie um sein Leben.

»Ei – guck mal an, wie er laufen kann!« kam von irgendwoher Krülls Stimme, aber er achtete nicht darauf. Berlin, dachte er, Berlin – Julia – Julia!

Atemlos stürzte er in den Kompaniegefechtsstand. Barth hielt den Hörer immer noch ans Ohr, und auch Obermeier lauschte, tief über den Tisch gebeugt.

»Herr Hauptmann!« keuchte Deutschmann atemlos. Das Zimmer, die Uniformen der Offiziere, der Tisch, die Wände drehten sich um ihn.

Barth winkte ab. »Hallo – Berlin! Berlin! Schütze Deutschmann ist hier. Wo ist Berlin? Was? Divisionsvermittlung – wo haben Sie Berlin? Weg? Sie Idiot – halten Sie die Verbindung fest!«

Er wartete. Deutschmann lehnte zitternd neben ihm am Tisch, und dann kam wieder eine kaum hörbare, quäkende Stimme, er steckte die Hand aus. Barth gab ihm den Hörer.

»Hier Deutschmann – Schütze Deutschmann!« sagte der schmale, zitternde Mann mit klangloser Stimme.

»Hier Divisionsvermittlung. Gespräch mit Berlin ist unterbrochen. Ich bekomme ihn nicht mehr 'ran. Soviel ich verstehen konnte, war ein Dr. Kilill oder Krumbill …«

»Dr. Kukill …«, sagte Deutschmann heiser.

»Richtig, das war's. Der war am Apparat. Er sagte etwas von einer Frau – Julia oder so ähnlich – und einem Serum, ich habe es nicht genau verstanden – und etwas von tot sagte er auch, es war alles sehr unklar. Kannst du damit etwas anfangen, Kumpel?«

»Können Sie mich nicht mehr verbinden?«

»Nee, geht nicht. Ist zu weit. Es ist endgültig weg. Kannst du damit etwas anfangen?«

»Ja – ich habe verstanden.«

Deutschmann legte den Hörer zurück und sagte vor sich hinstarrend noch zweimal: »Ich habe verstanden – ich habe verstanden – Julia ist tot.«

Hauptmann Barth sah hinüber zu Obermeier und zuckte mit den Schultern. Er verstand nichts von dem, was sich hier abspielte, aber soviel verstand er, daß dieser schmächtige leichenblasse Mann jetzt die Nachricht über den Tod einer Frau erhalten hatte, die Julia hieß. Und wenn er sich recht erinnerte, stand in Deutschmanns Papieren, daß er mit einer gewissen Julia verheiratet war …

Bitter. Aber was konnte man tun? In solchen Fällen war es – das wußte er aus Erfahrung – am besten, die Leute zu beschäftigen. Und sie sollten beschäftigt werden, diese Männer aus der 2. Kompanie, bei Gott! Er hob das Handgelenk und sah auf die Uhr.

»In einer Stunde rücken Sie zu den Ausgangsstellungen ab, Herr Oberleutnant«, sagte er dienstlich. »Und Sie, Schütze Deutschmann, haben Sie noch eine Frage?«

»Nein, Herr Hauptmann.«

»Es tut mir leid …«, murmelte Barth, »aufrichtig leid. Wenn ich recht verstanden habe … Ich möchte Ihnen mein Beileid aussprechen …«

»Danke.«

Deutschmann ging hinaus, ohne zu grüßen, stand auf der Straße ohne Kopfbedeckung und mit offenem Uniformrock, so wie er aus dem geheizten Bunker herausgestürzt war. Von der Unterkunft her kam Schwanecke auf ihn zu. Als er Deutschmann sah, stutzte er und raffte den offenen Uniformrock vor Deutschmanns Brust zusammen.

»Mensch, du siehst aus wie eine Wasserleiche. Was ist denn los? Was wollen die aus Berlin?«

Deutschmann schwieg.

»Sind sie dir auf den Pelz gerückt? Laß uns abhauen, Kumpel!« flüsterte Schwanecke, während er sich vorsichtig umsah. »Heute nacht, verstehst du, jetzt ist's viel einfacher … keine Rotkreuzfahne mehr … Wir bleiben einfach hinten … So 'n Erkundungsstoß ist genau das richtige für uns. Machst du mit?«

Deutschmann sagte immer noch nichts.

Schwanecke rüttelte ihn: »Was ist passiert? He – hörst du eigentlich? Bist du taub geworden? Was ist passiert?«

»Julia ist tot«, flüsterte Deutschmann.

»Was?« Schwanecke fuhr zurück. »Ja, dann …«, stammelte er verwirrt, »… komm weg von hier, du holst dir den Tod. Hast du schon alles zusammengepackt? Wart mal, ich helf dir. Ja, Mensch, wenn's so ist …«

Willenlos, wie eine aufgezogene Puppe, ließ sich Deutschmann von Schwanecke wegführen. »So 'ne Sache, so 'ne verfluchte Sache!« murmelte Schwanecke, und in seiner heiseren Stimme schwang Mitgefühl für diesen großen, dünnen Mann, der an seiner Seite stolperte und den er, weiß der Teufel warum, verflucht gern leiden mochte.

In der ersten Abenddämmerung rückte die 2. Kompanie zur HKL ab. Es war noch Nachmittag, doch der graue Schleier der kommenden Nacht legte sich schon über die weiße, weite Ebene, mit dem dunklen Streifen des Waldes am Horizont.

Auch Oberfeldwebel Krüll war dabei – als Kompanietruppführer. Er wußte, wohin es ging, aber er dachte nicht daran. Warum auch? Es half nichts. Es half alles nichts. Jetzt war es soweit, und kein Mensch konnte etwas dagegen unternehmen. So trottete er mißmutig vor seinem Haufen her wie ein Ochse zum Schlachthof.

An diesem Nachmittag sah Tanja, wie eine Reihe deutscher Soldaten in weißen Tarnanzügen aus Barssdowka wegzog und bald danach in der Ebene untertauchte, in der Richtung gegen den Wald von Gorki. Sie ahnte nicht, daß unter ihnen auch Deutschmann war …

Er ging als einer der letzten aus dem Dorf, zwei schwere Verbandstaschen über die Schulter gehängt.

Wiedeck stapfte vor ihm, ein blankgeputztes MG 42 in der Hand.

»Wie in alten Zeiten«, sagte er über die Schulter weg nach hinten. »Ich hab' zwar was gegen die Sache, die wir erledigen müssen, aber nichts gegen die Spritze da. Und wenn du mich fragst, dann lieber mit so 'ner Spritze durch das Land ziehen, auch wenn's von den Rußkis wimmelt, als das sture Schanzen.«

»In fünf, sechs Stunden sprechen wir uns wieder«, brummte Schwanecke, der vor ihm ging, mit einer Maschinenpistole über der Schulter, Handgranaten hinter dem Koppel.

Aber Wiedeck hörte nicht hin. »Mensch, Ernst«, sagte er, »wenn die Sache klappt, dann ist's vorbei mit diesem Scheißhaufen. Glaubst du, daß es mir gegen den Strich geht, hier zu dienen?«

»Wem geht es nicht?« fragte Schwanecke spöttisch.

»Ich kann dich verstehen«, sagte Deutschmann, um überhaupt etwas zu sagen. Er ging wie durch einen durchsichtigen, merkwürdig klaren Nebel, in dem alles, was um ihn herum geschah, seltsam deutlich, doch auch zugleich unwirklich und fern war. Er zwang sich, nicht an Julia zu denken. Er zwang sich, Wiedeck zuzuhören und ihn zu verstehen. Ja, er konnte ihn verstehen: Wie es auch war, ein Strafbataillon war die Einheit für Menschen, die sich gegen das Gesetz vergangen hatten. So sah er es jedenfalls, Wiedeck. Und was konnte für einen rechtschaffenen, ehrlichen Bauern schlimmer sein, als zu den Menschen gezählt zu werden, die sich gegen das Gesetz vergangen hatten? Seine Kinder sollten nie sagen: Mein Vater, der Verbrecher … Welche Qual mußte das für ihn bedeuten! Wie konnte er noch seine Kinder Ehrlichkeit unter allen Umständen lehren, wenn er selbst …? Daß es hier vor allem Menschen gab, die keine Kriminellen waren – wer wußte das schon? Aber es gab auch solche wie Schwanecke, die zu Recht bestraft wurden, auch wenn Schwanecke ein toller Bursche war, auf den man sich verlassen konnte. Gaben er und ihm ähnliche nicht den Ausschlag? Eine seltsame, unverständliche Welt!

»Wenn es klappt …«, träumte Wiedeck weiter, »dann kommen wir zurück zu unseren Einheiten und …«

»Und du glaubst das?« fragte Schwanecke spöttisch.

»Warum sollte ich nicht? Glaubst du, daß Obermeier lügt?«

»Nein, er nicht«, sagte Schwanecke. »Aber was kann schon Obermeier gegen die anderen ausrichten?«

»Er hätte es nicht gesagt, wenn es nicht wahr wäre!« sagte Wiedeck mit Überzeugung. Wenn ein Offizier wie Obermeier bewußt lügen würde, dann – ja, dann … woran konnte man dann noch glauben? Das konnte nicht sein! Wiedeck glaubte es, er glaubte, daß alles gut ausgehen würde, er glaubte, daß er zurückkommen würde und daß er dann wieder frei sein würde. Frei … Er würde Urlaub bekommen und nach Hause fahren, plötzlich vor der Tür stehen … mit Schulterklappen und Auszeichnungen … wie sah wohl der Kleine aus? Und er wiederholte bei sich Obermeiers Worte, als sie auf der Straße vor der Schreibstube angetreten waren, kurz bevor sie abrückten.

»Männer«, hatte Obermeier gesagt, als er aus der Schreibstube gekommen war, einer von ihnen, genauso aussehend wie sie alle, im weißen Tarnanzug, mit einer umgehängten Maschinenpistole, Handgranaten hinter dem Koppel, »Männer, wir heißen: Bewährungsbataillon 999. Jetzt endlich ist es soweit: Wir sollen uns bewähren, und zwar über das übliche Maß hinaus. Wir machen einen Erkundungsvorstoß hinter die russischen Linien. Eine gefährliche Sache, ich weiß. Die Gruppenführer werden euch Näheres darüber sagen. Was ich jetzt noch zu sagen habe, ist folgendes: Jeder, der zurückkommt, wird sofort zu seiner alten Einheit versetzt und bekommt seinen ehemaligen Rang und seine Auszeichnungen zurück. Dann ist es aus mit dem Bewährungsbataillon, dem Strafbataillon, wie ihr, oder seien wir ehrlich, wie wir unseren Haufen nennen. Ich weiß: Vielleicht werden wir nicht alle zurückkommen. Wir wollen uns da nichts vormachen. Aber es liegt an uns selbst, ob und wie schwer unsere Verluste sein werden. Einzig und allein an uns selbst. Ich glaube, wir verstehen uns. Ich selber wurde zu dieser Einheit kommandiert. Weil ich aber glaube, zu euch zu gehören, gibt's für mich nichts anderes, als mitzukommen. Das ist klar. Und ich komme auch zurück, darauf könnt ihr euch verlassen. Ich hoffe, übermorgen sehen wir uns alle wieder hier, so wie wir jetzt hier stehen. Und dann wollen wir einige Pullen leertrinken – auf den glücklichen Ausgang und – zum Abschied!«

»Ein toller Kerl!« sagte Wiedeck.

»Wer?«

»Obermeier.«

»Daß du dich man nicht täuschst …«, brummte Schwanecke, aber dann gab er sich einen Stoß und grinste über die Schulter: »Du hast schon recht. Er ist in Ordnung.« Ja, Obermeier war in Ordnung, dachte Schwanecke. Schwer in Ordnung. Wenn alle anderen so wären … Wenn er selbst, Schwanecke, sich mit dem Oberleutnant nicht so gut verstand, dann war das eigentlich seine, nicht Obermeiers Schuld. Und plötzlich – wie schon so oft und immer öfter in letzter Zeit, tat es Schwanecke fast schmerzhaft leid, daß er ein Außenseiter war und auch in Obermeier und anderen anständigen Leuten seine Gegner sehen mußte. Sie waren es, daran konnte man nicht rütteln – und es war ein Elend, daß es so war. Wieviel schöner wäre es, wenn sie alle am gleichen Strang ziehen würden – er, Obermeier, Wiedeck, Deutschmann. Verdammt, dachte er, es ist eine verfluchte Sache … zu spät –!

So zog die 2. Kompanie, leise mit den Waffen klappernd, durch die heraufdämmernde Nacht, Phantomen gleich, die sich kaum von der grauweißen Fläche rundherum abhoben.

Vorneweg, neben Unteroffizier Hefe – Oberleutnant Obermeier. Mit der zweiten Gruppe Oberfeldwebel Krüll. Dann Unteroffizier Kentrop. Und andere, in einer langen, langen Reihe. Bartlitz, der ehemalige Oberst. Ein degradierter Major. Ein Musiklehrer. Ein Rechtsanwalt. Ein Taschendieb. Ein Studienrat. Ein Architekt und wieder ein Rechtsanwalt. Ein Sittlichkeitsverbrecher. Ein Zuhälter. Ein Homosexueller. Ein Bauarbeiter. Ein Metzger. Ein Oberregierungsrat. Ein Einbrecher. Ein ehemaliger Kreisleiter. Ein Arzt …

Vor ihnen, wo die HKL lag, war die Nacht dunkel und schweigsam. Frost. Eine Leuchtkugel. Und plötzlich das Rattern eines MGs.

An ihrem Dachfenster stand Tanja und sah hinter der schweigenden Kolonne her, als sie schon lange nicht mehr zu sehen war. Und dann sah sie noch eine ganze Weile hinüber nach Barssdowka, und ein kaum sichtbares, trauriges Lächeln huschte über ihr Gesicht, als sie leise flüsterte: »Gute Nacht, Michael, schlaf gut … schlaf gut –!«

In der HKL wechselte Obermeier mit dem jungen Leutnant der Infanterie einige Worte. Der Leutnant wußte Bescheid. Sie verglichen noch einmal ihre Uhren und sahen dann lange und schweigend zu den russischen Linien.

»Haben Sie keine Angst, daß die Hälfte Ihrer Leute überläuft?« fragte der Leutnant schließlich.

»Warum?«

»Na ja, was man so hört … es sind ja schließlich Verbrecher … Kommunisten …«

»Sie müssen es ja wissen«, sagte Obermeier, und der Ton seiner Stimme ließ den Leutnant verstummen.

»Noch zwanzig Sekunden«, sagte Obermeier nach einer Weile zu dem dumpf vor sich hinbrütenden Krüll. Er hatte die Uhr mit dem Leuchtzifferblatt dicht vor die Augen gehalten. »Noch 15 – 10 – 5 – 'raus!«

Über den Grabenrand kletterten lautlos die ersten Gestalten. Dann war die erste Gruppe durch. Abstand. Zweite Gruppe. Abstand. Dritte – vierte – fünfte – sechste Gruppe. »Macht's gut!« flüsterte Obermeier zu Unteroffizier Kentrop. »Aber ja!« Kentrop grinste den Oberleutnant an. Seine Zähne leuchteten weiß. Dann verschwand er und seine Leute hinter ihm. Siebente – achte – neunte Gruppe. Jetzt war Obermeier selbst dran. »Los!« gab er sich den Befehl, sah kurz zurück zu seinen schweigenden, wartenden Leuten, die zusammengedrängt im Graben standen, sagte: »Es wird schon schiefgehen!« und kletterte über den Grabenrand. Vor ihm war Dunkelheit, und er tauchte in ihr unter wie ein flüchtiger, lautloser, greifbarer Schatten.

»Wenn das man gut geht!« murmelte der Leutnant, und dann sagte er zu dem Unteroffizier, der unmittelbar neben ihm stand: »Verdammt will ich sein, wenn ich an deren Stelle sein möchte …«

Zu gleicher Zeit, als die Gruppen der zweiten Kompanie weitverteilt in das Niemandsland zwischen der deutschen und der russischen HKL schlichen, erfolgte ein kurzer Feuerschlag der deutschen Artillerie und ein Scheinangriff im Bereich des Nachbarregiments: die geplante Ablenkung, die die Aufmerksamkeit der Russen an eine andere Stelle lenken sollte. Die Partisanen im Walde von Gorki unter Sergej Denkow wurden alarmiert. Gleich danach zogen sie jenseits der zweiten Kompanie als Bereitschaft an den Waldrand. Der Weg für die dem Wald am nächsten liegende Gruppe der zweiten Kompanie war frei.

Obermeier mit seiner Gruppe, Krüll mit dem Kompanietrupp und Unteroffizier Hefe mit zehn Mann wateten durch den tiefen Schnee im Wald, keuchten durch Verwehungen, schwitzten trotz beißender Kälte, fluchten und gönnten sich keine Ruhepause. Die Gruppenführer blieben ab und zu stehen und sahen auf den Kompaß, um sich nicht zu verirren. Hier die Richtung zu verlieren war gleichbedeutend mit einem Todesurteil. Sie waren schon durch die russischen Linien hindurchgekommen und konnten jeden Augenblick auf feindliche Einheiten hinter der HKL stoßen, auf Reserven, die in diesen Räumen in Bereitstellungen liegen mußten.

Stunden vergingen, und die Männer waren der völligen Erschöpfung nahe – als sie plötzlich am Waldrand standen.

Obermeier sah auf die Uhr. Es war ein Uhr zwölf.

Vor ihnen lag eine Ebene, durchsetzt mit Buschgruppen und einzelnen Bäumen, dahinter konnte man im fahlen Licht des russischen Winters die dunklen Umrisse eines Dorfes erkennen, und vor ihnen, zwischen dem Waldrand und dem Dorf, standen – riesigen schwarzen Schatten gleich – hinter den Büschen, unter den Bäumen, getarnt mit Zweigen und ganzen Buschgruppen – russische Panzer.

»Meine Fresse«, sagte Schwanecke leise. »Ne ganze Armee! T 34! Wenn die losrollen –!«

»… dann haben wir nicht mal mehr Zeit genug, den Hintern zusammenzukneifen …«, beendete Wiedeck.

»Da helfen uns auch alle deine Taschen nicht mehr«, sagte Schwanecke zu Deutschmann und grinste ihn an.

»Haltet die Klappe!« sagte Hefe nervös.

»Mensch, werd' nur nicht kribbelig«, sagte Schwanecke. »Die Frage ist, was wir jetzt zu tun haben. Gesehen haben wir ja, was wir sehen sollten, oder?«

»Ungefähr«, sagte Wiedeck.

»Also, nichts wie ab«, beschloß Schwanecke. Sein Plan stand fest, jetzt war die Gelegenheit günstig. Auf dem Rückweg durch den Wald konnte er einfach zurückbleiben, unbemerkt verschwinden und dann eine passende Gelegenheit abwarten, um sich den Russen zu ergeben. Die Sache würde nicht ganz leicht auszuführen sein, denn mit einem einzelnen Gefangenen machten die Russen sehr oft keine großen Umstände. Eine Maschinenpistolengarbe war weitaus einfacher als der Rücktransport nach hinten. Andererseits dürfte es aber bestimmt auch Russen geben, die stolz sein würden, einen Gefangenen zu machen, und sehr froh, ihn zurücktransportieren zu können – möglichst weit hinter die Front. Denn auch die Deutschen schossen nicht mit Erbsen – und sie trafen sehr gut … Ob ein Deutscher oder Russe, hinter der Front ist es immer sicherer. Aber er hatte ja Zeit. Unter seinem Tarnanzug hatte er eine hübsche Proviantreserve, die er in weiser Voraussicht organisiert hatte, bevor sie losgezogen waren. Er konnte warten, und er war nicht gewillt, sich in unnötige Gefahr zu begeben, jetzt, kurz vor seinem Ziel, am wenigsten.

Mitten in diese Überlegungen stießen aus der Ebene eins – zwei – drei grüne Leuchtkugeln in die Luft und verzauberten den Nachthimmel zu einem riesigen, grünlichen Gewölbe, unter dem die Gesichter der Soldaten eine fahle, grünliche Leichenfarbe annahmen.

Im gleichen Augenblick kam Bewegung in die Stahlkolosse, als wären sie Ameisen, die durch einen Fußtritt aufgescheucht wurden. Ein Heulen und Donnern schwoll an, wurde lauter und durchdringender, füllte die ganze Landschaft aus, die ersten Panzer rollten träge an, mit knirschenden, vereisten Ketten und hämmernden, noch kalten Motoren, die Verkleidungen fielen, die Büsche wurden abgerissen.

Es mußten an die fünfzig oder mehr Panzer gewesen sein. Immer schneller rollten sie am Waldrand entlang, vorbei an den fassungslos starrenden deutschen Soldaten, die sich tief in die Schneemulden duckten und erschrocken den Aufmarsch der Stahlkolosse verfolgten.

»Meine Fresse«, sagte Schwanecke, »jetzt sind wir mitten im Schlamassel!«

»Wie meinst du das?« fragte Deutschmann.

»Siehst du denn nicht, die rollen jetzt bis an den Weg durch den Wald und dann gegen unsere HKL. Wenn sie durch den Wald sind, dann hauen sie unsere HKL kurz und klein. Wir sind mitten in einen Aufmarsch gestolpert.«

»Was sollen wir tun, was sollen wir tun?« fragte Peter Hefe zitternd.

»Jetzt kommt gleich die Infanterie«, sagte Schwanecke behaglich.

»Wieso?«

»Na, hinter den Panzern kommt immer die Infanterie. Wenn die uns hier erwischt, dann …«

»Dann gnade uns Gott«, beendete Wiedeck.

»Also, Kommandant, gib schon einen Befehl!« sagte Schwanecke zu Peter Hefe.

Doch der Unteroffizier starrte nur mit weit aufgerissenen Augen zu den vorüberrollenden Panzern. Er konnte sich nicht rühren, sein Denken war wie ausgeschaltet, er hatte ähnliches noch nie gesehen. Das war Rußland. In Frankreich war es anders, ganz anders. In Frankreich sah man nur ab und zu französische Panzer, die nichts waren im Vergleich zu diesen da, und wenn er sie gesehen hatte, waren sie meist abgeschossen und verbrannt. Aber diese hier! Von ganz fern hörte er Wiedeck sagen:

»Na, los, los!«

Nur schwer löste er seinen Blick von den Stahlkolossen, sprang auf, drehte sich um und begann zu laufen. Die anderen hinter ihm her. Jetzt mußten sie wieder den Wald durchqueren, auf dem Weg, auf dem sie gekommen waren. Das würde leichter sein, da sie auf dem einigermaßen ausgetretenen Pfad gehen konnten. Doch dafür erwartete sie auf der anderen Seite ein fast unüberwindliches Hindernis: Die russischen Panzer würden sie, auf dem Waldweg fahrend, überholen. Auf dem anderen Waldrand würden sie sicher, aus der Bewegung heraus, in einer weitauseinandergezogenen Gefechtsordnung antreten und in dieser Formation die deutsche HKL angreifen. Sie mußten also zwischen den Panzern hindurch, und nicht nur das, auch über die jetzt gewiß vollbesetzte russische HKL hinweg zu den eigenen Linien gelangen. Das war unmöglich. Und doch liefen sie, keuchend, stolpernd, den Weg, den sie gekommen waren, zurück. Was sie auf der anderen Seite des Waldes erwartete, darüber zerbrachen sie sich nicht den Kopf. Noch nicht. Genausowenig wie die anderen Gruppen der zweiten Kompanie, die in der gleichen Lage waren.

Schon vor Morgengrauen waren sie wieder an dem der deutschen HKL zugekehrten Waldrand. Und fast gleichzeitig mit der Gruppe Hefe kamen auch die anderen Gruppen an. Schweratmend, ausgepumpt, warfen sie sich in den Schnee. Es war genau das eingetroffen, was vorauszusehen war: Die russischen Panzer hatten sie überholt und standen in weiter Reihe auf der Ebene zwischen dem Waldrand und der deutschen HKL!

Oberleutnant Obermeier hockte mit Bartlitz in einer Mulde und starrte auf die Panzer. Plötzlich flammten Scheinwerfer auf und bestrichen das ganze Feld zwischen der deutschen HKL und dem Waldrand mit ihren grellen Lichtkegeln. Sie erfaßten eine Gruppe grauer Gestalten, die sich hinwarf und in den Schnee vergrub, doch nicht schnell genug …

»Das sind unsere«, sagte Bartlitz. »Ganz bestimmt! Sie wollten 'rüber …«

»Herrgott – warum latschen sie herum wie beim Blaubeersuchen!« Obermeier stöhnte es fast.

»Sie wissen es nicht anders«, sagte Bartlitz trocken, während beide auf den Scheinwerferkegel starrten, der dort verhielt, wo die kleine Gruppe im Schnee lag. »Wie sollen sie wissen, wie man sich in Rußland an der Front zu benehmen hat! Man hat es sie nie gelehrt.«

Jetzt kamen aus dem Wald andere dunkle Gestalten angerannt; sie arbeiteten sich schnell durch den tiefen Schnee, dick vermummt, mit Pelzmützen auf dem Kopf, Maschinenpistolen mit großen Magazinen in den Händen.

»Russen …«, sagte Bartlitz.

Man hörte das rasende Hämmern eines deutschen Maschinengewehrs, die Russen warfen sich hin, einige sackten in sich zusammen.

»Idioten – jetzt schießen sie auch noch!« sagte Obermeier.

Ein Panzer schwenkte den Turm, und das laute Tacken eines russischen Maschinengewehrs mischte sich in die kurzen Feuerstöße des deutschen, das bald darauf verstummte. Einige deutsche Soldaten, immer noch im Scheinwerferkegel, standen mit hocherhobenen Armen auf, aber das MG aus dem russischen Panzer schoß weiter, jetzt erhoben sich auch die russischen Soldaten, und man hörte das rasende Tacken einiger Maschinenpistolen. Die Deutschen sanken nach und nach in sich zusammen.

»Mein Gott, mein Gott«, stöhnte Obermeier.

»Jetzt wissen wir, was wir zu erwarten haben«, sagte Bartlitz leise. »Wir müssen es versuchen. Wir müssen weiter. Jetzt wird bald die Infanterie ausschwärmen. Dann erwischen sie uns … Sie haben es ja gesehen!«

In diesem Augenblick sagte auch Wiedeck zu Hefe, kaum fünfzig oder sechzig Schritte entfernt von Obermeier und Bartlitz: »Es hilft nichts, wir müssen 'rüber. Jetzt ist's noch dunkel, aber nicht mehr lange. Wo sind die anderen?«

»Ich weiß nicht«, sagte Hefe.

Wiedeck sah sich um. »Deutschmann, Schwanecke, Mölders …«

»Wie soll ich das wissen?« sagte Hefe gereizt. »Sicher sind sie zurückgeblieben, weiß der Teufel …« Es kümmerte ihn nicht, wo die anderen waren. In ihm lebte nur noch der Wunsch, aus diesem Hexenkessel herauszukommen, hinter die deutschen Linien, nur weg von hier! Aber wie?

»Soll ich vorneweg laufen?« fragte Wiedeck.

»Jaja, lauf schon. Versuch es.«

Bevor Wiedeck losrannte, sah er von links, aus Richtung Gorki, eine lange Schützenkette russischer Infanterie ankommen. Es war höchste Zeit. Und in dem gleichen Augenblick setzten sich auch die russischen Panzer wieder in Bewegung. Aus den russischen Gräben standen Infanteristen auf und begannen, laut schreiend und wild schießend, gegen die deutsche HKL zu rennen. Die Front erwachte zu einem schrecklichen Inferno. Die deutsche Artillerie schoß. Panzerkanonen bellten auf und Flammenbündel zitterten durch den Nachthimmel. Zwei – vier – sieben Panzer explodierten, brannten aus, glühend wie in einer riesigen Schmiede, aber die anderen fuhren weiter, unbeirrt, mit heulenden Motoren, aus den langen Rohren in Bewegung schießend.

Etwas tiefer im Wald, doch so, daß sie noch einigermaßen nach draußen in die Ebene sehen konnten, lagen Deutschmann und Schwanecke in einer Mulde, hinter einem dicken, gefällten Baumstamm. Hier waren sie einigermaßen sicher.

»Solange keine Infanterie kommt, passiert uns nichts«, sagte Schwanecke zu dem entsetzten Deutschmann. »Die Panzer können uns hier nichts anhaben.«

»Die sind jetzt schon in der deutschen HKL!« flüsterte Deutschmann.

»Na klar, was glaubst du sonst? So 'ne Feuerwalze können die paar Männeken bei uns nie aufhalten!«

»Was sollen wir tun?«

»Nur mit der Ruhe! Laß das den Vater Schwanecke machen. Für uns beide ist jetzt der Krieg aus. Ich habe das Gefühl, daß das unser letzter Rabatz war!«

Oberfeldwebel Krüll lag mit dem Unteroffizier Kentrop in einer flachen Mulde am Waldrand, preßte sich an den Boden und keuchte vor Angst. Das war das Ende. Wie konnte es so weit kommen? Aus!

»Mensch, Dicker, nimm dich zusammen«, sagte Kentrop tröstend.

»Aus – aus«, jammerte Krüll.

»Du sollst dich zusammennehmen! Nur hübsch abwarten!«

Aber Krüll sagte immer wieder nur: »Aus – aus – aus …«

Wiedeck war der erste, der aus der Mulde emporschnellte und gegen die deutsche HKL zu laufen begann.

Die Scheinwerfer waren weitergewandert, und die Dunkelheit war dick und grau wie stets kurz vor der Morgendämmerung. Wiedeck rannte wie ein Irrer. Und während er sich durch den Schnee arbeitete, dachte er an Erna, an die Kinder, und dann dachte er an nichts mehr und dann daran, daß er weitermußte, weiter, auch wenn ihm das Herz zu zerspringen drohte, weiter und dann wieder an Erna und an den Kleinen, den er nie gesehen hatte …

Hefe sah hinter ihm her, und als er von der Dunkelheit verschluckt wurde, sprang auch er auf und begann zu rennen.

Obermeier sagte: »Halten Sie sich bei uns, Herr Bartlitz, ich springe jetzt.«

»Lassen Sie mich vorauslaufen, Herr Oberleutnant«, sagte Bartlitz.

»Nein, ich laufe vorneweg. Und … es tut mir leid …«

»Was?«

»Daß wir hier so … es tut mir leid, daß Sie im Strafbataillon … Herr Oberst …«

»Lassen Sie das. Ich bin kein Oberst mehr, und ich glaube, ich wünsche auch nicht, wieder einer zu sein.«

»Ich habe Sie sehr schätzen gelernt … ich bin …«

Über Bartlitz' Antlitz huschte ein kleines, gütiges Lächeln. »Mit solchen Offizieren wie Sie wäre dies – dies alles nicht geschehen«, sagte er. »Aber Sie sagten vorhin ›Herr Oberst‹ zu mir. Meinten Sie es ernst?«

»Ja – jawohl – sicher!«

»Dann gebe ich Ihnen jetzt den Befehl, erst nach mir zu laufen. Sie wissen, wie das war in der alten Armee: die höheren Offiziere immer vorneweg. Leb wohl, mein Junge – lauf erst, wenn du glaubst, daß es richtig ist. Und vergiß nicht: Einer muß zurückkommen! Wie es auch ist: Einer muß zurückkommen!« Er legte die Hand auf Obermeiers Schulter, stieß sich dann ab, sprang aus der Mulde, rannte über das Feld, nach vorne gebückt, mit schlotternden Beinen und pendelnden Armen – ein Mann, der wußte, daß es sinnlos war, dem Schicksal zu entfliehen.

Obermeier wartete einige Minuten. Die Panzer waren jetzt über die deutschen Linien hinweggerollt. Die Partisanen und die russische Infanterie kämmten jetzt die rückwärtigen Gräben durch. Es wurden keine Gefangenen gemacht – aber es gab auch fast keinen deutschen Soldaten, den man gefangennehmen konnte, solange er noch fähig war zu laufen. Sie wußten alle zu genau, was sie erwartete, wenn sie in die Hände der Partisanen fielen.

Obermeier schnellte wie ein Sprinter über das verschneite Feld, vorbei an den Klumpen, die einmal seine Soldaten gewesen waren, vorbei an noch glühenden Panzerleibern.

Er rannte wie nie in seinem Leben. Er wußte, daß er fast keine Chance hatte, heil bei den eigenen Truppen anzukommen. Wenn, dann nur jetzt, in dieser Verwirrung, im Schutze der Dunkelheit, die sich jetzt langsam zu lichten begann. Es war eine verschwindend geringe Möglichkeit, aber er mußte es versuchen. Einer mußte zurückkommen.

Von der Seite her sah er plötzlich einen dunklen, heulenden Schatten auf sich zukommen: ein Panzer. Ein kleiner, stechend heller Scheinwerfer blitzte an der Stirnseite auf – und mitten in seinem Kegel stand Obermeier, zu einer Säule erstarrt, die Arme vorgestreckt, als wollte er ins Wasser springen.

Mit ein paar Sätzen war er außerhalb des Lichtkegels. Er rannte im Zickzack weiter, hinter sich hörte er das Hämmern des schweren MGs aus dem Panzer.

Ein Loch, dachte er, während ihm das Herz zu zerspringen drohte und ihm der Schweiß über das Gesicht rann, er mußte ein Loch finden … ein Schützenloch … einen Granattrichter … einen Graben.

Auch Wiedeck sah den einsamen Panzer, der als Nachhut zurückgeblieben war. Er warf sich in ein flaches Granatloch und nahm den Kopf herunter. Hier war er einigermaßen sicher – jedenfalls konnte ihn die Panzerbesatzung kaum entdecken. Den ersten Teil des Weges hatte er hinter sich, jetzt war er bereits im ehemaligen Niemandsland zwischen den russischen und deutschen Gräben. Plötzlich fiel etwas auf ihn, ein schwerer Körper preßte ihn in die Erde und umklammerte seine Schulter.

»Geh weg, du Affe!« schrie Wiedeck.

»Ich bin's, Bartlitz«, keuchte der Unbekannte auf seinem Rücken. »Rück zur Seite … bist du's, Wiedeck? Es reicht für uns beide.«

»Mensch, hoffentlich sieht uns der nicht!«

Wenig später fiel eine dritte Gestalt zu den beiden in den Trichter. Sie schnellte heran, wie von einem Katapult geschossen, legte sich flach über die beiden Körper und drückte Wiedecks Kopf mit beiden Händen herab, als dieser nachsehen wollte, wer es war.

»Kopf 'runter«, zischte eine Stimme.

»Herr Oberleutnant …«

»Ja, halt die Schnauze!«

»Also wieder zusammen …«, murmelte Bartlitz.

»Still!«

Sie lagen eng aneinandergepreßt in der flachen Mulde und lauschten. Ganz in der Nähe klirrte es heran, donnernd, die Ketten knirschten, der Scheinwerferstrahl aus dem Panzer irrte über sie hinweg, kam zurück – und blieb auf Obermeiers Rücken, der flach über das Loch hinausragte, stehen.

»Er hat uns entdeckt«, sagte Obermeier leise.

»Aus –«, schluchzte Wiedeck.

»Noch nicht«, sagte Obermeier. »Er schießt nicht … er will uns überrollen. Wenn er ganz 'rankommt …«

Er brach ab, die beiden anderen hatten ihn verstanden.

Jetzt war das Klirren der Panzerketten ganz nah.

»Los«, schrie Obermeier, und alle drei sprangen auf und stoben auseinander. Der Panzer rollte über die Mulde, blieb stehen, drehte sich auf der Stelle. Der Deckel auf dem Turm sprang auf, und ein Kopf sah heraus. Gleich darauf fing das Maschinengewehr zu rattern an.

Der erste, den es erwischte, war Bartlitz. Wie festgenagelt blieb er plötzlich stehen und sank dann stumm in sich zusammen.

Dann kam Wiedeck an die Reihe. Er fiel aufs Gesicht, seine Arme und Beine zuckten noch eine Weile, sein Körper warf sich in zwei, drei Krämpfen empor – bis er still und reglos liegenblieb.

Es gab keine Deckung. Obermeier rannte und betete. Das Maschinengewehr wirbelte jetzt den Schnee um ihn auf. Er rannte. Und dann hörte das Schießen des MGs auf, und ein krachender Schlag in seiner Nähe warf ihn zur Seite. Er rappelte sich wieder hoch und lief weiter. Und wieder ein Krachen und ein dumpfer Schlag gegen seinen Arm: Die Russen schossen mit der Kanone hinter ihm her. Er war ein schönes, lebendiges Ziel, ein einzelner Mann, der mühsam und schwankend durch den Schnee watete. Eine herrliche Zielscheibe –.

Die dritte Granate war ein Volltreffer.

Berlin:

Wider aller Erwarten hatte Dr. Deutschmanns Aktinstoff gewirkt. Julia Deutschmann erholte sich langsam, ihr Herz arbeitete zusehends besser, der Blutspiegel war weniger katastrophal. Professor Burger und Dr. Wissek verfolgten mit Erstaunen und Unglauben ihre Besserung und schmiedeten bereits Pläne für die Zukunft, Pläne, die sich um Deutschmanns Aktinstoff drehten. Welch einen Segen bedeutete diese Erfindung für die ungezählten Verwundeten mit infizierten Wunden!

Dr. Kukill wich nicht von Julias Seite. Sein abgezehrtes Gesicht war das erste, was Julia sah, als sie für einige Augenblicke aus der tiefen Ohnmacht erwachte. Zuletzt war es ihm auch noch gelungen, mit Hilfe seiner weiten Verbindungen, über die Schweiz, ein neuartiges englisch-amerikanisches Präparat zu beschaffen, ein ›Antibiotikum‹, wie es genannt wurde, um Julias Behandlung fortzusetzen. Der Aktinstoff war ausgegangen, und in Deutschmanns Haus suchte man umsonst nach Unterlagen, nach denen man neuen herstellen konnte. Deshalb war klar, daß man Deutschmann unverzüglich wieder nach Berlin holen mußte, denn nur er selbst konnte seine Versuche fortsetzen, um schließlich die Fabrikation des ›Aktinstoffes‹ zu sichern. Er und Julia. Aber mit Julia war noch lange nicht zu rechnen; auch wenn es gelang, sie endgültig dem Tode zu entreißen – es konnte immer noch ein Rückschlag eintreten –, war sie für lange Wochen und wahrscheinlich sogar Monate unfähig, das Bett zu verlassen.

Welch ungeahnte Möglichkeiten!

Selbst wenn es noch ein Jahr oder sogar zwei dauern würde, bevor die Massenproduktion des ›Aktinstoffes‹ möglich war, bedeutete dies einen ungeheueren Fortschritt in der Behandlung der infektiösen Krankheiten – vor allem aber kam es den Soldaten zugute. Man dachte in Begriffen, die sich immer wieder und fast ausschließlich um den Krieg drehten, und so war es nur verständlich, daß die ersten Gedanken der Ärzte der Wundbehandlung galten.

Als Julia aufwachte und in das über sie gebeugte Gesicht Dr. Kukills sah, kam in ihre leeren, abwesenden Augen, die wie zwei tiefe, dunkle Brunnen aussahen, erst langsam, nach und nach das Erkennen. Ihre Lippen bewegten sich, ohne daß ein Laut zu hören war. Dr. Kukill beugte sich noch tiefer. Atemlos lauschte er dem Flüstern, das schließlich ganz leise und undeutlich über ihre Lippen kam.

»Was – ist – geschehen – wo – bin – ich – – – hier …«

»Sie waren sehr krank«, sagte er begütend. »Jetzt geht es Ihnen wieder besser.«

»Was – ist – geschehen – mit …«

»Sprechen Sie nicht, Julia. Schlafen Sie. Versuchen Sie zu schlafen –!«

In ihre Augen kehrte jetzt Erinnerung zurück, ganz langsam, nach und nach, sie versuchte sich aufzurichten, aber durch ihren erschreckend abgemagerten Körper lief nur ein langes Zittern.

Sie sagte: »Selbstversuch – ist – ist – es …«

»Ja. Es ist gelungen. Beruhigen Sie sich, bitte –!«

»Werden Sie – werden Sie – Ernst …«

»Ja«, sagte Kukill, »ich werde ihn herausholen. Ich verspreche es Ihnen. Ich – ich habe bereits alle notwendigen Schritte unternommen. Haben Sie keine Angst. Und wenn Sie jetzt schlafen – dann«, er schluckte – »dann sage ich Ihnen etwas Schönes … es wird Sie freuen …«

»Was ist – es –?«

»Ich habe mit Ihrem Mann gesprochen«, log er, »nein, nein nicht so, wie Sie denken«, beschwichtigte er sie schnell, als er sie zusammenfahren sah, »er ist immer noch in Rußland, ich habe telefoniert. Es geht ihm gut, er hat es mir gesagt, und er – er freut sich natürlich sehr, daß er zurückkommt …«

»Weiß – er es!«

»Nein.« Und dann schnell, als bereute er seine Lüge: »Ich wollte ihn nicht beunruhigen. Es ist immer noch Zeit, es ihm zu sagen.«

»Bitte …«, sagte sie, schloß die Augen, und die nächsten Worte waren nur ein undeutliches, schwaches Murmeln, aber dann machte sie die Augen wieder auf und sprach sehr deutlich und klar, während ein kleines, glückliches Lächeln über ihr Gesicht huschte:

»Bitte – rufen Sie ihn noch einmal an – sagen Sie ihm – sagen Sie ihm – ich bin sehr glücklich – sehr glücklich …«

»Ja«, sagte er mit Überwindung, »ja, ich werde anrufen. Ich werde es tun, ich werde es ihm sagen.«

Aber sie hörte ihn schon nicht mehr. Sie schlief ein.

Diesmal ging es schneller. Dr. Kukill hatte wieder seinen Gruppenführer aufgeboten, der mit ihm zu der Fernsprechzentrale des Heeres ging. Schon nach anderthalb Stunden hatten sie die Verbindung nach Orscha. Doch hier blieben sie stecken, und erst nach langem Gerede konnten sie erfahren, daß an der Front alles drunter und drüber ging und daß sich der Divisionsstab bereits zum Aufbruch rüstete. Russen seien durchgebrochen, was, zum Teufel, wollten die in Berlin jetzt mit irgendeinem Deutschmann in irgendeinem Nest, das sicher bereits von den Russen überrollt worden war? Bewährungsbataillon 999? Was soll mit ihm sein? Warum, zum Teufel, konnten die in Berlin keine Ruhe geben? Dieses Bewährungsbataillon bestand nicht mehr. Aufgerieben. Aus. Warum viele Gedanken über seinen Verlust verschwenden – es gab noch 'ne Menge andere Bataillone, die nicht mehr bestanden! Man hatte jetzt in Orscha andere Sorgen. Jaja, aufgerieben! Nichts mehr übrig davon, Ende?

Ende!

Aufgerieben also, sagte Dr. Kukill leise vor sich hin, als er den Telefonhörer wieder auflegte. Aufgerieben – also wahrscheinlich tot oder in Gefangenschaft geraten, was soviel wie tot bedeutete. Er wußte nicht, was er darüber denken sollte. Es war klar, daß er dies Julia einstweilen verbergen mußte, bis sie außer Gefahr war. Dann konnte man weitersehen. Gut, er hatte sich alle Mühe gegeben. Er hatte alles getan, was in seiner Macht stand. Er hatte alles in die Wege geleitet, um Deutschmann wieder nach Berlin zu holen. Das war nicht gelogen. Wenn es aber so war … wenn Deutschmann tot war, dann war es nicht seine Schuld. Und … Julia wird es überwinden, sagte er sich. Vielleicht nicht so schnell, vielleicht wird sie noch ein Jahr lang trauern, vielleicht auch zwei – aber es gab keine Wunde, die mit der Zeit nicht heilte. Er mußte ihr Zeit lassen. Er mußte ihr ein guter, achtungsvoller Freund sein und sie behutsam wieder ins Leben führen. Dann – dann würde sie eines Tages erkennen, daß sie sich in ihm getäuscht hatte und dann … dann …

»Kommen Sie, gehen wir«, sagte er zu dem Gruppenführer, der mit ausgestreckten Beinen in glänzend polierten Stiefeln auf einem Stuhl saß.

»Was ist los?« fragte er.

Dr. Kukill zuckte mit den Schultern. »Aufgerieben. Wahrscheinlich.« Er brauchte nichts weiter zu sagen. Der andere hatte ihn verstanden.

Durch Barssdowka rollten russische Panzer.

Von der einen Seite hatten sie die deutschen Stellungen aufgerollt, von der anderen Seite, vom Wald her, strömten die Partisanenverbände Denkows, mit ihm und Tartuchin an der Spitze, in das Dorf.

Stabsarzt Dr. Bergen und Kronenberg waren mit einem Teil der Verwundeten noch rechtzeitig weggekommen. Mit den letzten Fahrzeugen waren sie nach rückwärts gerast, über die Artilleriestellungen hinaus – etwas verwirrt und beruhigt zugleich über nur geringe Anzeichen der Nervosität bei den Artilleristen. Wie oft hatten sie solche panikartigen Erscheinungen schon durchexerziert! Ein russischer Einbruch? Unangenehm – und was weiter? Von rückwärts kamen bereits die ersten, in Eile zusammengerafften Reserven, um zum Gegenstoß anzutreten.

Und als Dr. Bergen, mit seiner Kolonne an den Straßenrand gedrängt, in die grimmigen, unbeweglichen Gesichter der Soldaten eines Sturmbataillons sah, die in ihren Kübelwagen langsam über die zerfahrene Straße in Richtung Front schaukelten, mit Maschinengewehren, Maschinenpistolen und Gewehren zwischen den Knien, abenteuerlich und gefährlich aussehend in ihren weißen Tarnjacken mit weiß gestrichenen Stahlhelmen, da fragte er sich ein bißchen beschämt, ob seine überstürzte Flucht gerechtfertigt war.

Sie war es.

Die Russen kamen zwar nicht weit über Barssdowka hinaus, doch dort und anderswo, besonders aber dort, wo die Partisanen hinkamen, verbreiteten sie grollend und vom Blutrausch besessen den eisigen Schreckenshauch des Todes.

Unterarzt Dr. Hansen war in Barssdowka geblieben, bei den nicht transportfähigen Verwundeten, in Mehrzahl Kopf- und Bauchschüsse. Zu den Verwundeten seines eigenen Bataillons hatten sich noch einige aus den Infanterie-Einheiten zugesellt, die aus ihren Stellungen geworfen worden waren. Die Scheune war halbvoll, sie lagen still, mit großen, erschrockenen Augen gegen die Tür starrend, durch die jeden Augenblick die Russen kommen konnten. Zwischen den Betten und Strohsäcken ging Dr. Hansen hin und her, Ruhe und Zuversicht zusprechend und ausbreitend, Trost spendend und Linderung schaffend.

Über dem Eingang hing eine große Rot-Kreuz-Fahne, schwer und unbeweglich in der ruhigen, stillen Luft.

Und plötzlich hörte man sie kommen.

Schon eine ganze Weile hörten die Verwundeten die dröhnenden Panzermotoren und vereinzelte Schüsse. Jetzt aber hörten sie ihre Stimmen, kurze, heisere Ausrufe und dann ein langes, langanhaltendes, lautes Lachen.

Dr. Hansen nickte den Verwundeten zu und ging langsam zur Tür.

Tartuchin war der erste, der den Arzt in seinem weißen Kittel in der Tür stehen sah. Er verharrte einen Augenblick, hob seine Maschinenpistole und jagte eine kurze Garbe in das Tuch der Rot-Kreuz-Fahne über Hansens Kopf. Dann grinste er, doch plötzlich vereiste das Grinsen auf seinem breiten Gesicht, und er duckte sich zusammen: Hier waren noch deutsche Soldaten! Vielleicht traf er auch IHN, seinen großen Feind, unter ihnen. Verwundet? Egal, vielleicht hatte er sich unter die Verwundeten gemischt, vielleicht war er selbst verwundet, vielleicht … und wenn er ihn nicht fand … Gut! Hier, an diesen verfluchten Deutschen konnte er seinen Haß stillen. Nicht für immer, nicht einmal für lange Zeit, nur so lange, bis er neue fand. Was tat es, daß es Verwundete waren? Bevor sie verwundet wurden, hatten sie auf seine Brüder geschossen, hatten sie sie getötet, hatten sie … jetzt werden sie das büßen!

Angespannt, mit vorgebeugtem Körper ging er gegen die Scheune, gegen den kleinen, schmächtigen Arzt, der mit unbewegtem Gesicht, ihm ruhig entgegenblickend, vor der Tür stand und den Weg in die Scheune versperrte.

»Idi!« Geh! sagte er, als er vor dem Arzt stand.

»Du bist …«, begann der Arzt, der den ehemaligen Hilfswilligen erkannt hatte, aber Tartuchin unterbrach ihn ungeduldig: »Geh – geh!«

»Nein!« sagte der Arzt und rührte sich nicht von der Stelle.

»Nein?« wiederholte Tartuchin, und über sein Gesicht huschte ein schnelles, böses Lächeln. »Nein? Nein?«

Langsam, überlegend und – Dr. Hansen sah es: tödlich entschlossen hob er die Maschinenpistole, bis ihr Lauf dem Arzt genau gegen die Brust zielte.

»Nein?« sagte er wieder. »Nein?«

Es gab keinen Zweifel – Tartuchin würde schießen, wenn ihm der Arzt nicht aus dem Weg ging. Und doch rührte sich Dr. Hansen nicht.

In diesen wenigen, kurzen Augenblicken wuchs der junge, schmächtige Arzt über sich selbst hinaus. Er hatte eine tödliche, entsetzliche Angst, die sein ganzes Inneres zusammenkrampfte, die Haut auf seinem Körper zusammenzog – aber nichts davon drang nach außen. Ruhig, still, mit verschlossenem und ein bißchen hochmütig wirkendem Gesicht stand er vor Tartuchin, der jetzt wieder zu lächeln begann – ein breites Grinsen, das den Tod ankündigte.

»Stoj!« hörte man von der Straße her eine laute, befehlende Stimme. Tartuchins Grinsen erstarrte, dann wandte er den Kopf halb zur Seite und blickte über die Schulter mit bösem Blick gegen die Stimme.

Sergej Denkow kam langsam näher. Die Maschinenpistole hielt er unter den Arm geklemmt.

»Was willst du?« fragte er auf russisch, als er zu Tartuchin und Dr. Hansen kam.

Tartuchin zuckte mit den Schultern.

»Los, was willst du?« fragte Denkow wieder, und seine Stimme hatte jetzt einen scharfen Klang bekommen.

»Er will mich nicht 'rein lassen«, sagte Tartuchin.

»Und du wolltest ihn umlegen, was?«

»Er ist ein Deutscher«, sagte Tartuchin.

»Kennst du ihn länger?« fragte Denkow leise, ohne den Blick von Tartuchin zu wenden, der jetzt unbehaglich zur Seite blickte.

»Los, kennst du ihn länger?«

»Ja.«

»Was hältst du von ihm?«

»Er ist ein Deutscher!«

»Und du bist ein Schwein!« zischte Denkow. »Du bist um keinen Deut besser als die Deutschen. Was hat er dir getan? Was hat er einem von uns getan? Nichts! Er hat unsere Bauern geheilt, als sie krank waren, und wenn ich mich recht erinnere, hat er auch dich einmal verbunden. Und du willst ihn töten! Verschwinde. Los, hau schon ab!«

Tartuchin trollte sich schweigend, mit einem bösen verbissenen Gesicht davon.

»Danke«, sagte Dr. Hansen aufatmend.

»Schon gut«, sagte Denkow, noch vor Wut kochend. »Geh mir jetzt aus dem Weg.«

»Was wollen Sie tun?«

»Du sollst mir aus dem Weg gehen!«

Dr. Hansen trat beiseite und sagte: »Wenn Sie nicht gekommen wären …«

Denkow, der an ihm vorbei in die Scheune treten wollte, blieb stehen, drehte sich zu ihm und sah ihn lange an. Dann sagte er: »Dann wären alle die …«, mit dem Kopf zeigte er gegen die Scheunentür, hinter der die Verwundeten lagen, »… alle die tot. Ich weiß. Sehr oft kommt niemand dazu, um es zu verhindern. Es gibt solche und solche. Bei euch und bei uns. Kommen Sie mit!«

Die Verwundeten kamen in Gefangenschaft, Dr. Hansen an ihrer Spitze.

Auch das Haus der alten Marfa überrollte der Krieg. Die Panzer fuhren in einer langen, dröhnenden Kolonne daran vorbei. Tanja stand am Fenster und sah mit leeren Augen auf die Stahlkolosse. Sie haben mir meinen Michael genommen, dachte sie in grenzenloser Traurigkeit. Sie haben mir das Glück genommen … ich hasse sie … ich hasse sie!

Aber sie wußte eigentlich nicht, wen sie damit meinte. Die Deutschen? Die Russen? Den Krieg zwischen den Deutschen und Russen? Ihr Schicksal – oder ihre Schwäche und ihre Liebe dem deutschen Soldaten gegenüber?

Sie blickte sich nicht um, als sie hinter sich die Tür aufspringen hörte und ein eisiger Luftzug ins Zimmer kam. Aber auch ohne hinzusehen, wußte sie mit Sicherheit, wer gekommen war. Einen kleinen Augenblick lang hatte sie die unsinnige Hoffnung, sie würde sich irren. Aber als sie Denkows Stimme hörte, wußte sie, daß es vergeblich war zu glauben, sie könnte ihm entkommen.

»Du?« fragte Denkow heiser.

Tanja lehnte die Stirn gegen die eisige Scheibe.

»Dreh dich um!«

»Warum? Du bist gekommen, um mich zu töten. Also tu's!«

»Was tust du hier bei den Deutschen?« Denkows Stimme zitterte. Sie hörte seine Schritte näher kommen. Seine Hand riß sie herum.

»Seit wann ist Marfa eine – Deutsche?« fragte sie spöttisch.

Er starrte schweigend, mit harten, unbarmherzigen Augen in ihr Gesicht.

»Tu's schon – frag nicht soviel!« sagte sie.

»Du bist ihm nachgelaufen, was? Du hast hier mit ihm geschlafen, während wir …« Jetzt schüttelte er sie und schrie ihr ins Gesicht: »Warum hast du das getan? Warum?«

»Ich liebe ihn«, sagte Tanja schlicht. Sie schloß die Augen und flüsterte: »Kannst du das nicht verstehen?«

Denkow zögerte. Er wußte nicht, was er tun sollte. Draußen vor der Tür und durch das eroberte Dorf stürmten johlend und lachend seine Leute. Fanatische Hasser, in diesen Augenblicken blutgierige Bestien, die nach versteckten deutschen Soldaten suchten. Jetzt haßte er sie beinahe und haßte seine Aufgabe, sie zu befehligen. Er war ein Offizier. Er war nicht einer von denen. Es stimmte: Man mußte die Deutschen hassen, wenn man sie vertreiben wollte – aber man durfte keinen Augenblick vergessen, ein Mensch zu sein. Man mußte die Schuldigen bestrafen, je härter, desto besser. Aber man durfte nicht ehrlos werden. Die Schuldigen … dachte er. Auch Tanja war schuld!

Die Tür ging krachend auf, und der riesige Mischa Serkonowitsch Starobin stürzte in das alte Haus. Seine Augen leuchteten, als er mit breitlachendem Gesicht schrie: »Genosse Oberleutnant – die Deutschen sind erledigt! Wir haben sie vertrieben – wir können die Wälder verlassen!« Erst jetzt sah er Tanja und blieb mit offenem Mund stehen. »Du?« fragte er langgedehnt.

Ein Schauer flog über Tanjas Rücken, als sie dieses Du hörte. Sie war bereit zu sterben, aber hinter diesem Laut verbarg sich nicht nur der Tod.

»Was willst du mit ihr machen, Genosse Oberleutnant?« fragte Starobin. Er wischte sich über das schweißnasse Gesicht.

»Was soll man mit ihr machen?« fragte Sergej.

»Sie ist eine Verräterin!« schrie Starobin, aber seine kalt abschätzenden Augen teilten die Empörung, die er spielte, nicht mit.

»Ja …«, sagte Denkow schwer, »ja …«

»Gib sie mir!« sagte Starobin.

Tanja wich langsam an die Rückwand des Zimmers. Die Blicke der vier Augen, die sich an sie hefteten, waren das Grauenhafteste, was sie je gesehen hatte. »Nein«, flüsterte sie, »– tötet mich, aber nicht das, nicht das!«

»Gibst du sie mir?« fragte Starobin wieder. »Los, gib sie mir – die Sache ist klar, sie ist eine Verräterin!«

»Ja. Die Sache ist klar«, sagte Denkow langsam, drehte sich um und ging aus dem Zimmer.

In diesem Augenblick setzte der deutsche Gegenstoß ein.

Es war ein magerer Angriff – aber er wurde geführt mit der verzweifelten Wut der Soldaten, wie sie nur aus Angst und Furcht und aus Selbsterhaltungstrieb entspringen kann. Mit leichter Flak auf Selbstfahrlafetten, mit einigen Sturmgeschützen und Panzerabwehrkanonen, mit geballten Ladungen und Handgranaten gingen die ungenügenden Reserven und die in Eile gesammelten, versprengten Verbände gegen die Russen vor. Es war klar: Wenn es den Russen gelang, hier durchzubrechen, den Einbruch zu erweitern und nach Westen vorzustoßen, dann bestand nicht nur Gefahr für Einkesselung großer deutscher Verbände, sondern auch Gefahr für die ganze deutsche Front. So schickte sogar die Luftwaffe einige Sturzkampf-, Schlacht- und Jagdflugzeuge zur Unterstützung der in schwere Kämpfe verwickelten Infanterie.

Die Sowjets gingen zurück. Einige Panzer brannten. Die restlichen walzten die alten Wege nach hinten noch einmal flach, überrollten die ehemalige deutsche Stellung und verschwanden hinter den Wäldern, von wo sie gekommen waren. Schwere Straßenkämpfe um die verlorenen Ortschaften entbrannten, oft von Haus zu Haus in verbissenen Nahkämpfen. Die fanatischen, doch unausgebildeten Partisanen des Oberleutnants Denkow hatten schwere Verluste – bis sich die restlichen wieder in die schützenden Dickichte und in die Erdbunker des Waldes von Gorki verkrochen.

Starobin und seine Gruppe blieb am Leben und schleppte Tanja mit – hinter die alten russischen Linien.

Die verlorenen deutschen Stellungen wurden wieder besetzt und von der sowjetischen Infanterie gesäubert. So war das Ganze wie ein Spuk, der aus der Dunkelheit der Nacht hervorgebrochen war, beim Einbruch der nächsten Nacht wieder zerstoben, nur die ausgebrannten russischen Panzer und einige deutsche Sturmgeschütze sowie über die Ebene verstreute Leichen zeigten, daß vor kurzem hier eine wütende Schlacht getobt hatte.

Krüll hatte Glück.

Als der deutsche Gegenangriff begann, lag er in einem flachen Granattrichter im ehemaligen Niemandsland zwischen der deutschen und der russischen HKL. Bis dorthin hatte er sich langsam, nach und nach vorarbeiten können, kriechend, Meter um Meter, immer weiter über die Ebene, die ihm keine Deckung bot. Er hatte sehr viel Umsicht und Geduld gezeigt – aber nicht aus bewußter Überlegung, sondern einfach aus Angst. Er hatte Angst, den Kopf zu heben und um sich zu sehen. Er hatte Angst aufzustehen und loszurennen, wie es die anderen getan hatten. So kroch er – und das rettete ihm das Leben.

Als die russischen Panzer und die Infanterie vor dem deutschen Angriff zurückzufluten begannen, lag er in seinem Trichter und spielte den toten Mann. Ab und zu hörte er hastende Schritte und aufgeregte Worte der Russen, die an ihm vorbeiliefen, um ihre alten Stellungen zu erreichen. Er rührte sich nicht, er rührte sich auch dann nicht, als nahe an ihm ein rasselndes, dröhnendes Ungetüm vorbeifuhr, ein Panzer, und alles in ihm vor Angst und vor Verlangen aufzuspringen und blind davonzulaufen, schrie; doch die gleiche Angst lähmte ihn, ließ ihn kaum atmen und blieb in seinen Knochen auch dann stecken, als sich das Motorengebrumm des Panzers entfernt hatte und schließlich verstummt war.

Er war ein glaubwürdiger Toter: Seine Tarnjacke war voller Blut – aber das Blut stammte nicht von ihm, sondern von Unteroffizier Kentrop. Eine deutsche Granate hatte diesem den halben Brustkorb weggerissen, als die eigene Artillerie Sperrfeuer schoß. Mit letzter Kraft hatte er sich in einen Granattrichter geschleppt – und dort fand ihn Krüll, auf seinem Kriechgang über das freie Feld. Kentrop lebte noch, aber Krüll, der Deckung suchte, schob ihn auf den Rand des Trichters und blieb so eine Weile, halb unter dem verblutenden Kentrop verborgen liegen – bevor er wieder weiterzog.

Als die letzten Russen vorbeigezogen waren und lange, lange nichts zu hören war, wagte er endlich den Kopf zu heben.

Die Ebene schien leer zu sein, und die erste Dämmerung färbte den Schnee und den Himmel grau. Er wartete, bis es Nacht war, dann kroch er weiter. Er hatte keine Schmerzen mehr in den gefühllos gewordenen Füßen, wie noch zwei oder drei Stunden vorher. Er war ruhig, und die Angst war von ihm gewichen. Aber er stand nicht auf, um gegen die nahen deutschen Gräben zu laufen. Er kroch weiter – und als er endlich ankam und aufstehen wollte, von einigen Landsern des Sturmbataillons umringt, brachte er es nicht mehr fertig. Er sackte wieder in sich zusammen und flüsterte mit gefühllosen, harten Lippen erstaunt: »Was ist denn, was ist los?«

»Nichts ist los, du bist wieder zu Hause, Kumpel!« sagte ein Landser und gab ihm zu trinken. Schnaps. Es rann wie Feuer durch Krülls Adern, und er versuchte noch einmal aufzustehen. Aber es ging nicht. Seine Beine wollten ihn nicht tragen.

Krüll hatte eine Nacht und einen Tag in der unbarmherzigen Kälte verbracht. Als er zurück ›nach Hause‹ kam, waren seine beiden Füße erfroren, einer mußte später amputiert werden.

Auch Deutschmann und Schwanecke entkamen dem Gemetzel.

Als die russischen Panzer in der Ferne, gegen Barssdowka verschwanden und die russische Infanterie in immer neuen Wellen hinter ihnen gegen Westen zog, krochen sie tiefer in den Wald und versteckten sich in einer Bodenmulde, die sie notdürftig vom Schnee säuberten.

»So«, sagte Schwanecke, »das hätten wir geschafft. Hier kann man es aushalten.«

»Wie lange?« fragte Deutschmann.

»Ewig.« Schwanecke zuckte mit den Schultern. »Bis die Luft rein ist. Du hast gesehen, die Russen sind durchgebrochen, und wenn sie schlau genug sind, dann rollen sie weiter, bis Berlin – – –«

»Mach dich nicht lächerlich!«

»Was glaubst du denn? Nee, nicht ganz bis Berlin«, verbesserte er sich dann, »unsere sind auch nicht dumm, und die Russen sind nicht sehr oft schlau, verstehst du? Sie sind große Krieger, aber hier oben, verstehst du –«, er zeigte gegen den Kopf, »– hapert es manchmal. Sie hauen drauflos, immer 'ran wie Blücher, boxen sich durch und fallen wie die Fliegen – wo ein schlauer General so 'ne Umgehung machen würde und einen Kessel und so, verstehst du?«

»Ich bin kein General«, sagte Deutschmann überdrüssig. Er wollte Ruhe haben, er wollte nachdenken, aber dieser Schwätzer mußte immer reden und reden … Warum war er eigentlich hier?

»Nee – und du wirst es auch nie werden«, sagte Schwanecke behaglich. »Du kannst höchstens ein prima Professor werden oder sonst was – aber nie ein General.«

»Das ist mir auch recht.« Deutschmann fischte in seinen Taschen nach Zigaretten, holte eine heraus und wollte sie anzünden. Doch ein heftiger Schlag auf die Hand schleuderte die Zigarette und die Streichhölzer in den Schnee, und als er überrascht aufblickte, sah er gerade in Schwaneckes böse, drohende Augen.

»Bist du verrückt – du Idiot?! Hier rauchen, was?«

»Na, hör mal …«, begann Deutschmann, aber Schwanecke schnitt ihm das Wort ab.

»Schnauze!« Und nach einer Weile unbehaglichen Schweigens: »Siehst du – deshalb kannst du nie ein General werden, obwohl es auch dämliche Generäle gibt, und eine Menge dazu! Wenn du hier qualmst … na, was glaubst du?«

»Jaja …«, sagte Deutschmann. Schwanecke hatte recht. »Was wollen wir jetzt machen? Was hast du vor?«

»Abwarten«, sagte Schwanecke lakonisch. »Wenn die Russen weit genug vorgestoßen sind, dann kommen die Trosse, verstehst du? Alte Knacker, die keine Wut im Bauch haben, so wie die vorne oder die Scheißpartisanen. Dann erkunden wir die Lage, und wenn sie günstig ist, heben wir die Hände hoch und ergeben uns. Was meinst du, wie so'n alter Troßsoldat stolz ist, wenn er zwei Gefangene macht?! Kennst du die Internationale?«

»Nein. Warum?«

»Ich kenn' sie, aber nicht ganz. Es wird genügen. Verstehst du: Wenn wir mit erhobenen Händen losmarschieren, singen wir die Internationale. Dann müssen die Brüder strammstehen – und können nicht schießen, ist doch klar, oder?«

Schwanecke grinste breit, und Deutschmann konnte sich eines Lächelns nicht enthalten.

Doch etwas später, gegen Nachmittag, wurde die Lage ungemütlicher. Von der Front her kam immer heftiger werdendes Schießen, das sich rasch näherte. Jetzt hörte man auch wieder Panzer, und in die alten russischen Stellungen schlugen einige deutsche Granaten.

»Ich werd' verrückt«, kommentierte Schwanecke diese veränderte Lage überrascht. »Soll das heißen, daß die Kumpels einen Gegenangriff machen?«

»Sieht so aus«, sagte Deutschmann trocken.

Als am Ende auch noch russische Infanterie – Schwanecke kroch an den Waldrand, um die Lage zu erkunden – gegen den Wald zog, wurde auch er nervös. »Nichts wie ab!« sagte er. »Wir müssen tiefer 'rein, sonst – erwischen sie uns – und das wäre nicht gut. Jetzt sind sie erst recht wütend, wo sie zurückgejagt werden. Wer hätte das gedacht –!«

Sie brachen auf.

Der Wald war still, tief verschneit, ab und zu polterte Schnee von den Zweigen und schlug dumpf zu Boden. Von weit her, wie aus einer anderen Welt, hörte man den Lärm der Schlacht. Der Atem dampfte vor ihren Gesichtern, als sie sich keuchend und vorsichtig, immer wieder verharrend und horchend, durch den Schnee und das Unterholz den Weg bahnten.

Es dämmerte.

»Halt –!« sagte Schwanecke plötzlich, der vorausging, und blieb wie angewurzelt stehen.

»Was gibt's?«

»Ein paar Hütten, glaub' ich«, gab Schwanecke flüsternd zurück und ging langsam in die Knie. Deutschmann tat es ihm gleich – und nun sah auch er durch die Zweige hindurch die dunklen Umrisse einiger, kaum aus dem Schnee ragender Hütten auf einer kleinen Lichtung.

»Ob sie bewohnt sind?«

»Wie soll ich das wissen. Man müßte nachsehen …«

»Na, denn los!« sagte Deutschmann, und Schwanecke sah ihn überrascht an. Aber er sagte nichts. Kriechend arbeiteten sie sich weiter vor, bis an den Rand der Lichtung. Jetzt konnten sie die drei oder vier Hütten gut übersehen.

Nichts rührte sich. Es war alles stumm, sie hörten nur ihr eigenes Atmen und die dumpfen, schnellen Herzschläge.

»Vielleicht gibt's was zu fressen dort?« sagte Schwanecke.

»Wir haben ja noch etwas.«

»Eine kleine Reserve würde nicht schaden.«

»Du glaubst doch selbst nicht … wie soll es hier was zu fressen geben –? Aber vielleicht –«

»Was?«

»Vielleicht – wenn die Hütten unbewohnt sind – könnten wir hier übernachten.«

»Na, ich weiß nicht …«, sagte Schwanecke zweifelnd.

»Warum nicht? Hier draußen können wir uns ganz schöne Erfrierungen holen.«

»Das stimmt.«

»Also los!«

Von Deutschmann war die Lethargie, die sich seiner gestern bemächtigt hatte, gewichen. Mit Gewalt versuchte er immer wieder, die Gedanken an Julia und ihren Tod zu verscheuchen. Und jetzt war es ihm gelungen. Er mußte am Leben bleiben. Er hatte eine Aufgabe. Er glaubte, den Weg vor sich zu sehen – oder zumindest ahnte er ihn: Julia ist gestorben, doch ihr Tod verpflichtete ihn mehr, als es alles andere zu tun vermochte. Man konnte sie nicht mehr zum Leben erwecken – aber man konnte diesem Tod wenigstens einen Sinn geben. Er mußte am Leben bleiben, koste es, was es wolle, und dann, später einmal, seine Arbeit dort fortsetzen, wo er aufgehört hatte. Der Weg über die Gefangenschaft war bitter und hart – und gefährlich. Aber er schien ihm mehr Chancen zu versprechen als eine Rückkehr hinter die deutschen Linien. Wie viele von den Kameraden waren gestorben? Es fröstelte ihn, wenn er daran dachte, wie sie fielen und als graue Haufen liegenblieben …

Vorsichtig, darauf achtend, daß er keinen Zweig berührte, schlich er aus dem Wald auf die Lichtung, seine Tasche (eine hatte er bei der Flucht durch den Wald weggeworfen), hinter sich herschleppend. Schwanecke folgte ihm, die Maschinenpistole im Anschlag.

Die Hütten waren verlassen.

Als sie die Tür zu der ersten aufstießen, blieb Schwanecke wie angewurzelt stehen. »Hier war noch vor kurzem jemand«, sagte er, in die Luft schnuppernd. »Vor zwei, drei Stunden, vielleicht vor einer.«

»Wie …?«

»Ich rieche es«, sagte Schwanecke bestimmt. »So was rieche ich immer.«

Die Dämmerung war jetzt tiefer geworden. Als sie aus der ersten Hütte traten, in der sie nichts Eßbares finden konnten, waren die Umrisse der drei anderen kaum noch zu erkennen. In der zweiten glühte noch ein Gluthäufchen unter der Asche, doch auch hier fanden sie weiter nichts als drei oder vier leere Kornsäcke.

Als sie um die Ecke der dritten und der größten bogen und an die Vorderseite kamen, fanden sie Tanja.

Schwanecke, der jetzt voranging, mit der Maschinenpistole unter dem Arm, wachsam, doch bereits etwas sorgloser geworden, stutzte.

»Mensch – da liegt jemand«, flüsterte Schwanecke über die Schulter und hob den Lauf der Maschinenpistole an. Deutschmann trat neben ihn, und jetzt sah auch er einen ausgestreckten menschlichen Körper, der mit dem Gesicht nach unten im schmutzigen Schnee vor der verschlossenen Tür der Hütte lag.

»Mensch …«, sagte Schwanecke, »Mensch, Doktor …«

Jetzt begannen beide zu laufen.

»Mensch, Doktor …«, sagte Schwanecke noch einmal, »Mensch, Doktor, eine Frau …«

Die langen schwarzen Haare der Toten lagen wie ein seidiger Kragen um ihren weißen Nacken. Ihre Arme waren entlang des Körpers ausgestreckt mit den Handflächen nach oben, die Finger gekrümmt, so als wollte sie sich in den letzten Sekunden ihres Lebens an irgend etwas festklammern. Quer über den Rücken der dicken Wattejacke lief die Spur des Todes: vier kleine, runde Löcher, die die Kugeln einer Maschinenpistole in den gesteppten Stoff gefetzt hatten.

Schwanecke hatte sich als erster gefaßt. Er beugte sich über die Tote, packte sie an der Schulter und drehte sie behutsam um, als glaubte er, jede Berührung könnte ihr noch wehtun.

Deutschmann schwankte. Er trat ganz nahe an das Mädchen heran und sah ihr ins Gesicht. Ihre Züge waren gelöst, und fast schien es, als ob sie lächelte. Die wächserne Blässe ihres hübschen Gesichts stand in einem eigenartigen Kontrast zu ihrem schwarzen Haar. Ihre vollen Lippen waren leicht geöffnet, so, als ob sie noch im Todesschmerz den Namen geflüstert hatte, an den sie in den letzten Stunden immer wieder gedacht hatte: Michael …

»Tanja … Tanjascha …«, keuchte Deutschmann.

»Wie? Kennst du sie?«

Deutschmann nickte.

»Ist das vielleicht –?«

»Ja.«

»Mensch«, sagte Schwanecke, »Mensch und so …«

Deutschmann stand wie angewurzelt. Dann wich er langsam, wie unter einem schrecklichen Zwang, zurück, mit leichenblassem Gesicht und weit offenen, entsetzten Augen. Sein Mund öffnete sich, doch er brachte keinen Laut heraus. Immer wieder starrte er auf die vier Ausschüsse, die die Watte wie aufgeplatzte Knospen eines Baumwollstrauches aus der Jacke getrieben hatten, und auf den Zettel, der mit einer verrosteten Nadel auf der Brust Tanjas befestigt war.

»Das sind vielleicht Schweine!« sagte Schwanecke böse und beugte sich nieder, um die Schrift auf dem Papier zu enträtseln. Auf russisch stand es dort ›Deutsche Hure‹, er verstand es nicht und fragte: »Was steht da, kannst du Russisch lesen …?« Er sah sich nach Deutschmann um. »He, Doktor, was ist los?«

Deutschmann riß sich zusammen. Seine Glieder waren steif und bleischwer. Sie schmerzten ihn bei jeder Bewegung, sein ganzer Körper schmerzte ihn, aber er durfte nicht … er durfte nicht zusammensacken, er mußte …

»Komm«, sagte er mit einer Stimme, bei deren Klang es Schwanecke kalt über den Rücken lief, »komm!« Nur das. Aber der andere wußte, was er meinte, und lehnte seine Maschinenpistole gegen die Wand.

Sie nahmen das Mädchen, das nicht lange tot sein konnte, denn ihr Körper war noch nicht steifgefroren, und trugen es behutsam in die Hütte.

»Ich kann das nicht mitansehen …«, murmelte er wütend. »Ich kann das nicht mitansehen – die Schweine! Die verfluchten Schweine!«

Sie begruben Tanja im Lehmboden der zweitgrößten Hütte. Eine alte, verrostete Schaufel, die sie gefunden hatten, war ihr einziges Gerät. Sie wechselten sich ab, und es dauerte fast drei Stunden, bis das Loch groß und tief genug war. Die ganze Zeit über sprachen sie kein Wort.

Berlin:

Es war wieder einmal Fliegeralarm, und die Kranken wurden in den Keller gebracht. Dr. Kukill saß an Julias Trage, tief über sie gebeugt, sie unverwandt ansehend.

»Haben Sie es ihm gesagt«, flüsterte Julia mit geschlossenen Augen.

»Nein, noch nicht«, sagte Dr. Kukill. »Ich habe es versucht, aber ich konnte keine Verbindung bekommen. Es ist sehr weit …« Irgend jemand stöhnte. Der Keller war überfüllt, es roch nach Medikamenten, Desinfektionsmitteln, kranken Körpern, zwischen den eng aufgestellten Behelfsbetten huschten lautlos die Schwestern, an den Wänden saßen zusammengepreßt die Gehfähigen. Ab und zu, wenn die Bombenabwürfe näher lagen, ging durch die dicken Mauern ein leichtes Zittern. Die Menschen starrten dumpf vor sich hin, jemand betete.

»Werden Sie's noch einmal versuchen?« fragte Julia und öffnete die Augen.

»Ja«, sagte Kukill. »Sprechen Sie nicht zuviel. Versuchen Sie zu schlafen.«

»Ich fühle mich schon viel wohler«, sagte Julia und sah ihm gerade ins Gesicht. »Schon viel, viel wohler. Wenn er kommt, bin ich wieder gesund. Er kommt doch bald, Herr Kukill?«

»Ja«, sagte Dr. Kukill, »er kommt bald.«

Sie saßen in der hintersten Hütte, der, die dem Wald am nächsten lag. Sie hatten kein Feuer angezündet aus Angst, sich zu verraten. Es war kalt, aber nicht so kalt wie draußen. Oder bildeten sie sich das nur ein?

Schwanecke hielt seine Maschinenpistole auf den Knien und polierte sie liebevoll mit einem Stück Tuch, obwohl die Dunkelheit so tief war, daß er nichts sah. Seine Finger tasteten geübt über den kalten Stahl, ab und zu sah er in die Richtung, wo Deutschmann saß.

»Wir müßten wenigstens ein bißchen pennen«, sagte er. »Wie lange geht das jetzt schon.«

»Es ist die zweite Nacht«, sagte Deutschmann mit seiner toten, leeren und seltsam wachen Stimme.

»Willst du nicht auch ein bißchen pennen?«

»Nein. Du kannst schlafen. Ich werde aufpassen.« Und nach einer Weile, als Schwanecke die Augenlider schwer über die Augen fielen und sein Bewußtsein in eine weiche, bleierne Grundlosigkeit zu versinken begann: »Du wirst allein weitergehen müssen. Ich gehe zurück.«

»Was?« Schwanecke schreckte hoch.

»Ich gehe zurück.«

»Wegen …?«

»Auch.«

»Ja«, sagte Schwanecke müde. »Ich verstehe, Kumpel.«

»Schlaf jetzt«, sagte Deutschmann.

»Jaja. Ich bringe dich hin, Kumpel.«

»Wohin?«

»Die Schweine!« sagte Schwanecke murmelnd und zusammenhanglos. »Ich verstehe dich. Ich bring' dich so weit, daß du 'rüber kannst.«

»Das ist nicht notwendig.«

»Du kommst – nicht mal –«, murmelte Schwanecke schon halb im Schlaf, »– du kommst nicht – mal – bis zum Waldrand – allein. Ich bring' dich hin, und halt den – Mund! Halt den Mund, Kumpel, halt – – –«

Er schlief ein.

Sie verbrachten die ganze Nacht und den darauffolgenden Tag in der Hütte. Am Nachmittag schlief Deutschmann einige Stunden lang einen schweren Schlaf der Erschöpfung. In der größten Hütte hatten sie ein Säckchen Sonnenblumenkerne gefunden. Während Schwanecke an der Wand unter dem Fenster lehnte und mit der Maschinenpistole auf den Knien Wache hielt, kaute er an den Kernen herum und spuckte die Schalen auf den Boden. Ab und zu sah er hinüber zu Deutschmann, der wie ein Toter, mit zwei alten Säcken zugedeckt, auf dem Dielenboden lag, und nickte vor sich hin. Einmal stand er auf und zog den verrutschten Sack bis unter das Kinn des Schlafenden. Er tat es seltsam verschämt, ungeschickt, doch seine großen, klobigen Hände waren zärtlich wie die eines Vaters, der sein Kind zudeckt.

»Ist 'n armes Schwein«, murmelte er, als er zurück zu seinem Platz unter dem Fenster ging, »ein verflucht armes, gescheites Schwein, ein Professor, aber ein armes Schwein …«

Kurz vor der Abenddämmerung brachen sie auf.

Die russische HKL war nur dünn besetzt. Es war bitter kalt und außer einigen weit auseinanderliegenden Posten saßen alle Soldaten in ihren Unterständen. Bei solcher Kälte griffen die Deutschen nie an. Nur die Russen. Und außerdem – wann hatten in den letzten Monaten die Deutschen schon von sich aus angegriffen? Wenn sie selbst angegriffen wurden, dann schlugen sie zurück, das stimmte, aber sonst? Dazu waren es auch zu wenige. Viel zu wenige! Wo sind eigentlich die großen Armeen, die großartig ausgerüsteten Menschenmassen aus dem ersten Kriegsjahr geblieben, wo es für sie nichts anderes gab, als immer weiter gegen Osten zu stürmen?

Jetzt waren die Germanskijs glücklich, wenn man sie in Ruhe ließ …

Deutschmann und Schwanecke lagen eng aneinandergepreßt in einem Trichter.

»Siehst du dort – den Panzer?« fragte Schwanecke flüsternd.

»Ja. Du meinst den abgeschossenen?«

»Ja. Der liegt bereits im Niemandsland. Bis dahin bringe ich dich. Dann mußt du selbst weitersehen.«

»Ja.«

»Denn los. Immer robben – den Arsch am Boden lassen … weiter!«

Schlangengleich, unhörbar, aus einer Entfernung von wenigen Metern kaum sichtbar, krochen die beiden Männer gegen die russischen Gräben und gegen die dunkle Silhouette des abgeschossenen Panzers im Niemandsland.

Der Schnee war von vielen Schritten festgetreten, die Luft war eisig und still, das Hemd klebte schweißnaß an Deutschmanns Körper, und über sein Gesicht rannen Schweißtropfen und zogen die Haut wie steifes Papier zusammen.

Der russische Graben.

Sie hatten eine Stelle gefunden, wo die Grabenränder von den Panzern eingedrückt wurden. Nun schlängelten sie sich langsam, Zentimeter um Zentimeter auf die andere Seite. Etwa zwanzig Meter seitwärts sahen sie eine kleine, dunkle Kuppe – den Kopf eines russischen Postens, der über den Grabenrand ins Niemandsland sah. Ein roter Punkt glühte von Zeit zu Zeit auf. Er raucht, dachte Schwanecke abgerissen, er raucht, der Hundesohn … weiß von nichts … ich könnte hinkriechen und ihn … er würde nichts hören …

Hinter ihm schabte Deutschmanns Körper über den Boden, ein Geräusch, das man meilenweit hören konnte, wie es den beiden schien.

Aber der Posten seitwärts rührte sich nicht, und dann verschwand sein Kopf hinter dem Grabenrand; sie krochen weiter, langsam, langsam … ich muß noch zurück, dachte Schwanecke kurz, noch einmal … es ist nicht mehr weit.

Noch fünfzig Meter bis zum dunklen Schatten des abgeschossenen Panzers. Noch vierzig.

Schwanecke verharrte, bis Deutschmann an seiner Seite lag. Dann drehte er das Gesicht zur Seite und preßte den Mund gegen Deutschmanns Ohr.

»Vielleicht Minen. Wir müssen aufpassen. Bleib genau hinter mir. Kapiert?«

Deutschmann nickte. Sein Atem ging keuchend und schnell.

»Also los!«

Sie krochen weiter. Schwanecke tastete mit den Händen den Boden vor sich ab. Hier lagen keine Minen. Aber vielleicht einen Meter weiter. Vielleicht auf diesem Buckel. Er mußte 'rum um den Buckel. Immer in den Mulden bleiben. Er mußte sich den Weg merken. Er mußte sich jede Bodenerhebung ins Gedächtnis einprägen. Wenn er zurückging, hatte er vielleicht nicht soviel Zeit, um auf Minen achtzugeben. Da –!

Er wartete wieder, bis Deutschmann auf seine Höhe gekrochen kam, und flüsterte: »Da – eine Mine.« Mit der Hand strich er über eine kleine Erhebung im Schnee, die sich in nichts von den anderen unterschied. »Ich rieche sie, verstehst du? Und da – rechts, wieder eine. Paß auf! Zwischendurch … weiter!«

Fünfundzwanzig Meter.

Wirre, zerschossene Reste eines sich nach links und rechts in die Nacht ziehenden Drahtverhaues. »Nicht berühren –!« flüsterte Schwanecke nach hinten, während er weiterkroch. Aber Deutschmann hörte ihn nicht. Sein Herz schlug in schnellen, bis hoch in den Hals reichenden Stößen. Er sah auf die vor ihm pendelnden Stiefelsohlen Schwaneckes, die manchmal in einem vorbeiziehenden Nebel verschwanden und wieder auftauchten, wenn er die Augen für zwei, drei Sekunden fest schloß und schnell aufriß. Bei dem Panzer werde ich ausruhen können, dachte er, bei dem Panzer – wie weit ist es noch dorthin? Die wenigen Meter bis zu dieser Stelle erschienen ihm eine Ewigkeit weit zu sein, so als würde ihn von dem dunklen, langsam immer größer werdenden Schatten in der Dunkelheit ein unermeßlicher Abgrund trennen.

Mit dem Gesicht stieß er gegen den kalten Stacheldraht und zuckte zurück. Er hatte ihn nicht gesehen, und plötzlich wurde er sich bewußt, daß er bereits einige Sekunden, die ihm sehr lange erschienen, nichts mehr gesehen hatte und wie durch eine tiefe Finsternis kroch. Ich muß mich zusammennehmen, dachte er mit zusammengebissenen Zähnen, ich muß …

Schwaneckes schattengleicher Körper wand sich zwischen den Drähten. Deutschmann blieb genau hinter ihm, manchmal berührte sein Körper einen Pfahl oder den Draht, dann war Schwanecke durch, drehte sich zurück, grinste, seine Zähne leuchteten weiß, er kroch weiter, und dann war auch Deutschmann halb draußen, der Panzer war jetzt ganz nahe, nur noch zehn oder fünfzehn oder zwanzig Meter: Dort würde er sich ausruhen können.

Er blieb mit einem Bein hängen und zog ungeduldig an, um freizukommen. Das Klappern leerer Konservendosen, die im Drahtverhau hingen, war in der stillen Nacht laut wie plötzliche Gewehrschüsse. Schwanecke drehte sich erschrocken um: »Idiot –! Leise –!« Aber Deutschmann hörte ihn nicht; verzweifelt zerrte er an dem Draht, wo sich seine Hose verfangen hatte, die Konservendosen klapperten, er kam los, kroch weiter – und in diesem Augenblick erwachte die Front aus ihrem scheinbaren, sprungbereiten Schlaf.

Ein russisches MG begann zu rattern, in den Gräben wurde es lebendig, man hörte heisere, aufgeregte Rufe, trampelnde Schritte, das Schießen wurde dichter, es kam von allen Seiten auf sie zu. Ein Granatwerfer. Leuchtkugeln zischten empor und erhellten das Vorfeld mit einem weißen, gleißenden Licht. Und dann begann es auch auf der deutschen Seite, aus den Bunkern krochen Landser und eilten in die Gräben – Schwanecke sah dieses Bild so lebendig vor sich, als wäre er liegend mittendrin – deutsche Leuchtkugeln, das rasende Rattern eines MG 42, Gewehrgranaten – und mittendrin die beiden Männer, die sich, so tief es ging, in den Schnee drückten.

»Ruhe – nur Ruhe!« zischte Schwanecke nach hinten. »Es geht vorbei, die haben nichts gesehen – nur Ruhe – Ruhe!«

Leuchtspurmunition des deutschen MGs streute rasende Perlenschnüre über sie hinweg, zwei – drei – vier Minen schlugen ganz nahe ein, neue Leuchtkugeln, aber es war, als wäre das Feuer zögernder geworden, weniger wütend. »Nur Ruhe – Ruhe –!« zischte Schwanecke zu dem in einer Bodenmulde liegenden Deutschmann. »Der Feuerzauber geht vorbei …«

Hinter dem Panzer konnten sie ausgezeichnete Deckung finden. Es galt nur, bis dahin zu kommen und dort abzuwarten.

Jetzt belebte sich das Feuer wieder, wurde wütender, in der Ferne hörte man dumpfe Artillerieabschüsse. Und wahrscheinlich hatten die Russen doch etwas gesehen, denn das Feuer lag immer besser, es konzentrierte sich immer genauer dorthin, wo sie lagen, und es konnte nur noch Augenblicke dauern, bis es sie erwischte. Schwanecke drehte den Kopf zurück, schrie: »Auf – Panzer –!« sprang wie von einem Katapult abgeschossen auf und durchraste mit wenigen, großen Sätzen die Entfernung zum Panzer und warf sich dort nieder, wühlte sich in den Schnee unter dem Stahlkoloß, heftig atmend, doch sich bereits einigermaßen sicher wähnend. Es mußte schon ein Artillerievolltreffer kommen, wenn es ihn hier erwischen sollte!

Dann sah er zurück.

Jetzt sprang auch Deutschmann hoch. Tief gebückt, ein laufender, keuchender Schatten, Leuchtspurmunition zischte an ihm vorbei, zwei, drei Minenexplosionen, jetzt war er bereits ganz nahe, noch einige Schritte – und nun sah Schwanecke, er sah es richtig, er bildete sich das nicht nur ein, er sah, wie die rötliche Linie eines Phosphorgeschosses durch Deutschmanns Kopf schlug, in der Augenhöhe, er sah, wie es Deutschmann mitten im Satz zurück – und zugleich steil in die Höhe riß, wie immer bei Kopfschüssen, gleichzeitig schlug ganz in der Nähe eine Mine ein, umgab Deutschmann mit einer Schneewolke und schleuderte Schwanecke Schnee und Dreck ins Gesicht.

Er wischte sich die Augen aus, fuhr sich mit der Hand verzweifelt über das Gesicht und rief: »Ernst – he – Professor – Professor!«

Und wieder: »Professor – Professor –!«

Nichts.

Schwanecke kroch zurück, schnell, auf Knien und Ellbogen, sich nicht mehr um die Hölle um sich kümmernd.

Deutschmann stöhnte. Lallend, kaum verständlich kamen heisere, glucksende Laute aus seinem weit aufgerissenen Mund: »Kopf – Karl – Karl –!« Und nun schrie er laut, gedehnt, schrill: »Karl – Karl –!«

»Ja – ich bin hier – ich bin hier – ich bin hier!« keuchte Schwanecke und sah entsetzt auf den Blutbrei oberhalb Deutschmanns Mund. Es gab keine Nase mehr, keine Augen, keine Augenbrauen, nur Fleischfetzen, Knochensplitter, und mitten daraus kamen pfeifende, gurgelnde Laute und lallende, unverständliche Worte.

Schwanecke sah sich verzweifelt um, richtete sich dann kurzentschlossen auf, packte Deutschmann unter den Armen und zog ihn gegen den Panzer auf die den russischen Gräben abgewandte Seite. Deutschmann schrie, und sein Schreien schnitt wie mit tausend Messern in Schwaneckes Gehirn, er sah auf Deutschmanns schleifende Beine und sagte sich: »Auch das – auch das –! Mein Gott!«

Deutschmanns linkes Bein schleifte ganz verdreht und viel länger als das rechte hinter dem Körper. Unter dem Knie war das Hosenbein zerfetzt und blutig.

Dann lagen sie halb unter dem Panzer.

»Ich bringe dich zurück, Doktor, Professor, ich bringe dich zurück«, keuchte Schwanecke, »keine Bange, ich bring' dich zurück!«

»Bein – was ist – mein Bein …!«

»Dich hat's ein bißchen erwischt, Professor, wart mal!«

»Bein – ich – ich – ich – – –«

Schwanecke schnallte mit fliegenden Händen Deutschmanns Koppel los und band das zerschmetterte Bein oberhalb des Knies ab. Dann riß er das zerfetzte Tuch der Hose auseinander und schloß für einen Augenblick die Augen, als er die schreckliche Wunde sah: Deutschmanns Bein hing nur noch an zwei, drei Hautfetzen. Seine Kopfwunde konnte warten. Aber dies hier – er konnte verbluten … Er sagte: »Ich bring' dich zurück, Professor, is' nicht so schlimm, Professor, is' halb so schlimm, ich bring' dich zurück, keine Bange!«

»– Ja – nicht du mußt – du mußt – 'rüber …«

»Halt jetzt die Klappe!«

Verbandspäckchen! Wo war das Verbandspäckchen?

»Tut's weh, Professor?«

»Ja – die Augen …«

Das Feuer der russischen Schützen konzentrierte sich auf den Panzer. Aber Schwanecke kümmerte sich nicht darum. »Die Augen, bloß der Luftdruck«, log er, »is' bloß der Luftdruck, du kennst das, Professor, wir kennen das, is' doch klar!« und während er sprach, holte er aus der Tasche ein verstecktes Klappmesser, das er bei dem Zimmermannstrupp organisiert hatte, er wandte kein Auge ab von Deutschmanns Bein, als er das Messer aufklappte, er sagte: »Nur verbinden, Professor – keine Bange, is' gleich fertig, dann bring' ich dich zurück zu den unseren …«

»Die Augen – die Augen –«, wimmerte Deutschmann.

»Ja – gleich«, sagte Schwanecke, setzte das Messer an und schnitt mit zwei, drei schnellen, starken Schnitten die Fleisch- und Hautfetzen durch, an denen Deutschmanns Bein hing.

Deutschmann schrie. Schwanecke glaubte, noch keinen Menschen so schreien gehört zu haben, aber es war schon vorbei, und er sagte beruhigend: »War bloß 'n Hautfetzen, Kumpel, bloß 'n Hautfetzen, mußte weg, verstehst du, verstehst du … ich … gleich ist's vorbei!«

»Ja – ja – die Augen …«, stöhnte Deutschmann.

Schwanecke verband den Beinstumpf so gut er konnte, dann nahm er sein eigenes Verbandspäckchen und machte sich an Deutschmanns Kopfwunde, die fast aufgehört hatte zu bluten. Es war aus, ein Blinder konnte sehen, daß es mit Deutschmanns Augen vorbei war, weg, herausgerissen, die Nasenwurzel zerschmettert, der Stirnknochen, es war ein Wunder, daß kein Gehirn herauskam, aber vielleicht ging die Wunde nicht so tief, solche Sachen sahen im ersten Augenblick immer schlimmer aus, als sie waren, klar, vielleicht …

Als er fertig war, richtete er sich halb auf und brüllte gegen die deutschen Linien: »Nicht schießen – nicht schießen! He – ihr Idioten – nicht schießen!« Er brüllte es immer wieder, bis das Feuer von den deutschen Gräben wirklich aufhörte, und dann schrie er: »Feuerschutz –! Hört ihr – Feuerschutz-!«

Sie gaben ihn.

Er lud den jetzt ohnmächtigen Deutschmann auf die Schulter, stand schwankend auf, beugte sich noch einmal herunter und hob auch Deutschmanns abgeschnittenes Bein auf und klemmte es unter den Arm.

Dann lief er gegen die deutschen Gräben.

Er war mitten auf dem Weg, der taghell erleuchtet war von immerfort aufsteigenden Leuchtkugeln, als ihm plötzlich schien, daß irgend etwas fehlte, und es dauerte eine Zeitlang, bis er wußte, was es war:

Das Feuer war verstummt. Die Front war totenstill, nur die hohlen, kurzen Abschüsse der Leuchtpistolen unterbrachen ab und zu das Schweigen.

Gut so –, dachte er grimmig. In Ordnung. Gut so.

Langsam, Schritt für Schritt, ging er weiter durch die taghell erleuchtete Nacht, hochaufgerichtet, und warf einen huschenden, unförmig-veränderlichen Schatten auf die weiße Schneefläche. Er kümmerte sich nicht um Minen. Vielleicht – vielleicht wünschte er sogar, auf eine zu treten. Es war aus. Er war auf dem Wege zurück. Er ging in seinen Tod, er wußte es. Aber er ging weiter. Er tat es, obwohl er glaubte, daß der Mann, den er trug, nicht am Leben bleiben würde. Vielleicht auch war er bereits tot – genauso tot wie dieses Bein, das er unter dem Arm geklemmt trug. Aber er hatte es ihm versprochen, ihn zurückzubringen, er hatte gesagt: Ich bringe dich zurück, Professor! Und nun tat er es – gleichgültig, ob er noch lebte oder schon tot war, gleichgültig, daß er damit so gut wie sicher in den Tod schritt.

Ein junger Leutnant nahm ihn in Empfang, als er über den Grabenaufwurf in die Stellung kletterte. Auch zwei Sanitäter mit einer Bahre warteten bereits. Langsam, vorsichtig, behutsam legte Schwanecke Deutschmanns Körper auf die Bahre und richtete sich wieder auf.

Ein Sanitäter beugte sich über Deutschmann.

»Lebt er noch?« fragte der Leutnant.

Schwanecke zuckte mit den Schultern.

»Was wollen Sie denn damit?« Der Leutnant zeigte schaudernd auf Deutschmanns Bein.

»Ach so –.« Schwanecke legte das Bein auf die Bahre. »Ich hab' ihn zurückgebracht«, sagte er dann. »Verstehen Sie – ganz –!«

»Er lebt noch!« sagte ein Sanitäter.

»Beeilen Sie sich!« sagte der Leutnant. Und dann fragte er Schwanecke: »Wo kommen Sie eigentlich her?«

»Von drüben. Wir sind – Strafbataillon, kapiert? 999. Wir haben einen Ausflug gemacht.«

»Ja – ja, ich verstehe«, nickte der Leutnant. Er kannte die Tragödie der zweiten Kompanie dieses Bewährungsbataillons. War es nicht so, daß bloß einer mit erfrorenen Füßen zurückkam? Und jetzt noch diese beiden … es war eine verdammte Sache! Er sagte: »Ich lasse Sie zurückbringen, Sie können sich dann ausruhen. Ich glaube, Sie haben's verdient.«

Deutschmann wurde sofort über Babinitschi wegtransportiert. Der Arzt einer Reserveeinheit, die jetzt die Stellungen besetzt hielt, gab ihm eine Antitetanus- und Antigasbrandspritze und schüttelte zweifelnd den Kopf, als ihn ein Sanitäter fragend ansah.

»Beide Augen und das Bein …«, sagte er leise. »Ich glaube nicht … aber man kann nie wissen. Geben Sie mir bitte noch eine Morphiumampulle.«

Auch der Stabsarzt auf dem Hauptverbandsplatz reichte Deutschmann, der inzwischen zu sich gekommen war, sofort weiter. »Sie werden nach Orscha gebracht, Herr Kollege, ins Kriegslazarett. Dort wird man weitersehen.«

Deutschmann tastete nach seinen Augen und befühlte den dicken Verband, den man ihm angelegt hatte. »Was ist mit den Augen – und mit dem Bein – ich weiß nicht …«

»Was?«

»Ich erinnere mich …«

»Das Bein ist hin.« Die Stimme des Arztes bemühte sich, burschikos zu klingen. Er nahm Deutschmanns tastende Hand vom Verband und legte sie auf die Decke. »Und – mit den Augen, das ist halb so schlimm. Wir werden Sie zurechtflicken, dem Nerv ist offenbar nichts geschehen, und das ist ja die Hauptsache.«

»Früher einmal – habe ich – oft so gelogen …«, flüsterte Deutschmann. Der Stabsarzt schwieg bedrückt. »Und – was ist mit Schwanecke –?«

»Wer ist das?«

»Der Mann, mit dem ich –«

»Ach so. Der ist wohlauf, soviel mir bekannt ist.«

»Ist – ist er nicht – …«

»Was meinen Sie?«

»Wo ist er?«

»Ich glaube, er befindet sich bei einer der übriggebliebenen Kompanien.«

»Ja«, sagte Deutschmann. »Ich …« Er schwieg. Was sollte er auch noch sagen? Schwanecke hatte ihn zurückgebracht und sich damit selbst ausgeliefert. Wie viele Menschenleben hatte er, Deutschmann, auf dem Gewissen? Obwohl er nie geschossen hatte – wie viele hatte er umgebracht –? Julia – Tanja – Schwanecke …

Reglos, still lag er da und betete: Er betete zu Gott, daß er ihn sterben ließe, und dann verfluchte er ihn, weil er immer noch lebte, er betete und bat, und seine Flüche waren eine einzige Bitte.

Schwanecke hatte man zu der nächsten Kompanie gebracht, die von dem Strafbataillon in der Gegend lag. Es war die erste Kompanie Oberleutnant Wernhers, die den russischen Stoß in die Flanke bekommen und sehr schwere Verluste hatte, aber nicht völlig aufgerieben worden war wie Obermeiers zweite Kompanie.

Wernher sah durch das Fenster seiner Hütte Schwanecke in Begleitung eines Unteroffiziers der Infanterie näher kommen. Er hatte bereits telefonisch die Meldung von dem Drama im Niemandsland erhalten und den Leutnant, in dessen Abschnitt sich das Ganze abgespielt hatte, gebeten, Schwanecke in Begleitung zu ihm bringen zu lassen.

»Wieso?« hatte der Leutnant gefragt. »Hat der Kerl etwas auf dem Kerbholz?«

»Ja.«

»Er hat sich großartig gehalten …«

»Das glaube ich.«

»Ihr seid schon eine komische Gesellschaft«, hatte der Leutnant am Telefon geseufzt. »Also gut – ich schicke ihn in Begleitung eines Unteroffiziers.«

Jetzt stand Wernher am Fenster und sah den langsam daherschlendernden und nach links und rechts grinsenden Schwanecke.

Drei Mann überlebten den Untergang der zweiten Kompanie, ein Blinder, ein Schwerverbrecher und ein Feigling, der sich, wie man erzählte, diebisch freute, daß er den Fuß verloren hatte und damit für ewige Zeiten von der Front erlöst war. Was ist schon ein Fuß – der Staat zahlt ja eine hübsche Rente, und überdies: Ein Spieß braucht keinen Fuß, er kann auch ohne ihn die Mutter der Kompanie sein. Gute Spieße wurden gebraucht, ob mit oder ohne Fuß … es war herrlich, ein Spieß zu sein – wenn's nicht zu nahe an der Front war.

Es klopfte. »Herein!« sagte Wernher.

Schwanecke trat langsam in den Raum. Als er Wernher sah, breitete sich über sein Gesicht das gleiche Grinsen wie vorher, als er durch die Straßen ging und alte Bekannte begrüßte. Er nahm keine Haltung an, er grüßte nicht … er stand einfach da und grinste Wernher an. Was er wohl dachte?

Wernher entließ den Unteroffizier, der Schwanecke hierhergebracht hatte. Er vermied es, Schwanecke anzusehen, dessen Tarnjacke blutbefleckt und dessen Hände braun vom geronnenen Blut waren. Selbst über sein Gesicht zogen sich einige Streifen Blut.

»Ich habe – ich habe gehört«, begann Wernher heiser, »daß Sie sich großartig gehalten haben – Sie haben Deutschmann gerettet …«

Schwanecke grinste nur.

»Es ist mir nicht leicht – aber ich habe Befehl aus Orscha, Sie festzusetzen und dorthin bringen zu lassen. Falls Sie auftauchen. Haben Sie dazu etwas zu sagen?«

Schwanecke sagte nichts. Er zuckte bloß mit den Schultern, legte den Kopf etwas schief und grinste weiter. Wernher ging einige Schritte auf und ab, drehte sich dann abrupt um und maß Schwanecke mit einem langen ernsten Blick.

»Warum sind Sie eigentlich zurückgekommen? Wußten Sie, daß …?«

»Klar«, sagte Schwanecke.

»Warum sind Sie gekommen?«

»Ich hatte Sehnsucht nach Ihnen, Herr Oberleutnant«, sagte Schwanecke.

Aber Wernher kümmerte sich nicht um seinen Spott. »Sie – Deutschmann und Krüll sind die einzigen, die übriggeblieben sind«, murmelte er. »Alle anderen … Oberleutnant Obermeier …«

»Krüll?« fragte Schwanecke. »Er ist –?« Jetzt war das Grinsen aus seinem Gesicht verschwunden.

»Ja. Er liegt in Orscha im Lazarett.«

»Solche Schweine haben immer Dusel –!«

»Sie sprechen von einem Oberfeldwebel, Schwanecke!«

»Na und? Wo steht's denn, daß ein Oberfeldwebel kein Schwein sein kann?«

Wernher schwieg. Was sollte er darauf antworten? Er konnte den Mann zurechtweisen, aber hatte das noch einen Sinn? Hatte er am Ende nicht recht? Ob recht oder nicht, sagte er sich, ich müßte ihn anbrüllen, dachte er, ich müßte ihn hinausjagen … Aber er tat es nicht. Er wußte manches von Schwanecke, mit ihm konnte man nicht auf die gleiche Art fertigwerden wie mit den anderen.

»Was haben Sie eigentlich ausgefressen?« fragte er. »Ist es das – mit Oberleutnant Bevern?«

Schwanecke zuckte mit den Schultern.

»Oder das mit dem Gesetz über Schwerverbrecher?«

Keine Antwort.

»Was wird man mit Ihnen anfangen?«

Schwanecke strich sich mit der Handfläche vordem Hals, machte »Hrrk –«, blinzelte und grinste dann breit. Wernher war fassungslos. Dieser Mann machte sich offenbar lustig über seinen eigenen Tod, und dabei hatte er Deutschmann, seinen Kameraden, zurückgebracht, obwohl er hätte überlaufen können und am Leben bleiben und den Russen Märchen aufbinden vom politisch verfolgten Märtyrer – bitte, war ich nicht im Strafbataillon? Ich, ein Kommunist, Heil Stalin – … Und trotzdem kam er zurück und … Es hatte keinen Sinn.

»Ich werde Sie über Nacht einsperren müssen«, sagte er. »Und morgen lasse ich Sie nach Orscha bringen. Dann …«

Er zuckte mit den Schultern, als hätte er gesagt: Was kann ich dann weiter tun? Nichts. Es tut mir leid, aber da ist nichts zu machen –!

»Und wenn ich abhaue?« Schwanecke sagte es mit einem lauernden Unterton in der Stimme und zugleich so, als würde er sich über den Oberleutnant lustig machen.

»Abhauen? Wie meinen Sie das?«

»Ich meine – einfach ab durch die Mitte! Ich, wissen Sie, Herr Oberleutnant, ich war mal berühmt dafür. König der Ausbrecher! Keine Mauer hält ihn zurück, kein Gitter ist eng genug … stand sogar mal in der Zeitung.«

»So?«

»Bestimmt. Ich könnte in einem Zirkus auftreten. Sie wissen Entfesselungskünstler und so … ich hab' mal einen gesehen … ich hätte es allemal fertiggebracht, Ehrenwort. Hokuspokus – weg ist er … der Schwanecke, der verfluchte –!«

Das letzte sagte er mit tiefer Stimme, es genußvoll in die Länge ziehend.

»Es dürfte Ihnen schlecht bekommen«, sagte Wernher, der zur Tür ging und den Posten rief. »Es wird scharf geschossen, mein Lieber! Machen Sie keine Dummheiten!«

»Mich trifft keiner«, grinste Schwanecke. »Hokuspokus, weg ist er, aufgelöst in der Luft, wie der Geist meines Onkels, den die Tante mal gerufen hatte. Spiritieren oder wie das heißt, spinitisieren … er kam, sagte ›Guten Tag‹ und weg war er wieder, obwohl ich versucht habe, ihn zu erwischen, einfach weg, kein Wunder, wo er aus der Familie Schwanecke war, ich mach's nämlich ebenso …«

Wernher ließ ihn reden. Er glaubte, den anderen zu durchschauen: Es war die Angst, die ihn so reden ließ, und die Worte versuchten sie zu verdecken. Er wußte nicht, wie überrascht und fassungslos er am nächsten Morgen in der Hütte stehen würde, in die er Schwanecke einsperren ließ – und sich an diese Worte erinnern, Wort für Wort, von denen er jetzt glaubte, ihnen nicht das geringste Gewicht beimessen zu brauchen …

»Ab mit Ihnen!« sagte er, als zwei Posten kamen, um Schwanecke abzuführen. »Machen Sie sich zuerst sauber.«

»Mache ich«, nickte Schwanecke und blinzelte dann den Oberleutnant über die Schulter an, als würde zwischen ihnen eine Verschwörung bestehen, ein Geheimnis, um das nur sie beide wußten.

In der folgenden Nacht nach Schwaneckes Rückkehr zum Bataillon, beziehungsweise zu Wernhers erster Kompanie, waren zwei Dinge geschehen, die weder Oberleutnant Wernher noch sein Spieß, noch der Wachhabende erklären konnte, zwei Dinge, von denen man noch lange sprach und die die Legenden um Schwanecke angereichert und ausgeschmückt wieder aufleben ließen:

Schütze Karl Schwanecke war aus dem Schuppen, in den ihn Wernher einsperren ließ, verschwunden. Aber das war noch nicht alles: Mit ihm war aus der Schreibstube auch die Pistole des Spießes mit drei vollen Magazinen verschwunden und aus der Feldküche ein langes Schlachtmesser.

Wie konnte das geschehen?

Wernher hatte einen Doppelposten angeordnet, einen vor, den anderen hinter dem Schuppen. Er wollte sichergehen. Als um zwei Uhr morgens die Ablösung kam, fand sie beide Posten bewußtlos, schwer angeschlagen im Schuppen liegen – und den Karabiner des einen, mit der gesamten Munition der beiden, nahm Schwanecke gleichfalls mit.

»Vielleicht will er 'ne Offensive starten …« sagten die Soldaten augenzwinkernd, als sie die rätselhaften Geschehnisse dieser Nacht lang und breit kommentierten. Es gab keinen einzigen unter ihnen, der es Schwanecke nicht gegönnt hätte, für alle Zeiten auf Nimmerwiedersehen zu verschwinden.

Als man am nächsten Vormittag Schwaneckes Ausbruch rekonstruierte, fand man folgendes heraus:

Er mußte in stundenlanger, unendlich vorsichtiger Arbeit, die von den Posten unbemerkt geblieben war, zwei Bretter an der Seitenwand des Schuppens gelockert und herausgerissen haben. Dann zwängte er sich durch den ziemlich schmalen Spalt und erledigte zuerst den einen und dann den anderen Posten (beide hatten noch einige Tage lang ziemlich starke Kopfschmerzen, aber sie nahmen es Schwanecke keineswegs übel, daß er sie so zugerichtet hatte). Dann schleppte er sie in den Schuppen und spazierte schließlich seelenruhig zu der Schreibstube, wo er das Fenster eingedrückt und die Pistole weggenommen hatte. Anschließend war er zu der Feldküche gegangen, wo er Lebensmittel holen wollte. Er fand aber keine, denn alle waren unter festem Verschluß, und der Koch schlief daneben. Auch das wäre sicherlich kein Hindernis für ihn gewesen – aber wahrscheinlich nahte die Ablösung, die seinen Ausbruch entdecken würde, und so mußte er schließlich verschwinden, ehe er noch Eßbares mitnehmen konnte.

»Haben Sie denn, in drei Teufels Namen, nichts gehört?« fragte Wernher seinen unglücklich schauenden Spieß aufgebracht.

»Nein, Herr Oberleutnant.«

»Sie schlafen doch neben der Schreibstube … er kann doch nicht … wo mag er wohl hin sein?«

Er überlegte. Zur Front konnte Schwanecke nicht. Dort würde er fast sicher entdeckt werden. Nach Orscha? Das wäre gleichbedeutend mit Selbstmord. Dafür ist er sicher nicht ausgebrochen. Es blieb ihm nur noch ein Weg: der zu den Partisanen.

Dies war es auch, was er später seinem Kommandeur, Hauptmann Barth, telefonisch mitteilte.

»So ein Mistvieh!« sagte Barth – und Wernher war es, als hätte er in seiner Stimme einen bewundernden Unterton herausgehört und vielleicht auch ein Lächeln. Wenn man es recht besah – es war auch zum Lachen. Und zum Weinen: Was könnte man mit diesem Kerl alles anfangen!

»Und was wollen Sie machen, Wernher?«

»Was soll ich denn machen?«

»Nichts. Einen Bericht schreiben.«

»Nach ihm fahnden?«

»Hätte das denn einen Sinn? Glaube nicht.«

»Ich auch nicht, Herr Hauptmann. Er steckt todsicher im Wald – und wie sollen wir ihn dort finden? Wir sind ja sogar außerstande, ein ganzes Bataillon Partisanen aufzuspüren, das sich im Wald versteckt. Ich gehe jede Wette ein, daß er sich dort verbirgt.«

»Die Wette würden Sie wahrscheinlich gewinnen, Wernher. Ein toller Knabe, was?«

Und so war es auch: Schwanecke war im Wald von Gorki – in dem gleichen Wald, in dem sich auch sein Todfeind Tartuchin versteckte.

Im Wald von Gorki saß Mischa Serkonowitsch Starobin vor seiner Erdhöhle, rauchte Machorka und lauschte nach unten, wo Anna Petrowna Nikitewna mit einem Topf klapperte.

Oberleutnant Denkow war vor einer Stunde bei ihnen gewesen. »In drei Tagen geht's los, Genossen«, hatte er gesagt. »Wir werden jetzt die Deutschen endgültig wie Hunde vor uns herjagen. Wenn ihr wüßtet, was sich da hinten alles ansammelt … zwei-, dreihundert Stalinorgeln, ein paar hundert Panzer, so viel Geschütze, wie ich sie noch nie beisammen gesehen habe –!«

Das war eine Wonne für Starobins Ohren gewesen. Das Abenteuer mit Tanja hatte er bereits vergessen – niemand sprach mehr von ihr, als wäre ihr Name tabu geworden – doch jeder wußte: So starb eine Verräterin. Wenn das Ganze vorbei war, so malte sich Starobin aus, wenn die Deutschen endgültig besiegt waren, dann wollte er endlich seine Anna Petrowna heiraten. Zugegeben, sie war nicht sehr schön, aber sie war verläßlich und auch sonst …

In seine Gedanken und Träume versunken saß er vor dem Erdbunker und hörte und sah nicht, wie hinter ihm durch den Wald ein Mann kroch, mit heißen, glanzlosen Augen zu der Höhle und dem dick vermummten Mann starrend, über dessen Kopf blaue Rauchwölkchen aus der Pfeife kräuselten.

Schwanecke.

Hier war er richtig. Er hatte bereits eine Menge dieser Erdhöhlen gesehen, in denen Partisanen hausten, aber keine war so günstig gelegen wie diese hier. Alle anderen waren auf einem Haufen, zu zweit oder zu dritt, diese hier aber war weit und breit die einzige.

Er war in den Wald gekommen, um sich zu verbergen. Einmal würde die sowjetische Front die deutschen Linien eindrücken. Dann würden auch die Partisanen weiterrücken, und er konnte sich überrollen lassen und in die Gefangenschaft gehen. Bis dahin mußte er es aushalten. Er war gut bewaffnet, hatte Munition, vielleicht würde er sich so eine Erdhöhle bauen wie die Partisanen. Ernähren mußte er sich von Diebstählen und Raub, es blieb ihm nichts anderes übrig.

Der Hunger peinigte ihn. Es war schon der dritte Tag, ohne daß er etwas zwischen die Zähne bekam, und das konnte bei dieser Kälte nicht lange gutgehen. Dieser Erdbunker lag auf seinem Wege tiefer in dem Wald. Warum sollte er nicht versuchen …?

Micha Starobin drückte seinen dicken Daumen in die Pfeife, dann sog er wieder am Mundstück, nickte zufrieden – und in diesem Augenblick kam das Ende. Er fiel nach vorne in den Schnee, wollte schreien und um sich schlagen und hatte das Empfinden, irgend etwas würde seinen Körper in zwei Teile schneiden. »Oh – oh«, gurgelte er erstickt und starb.

Schwanecke hockte über ihm und blieb auf ihm sitzen, bis sich der Körper unter ihm streckte. Dann zog er das breite, lange Messer aus Starobins Rücken und untersuchte mit fliegenden Händen dessen Taschen. Ein Lederbeutel mit Machorka. Gut. Ein Blechdöschen mit grünem Tee … und nichts zu essen! Er verharrte und horchte gegen den Eingang in die Erdhöhle, in der eine heisere Frauenstimme plötzlich zu trällern begann. Also war es noch nicht zu Ende, er mußte auch noch eine Frau töten … im Bunker gab es sicher etwas Eßbares.

In diesem Augenblick betrat Pjotr Sabajew Tartuchin die kleine Lichtung.

Das Knacken eines Zweiges wirbelte Schwanecke herum.

Tartuchin!

Stumm standen sie sich gegenüber und sahen sich an.

»Ach – du bist …« flüsterte Tartuchin.

Schwanecke grinste.

»Ich hab' gewußt … ich werde dich finden, und ich werde dich töten –«, sagte Tartuchin, immer noch flüsternd. »Ich hab' gewußt …«

»Quatsch nicht so kariert – na, mach's schon! Versuch es doch!« Schwanecke hatte heute keine Lust, mit dem Messer zu kämpfen. Tartuchin war zu gefährlich. Aber er mußte es wohl tun, denn das Gewehr hatte er hinter dem Erdaufwurf des Bunkers liegenlassen, um beim Überfall auf Starobin nicht behindert zu werden. Und die Pistole steckte zu tief unter der Tarnjacke. Bevor er sie hervorholte, war der andere längst über ihm. So mußte es wohl mit dem Messer sein, das er in der Hand hielt – und dabei mußte er auch noch auf die Frau aufpassen, die in der Erdhöhle steckte. Man wußte ja, wie diese Partisaninnen waren!

»Ich habe geschworen, ich habe geschworen …« murmelte Tartuchin, und in seiner Handfläche lag plötzlich, wie hingezaubert, ein langer Dolch.

»Na, denn –!« sagte Schwanecke.

»Ich werde dich töten …«

»Daß ihr immer soviel quasseln müßt, du gelber Affe!«

Ihre Augen waren stumpf und leblos. Tartuchin schlich gebeugt nach vorne, bis er nur noch wenige Schritte vor Schwanecke stand. Die heisere Frauenstimme im Bunker sang. Sie kümmerten sich nicht darum. Sie umkreisten einander wie zwei riesige Katzen, weich, mit geschmeidigen, gleitenden Bewegungen, und Schwanecke mußte plötzlich an einen Wildwestfilm denken, den er irgendwann gesehen hatte und wo sich ein Indianer und ein Weißer genauso umkreisten, mit Messern in den Fäusten … Damals erschien ihm das furchtbar albern, und in Erinnerung daran mußte er grinsen.

Natürlich siegte damals der Weiße.

Wer von ihnen beiden war der Weiße?

Das Ganze war 'n Riesenblödsinn, das Ganze hatte gar keinen Sinn, es war verrückt und blöde, der Film und das da und alles andere, Tartuchin und der Wald und der Bunker und der Tote auf dem Boden und die singende Frauenstimme und er selbst und daß er hier war, das Ganze war idiotisch und unwahr, was hatte er hier zu suchen?

Es war zum Lachen!

Gleichzeitig, wie auf Verabredung, schnellten sie vom Boden ab, trafen sich in der Luft und stießen mit ihren Messern zu. Eng umklammert fielen sie zu Boden, rollten übereinander, knurrend, stöhnend – sterbend.

Tartuchin starb zuerst.

Schwanecke richtete sich auf, stemmte sich mit den zitternden Armen vom Boden auf und sah auf den zuckenden Körper des anderen, seinen nach Luft schnappenden Mund und auf das gräßliche Verdrehen der Augen, so lange, bis Tartuchin tot war.

So 'n Riesenblödsinn!

Warum hatte er ihn eigentlich umgebracht?

Er hatte keine großen Schmerzen, nur 'n bißchen, er war bloß schwach, als seine Arme endlich nachgaben. Einige Sekunden lag er auf dem Gesicht und drehte sich dann ächzend, mit zusammengebissenen Zähnen um. Er wollte nicht auf dem Gesicht sterben. Auf dem Rücken, so war's richtig. Die Hände schön auf dem Bauch gekreuzt, so wie der Onkel nach einer Prügelei, wo er einen Stein auf den Kopf bekommen hatte. So wie es sein mußte, wenn ein Mann starb, obwohl auch das verdammt lächerlich war.

Jetzt lag er richtig.

Er hörte eine Tür schlagen und Schritte näherkommen, es war die Wohnungstür zu Hause in Hamburg, und seine Mutter kam endlich heim. Sicher war sie besoffen. Wenn sie einen Freier mitbrachte, mußte er vom Bett aufstehen und Platz machen, in die Küche gehen und warten, bis sie fertig waren. Dabei war er so verdammt müde!

Na, klar, es war die Mutter! Nein – das war eine andere Frau, die sich über ihn beugte, er hatte sie noch nie gesehen, und warum guckte sie so entsetzt? So 'n Blödsinn! Natürlich war es Mutter – warum schrie sie bloß so verrückt? Warum schrie sie bloß? Jetzt verschwand ihr Gesicht, aber das Schreien blieb, und dann tauchte das Gesicht wieder auf und dann eine Hand mit einem blutigen Messer … was wollte sie bloß mit dem Messer?

So 'n Blödsinn!

Anna Petrowna schrie wie ein tödlich verletztes Tier. Sie schrie und schrie und stach mit dem Messer auf diesen fremden Mann, der ihren Micha getötet hatte und Tartuchin, und sie nun mit weit offenen, neugierigen und spöttischen Augen anstarrte, mit einem weiß-grinsenden spöttischen Gesicht, sie schrie und stach in dieses Gesicht, aber das Grinsen konnte sie nicht auslöschen, selbst dann noch nicht, als der Fremde bereits tot war und von seinem Gesicht nichts anderes mehr übriggeblieben war als eine blutige, unkenntliche Masse.

Deutschmann wurde mit einem rumänischen Lazarettzug durch Rußland und Polen nach Berlin gebracht. Er hörte nur die Namen der Stationen, die ihm die anderen Verwundeten zuriefen, er hörte die Stimmen der Rot-Kreuz-Schwestern, die an den Fenstern Kaffee und Tee verteilten, Butterbrote und Obst.

»Haste Durst?« fragte ihn hin und wieder einer der anderen, die er langsam an ihren Stimmen unterscheiden lernte. »Willste Tee?«

Dann nickte er. Sprechen konnte er nicht. Blind, dachte er, blind … ein Bein weg … was soll ich noch? Er trank.

»Morgen sind wir in Berlin!«

Was sollte er in Berlin?

»Freust du dich?«

Warum sollte er sich freuen? Aber er nickte. Er sprach kaum, meistens nickte er oder stellte sich schlafend.

Was werde ich tun, wenn ich wiederhergestellt bin, grübelte er unablässig. Eine kümmerliche Rente, in einem Rollstuhl sitzen, tagaus – tagein, ohne den Tag zu sehen und die hereinbrechende Nacht … wenn Julia noch lebte, könnte er diktieren, denken, arbeiten, weiter, trotz allem! Nein! Könnte er ihr denn zumuten, neben einem dahinvegetierenden Krüppel zu leben?

Es war müßig, darüber nachzudenken. Sie war tot. Tanja war tot. Schwanecke war wahrscheinlich tot. Obermeier, Bartlitz, Wiedeck, alle … Warum mußte er noch leben?

Berlin:

Er lag in irgendeinem Reservelazarett. Wie lange schon? Die Schwestern sagten: vier Wochen. In Wahrheit mußte es viel länger sein. Vier Jahre. Vier Jahrzehnte. Die Zeit stand still, er stand mitten in ihr und konnte sie fast greifbar vor und um sich vorbeifließen sehen wie einen unendlichen Strom. Er würde nun immer mitten in diesem Strom leben, dessen langsamer, gleichgültiger Fluß ihn wahnsinnig machte.

Heute war Donnerstag. Na, und? Was tat es, daß es Donnerstag war? Ob Donnerstag oder Freitag oder Sonntag oder Dienstag, was tat es? Es war – er hörte es – drei Uhr nachmittags. Draußen war es hell, aber nicht um ihn. Um ihn war es immer dunkel. Um drei Uhr nachmittags oder drei Uhr nachts, gleichgültig wann es war. Er hatte die Dunkelheit und seine Gedanken und Erinnerungen – oh, hätte er sie nicht!

Er hörte, wie die Tür aufging. Sie quietschte ein wenig. Wer war eigentlich ins Zimmer gekommen? Schwester Erna? Dr. Bolz – oder der alte Freund Wissek, der schon am andern Tag kam, nachdem Deutschmann hierhergebracht worden war?

Er lauschte. Kein Schritt war zu hören, auch nicht das Klappern von Instrumenten oder Gläsern, wie es bei Schwester Erna immer der Fall war, kein rauh-gutmütiges »Grüß Gott, wie geht's unserem Kranken?« wie Oberschwester Hyazintha – ein komischer Name – immer sagte, wenn sie das Zimmer betrat.

Stille.

»Wer ist da?« fragte er. »Ist jemand hier?«

An der Tür standen Dr. Wissek, Dr. Kukill – und Julia. Sie rührten sich nicht. Wie erstarrt sahen sie auf den bleichen, schmalen Mann in dem flachen Bett, mit dem dick verbundenen Kopf und dem kaum sichtbaren, blutleeren Mund über dem spitzen Kinn. Lange, schmale, totenbleiche Hände, deren Finger plötzlich Leben gewannen und wie suchend über die Decke tasteten …

Dr. Kukill senkte den Kopf. Blind … ein Krüppel, dachte er, sie – sie hat ihn wieder – einen blinden Krüppel … mein Gott! Aber sie hat ihn wieder, nur wie, nur wie! Er drehte sich um und ging langsam, schlurfend, mit gebeugtem Rücken weg. Hier hatte er nichts mehr zu suchen. Aus. Endgültig aus. Er hatte Julias Augen und Gesicht gesehen, als sie auf den Mann im Bett blickte, und ganz klar und deutlich gefühlt, daß er überflüssig war.

»Wer ist da?« fragte Deutschmann wieder, mit einer ängstlichen, ahnungsvollen Stimme.

»Ich – ich –«, flüsterte Julia und stützte sich auf den Türpfosten. »Ich bin's, Ernst, ich bin's …!«

Nun ging auch Dr. Wissek. Leise schloß er die Tür hinter sich, horchte – und hörte langsame und dann plötzlich sehr, sehr schnelle Schritte zu Deutschmanns Bett laufen.

Er lächelte.

Was stand diesen beiden Menschen bevor? Welches Leben? Konnte es nicht über ihre Kräfte gehen? Würden sie so stark sein, die Schrecken der Gegenwart, jeder Stunde, jeder Minute, immer wieder zu besiegen? Und die Schrecken der Vergangenheit? Und doch … Welch ungeheure Opfer würde die Zukunft von ihnen verlangen – besonders von Julia! Und doch …

Sie lebten. Wie leichtfertig war es zu sagen: Besser wäre es, wenn er stürbe. War nicht das Leben das Wichtigste, das es auf der Welt geben konnte? Konnte die Liebe nicht alles das überwinden, was zu überwinden fast unmöglich schien?

Ja. War sie nur stark und groß genug, war sie nur bereit zu geben, immer wieder zu geben und jede kleine Gegengabe als ein Geschenk zu betrachten. Dann ja.

Auch Dr. Wissek hatte in Julias Augen geblickt, bevor er sie verließ. Und in ihnen hatte er diese Liebe gesehen.

An einem der grauen, trostlosen Wintertage stand Hauptmann Barth vor Krülls Bett im Kriegslazarett in Orscha. In seiner Hand wog er einen kleinen Pappkarton mit dem Eisernen Kreuz erster und zweiter Klasse und den dazugehörigen Urkunden – blanko unterschrieben, mit dem später eingesetzten Namen Oberfeldwebel Krülls. Ein junger Leutnant, frisch von der Kriegsschule – Barths neuer Adjutant –, stand etwas verlegen hinter dem Hauptmann und sah respektvoll auf den Oberfeldwebel der sich fein gemacht hatte und mit zugeknöpfter Uniformjacke, zitternden Backen und steif aufgerichtetem Körper in seinem Bett saß.

Viele bleiche, abgezehrte, ernste und grinsende Gesichter blickten von den anderen Betten herüber.

»Sie sind der Letzte der zweiten Kompanie«, sagte Hauptmann Barth – und es klang so, als wäre dies ein Vorwurf. Aber Krüll überhörte es. Sein Blick hing wie gebannt an dem Pappkarton, um ihn lag ein herrlicher, rosiger Nebel, durch den Barths Stimme nur leise, wie von ferne drang.

EK I!

»Für diesen Einsatz bekam die Kompanie das EK I«, fuhr Barth fort, »und nun muß ich es wohl verleihen. Sagen Sie, wie haben Sie das eigentlich gemacht?«

Krüll fuhr zusammen. »Was – was, Herr Hauptmann?« stammelte er.

»Na, daß Sie zurückkamen?«

»War er denn überhaupt fort?« fragte eine Stimme aus dem Hintergrund, und einige Verwundete kicherten unterdrückt.

»Ich hatte Glück, Herr Hauptmann«, sagte Krüll, »ich habe –« Er suchte nach einem richtigen, erhebenden Wort, »– ich habe einfach meine Pflicht erfüllt und bin dann eben zurückgekommen, nach dem erfüllten Auftrag. Es war bestimmt nicht leicht, Herr Hauptmann, die Russen haben nur so auf mich …«

Barth winkte ungeduldig ab. Ihn ekelte. Er starrte auf die Auszeichnung und dann auf die leere Uniformjacke des Oberfeldwebels mit dem einsamen Sportabzeichen auf der linken Seite. »Also«, sagte er schließlich, »ich verleihe Ihnen hiermit das Eiserne Kreuz erster und zweiter Klasse –«, er griff in den Karton und steckte das Kreuz an Krülls Jacke, »– für die Tapferkeit vor dem Feind, als dem letzten Mann der zweiten Kompanie …« Dann setzte er ganz leise und mehr spöttisch, immer noch über den zitternden Oberfeldwebel gebeugt, hinzu: »Sie – Held –!«

Dann richtete er sich brüsk auf und sagte zu dem erstaunten, verlegenen Leutnant, ohne sich um die Verwundeten zu kümmern, die ihn stumm ansahen:

»Versuchen Sie, ein Gespräch mit der Stammersatzabteilung in Posen zu bekommen. Und bestellen Sie, man soll mir Leute für eine neue zweite Kompanie schicken. Wir haben ja genug davon …«