Sie warteten bis zum Einbruch der Dunkelheit. Als der fahle Himmel grau wurde und schließlich stumpfschwarz, klapperten ein paar Lastwagen über das Bahngelände und hielten vor dem Lazarettzug. Ein Oberfeldwebel meldete sich beim Stabsarzt.

Dr. Bergen betrachtete die alten Beutewagen. »Mit diesen Wracks wollen Sie fahren?«

»Warum nicht? Mit den Klapperkästen haben wir schon ganz andere Sachen transportiert!«

Kronenberg nahm den Oberfeldwebel zur Seite:

»Er ist zum erstenmal in Rußland. Halt die Schnauze und mach, was du für richtig hältst. Am Ende wundert er sich, wie gut wir in Barssdowka landen.«

»Wenn sie uns nicht erwischen!«

»Partisanen?«

»Genau. Bei Gorki ist die Hölle los!« Der Oberfeldwebel winkte die Lastwagen zu einer Rampe, auf der jetzt Kisten mit dem Verbandsmaterial, den Medikamenten, den chirurgischen Bestecken und die zusammenklappbaren Betten aufgestapelt wurden. »Wie lange wollt ihr denn in Barssdowka bleiben?«

»Bis zum Endsieg«, grinste Kronenberg.

In Barssdowka erwarteten sie der Hilfssani Ernst Deutschmann und einige Männer der 2. Kompanie. Die Straße durch das zerschossene Dorf war vom Schnee reingefegt, die Telefonleitungen waren schon gelegt, eine große Scheune und ein zusammengeflicktes Bauernhaus waren ausgeräumt worden und dienten als Lazaretträume. Als die kleine Kolonne aus der Nacht ins Dorf fuhr und knatternd an den ersten zerstörten Häusern vorbeischaukelte, tauchte vor dem ersten Wagen ein kleiner, breitschultriger, krummbeiniger Russe auf und winkte fröhlich grinsend herauf. Er rannte vor der Kolonne her und wies ihr den Weg zu Deutschmann, der mit Handlampen und Batteriescheinwerfern die Scheune einigermaßen beleuchtet hatte.

Kronenberg kletterte durchgefroren aus seinem Wagen und machte einige Kniebeugen, um die steifen Glieder wieder zu durchbluten. Der kleine Russe hob freundlich die Hand.

»Guten Abend«, sagte er.

Kronenberg nickte. »Komm mal her, du krummer Hund! Du bist hier Hiwi?«

»Da.«

»Dann geh mal da hinten zu dem Herrn Stabsarzt und hilf abladen! Verstanden?«

»Da.«

»Hau ab!«

Lächelnd entfernte sich Pjotr Tartuchin und stapfte in seinen dicken Fellstiefeln hinüber zu Dr. Bergen, der die Wagen nahe an die Scheune dirigierte.

Die Begrüßung zwischen Deutschmann und Kronenberg war kurz. Sie klopften sich auf die Schultern und lachten sich an. Deutschmann hatte sich seit zwei Tagen nicht rasiert, sein stoppeliges Gesicht war eisverkrustet und von der Kälte gerötet.

»Wieder einmal umgekippt?« fragte Kronenberg fast ein wenig besorgt. Er griff in seinen zottigen Pelzmantel und holte die obligate Flasche Schnaps heraus.

»Nein. Die russische Luft scheint mir gut zu bekommen.«

»Das kommt davon, weil sie voll von Vitamin E ist«, grinste Kronenberg.

»Wieso?«

»Eisen«, sagte Kronenberg. Beide lachten und tranken.

»Und Krüll, der Schweinehund?«

»Kriecht kaum aus seinem Bau heraus. Alle warten darauf, daß er sich einmal in die Hosen macht.«

»Und die anderen? Bartlitz, Schwanecke, Wiedeck?«

»Bartlitz ist perfekter Koch geworden und die anderen – sie halten die Schinderei mit Schanzen besser aus, als man gedacht hatte.«

»Obermeier?«

»Ein toller Kerl!« sagte Deutschmann begeistert. »Immer vorne an der Straße beim Schanzen. Immer hat er Schnaps und verteilt ihn, obwohl das verboten ist. Ich weiß nicht, was passieren würde, wenn ihm einmal etwas zustößt …«

Auf der dunklen Straße brüllte Dr. Bergen nach Kronenberg. Der Sanitäter wies mit dem Daumen in die Richtung aus der das Gebrüll herüberscholl, grinste spöttisch und trank schnell noch einen Schluck Schnaps: »Da hörst du's selber. Wenn ich nicht da bin, ist der Alte hilflos wie ein Säugling!«

Dr. Bergen stand vor einer Kiste, die Tartuchin hatte hinfallen lassen.

»Schwerr!« sagte der kleine Mongole und hob die Schultern bedauernd hoch. Aus seinen Augenspalten betrachtete er die Verbandspäckchen, die aus der geplatzten Kiste in den Schnee gerollt waren. Verbände, Watte, Zellstoff … und weiß der Teufel, was alles in den anderen Kisten war … Lauter Sachen, die sie im Wald von Gorki gebrauchen könnten. Dort verbanden sie sich mit alten Hemdfetzen und schrien in ihren Erdhöhlen vor Schmerz und Wundfieber.

Kronenberg erschien bei der Gruppe und jagte Tartuchin weg. »Hau ab, das ist nichts für dich!« sagte er laut. Und zu den anderen: »Die Kisten in das Bauernhaus, die Betten und Strohsäcke in die Scheune. Paßt auf beim zweiten Wagen, da ist Glas drin!«

Unter dem Licht der Taschenlampe wurden die Transporter entladen. In dem Bauernhaus wurde ein behelfsmäßiger Operationsraum eingerichtet. Dr. Hansen stellte selbst den zusammenklappbaren Operationstisch auf, half beim Zusammensetzen eines Instrumentenschrankes und richtete das Zimmer so ein, daß leichte und mittlere Operationen vorgenommen werden konnten. An einer Schwebeleitung wurde unter der Decke eine große Lampe montiert, deren Schein den Operationstisch in blendendes Licht hüllte. Die beiden Fenster des Raumes mußten deshalb mit je zwei Decken verdunkelt werden, damit der Lichtschein nicht nach draußen fiel und die leichten russischen Bomber, die ›Nähmaschinen‹, anlockte.

Auf der Straße von Gorki her nahte ein helles Brummen, als die Wagen bereits abgeladen und die Soldaten mit der Inneneinrichtung fast fertig waren. Kronenberg, der mit Deutschmann und Tartuchin vor dem Eingang der Scheune stand, steckte sich in der hohlen Hand eine Zigarette an.

»Was ist das? Ein Schlitten?«

Deutschmann nickte. »Von der zweiten Kompanie. Holz, damit man hier Schränke und Tragen zimmern kann.«

Aus der Nacht schälten sich die Umrisse eines großen Motorschlittens. Wie eine riesige Spinne kroch er durch den Schnee, machte einen Bogen um die Lastwagen und hielt kreischend vor der Scheune. Aus dem geschlossenen Führerhaus sprang eine vermummte Gestalt, eine Maschinenpistole in der Hand. Sie schwenkte sie durch die Luft und rannte auf Kronenberg zu.

»Altes Rindvieh!« schrie sie.

Kronenberg lachte breit. »Mensch, Schwanecke, lebst du noch?«

»Mich bringt keiner so bald um!« grinste Schwanecke.

Tartuchin stand abseits, an die Scheunenwand gelehnt. Durch seinen Körper liefen lange Schauer. Sein breites gelbes Gesicht erschien plötzlich tot und unbeweglich, wie aus Stein gemeißelt. Seine zerschossene linke Hand verbarg er im weiten Pelzärmel seines Mantels. Die Zähne hatte er zusammengebissen, daß ihm die Kiefer wehtaten. Aber er spürte es nicht. In diesen Augenblicken hätte man ihn in Stücke schneiden können, ohne daß er etwas gespürt hätte.

Schwanecke heißt er, überlegte Tartuchin. Langsam schloß er die kleinen schwarzen Augen. Heilige Mutter von Kasan, dachte er, es ist wie ein heißer Wind, der mir den Atem nimmt! Ich darf es nicht zeigen, ich darf es nicht zeigen! Ich werde erst wieder atmen und leben können, wenn er tot ist. Er ist ein großer, hungriger Wolf. Ich weiß: Wenn ich ihn töte, wird Rußland weiterleben. Seine Gedanken waren wie trunken, er fühlte seine Knie zittern, und er fürchtete, daß sein grenzenloser Haß – warum haßte er ihn eigentlich so furchtbar, war es nur wegen der Wunde an der Hand oder war es etwas anderes? – aus seinen Augen leuchten würde, wenn er sie aufmachte.

Ein Fausthieb in seinen Magen schreckte ihn auf. Schwanecke stand vor ihm, ganz nah, das unrasierte Gesicht im Widerschein einer Taschenlampe, die Kronenberg hielt. Tartuchin sah: ein wildes, erbarmungsloses, brutales Gesicht. Das Gesicht der Vernichtung. Kleine, stechende Augen, in denen sich Tartuchin wiederzufinden glaubte, und ein breites weißes Grinsen ohne Fröhlichkeit. Tartuchin atmete schnell. Er mußte sich mit der ganzen Kraft, deren er fähig war, zusammennehmen, um nicht vorzuspringen und Schwaneckes kurzen Hals zu würgen, bis dieses Grinsen in dem Gesicht des Mannes vor ihm zu einem Grinsen des Todes wurde. Seine Finger spreizten sich auseinander und zogen sich wieder zusammen.

»Hör mal zu, du gelber Affe!« sagte Schwanecke. »Geh zum Schlitten und lade das Holz ab. Los, mach weiter!« Er packte Tartuchin am Pelzkragen, riß ihn von der Scheunenwand und trat ihm ins Gesäß. Mit einem Satz flog der Mongole über die Straße und stürzte auf den Schlitten zu. Geschmeidig, katzengleich fing er sich auf und ging dann schnell, wortlos, mit halbgeschlossenen Augen zu der Ladefläche des Schlittens. Er dachte: Ich werde ihn kriegen. Ich werde kein Mensch mehr sein oder gerade ein Mensch, wenn ich ihn kriege. Wenn es einen Gott gibt, wird er mir verzeihen. Das waren die schlimmsten Stunden in Tartuchins Leben.

Schwanecke lachte breit, als der Mongole über die Straße schoß. Kronenberg knipste die Taschenlampe aus.

»Der wird nie dein Freund sein!« meinte er trocken.

»Wer ist schon mein Freund?« Schwanecke entkorkte die Flasche Schnaps, die der Sanitäter aus dem Mantel zog, und nahm einen tiefen Schluck. »Woher kommt er eigentlich?« Er betrachtete Tartuchin, der vom Schlitten die Bretter ablud und in den Schnee warf. Sein feiner Instinkt witterte die Feindschaft und den Haß, die der kleine Mongole ausstrahlte. Deutschmann schüttelte den Kopf.

»Ein Hiwi, wie alle anderen. Er hat sich überrollen lassen, wohnt hier in einer alten Hütte, schimpft auf Stalin und die Sowjets genauso wie auf uns und träumt von einem vollen Topf Kapusta. Er weiß nicht, warum er auf der Welt ist, alle treten ihn in den Hintern – genauso wie du.«

»Na, du mußt es ja wissen, du bist ein alter Soldat, was?« spottete Schwanecke. »Übrigens muß ich dich nachher mitnehmen. Bei uns ist allerhand los, Doktorchen.«

»Wann?« fragte Deutschmann.

»Tagsüber geht's nicht. Da kommen wir nicht durch.«

Schwanecke meldete sich bei Dr. Bergen und Dr. Hansen und half mit, das Lazarett einzurichten. Der Morgen dämmerte fahl im Osten herauf, die Wipfel der Bäume wurden heller und schälten sich aus dem Schwarz der Nacht heraus. Am Tage war es ganz unmöglich, nach Gorki zurückzufahren; eine Strecke von sieben Kilometern wurde eingesehen und lag unter ständigem Feindbeschuß, sobald sich etwas über das weite Schneefeld bewegte. Die russische Artillerie war gut eingeschossen. So blieb Schwanecke den ganzen Tag über im neuen Lazarett, trieb sich mit Kronenberg im zerschossenen Dorf herum, untersuchte die Bauernhäuser nach Dingen, die er brauchen könnte – und kam auch zu der kleinen Klitsche, die Tartuchin bewohnte.

Es war eine dicke Blockhütte mit einer Scheune und einem Ziehbrunnen, dessen Hebebalken halb verfault war. Mit dem Stiefel trat Schwanecke die Tür ein – und sah sich plötzlich Tartuchin gegenüber, der zusammengekauert neben dem Ofen saß und eine Zigarette rauchte. Er rührte sich nicht, als Schwanecke in den niedrigen Raum polterte, dessen Decke er fast mit seiner Pelzmütze berührte. Es war, als hätte der Mongole den Deutschen erwartet. Mit glitzernden Augen sah er ihm entgegen, als er mitten im Raum stehenblieb.

»Machorka?« fragte Schwanecke.

»Da.«

»Mit Prawda?«

»Njet, nix Prawda. Das hier deutsche Zeitung. Prawda bessär.«

Schwanecke schlug die Tür mit dem Stiefelabsatz zu, ohne den Blick von Tartuchin zu lassen. »Deutsche Zeitung nix gut, was? Deutsch überhaupt nix gut, was? Deutsche treten euch in den Hintern, was?«

Tartuchin hob die Hand und lächelte, und es war, als ob aus seinem Lächeln das Geheimnis Asiens Schwanecke angeweht hätte. Er spürte es kalt um sein Herz werden. Der grinst noch, dachte er, der grinst noch, obwohl ich ihn in den Hintern getreten habe! Wie kann er das? Und dann sah er aus Tartuchins Augen plötzlich den tödlichen Haß strahlen: Es war nicht nur der Haß eines russischen Soldaten gegen einen deutschen. Es war nicht nur der Haß eines getretenen Menschen, der seine Heimat liebte, gegen den Mann, der einer Armee angehörte, die sein Land überfallen hatte. Es war vor allem ein ganz persönlicher Haß. Ein tödlicher, unbarmherziger Haß, der nicht eher gelöscht sein würde, bis er, dieser gelbe Mongole, oder er, Schwanecke …

Schwanecke trat unwillkürlich einen Schritt zurück, winkelte die Arme an und beugte sich vor, als ob er zum Sprung ansetzte.

»Du verstehst?« fragte Tartuchin.

»Ja«, sagte Schwanecke.

Schweigen.

»Na los!« zischte Schwanecke. »Ich weiß, was du willst.«

»Nicht so, njet«, sagte Tartuchin. »Jetzt – du wirst mich töten.«

»Stimmt, ich werde es tun«, sagte Schwanecke.

Tartuchin lächelte. Sein Gesicht bewahrte sein Lächeln auch später, es wich nicht von ihm, als wäre es in seine Züge gemeißelt worden wie in die Züge alter chinesischer Götzen. »Warum, Briderrchen?« fragte er leise. »Ich bin arm, ich bin müde, ich bin nichts …«

»Das stimmt! Du bist arm, du bist müde, du bist ein Dreck, aber du bist nicht ein Nichts.«

Tartuchin erhob sich von seiner Ofenbank. Mit kleinen, fast trippelnden Schritten ging er durch das Zimmer. Schwanecke senkte seine Maschinenpistole. Jetzt, dachte er, jetzt kann ich ihn umlegen. Wenn mich jemand fragt, kann ich sagen, daß er mich angreifen wollte.

Er sprang von der Ofenbank und stürzte sich auf mich, es war Notwehr, aber es wird keiner fragen, niemand wird's wissen. Einer weniger, einer von den verfluchten Partisanen, ich weiß ganz genau: Er ist einer! Man wird sagen: Gut so, Schwanecke! Sie bewähren sich gut, Schwanecke! Legen Sie noch mehr von diesen Hunden um, Schwanecke!

Tartuchin war an den Tisch getreten und hielt einen Tabaksbeutel in der Hand. Er reichte ihn Schwanecke. »Warum schießt du nicht?« fragte er.

Schwanecke schwieg.

»Tabak?« fragte Tartuchin.

»Gib her!«

Bedächtig, ohne den Mongolen aus den Augen zu lassen, rollte sich Schwanecke eine Zigarette. Er leckte das Zeitungspapier an, franste es mit den Zähnen aus und klebte es zusammen. Dann warf er den Beutel zu Tartuchin und wartete, bis auch er sich eine neue Zigarette gerollt hatte. Zwischen ihnen stand der Tisch und wirkte wie eine Barrikade.

Sie rauchten.

In der schmutzigen, dunklen Hütte breitete sich Schweigen aus. Trockener, beißender Rauch und der Geruch nach verbranntem Zeitungspapier zog durch den Raum. Warum schieße ich nicht, verflucht, warum schieße ich nicht? – dachte Schwanecke. Wenn ich's jetzt nicht tue, dann wird er es eines Tages tun, und er sieht aus, als ob er treffen könnte. Sicher trifft er immer. Warum schieße ich nicht auf den Hundesohn?

Doch: Obwohl Schwanecke wußte, daß der Mann gegenüber sein Todfeind war, zu dem es keinen anderen Berührungspunkt gab als den Kampf bis zur Vernichtung des einen oder des anderen – oder beider, obwohl er wußte, daß er von nun an keine ruhige Minute mehr haben würde – in dieser Gegend –, solange dieser kleine, breitschultrige, schlitzäugige Mongole lebte, schoß er nicht. Etwas Unerklärliches und ihm Unverständliches hielt ihn davon ab. War es Tartuchins Gleichgültigkeit oder nur scheinbare Gleichgültigkeit gegenüber dem Tod, die ihn, Schwanecke, hinderte, den Finger am Abzugshebel zu krümmen und eine kurze Garbe in den anderen hineinzujagen? War es der Fatalismus, den Tartuchin ausstrahlte, sein ergebener Gleichmut, die in sich selbst versunkene Ruhe, mit der er vor ihm stand und gleichmütig die nächste Minute erwartete, die ihn vielleicht tot oder sterbend sehen würde? Schwanecke schoß nicht, obwohl es für ihn leicht gewesen wäre, den Mongolen zu töten. Und plötzlich merkte er, wie die Hand, mit der er die Zigarette hielt, zitterte. Wütend über sich selbst und über seine Ohnmacht, über die unerklärliche Lähmung, die ihn befallen hatte, wütend über seine zitternde Hand, drückte er die Zigarette zusammen und warf die Mischung von Papier und glühendem Machorka mit einem funkensprühenden Schwung in die Ofenecke.

»Geh!« sagte er dann hart zu Tartuchin.

»Gehen? – Wohin?« In Tartuchins leblosen Augen glomm es auf.

»Wie soll ich das wissen? Verschwinde, woher du gekommen bist, zu den Deinen …«

»Meinen?«

»Stell dich nicht dumm!« sagte Schwanecke böse. »Glaubst du, ich weiß nicht, wer du bist und wohin du gehörst?«

»Du weißt!« sagte Tartuchin bestätigend. »Und warum du mich nicht tötest?«

»Ich tu's, bei Gott, ich tu's! Aber nicht hier!«

Blitzschnell griff Schwanecke über den Tisch, packte Tartuchin an der Brust, zog ihn mit übermenschlicher Kraft über den Tisch zu sich und schleuderte ihn gegen die Tür. »Geh!« schrie er, »hörst du? Wir treffen uns wieder, hau ab!«

Der Mongole fiel auf den Lehmboden neben der Tür. Stumm erhob er sich, ohne zu dem anderen zurückzuschauen, öffnete die Bohlentür und trat hinaus in den Schnee. Kälte wehte in den Raum und ergriff Schwanecke, der bleich am Tisch lehnte. Er sah noch, wie sich Tartuchin Schneeschuhe an die Pelzstiefel schnallte – breite, geflochtene, fast kreisrunde Treter, wie sie die Mongolen Innerasiens tragen, wenn der Schneesturm über den Himalaja und den Pamir heult und die Steppen zu einem eisigen Meer werden. Dann hörte er die knirschenden Tritte, die sich schnell entfernten.

Kronenberg war es, der Schwanecke wie aus einem Traum weckte. Polternd kam er in die Blockhütte, einen Sack Kartoffeln nach sich ziehend, den er in einem der Bauernhäuser unter Stroh versteckt gefunden hatte.

»Mensch, Karl, was is'n los?« rief er. Schwanecke schreckte empor und starrte Kronenberg abwesend an. »Was hast du mit dem Iwan gemacht? Der Kerl läuft wie'n Mondsüchtiger an mir vorbei, gibt keine Antwort und zockelt über die Steppe, als wollte er zu Fuß nach Moskau.« Er legte den Sack neben die Tür und kam in den niedrigen Raum. Der Geruch der Machorkazigaretten lag noch in der Hütte, beißend, streng, zum Husten reizend. Kronenberg schnupperte. »Geraucht habt ihr auch? Friedenspfeifchen, was?«

Schwanecke stieß sich vom Tisch ab, ging wortlos an Kronenberg vorbei, trat den Kartoffelsack, der den Eingang versperrte, zur Seite und stand dann in der kalten, niedrigen Nachmittagssonne. Der Schnee blendete. Wenn man die Augen schloß und die Lider nur einen kleinen Spalt öffnete und durch die Wimpern über den Schnee blickte, schimmerte er fast blau. Im Dorf wurden die Lastwagen hinter die Scheunen gefahren, über das Schneefeld außerhalb des Dorfes kam ein kleiner, geheizter Motorschlitten gefegt. Wahrscheinlich Verwundete für das neue Lazarett.

Kronenberg schleifte seinen Kartoffelsack hinter sich durch den Schnee und versuchte keuchend, Schwanecke auf den Fersen zu bleiben. »Was ist denn los mit dir?« fragte er. »Hast du die melancholische Tour?«

Ohne sich umzudrehen, stieß Schwanecke zwischen den Zähnen die zur damaligen Zeit häufigste Redensart aus, verlängerte seine Schritte und verschwand hinter einer Kate.

»Der wird nie ein feiner Mann«, sagte Kronenberg seufzend und wischte sich über die Stirn. »Auch nicht, wenn er klassische Dichter zitiert …«

Im Lazarett stand Dr. Hansen am Operationstisch. Deutschmann assistierte ihm. Sie arbeiteten schweigend, schnell, als wären sie bereits jahrelang aufeinander eingespielt. Nachdem der letzte Verwundete ›aufgearbeitet‹ war, wie es in der Sprache der Kriegsärzte hieß – eine tiefe Oberschenkelwunde mit einem zackigen Granatwerfersplitter knapp neben dem Knochen –, machten sie eine Zigarettenpause. Mit ausgestreckten Beinen und zusammengesunkenen Oberkörpern saßen sie eine ganze Weile schweigend auf zwei Kisten und pafften die Tabakwölkchen vor sich hin.

Dr. Hansen nahm ein paarmal Anlauf, um den älteren, stillen Mann mit dem schmalen, bleichen Gesicht etwas zu fragen, aber seine angeborene Schüchternheit ließ ihn nicht sprechen.

»Es gibt doch etwas, was Sie wissen möchten, Herr Unterarzt?« half ihm Deutschmann endlich lächelnd.

»Ja – allerdings – Sie sind doch …«

»Arzt«, sagte Deutschmann trocken.

»Ja. Und – wie – wie kommen Sie eigentlich hierher?«

»Befehlen Sie mir zu antworten?« fragte Deutschmann.

»Nein – natürlich nicht«, sagte Dr. Hansen verwirrt.

»Dann lassen wir es dabei, daß ich eben hier bin, Herr Unterarzt.«

Sie schwiegen.

»Und jetzt sind Sie – Hilfssani …«, sagte Dr. Hansen schließlich.

»Ja.«

»Wenn Sie wollen – ich meine, es wäre bestimmt am besten für uns, für das Lazarett – könnte ich mit Dr. Bergen sprechen und Sie anfordern … Wir haben ganz wunderbar zusammengearbeitet … Was meinen Sie?« sprach Dr. Hansen eifrig und sah dabei Deutschmann fast bittend an. »Sie könnten hier bestimmt mehr leisten als dort vorne … Ich würde mich sehr freuen …«

»Ich danke Ihnen«, sagte Deutschmann langsam. »Aber ich glaube, es ist besser, wenn ich bleibe, wo ich bin. Seien Sie mir nicht böse. Ich bin kein Chirurg, Kronenberg ist bestimmt anstellig genug – ich denke, daß ich dorthin gehöre …« Mit dem Kinn deutete er gegen das kleine schmutzige Fenster und gegen das entfernte Donnern und Rollen eines plötzlichen Feuerüberfalls der russischen Artillerie. Seine Stimme war bestimmt und trotzig. Er wußte selbst nicht, warum er dieses Angebot ausschlug. Hier, im ›Lazarett‹, hätte er sicher viel mehr Chancen durchzukommen als vorne bei der Truppe. Doch plötzlich erschien ihm das irgendwie gleichgültig. Er fragte sich leicht verwundert, was ihn wohl zu diesem Verzicht getrieben hatte. Es gab nichts, was dagegen sprach. Und trotzdem …

»Nein, nein, lassen Sie's, es ist wahrscheinlich falsch, was ich tue, aber auch nur bedingt falsch. Da draußen sind meine Kameraden … Aber es ist nicht nur deswegen …«, suchte er nach richtigen Worten, unfähig, sie zu finden.

»Ich glaube – ich verstehe«, sagte Dr. Hansen nachdenklich.

»Na, dann ist es ja gut«, lächelte Deutschmann den Jüngeren an. Sie verstanden sich, und Deutschmann wußte plötzlich, daß er hier einen neuen Freund gefunden hatte, auf den er sich verlassen konnte. Er stand auf und begann den ›Operationssaal‹ von Blut und Fleischfetzen zu säubern.

Draußen im Schnee, am Rande von Barssdowka, stand Schwanecke und sah hinüber zu dem kleinen schwarzen Punkt, der langsam über das Schneefeld kroch, den Wäldern am Horizont entgegen, die bereits in Dämmerung zu versinken begannen: Tartuchin. Der Punkt wurde immer kleiner und verschwand schließlich in einer Senke, als wäre er von der Welt aufgesaugt worden. Schwanecke spuckte aus, drehte sich um und stapfte entschlossen zurück ins Dorf. Es war Zeit, an Aufbruch zu denken.

Vor dem Bauernhaus, in dem der ›Operationssaal‹ eingerichtet worden war, traf er auf Deutschmann. Er lehnte an der Tür, bleich, mager, abwesend. Sein Mund war fest zusammengekniffen. Obwohl er keinen Mantel trug, schien er die bissige Kälte nicht zu spüren.

»Es wird Zeit, daß wir abhauen«, sagte Schwanecke.

Deutschmann nickte, rührte sich aber nicht von der Stelle.

»Ist was passiert?« fragte Schwanecke.

»Nein.«

»Du denkst zuviel, Kumpel«, sagte Schwanecke grinsend, »viel zuviel. Das tut nicht gut. Abschalten, sag' ich dir!«

»Drei sind gestorben und zweien mußten wir die Beine amputieren«, sagte Deutschmann.

Schwanecke hob die Schultern. »Was ist schon dabei? Als wir Orel stürmten, lief einer neben mir, ein Granatsplitter hatte ihm den halben Kopf abgerissen, und er lief neben mir weiter und brüllte ›Hurra‹, Gehirn und Blut spritzten herum, er war schon tot, aber er lief immer noch und brüllte. Dann kippte er um, aus. Wir haben keine Zeit gehabt zum Kotzen. Wir stürmten. Keine Zeit zum Denken. Abschalten, Kumpel!«

»Kann man das immer?«

»Ich sag' dir was: Du warst noch nicht an der Front, und deshalb ist dir das nahegegangen, obwohl du ein Arzt bist und so etwas gewöhnt sein müßtest. Aber es ist was anderes, hier an der Front, als in einem Krankenhaus, ich verstehe. Nur glaube mir, wenn ich anfinge zu denken, würde ich mir auf der Stelle in den Mund schießen! Vor ein paar Minuten habe ich nachgedacht. Es war schlimmer als das schlimmste Trommelfeuer. Ich hab' mir vorgenommen, nie wieder zu denken, Kumpel! Komm, zieh dich jetzt an, wir wollen abhauen, nach Hause sozusagen …«

Grinsend ging er über die Dorfstraße zu seinem Schlitten. Untersetzt, breit, in seinem Pelz noch massiger wirkend. Deutschmann sah ihm nach. Ein kleines, zaghaftes Lächeln huschte über sein Gesicht. Nach Hause … dachte er. Wenn ich zu Julia ging, dann sagte ich: Ich gehe nach Hause. Jetzt gehe ich zum Krüll und sage: nach Hause. Zuviel denken … Abschalten. Wie kann man das? Ein Mann läuft mit einem halb abgerissenen Kopf und brüllt »Hurra«. Oder er denkt, daß er immer noch »Hurra« brüllt. Schwanecke hatte gedacht, und es war schlimmer als ein Trommelfeuer. Wie werden die Leute leben ohne Beine? Wie kann man leben, wenn man nicht mehr gehen kann, wohin man möchte? Nach Hause gehen, zu Julia, zu Krüll. Unsinn.

Er drehte sich um und ging ins Haus, um sich für die Fahrt ›nach Hause‹ fertig zu machen.

Oberfeldwebel Krüll war in großer Fahrt.

Auf dem Tisch vor ihm lagen genaue Streckenpläne der auszuhebenden Gräben, und er war dabei, die ausgeschanzten Stücke in Rot einzutragen. Die Karte hatte er im Maßstab 1 : 2.000 gezeichnet und nach längerer Anstrengung ausgerechnet, daß die 2. Kompanie mehr als fünfzig Meter zuwenig ausgeschanzt hatte. Das Soll war nicht erfüllt worden, trotz Spitzhacken, Sprengladungen und zehnstündiger Arbeitszeit. Für Krüll bedeutete dies ein schweres militärisches Versagen, das einzig und allein ihm in die Schuhe geschoben würde. Fünfzig Meter zu wenig! Er rechnete noch einmal nach, doch die fünfzig Meter wurden nicht weniger. Es war anzunehmen, daß Oberleutnant Obermeier dies noch nicht wußte. Und Krüll sann darüber nach, wie er dieses Debakel dem Kompaniechef beibringen konnte.

Zunächst nahm er den Weg aller Hauptfeldwebel und befahl die Gruppenführer zu sich in die Schreibstube. Weil er aber zugleich beschlossen hatte, gegen die nun immer mehr um sich greifende Disziplinlosigkeit und militärische Nachlässigkeit vorzugehen, tat er es kasernenmäßig: Dienstanzug, umgeschnallt, mit Stahlhelm.

Unteroffizier Peter Hefe tippte sich an die Stirn, bevor er mit den Unteroffizieren Kentrop und Bortke eintrat: »Der hat 'nen Stich, Jungs! Paßt auf, er hat wieder was ausgeknobelt, von dem wir uns nur auf der Latrine befreien können!«

Sie traten in die Schreibstube, bauten unlustig ihre Männchen und sahen auf Krüll, der hinter seinem improvisierten Schreibtisch hockte, die Streckenpläne deutlich sichtbar vor sich.

»Aha!« sagte Kentrop laut. Krüll fuhr empor.

»Jawohl! Aha! Die 2. Kompanie scheint mir ein Altersheim für gebrechliche Pensionäre zu sein. Immer langsam voran. Die Russen werden schon warten, bis die Herren fertig sind. Hier …«, schlug er mit der Faust auf den Tisch, »hier habe ich ausgerechnet, daß fünfzig Meter Graben fehlen!«

»Hast du dich auch nicht verrechnet?« fragte Bortke sanft.

Oberfeldwebel Krüll wurde rot. »Wir sind im Dienst, Unteroffizier Bortke! Ich verlange …«

»Halt 'n Rand!« Peter Hefe nahm seinen Stahlhelm ab, das Theater widerte ihn an. Er setzte sich auf eine Kiste und nahm sich den Streckenabschnitt von Krülls Schreibtisch. »Das ist die Strecke, die nur nachts gegraben werden kann. Am Tage ist Feindeinsicht, die Russen sehn hier jede Maus, die herumkriecht.«

»Na und?« Krüll riß Hefe das Blatt aus der Hand. »In der HKL leben die anderen unter ständiger Feindeinsicht, ohne sich in die Hosen zu machen!«

»Dort stecken sie in der Erde. Wir aber stehen obendrauf und müssen graben.«

»Dafür sind wir auch kein Kegelklub.«

»Nein, sondern glatte Zielscheiben, wenn wir am Tage schanzen.« Bortke machte es Hefe nach und nahm den Helm ab. »Vielleicht kommst du mal mit 'raus und siehst dir die Sache an. Wie wär's?«

»Wie bitte?« Oberfeldwebel Krüll lehnte sich zurück. »Verantwortlich sind die Gruppenführer«, sagte er, sanfter gestimmt. Bortkes Antrag ließ ihn vorsichtiger werden. »Wenn dem Bataillon gemeldet wird, daß die Schanzarbeiten zu langsam vorangehen, ist der Teufel los!«

»Dann soll sich das Bataillon den Mist da vorne mal ansehen«, sagte Hefe mißlaunig.

»Wir reden alle ziemlich viel Unsinn«, meinte Unteroffizier Kentrop. »Wann hat sich ein Bataillon so etwas schon angesehen? Was hast du für Vorschläge?« fragte er Krüll. Er war der einzige, der noch stand und der seinen Helm aufbehalten hatte. Korrekt, sehr ruhig, sah er den Oberfeldwebel an. Vor seinem kalten, leidenschaftslosen Blick hatte Krüll Respekt; Kentrop war ihm unheimlich mit seiner Ruhe und Gelassenheit. Auch jetzt sah Krüll nur kurz zu Kentrop und wandte sich dann wieder an Hefe:

»Wir müssen versuchen, auch am Tage zu schanzen. Die fehlenden fünfzig Meter müssen wir herausholen. Wenn vorne unsere Kameraden den Kopf hinhalten, können wir hier nicht Versteck spielen!«

»Ganz richtig!« Oberleutnant Obermeier war eingetreten. Er kam durch die zweite Tür, die eine Verbindung zu den zerstörten Stellen herstellte. Als die Unteroffiziere aufspringen wollten, winkte er ab, trat zum Tisch und nahm die Zeichnungen. »Saubere Arbeit, Oberfeldwebel.«

»Mit genauen Maßstäben, Herr Oberleutnant. Wir können damit den Fortgang der Arbeit täglich gut kontrollieren.«

»Können Sie das wirklich?«

»Jawohl, Herr Oberleutnant.«

»Hier vom Schreibtisch aus?« Oberleutnant Obermeier legte die Pläne vor Krüll hin. »Sie haben die Streckenkarte nicht an Ort und Stelle gezeichnet. Wer garantiert Ihnen, daß Ihre fünfzig Meter nicht auf einen Rechen- oder Zeichenfehler zurückzuführen sind? Am besten ist, Oberfeldwebel, Sie überzeugen sich morgen am Ort von der Richtigkeit Ihrer Berechnungen. Rücken Sie mit der Kompanie aus und messen Sie mit dem Bandmaß die Gräben aus. Das tragen Sie dann noch einmal in Ihre Pläne ein. Von besonderem Interesse sind natürlich diese vom Feind eingesehenen Stellen.«

Krüll wagte nicht zu antworten. Das hatte er nicht erwartet. Sein Herz fing heftig und schwer zu pochen an. Er fühlte, daß er sehr blaß aussehen mußte, und die andern, die Unteroffiziere, starrten ihn an und grinsten unverschämt.

»Alles klar, Oberfeldwebel?«

»Jawohl, Herr Oberleutnant.« Krüll atmete tief. Die Angst in seinen Knochen konnte nicht größer sein als die Disziplin.

»Morgen früh also. Wann rückt Ihre Gruppe aus, Hefe?«

»Um halb sechs, Herr Oberleutnant.«

»Sie nehmen den Oberfeldwebel mit.«

»Mit Vergnügen, Herr Oberleutnant!«

Obermeier fuhr herum: »Unterlassen Sie diese dämlichen Bemerkungen! Der Krieg ist kein Vergnügen, das war er noch nie! Stellen Sie sich vor, Sie werden beschossen und dem Oberfeldwebel passiert etwas. Oder können Sie mir garantieren, daß nichts passieren wird?«

»Nein, Herr Oberleutnant!«

»Na also!« wandte sich Obermeier zum Telefon. Krüll hatte diesen Wortwechsel wie aus weiter Ferne gehört, ohne ihn richtig zu begreifen. Über seine Beine empor kroch eine flaue Schwäche. Er hielt sich an der Tischkante fest und stierte auf die Pläne, ohne etwas zu sehen. Und dann hörte er Kentrops Stimme:

»Sie können sicher sein, Herr Oberleutnant, daß wir alle unser Leben einsetzen werden, um Herrn Oberfeldwebel wieder herauszuholen, wenn etwas passiert. Wenn es nicht sofort gelingt, dann wird er höchstenfalls bis zur Nacht warten müssen.«

Obermeier antwortete nicht. Er sah zur Wand, drehte an der Kurbel und rief die 1. Kompanie an.

Krüll sah langsam hoch in die hämisch grinsenden Gesichter seiner Unteroffiziere. »Gut«, sagte er mühsam, »ich gehe heute nacht mit 'raus. Dann bin ich am Morgen in den Stellungen und kann sie tagsüber ausmessen. Und …«, jetzt wurde seine Stimme sicherer, »… der Teufel holt euch, wenn es sich herausstellt, daß wirklich fünfzig Meter fehlen!« Er wandte sich ab und verließ schnell die Schreibstube. Hefe sah erstaunt auf die beiden anderen. Kentrop und Bortke schwiegen betroffen. Zum erstenmal hatte Krüll vor ihren Augen einen Kampf gegen sich selbst ausgefochten – und gewonnen. Er hatte ihren Hohn geschlagen.

Obermeier drehte sich herum: »Was steht ihr noch da? Von Babinitschi kommen gleich neue Verschalungsbretter.«

Verlegen und kleinlaut verließen die Unteroffiziere den Raum. Vor dem Haus blieben sie stehen und sahen Krüll zu, der einige Leute anbrüllte, die zu langsam einen Schlitten abluden.

»Er ist wieder ganz der alte«, sagte Unteroffizier Hefe.

»Mensch, das hätte ich nicht von ihm gedacht«, sagte Bortke.

»Macht euch nichts vor«, sagte Kentrop. »Oder wollt ihr etwa behaupten, daß ihr keine Angst habt?«

»Niemand behauptet das«, knurrte Hefe. »Wer hat schon keine volle Hose? Bei Krüll stank es nur mehr als bei den anderen. Bis jetzt jedenfalls. Wir werden ja sehen, ob's wirklich anders geworden ist.«

Erich Wiedeck und Schütze Katzorki, das Rattengesicht, krochen in einem kurzen, neuen Grabenstück herum und verschalten die kleinen Bunker, die alle 50 Meter als Stützpunkt in das Verteidigungssystem eingestreut waren, als Ernst Deutschmann mit eingezogenem Kopf durch den Graben gelaufen kam und sich neben ihnen schweratmend an die hartgefrorene Grabenwand lehnte.

»Schau mal einer an – wir haben hohen Besuch bekommen«, sagte das Rattengesicht und grinste schief mit seinen schwarzen Zahnstummeln.

»Ist was los?« fragte Wiedeck.

Deutschmann zuckte mit den Schultern. »Nichts«, sagte er. »Ich muß warten, bis irgendwas los ist.«

»Da wirst du nicht lange warten müssen«, sagte das Rattengesicht. Die Bretter für die Bunker hatte man nachts durch den Schnee herangeschleift. Als der Morgen graute, machte man sich daran, die nachts ausgehobenen Bunker zu verschalen. In den Gräben blieb jedoch immer nur ein Drittel der Kompanie, der Rest rückte mit dem anbrechenden Tag ab.

Ab und zu zuckte die Erde auf und schüttelte die Männer durcheinander. In kurzen Abständen heulte es durch die eisige Luft heran, tiefer und tiefer wurde der Orgelton, so wie ein Brummkreisel kurz vor dem Umfallen. Dann warfen sich die Männer an die Grabenwand, steckten den Kopf in den Schnee und lauschten mit vor Furcht verzerrten Gesichtern auf das Krachen der Einschläge. Zwei-, fünf-, sieben-, zehn-, zwölfmal donnerte es um sie herum, der Luftdruck drückte sie gegen die Erde oder hob sie fast vom Boden, Fontänen von Steinen, Eis und Erde spritzten auf und prasselten auf ihren Rücken. Und zwischendurch hörten sie das helle, surrende Pfeifen der glühenden Splitter, die zischend in den Schnee fuhren.

»Verdammt nah!« sagte Wiedeck.

»Hoffentlich kommt's nicht noch näher«, sagte das Rattengesicht. Seine Stimme zitterte.

Nach dem Ende des Feuerschlages erhoben sie sich und rannten geduckt zu dem nächsten Bunker. Atemlos stolperten sie die Stufen hinab und setzten sich auf die gestapelten Bretter und Grundbohlen. Wiedeck steckte sich eine Zigarette an und gab auch Deutschmann die Packung. Das Rattengesicht rauchte nicht; er betrieb mit den wenigen gefaßten Zigaretten einen schwungvollen Handel um Brot, Butter und Wurst.

»Wenn das so weitergeht, zerhämmern sie die neue Stellung, noch ehe sie fertig ist«, sagte Wiedeck.

»Das ist so wie mit dieser blödsinnigen Näherin, die nachts auftrennte, was sie tagsüber genäht hatte«, sagte das Rattengesicht.

»Nicht ganz«, sagte Deutschmann.

»Oder wie mit diesem alten Germanen, der einen Stein auf den Berg rollte«, spann das Rattengesicht den Faden weiter.

»Er war ein korinthischer König und hieß Sisyphus«, sagte Deutschmann.

»Du hast in der Schule immer gut aufgepaßt«, sagte das Rattengesicht.

»Man sollte das Grabensystem weiter nach Westen legen.« Deutschmann lehnte sich gegen die kalte Erdwand. Sein unrasiertes Gesicht war noch spitzer und schmaler geworden. Er trug keine Rot-Kreuz-Binde mehr; in Rußland war es nicht üblich, und wenn sie jemand trug, dann hatte das meistens keinen Einfluß auf den Gegner; man beschoß gegenseitig die Sanitäter mit oder ohne Binde. »Was nutzt ein Auffanggraben, der kaum tausend Meter hinter der HKL liegt? Wenn die Offensive rollt, sind die tausend Meter völlig ohne Bedeutung.«

»Du hättest General werden müssen«, sagte das Rattengesicht. Wiedeck rauchte mit hastigen, tiefen Zügen. Seit der Geburt des Kindes hatte er nichts mehr von seiner Frau gehört. Seine Briefe blieben unbeantwortet, er wußte nicht einmal, ob sie weitergegeben wurden. Man wußte überhaupt nur das, was man sehen konnte. Und außerdem wußten sie alle, daß sie kein Recht hatten: kein Recht auf Postabgang und Postempfang. Kein Recht auf Pakete und Karten. Kein Recht zur üblichen Truppenverpflegung und kein Recht auf Marketenderwaren. Sie waren Ausgestoßene, Verbrecher. Todgeweihte, in grauen, abgetragenen und geflickten Uniformen, deren Arbeitskraft man so lange ausnutzte, bis sie wertlos war. Daran konnte niemand was ändern, auch nicht Oberleutnant Obermeier oder Hauptmann Barth. Obermeier hatte einmal bei Barth angerufen und nach Post gefragt. »Post?« wunderte sich Barth. »Ja, Obermeier, erwarten Sie denn Post?«

»Ich nicht allein. Meine Männer wissen nicht, was in der Heimat los ist, besonders die Verheirateten sind übel dran.«

»Die Glücklichen! Sagen Sie Ihren Leuten, daß sie froh sein können, wenn sie nicht wissen, was in der Heimat los ist. So leben sie glücklicher, mein Lieber. Im übrigen geht die Post über das Stammbataillon in Posen. Dort ist ein Major Kratzner Chef des Ersatzhaufens. Ich habe gehört, daß er das goldene Parteiabzeichen besitzt. Zuletzt war er Lehrer an einer Nationalsozialistischen Erziehungsanstalt. Zur Zeit ist es auch in Posen ziemlich kalt. Kratzner wird sich an den Briefen die Hände wärmen, wenn er sie in den Ofen steckt.«

»Abwarten!« Das war alles, was Wiedeck von Obermeier erfahren konnte. Nach und nach verfiel auch er, ähnlich wie die andern, in eine Art stumpfsinnigen Fatalismus, den nichts mehr erschüttern konnte. Artilleriefeuer? Na denn! Tote? Im Krieg gibt's immer Tote. Arbeit? Bin ich gewohnt. Das Leben? Kotzt mich an. Jetzt sagte er: »Ob tausend oder zehntausend Meter, ist egal. Wir schanzen.«

»Amen«, sagte das Rattengesicht.

»Draufgehen werden wir sowieso alle«, sagte Wiedeck.

»Muß nicht sein«, sagte Deutschmann.

»Glaubst du?« Wiedeck sah auf und lächelte Deutschmann schief an. »Mensch, glaubst du das wirklich? Frontbewährung? Begnadigung; Schwanecke vielleicht, oder dieser da«, mit dem Kinn zeigte er gegen das Rattengesicht, »diese beiden vielleicht, das sind Kriminelle.«

»Na, hört mal!« sagte das Rattengesicht.

»… die werden vielleicht begnadigt, um später einmal aufgehängt zu werden. Ich hab' vielleicht auch eine Chance durchzukommen. Ich bin ja bloß ein blöder Bauer. Aber du, oder der Oberst Bartlitz, oder die anderen Politischen? Die werden begnadigt, wenn sie ins Gras beißen.«

»Ich komm' bald 'raus«, sagte das Rattengesicht.

»Niemand kommt 'raus«, sagte Wiedeck.

»Ich pfeif auf euch Schwarzseher«, sagte das Rattengesicht, stand auf und ging zum Bunkerausgang. »Und ich sage dir, ich komme 'raus. Es wird nicht lange dauern, und ich bin wieder in Berlin. Wetten? Wenn ich bei Kranzler ganz nobel Kaffee trinke, schreibe ich euch eine Postkarte.« Er grinste über die Schulter zurück und kletterte in den Graben.

»Bei dem glaube ich's am Ende selbst«, sagte Wiedeck.

Deutschmann sah aus dem Bunker hinaus auf das kleine Stück Schneewall, das im Eingang sichtbar war. Draußen tastete die leichte Artillerie das Feld ab. Streufeuer.

»Hast du schon einmal deine Frau betrogen?« fragte er zögernd.

»Was?« Wiedeck sah Deutschmann verblüfft an.

»Ob du deine Frau betrogen hast?«

»Komische Frage! Warum sollte ich sie betrügen?«

»Hast du sie?«

»Nein.«

»Nicht mal in Gedanken?«

»Blödsinn. Wer tut das nicht? Warum fragst du?«

»Nur so.«

»Und du?«

»Bis jetzt nicht mal in Gedanken. Bis vor kurzem.«

»Mensch – du hast Nerven!«

»Ich habe sie verraten«, sagte Deutschmann schwer.

»Verraten? Wieso? Mit wem? Etwa mit einer – Russin? Wo nimmst du eine Russin her?«

»In Orscha«, sagte Deutschmann.

»Mensch – gibt's das überhaupt? Ich dachte, das denken sich nur manche aus.«

»Das gibt es«, sagte Deutschmann. »Sie sagte, ich solle hier bleiben. Sie sagte, ich soll nicht mehr nach Hause gehen, und ich weiß plötzlich nicht mehr, was ich tun würde, wenn – wenn …« Er machte mit der Hand eine hilflose Gebärde, als wüßte er selbst nicht ganz genau, was hinter diesem Wenn stand. Vielleicht: Wenn es plötzlich Frieden gäbe und man bleiben könnte, wo man wollte; wenn er sich über alles selbst im klaren wäre und über seine Sehnsucht, die ihn zugleich zu Julia und zu Tanja; wenn … »Ein Verrat«, sagte er, »ich habe es getan. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich weiß überhaupt nicht, was ich tun soll … Dieses hier, Strafbataillon, Julia, Tanja, die Erinnerung … Ich habe nie sehr gut geschlafen, jetzt kann ich es fast überhaupt nicht mehr.«

Draußen hämmerten einige Maschinengewehre. Dazwischen hörte man hell die Abschüsse der leichten Minenwerfer und das dumpfe Krepieren der Gewehrgranaten.

»Es geht wieder los«, sagte Wiedeck. Und: »Wenn du richtig müde bist, wirst du auch schlafen können.« Durch die Luft heulte es hell und kurz auf, und dann krepierten in ihrer Nähe die Granaten der russischen Artillerie. Deutschmann fand sich auf dem Boden liegend, einige Erdbrocken polterten von der Bunkerdecke auf seinen Rücken. Und durch das Sausen und Klingen in seinen Ohren hörte er draußen plötzlich eine menschliche Stimme. Sie kam ihm bekannt vor, aber er wußte nicht, woher er sie kannte; denn es war eigentlich keine menschliche Stimme mehr, es waren Laute, die auch ein Tier formen könnte, nicht formen, sondern ausstoßen, ein Tier, das in schrecklicher Angst und Furcht plötzlich die Sprache gefunden hatte, um seine Qual allen verständlich herauszuschreien. »Jesus Maria …«, sagte die Stimme, wimmerte sie, seufzte, schrie, flüsterte, und alles das zusammen oder nichts davon, »Jesus Maria – was – was …?« fragte sie, und dann wieder: »Jesus Maria …«

»Das Rattengesicht!« rief Wiedeck, sprang über den liegenden Deutschmann und kroch aus dem Bunker. Deutschmann sah seine beschlagenen Sohlen, er sah ganz genau, daß viele Nägel fehlten, und dann verschwanden die Sohlen, er stemmte sich hoch, sprang zum Ausgang, fiel auf die Knie und kroch heraus. Seine Tasche war ihm im Wege, sie hing zwischen seinen Beinen und schleifte am Boden; mit einer wütenden, kurzen Bewegung schleuderte er sie auf den Rücken, und dann war er draußen, und das Wimmern war jetzt ganz nah.

An der Grabenwand lehnte das Rattengesicht. Sein Gesicht war grau verfallen, die Nase stach spitz und gelb heraus. Die Lippen waren wie im Krampf von den schwarzen Zahnstummeln zurückgezogen, und aus seinem Mund kamen, ohne daß sich die Lippen bewegten, die gepreßten, wimmernden Laute: »Jesus Maria – Jesus Maria …« Seine Augen stierten auf etwas Blutiges, das vor ihm lag.

Und erst jetzt sah Deutschmann, daß der linke Arm des Rattengesichts auf der ihm abgekehrten Seite an seiner Wurzel abgerissen war. Aus der zerfetzten, riesigen Wunde schwappte Blut, lief die Uniform herunter, färbte den schmutzigen Schnee rot und bildete auf dem gefrorenen Grasboden um Rattengesichts Stiefel eine kleine, schnell größer werdende Pfütze. Rattengesichts Knie gaben nach. Er rutschte die Grabenwand herab und blieb auf dem Boden, mitten in der Blutlache sitzen. Dabei starrte er immer noch auf den abgerissenen Arm, der mit abwärtsgekehrter Handfläche und gekrümmten Fingern vor ihm lag. Er hob die rechte Hand empor, als wollte er nach irgend etwas greifen oder auch Halt suchen, aber sein Arm sank kraftlos herab, und er kippte seitwärts um. Dabei sagte er immer noch und nur das: »Jesus Maria – Jesus Maria …«

Deutschmann schob den erstarrten, leichenblassen Wiedeck zur Seite und beugte sich über das Rattengesicht. Mit fliegenden Händen machte er die Tasche auf und kramte sinnlos in ihr herum, ohne den Blick von Rattengesicht zu wenden. Doch dann verharrte er mitten in der Bewegung.

Es war sinnlos.

Er sah, wie sich über das Gesicht des Verwundeten der Tod ausbreitete.

Hinter einer Kate, in der Nähe des Kompaniegefechtsstandes der 2. Kompanie des Strafbataillons, wurde Schütze Werner Katzorki, das Rattengesicht, begraben. Sein Grab lag etwas abseits der zwei Reihen schiefer, schneeverwehter Birkenkreuze; am Tage, als er gefallen war, schlug eine verirrte Granate zwischen sie und riß eine flache Mulde in das steinhart gefrorene Erdreich: Eine willkommene Hilfe für die zwei Hiwis, die Gräber auszuheben hatten.

Das Rattengesicht wurde ohne viel Aufhebens beerdigt. Es war Nacht, und die Kompanie arbeitete vorne an den Ausschachtungen. Nur einige wenige von denen, die am Tage draußen waren, standen etwas hilflos um die flache Mulde, die Katzorkis Grab werden sollte. Der Tote war schon steif gefroren: Mit weit offenem, grinsendem Mund lag er auf einer Zeltplane neben dem Loch. Auf seinem Bauch lag der abgerissene Arm, die riesige Wunde schimmerte rosig durch den weißen Reif, der sich auf ihr niedergeschlagen hatte.

»Na denn«, sagte Wiedeck zu den beiden Hiwis, die teilnahmslos danebenstanden, »macht weiter.«

Die Hiwis packten die Zeltplane auf einer Seite, hoben sie an und rollten den steifen Körper in die Grube; es war verboten worden, die Toten mit Zeltplanen zu begraben. Zeltplanen waren rar, Lebende konnten sie gut gebrauchen, Tote aber brauchten keine mehr.

Vorne, an der Front, blitzte es unausgesetzt. Das Krachen des Artilleriefeuerüberfalls rollte dumpf über die Ebene, dazwischen hörte man das rasende Rattern der deutschen Maschinengewehre und das bedächtigere Tacken der russischen. Ein Hiwi stieg in das Loch und bettete Katzorki so, daß sein Gesicht gegen den stumpfschwarzen, nie ganz dunklen Himmel sah.

Dann buddelten sie ihn zu.

Es wurde keine Rede gehalten und keine Salve geschossen. Bevor der Tote noch ganz zugedeckt war, verließen die Soldaten das Grab. Das einzige, was man für den Toten tun konnte, hatte Deutschmann getan: Auf ein rohes, auf das Birkenkreuz genageltes Brettchen hatte er mit Tintenstift geschrieben:

Soldat Werner Katzorki

* 1912 † 1943

und darunter klein und flüchtig:

Vielleicht hat er es jetzt besser.

Wieder einmal tauchte in Babinitschi Oberleutnant Bevern auf. Was er dort wollte, wußten weder Wernher noch Obermeier, der schnell angerufen wurde – in dem Augenblick, in dem Bevern aus dem Schlitten kletterte, den Mantel zuknöpfte, die Meldung entgegennahm, einen Unteroffizier freundschaftlich-leutselig tadelte, weil er keinen Stahlhelm trug, und Wanda, Wernhers Dolmetscherin, nachblickte, die an ihm vorbeiging. Trotz des unförmigen dicken Mantels und der Filzstiefel, die sie trug, konnte man unmöglich übersehen, daß sie verteufelt hübsch war.

»Weibsstück!« knurrte der Adjutant erbittert, als er Wanda nachsah – und dachte im gleichen Augenblick an einen Vortrag, den er beim nächsten Schulungsabend halten wollte: Die Unterwanderung der Moral des deutschen Soldaten durch die russische Frau.

Wernher legte den Telefonhörer wieder auf, betrachtete vom Fenster her Bevern und grinste vor sich hin. »Der wird heute nacht schlecht schlafen«, sagte er zu seinem Spieß. »Wenn der Kerl nicht aus Ton ist, muß Wanda zumindest einen Gedanken bei ihm hinterlassen haben.«

»Es dürfte kaum anzunehmen sein, Herr Oberleutnant«, murmelte der Spieß, bevor er den Raum verließ. Er trug eine Brille, hatte ein gelehrtes Aussehen und sprach – wenn er nicht gerade wütend war – sehr gewählt.

Bevern und Wernher schüttelten sich die Hände.

»Bin wieder im Lande, Herr Wernher! Wundern Sie sich darüber?«

Wernher hob die Schultern.

»Wundern? Nein – warum?« antwortete er gleichmütig. »Im Krieg muß man immer mit unangenehmen Überraschungen rechnen.«

»Danke.« Bevern bekam ein steifes Kreuz. Doch dann überlegte er, daß er sich zusammennehmen und den ersten Schritt zu einer Versöhnung tun mußte oder wenigstens zum guten Einvernehmen, denn Versöhnen mußten sie sich ja eigentlich nicht, da sie ja nie gestritten hatten. Das Offizierskorps mußte zusammenhalten wie Pech und Schwefel, in guten wie in schlechten Zeiten, besonders in schlechten oder – schwierigen. »Warum sind Sie eigentlich so abweisend?« fragte er beschwichtigend. »Sie tun geradeso, als ob ich auf der Welt wäre, nur um Sie zu ärgern. Wir müssen zusammenhalten, wir sitzen ja doch alle zusammen in einem Boot.«

»Nur, daß Sie verkehrt rudern«, brummte Wernher mißmutig.

»Sie sind ungerecht. Ich tue nur meine Pflicht.«

Wernher setzte sich. »Aha«, sagte er, »nur Ihre Pflicht. Gut, gut. Vor drei Tagen zum Beispiel haben Sie die Urlauber aus dem Lazarett oder dem Truppenverbandsplatz Barssdowka in Orscha gesammelt und haben mit ihnen einen Ausmarsch gemacht. Das war Ihre – Pflicht, was, Herr Bevern?« Den letzten Satz sagte er langsam und betonte jede Silbe. »Verwundete, die bei jeder regulären Truppe für sechs Wochen nach Hause geschickt würden. Ich weiß, ich weiß …«, winkte er ab, als Bevern etwas entgegnen wollte, »wir sind keine reguläre Truppe, bei uns gibt es keinen Urlaub. Bei uns gibt es nur eine Erholung in der Etappe. Erholung in Orscha. Daß ich nicht lache! Und dort, in dieser ›Erholung‹ – da stehen Sie, sammeln die Männer, die zum Teil noch halb offene Wunden haben und marschieren mit ihnen hinaus. Drei-vier, ein Lied! Sie lassen sie durchs Gelände robben, Sie veranstalten Kasernenhofdrill, machen Grußübungen, Parademarsch, Gewehrkloppen und Nachtmärsche – und das mit Leuten, die sich kaum auf den Beinen halten können!«

Oberleutnant Bevern sah aus dem Fenster. Sein junges Gesicht war hochmütig und verschlossen.

»Abhärtung!« sagte er schließlich. »Militär und Krieg sind keine Ausflugsfahrt ins Blaue. Bewegung hat noch nie jemandem geschadet.«

»Das fragen Sie mal jemanden, der mehr davon versteht. Zum Beispiel einen Arzt.«

»Ach was!« sagte Bevern wegwerfend.

»So was nennt man Sadismus, Herr Bevern.«

»Nennen Sie es, wie Sie wollen. Nirgendwo steht, daß Rekonvaleszenten unmilitärisch behandelt werden sollen. Gesund oder – weniger gesund, sie bleiben Soldaten! Ja – verstehen Sie denn nicht, Herr Wernher, wir brauchen Soldaten, ganze Kerle, hart und unnachgiebig gegen sich selbst. Nur dann werden auch sie hart, unnachgiebig und mitleidlos gegen unsere Feinde sein. Sie sind doch Offizier, das müßten Sie verstehen! Hören Sie, Herr Wernher, wir müssen einen verdammt schweren Kampf ausfechten, vielleicht ist es noch ein langer Weg zum Endsieg …«

»Hören Sie damit auf! Wenn ich das höre, denke ich an eine Schallplatte mit einem Sprung, die immer dasselbe leiert: hart – hart – hart – Endsieg – Endsieg – Endsieg …«

Bevern fuhr herum. Sein Gesicht und seine ganze angespannte Gestalt drückten einen einzigen Gedanken aus: Jetzt hab' ich dich.

»Sie glauben etwa nicht daran?« fragte er leise, lauernd.

»Wieso?« Wernher sah den andern treuherzig an. Mein Gott, wie dumm du bist, dachte er, wie entsetzlich dumm! Und ausgerechnet du glaubst, mich zu erwischen!

»Ihre Äußerung …«

»Hören Sie, Bevern, dafür könnte ich Sie belangen. Sie wollen mir Worte in den Mund legen, die ich nicht einmal im Traum sagen würde. Es spricht nicht für Ihre intellektuellen Fähigkeiten, wenn Sie das, was ich damit sagen wollte, nicht verstehen können, nämlich: Warum soll man immer ein Wort wiederholen, von dem man ohnehin weiß, daß es wahr ist und daß es nichts anderes geben kann. Sie wissen ja: Ein Wort kann durch allzu häufige Wiederholung nur entweiht werden. Und das Wort ›Endsieg‹ muß uns allen heilig sein.«

Bevern schwieg verblüfft. Alles andere hätte er erwartet, nur das nicht. Er ballte die Fäuste in den Manteltaschen und sagte schließlich hilflos, nur um etwas zu sagen:

»Wenn – wenn wir uns darüber klar sind – warum dann diese Distanz zwischen uns?«

Wernher erhob sich. Er trat einen Schritt vor und sah Bevern kalt an:

»Unsere Weltanschauung beinhaltet zugleich Achtung vor einem Menschen, Herr Bevern. Sie sind ein schlechter Nationalsozialist. Ich bin nicht in der Partei, und doch würde ich mir Sachen, die Sie tun, niemals erlauben. Ich verabscheue Sie. Was Sie mit den Leuten machen, die endlich einige Tage Ruhe haben sollen, weil sie verwundet sind, weil sie für Deutschland geblutet haben – auch wenn sie in einem Strafbataillon sind, ist gelinde gesagt hundsgemein. Ich schäme mich, mit Ihnen die gleiche Offiziersuniform zu tragen. Sie sind nicht nur ein schlechter Nationalsozialist, Sie sind auch ein Schwein, ein sadistisches Schwein!«

Oberleutnant Bevern verließ wortlos die Bauernhütte. Leichenblaß, wie betäubt, blieb er einige Augenblicke auf der Straße stehen. War das noch Wernher – der zwar spöttische, aber doch verträgliche Wernher? Er sprach wie Obermeier, er sprach wie alle Feiglinge, denen es die deutsche Wehrmacht zu verdanken hatte, daß sie nicht mehr die durchschlagende, unbesiegbare Kraft der ersten Jahre hatte. Bröckelte das Offizierskorps auseinander? Was hat er gesagt? Ein schlechter Nationalsozialist! Und das mir! Ausgerechnet mir! Ein schlechter Nationalsozialist! Weil ich diese Höllenbrut in Orscha durcheinanderjagte, weil ich jede Minute meines Lebens für die Idee opfere, weil ich … diese Distanz zwischen uns?

Langsam, niedergeschlagen ging er zu seinem Schlitten. Und in ihm reifte der Entschluß, trotz allen Widerständen noch mehr als bisher sein Leben der Idee zu weihen. Er wußte, daß er nicht allein war, daß hinter ihm noch andere Männer standen, und er war bereit, sein ganzes Sein in die Waagschale zu werfen für den Sieg; für den wirklichen, endgültigen Sieg, nicht nur über die Feinde draußen, auch gegen die, die sich in den eigenen Reihen eingeschlichen haben.

»Abfahren, zum Bataillon!« rief er dem Fahrer mit scharfer, überkippender Stimme zu.

Wernher rief schnell Obermeier an und erzählte ihm, was in seiner Hütte vorgefallen war. Obermeier schwieg eine Weile, und dann kam seine Stimme dünn und verzerrt durch den Draht:

»Du bist wahnsinnig, Wernher!«

»Ich habe es satt, Fritz!«

»Hör mal – ich – wir müssen den Kopf oben behalten, Wernher, wir dürfen uns nicht hinreißen lassen. Was soll aus unseren Leuten werden, wenn wir plötzlich … wenn wir etwa genauso wie viele von ihnen als Schützen irgendwo in einer Strafeinheit landen?«

»Man kann nicht immer daran denken«, sagte Wernher mit mühsam verhaltener Stimme.

»Aber man muß es versuchen.«

»Ich mußte mich zurückhalten, um nicht seine Fresse zu zerschlagen.«

»Das kann ich dir bei Gott nachfühlen. Halt dich zurück … Kommst du heute 'rüber?«

»Ich werd's versuchen.«

»Also bis dann. Wir müssen irgend etwas finden. Es dürfte doch nicht so schwer sein, diesen Scheißkerl unschädlich zu machen!«

Wernher legte den Hörer auf und sah nachdenklich durch das Fenster dem Schlitten nach, der schon weit draußen über die Steppe glitt.

Durch die Nacht rumpelte der Schlitten.

Es schneite. In dicken, trägen Flocken rieselte der Schnee aus dem Grauschwarz des Himmels. Lautlos deckte er das Land zu. Vor den Kufen des Schlittens wirbelte der Neuschnee in Wolken auf und stäubte über die vermummte Gestalt, die das Fahrzeug lenkte. Durch den Vorhang aus weißen Perlenschnüren hob sich die schwarze Wand des Waldes nur unklar gegen den Horizont ab. Auf der rechten Seite der Straße stachen in weiten Abständen einige runde Pfähle aus dem Schnee hervor, an denen sich der verwehte Neuschnee immer höher emporhob: Die Kennzeichen der verlegten Telefonkabel, die täglich von den Störtrupps abgegangen wurden.

Schwanecke hielt sich mit beiden Händen fest. Ab und zu fluchte er. Der Schlitten sprang über vereiste Schneebuckel, immer wieder wurde er hochgeschleudert und elend durcheinander geschüttelt. Die Maschinenpistole, die er sich um den Hals gehängt hatte, schlug ihm in die Magengrube. Der kleine Motor unter seinem Sitz heulte hoch und durchdringend. Ob er diese dauernde Überbelastung aushielt?

Plötzlich sah Schwanecke auf der Straße eine Gestalt aus dem Schneetreiben auftauchen. Eine kleine, zottlige Gestalt in einem dicken Pelz, genauso vermummt wie er selbst. Einsam, verloren stand sie inmitten der grauweißen Weite. Als der Schlitten herankam, hob sie die Hand, ohne sich zu rühren.

Schwanecke trat auf die Bremsen. Der Schlitten rutschte noch etwas, schleuderte, dann stand er. Er stellte den Motor ab und kletterte von seinem Sitz. Den Riemen der Maschinenpistole hob er über seinen Kopf und nahm die Waffe in die Hand. Langsam ging er gegen die stumm wartende Gestalt.

Dann erkannte er ihn, blieb wie angewurzelt stehen, beugte sich vor und hob die Mündung der Maschinenpistole an.

Pjotr Sabajew Tartuchin hob beide Hände zum Zeichen, daß er keine Waffen trug. Aus zusammengekniffenen Augen, deren Pupillen man überhaupt nicht mehr wahrnehmen konnte, starrte er Schwanecke an, schweigend einige lange Augenblicke, bis er schließlich den Mund öffnete und mit steifen Lippen sagte:

»Da bist du!«

Über Schwaneckes Rücken lief ein eisiger Schauer. Sein Blick löste sich von Tartuchin und glitt schnell sichernd über die schneebedeckte Steppe. Tartuchin lächelte schwach.

»Wir sind ganz allein, Briderrchen …« Er machte eine weitausholende Handbewegung, die die ganze Unendlichkeit einschloß, die sich um sie und über ihnen ausbreitete. »Niemand sieht zu …«

Schwanecke nickte. »Gut.« Seine Stimme war ihm selbst fremd. Er wußte, daß er kämpfen mußte, und er wollte kämpfen, obwohl er mit einem einzigen Feuerstoß aus seiner Maschinenpistole den andern von der Straße wegfegen konnte. Aber das war zu leicht. Das war nicht das Richtige. Es war zu einfach, abzudrücken, er wollte mehr, und er ahnte, daß sich dieses Mehr genau mit Tartuchins Absichten deckte. »Na los, mach weiter!« sagte er, und in seiner Stimme schwang ein kleines, unlustiges, triumphierendes Lachen.

Tartuchin griff in die Tasche seines Pelzes und hielt Schwanecke zwei kurze, leicht gebogene Dolche entgegen. Sogar jetzt, in der Dunkelheit, konnte Schwanecke sehen, daß ihre Griffe reich verziert waren.

»Schön – verkaufst du sie?«

»Du oder ich!« sagte Tartuchin.

»Machst du's nicht billiger?«

Tartuchins Lächeln gefror.

»Such dir eins, sie sind gleich.«

Schwanecke zog seinen Handschuh aus und tippte mit dem Zeigefinger gegen die Schneide eines Dolches. Der Dolch war scharf wie ein Rasiermesser.

»Nicht schlecht …«

Tartuchin nickte: »Er muß durch den Pelz …«

Schwanecke nahm einen Dolch, wog ihn in der Hand, warf ihn empor, fing ihn geschickt wieder auf und trat dann zwei Schritte zurück.

»Warum Pelz, du gelber Affe?« Er knöpfte seinen dicken Lammfellmantel auf, zog ihn aus und warf ihn in den Schnee hinter sich. Dann sicherte er die Maschinenpistole und warf sie auf den Mantel. »Wir brauchen keinen Pelz in der Hölle, mach weiter!«

Tartuchin zögerte kurz. Dann schälte auch er sich aus seinem zottligen Pelz und warf ihn in den Schnee. Zitternd vor Kälte und Erregung standen sie sich gegenüber. Im Osten, über den verschwommenen Wäldern wurde der Himmel fahl.

»Mach schon, du Mißgeburt!« zischte Schwanecke, duckte sich und streckte die Hand mit dem Dolch leicht vor.

Tartuchin federte in den Knien. Die Schneide seines Dolches schimmerte matt.

So standen sie sich gegenüber. Keiner dachte mehr. Und plötzlich schnellte Tartuchin mit einem ächzenden Laut vor, stieß mit der Hand blitzschnell zu, doch Schwanecke wich aus, zog das Knie an und trat Tartuchin gegen den Unterleib.

Der Mongole brüllte auf. Tierisch, wie ein angeschossener Wolf. Sein Körper klappte zusammen, doch sein Gesicht blieb aufwärts gekehrt. Schwanecke stürzte vor und stieß die Faust mit dem Dolch gegen dieses Gesicht, in die verzerrte Fratze, die wie ein Irrwisch vor ihm hin und her huschte.

Tartuchin wich dem Stoß aus. Er drehte sich um seine eigene Achse und stieß zu, als Schwanecke an ihm vorbei, hinter seinem eigenen Stoß herfiel.

Schwanecke konnte nicht ausweichen, er sah eigentlich den blitzschnellen Stoß des Mongolen gar nicht. Ein heißer, stechender Schmerz in der rechten Hüfte durchjagte ihn. Und fast zugleich fühlte er etwas Warmes über seinen Schenkel fließen.

»Hund, du verfluchter!« keuchte er, sprang zur Seite und stolperte. Das rechte Bein wurde leblos, er konnte sich nicht mehr darauf stützen.

Tartuchin umkreiste ihn. Er warf einen kurzen, schnellen Blick auf die Schneide seines Dolches, sah, daß sie blutig war und begann zu grinsen. Ein wilder Taumel ergriff ihn. Blut! Blut! Sein Blut! »Ich werde dich töten!« keuchte er. Und wieder: »Ich werde dich töten!« keuchte er. Und wieder: »Ich werde dich töten – ich werde dich töten!«

Schwanecke schwieg. Sein rechter Schenkel brannte wie Feuer. Er haßte den andern nicht mehr. In ihm war ein kalter, eisiger Wille zum Töten. Er war ruhig. Und der Schmerz nicht sein eigener Schmerz. Er war außer ihm, denn nichts, was nicht töten hieß, hatte mehr Platz in seinem Körper. Er sah das gelbe, verzerrte Gesicht um sich kreisen und bewegte sich mit, immer um sich selbst, den Dolch in der vorgestreckten Faust. Und dann plötzlich warf er sich wie von einer Sehne abgeschnellt auf die kleine, zusammengebückte Gestalt des Mongolen. Sein Sprung kam so plötzlich, lautlos und unvorbereitet, mit einer eiskalten, berechnenden Wildheit, daß Tartuchin nicht mehr ausweichen konnte. Er ließ sich nur in den Schnee fallen und stieß die Faust mit dem Dolch nach oben. Aber er traf Schwanecke nicht. Er sah Schwaneckes Gesicht über sich, ganz nah, jedes Barthaar erkennend: Ein kaltes, regungsloses, erstarrtes Gesicht, das sich nicht einmal verzog, als Tartuchin weitausholend zustach und Schwanecke in den Rücken traf.

Da brach in Tartuchin eine Welt zusammen. Er spürte die kurze Dolchklinge in seinen Körper dringen, einmal – noch einmal – und er fing grell, um sich schlagend, zu schreien an. In seiner Stimme waren Angst, Grauen, Verzweiflung über den Tod, der auf ihm hockte – und Sehnsucht nach dem Leben. Mit einem verzweifelten Aufheulen schleuderte er Schwanecke zur Seite, rollte abseits und sprang zugleich mit Schwanecke wieder auf. Und dann sah er die Hand des Deutschen mit dem Dolch wieder vorzucken.

Da verlor Tartuchin die Kraft und sein Gesicht.

Er wandte sich ab und rannte schreiend die Straße entlang, durch den wirbelnden Schnee laufend, sich vorwerfend, nur weiter, so weit wie möglich von diesem Dämon, in die fahle Dämmerung, die über die Wälder kroch und die Spitzen der Bäume aus dem Schwarz des Himmels hob. Hinter sich hörte er lautes, irres Lachen. Mit blutendem Gesicht, den brennenden Körper voller Wunden, taumelte er voran. Er weinte.

Er keuchte und sprach – aber wahrscheinlich dachte er nur, daß er es laut sagte, denn die Worte sprangen ihn von überall her an, er war voll von ihnen: »Er ist stärker als ich, er ist viel stärker – ich habe Angst – ich habe Angst, er ist der große, einsame und furchtbare Wolf …«

Er merkte nicht einmal, daß er in den Schnee fiel und auf allen vieren dem Wald entgegenkroch. Hinter sich zog er einen roten Streifen wie eine dünne Schnur, die sich von seinem Körper abspulte. Er dachte: Laß mich sterben – laß mich sterben – er hat mir die Kraft genommen, den Mut und die Seele … Aber er kroch weiter, richtete sich auf und taumelte dem Wald zu. Mit der Hand schöpfte er etwas Schnee hoch und drückte ihn auf die brennenden Wunden im Gesicht.

Schwanecke fiel in die Knie, als Tartuchin hinter dem Schneevorhang untergetaucht war. Er lachte immer noch, aber sein Lachen hatte sich gewandelt. Der Triumph war aus ihm verschwunden und machte der Verzweiflung über den rasenden Schmerz Platz. Seine rechte Seite war wie abgestorben, und die Wunde im Rücken brannte, als habe jemand Salz hineingestreut. Mit dem Kopf sank er in den Schnee und fühlte die eisige Kälte dankbar auf seiner Stirn. Doch er durfte nicht – durfte nicht … Auf den Knien rutschte er über die Straße, zog sich wimmernd an dem Schlitten empor, auf den Sitz und fiel über das Steuerrad. Er mußte weiter. Jede verlorene Minute brachte ihn näher an den Tod, und er wollte nicht sterben. Er mußte weiter, weiter … er tastete nach dem Zündschlüssel, drehte ihn herum, gab Gas, der Motor sprang an: klappernd, kalt geworden, rumpelnd. Der Sitz schüttelte.

Und dann schoß der Schlitten heulend davon, von der Straße weg, in einem Bogen über das Feld, zurück zur Straße und mit höchster Geschwindigkeit auf Barssdowka zu.

Schwanecke lag über dem Steuerrad. Er fuhr durch eine nebelhafte Traumwelt, in der nur seine Schmerzen wirklich waren. So kam er in Barssdowka an: ein heulender Schlitten, der wie betrunken von einer Straßenseite zu anderen fuhr und vor dem Verbandsplatz schleudernd in einen hohen Schneehaufen raste.

Langsam, als wollte er auch jetzt noch nicht nachgeben, fiel Schwanecke auf die Seite, versuchte sich festzuhalten und rollte dann zusammengekrümmt in den Schnee.

Kurz darauf fand ihn Jakob Kronenberg ohnmächtig im Schnee liegen.

Berlin:

Dr. Franz Wissek, Chirurg an der Charité, behauptete von sich, er sei ein Glückspilz. Dies läßt sich nur aus seinem Wesen erklären; ein anderer an seiner Stelle hätte von sich gesagt, er sei ein Pechvogel: Dr. Wissek hatte nämlich nur ein Bein und auch sonst am Körper einige tiefe Narben, die ihm das Jahr 1941 geschlagen hatte.

Doch hatte seine private Philosophie – aus der Nähe gesehen – einiges für sich. Als hoffnungsvoller junger Chirurg wurde er 1939 eingezogen und arbeitete in Polen – Frankreich – auf dem Balkan – und dann im Rußlandfeldzug an ungezählten Truppenverbandsplätzen. 1941 wurde bei einem Gegenangriff der Russen sein Verbandsplatz überrollt. Die deutschen Truppen fanden ihn nach dem Gegenangriff in einem Loch liegen; sein halb abgerissenes Bein hatte er, so gut es ging, selbst abgebunden. Noch am gleichen Tage wurde es ihm amputiert. Er hätte also allen Grund zur Niedergeschlagenheit. Aber Niedergeschlagenheit paßte nicht zu Wissek, und so sagte er, die meisten seiner Kameraden wären bei dem russischen Artillerieüberfall gefallen, er aber blieb am Leben. Zudem fielen jeden Tag soundso viele junge Menschen. Er aber lebte noch. Ist das etwa kein Grund zu behaupten, man sei ein Glückspilz? Ob mit oder ohne Bein, das bleibt sich gleich. Mit einem Bein kann man genausogut operieren wie mit zwei, zumal seine Kollegen Orthopäden so verteufelt gute künstliche Beine zu bauen verstünden. Die Sonne scheint auch für die Menschen mit einem Bein, sagte er. Und weiter – und das, was man so über ihn hörte, schien ihm recht zu geben – es gäbe auch 'ne Menge hübscher Frauen, denen es überhaupt nichts ausmachte.

Genauso unbekümmert wie gegen seine eigenen Leiden – bei den langen ›Stehsitzungen‹ im Operationssaal hatte er oft unerträgliche Schmerzen –, war er auch gegen Vorurteile jener Zeit, und was noch wichtiger war, gegen wirkliche oder vermeintliche Gefahren, die aus ihr erwuchsen. Er war früher, bevor Deutschmann zum Strafbataillon kam, sein und Julias Freund gewesen. Er blieb es auch weiterhin. Und so kam es, daß Julia zu ihm ging, als sie alle Vorarbeiten für den Selbstversuch beendet hatte und darangehen konnte, ihn durchzuführen.

Groß, etwas vornübergebeugt, sich schwer auf sein gesundes Bein stützend, mit lachenden grauen Augen und einem dunklen, wirren Haarschopf über der Stirn, begrüßte er Julia in einem Gang der Charité.

»Ich hab' dich lange nicht gesehen, Mädchen«, sagte er, und Julia, die in den letzten Wochen und Monaten sehr empfindlich geworden war, bemerkte, daß er sich wirklich freute, sie zu sehen. Es wurde ihr warm ums Herz, und sie fragte sich, warum sie nicht schon eher zu ihm gegangen war – irgendwann, um eine oder zwei Stunden mit ihm in einem Lokal zu sitzen oder draußen auf dem Wannsee zu segeln. Aber dann sagte sie sich, daß es so sicher besser war: Es hatte eine Zeit gegeben, wo sie nahe daran war, ihr Herz an den großen, unbekümmerten Jungen zu verlieren – genauso wie ein paar Dutzend Mädchen und Frauen vor ihr und nach ihr. Er hatte damals sogar vom Heiraten gesprochen, aber Julia hatte den begründeten Verdacht, daß er desgleichen öfter sagte. Nun ja, vielleicht hätte sie ihn heiraten können, aber sie war nicht bereit, mit einem Mann zu leben, der bewundernd hinter jedem Paar hübscher Mädchenbeine herblickte. Dann lernte sie Ernst kennen, und danach gab es keine Frage mehr, ob sie ›Franzi‹, wie sie ihn alle nannten, doch noch nehmen sollte.

»Ich brauch' was von dir«, sagte sie, »du kannst mir bestimmt helfen.«

Der junge Arzt hakte sie unter und zog sie den Gang entlang. »Du weißt, Mädchen, daß du von mir alles haben kannst. Komm, gehen wir in meine Bude, ich habe jetzt ein bißchen frei, wir können ein Glas Schnaps trinken und von alten Zeiten reden. Es war doch schön, oder?«

»Sehr«, sagte Julia.

Sein künstliches Bein schlug hart gegen den glänzenden Fußbodenbelag, und Julia dachte einen kurzen Augenblick daran, wie schwer es diesem jungen, gesunden Menschen, Hansdampf in allen Gassen, sportbegeisterten Schwerenöter doch sein mußte mit seinem Gebrechen – trotz aller zur Schau getragenen Unbekümmertheit und Wurstigkeit. Aber dann dachte sie wieder an das, was sie von ihm haben wollte, und daran, ob es ihr gelingen würde, es auch zu bekommen.

Trotz Überfüllung der Charité hatte es Dr. Wissek fertiggebracht, eine kleine Kammer im obersten Geschoß für sich zu bekommen, obwohl er eine hübsche Villenwohnung in Berlin-Dahlem hatte. »Hin und wieder braucht man eine Schmollecke – bei den ekligen Chefs«, sagte er, als er mit Julia im Aufzug nach oben fuhr. »Außerdem muß man ab und zu in Ruhe meditieren können …« Allerdings war es in der Klinik allgemein bekannt, daß er gar nicht so selten zu zweit meditierte.

Oben angelangt, bot er Julia den einzigen Stuhl an, setzte sich selbst auf das einfache Feldbett und holte aus einem Schränkchen eine Flasche Kognak und zwei Wassergläser. »So läßt sich's leichter reden«, lächelte er Julia an, während er einschenkte; und genauso wie früher, konnte sie auch in diesem Augenblick verstehen, daß es wenige Frauen gab, die diesem netten Windhund widerstehen konnten.

Sie tranken, und er schenkte gleich wieder ein.

»Nicht doch, oder willst du unbedingt ein Saufgelage veranstalten?« fragte sie. Der Kognak wärmte sie und überzog ihr Gesicht mit einer leichten Röte.

»Hübsch bist du – viel hübscher noch als damals«, sagte er leise, während er sie bewundernd anblickte.

»Laß uns über ernste Sachen sprechen«, sagte sie abweisend – aber es tat ihr wohl, daß er es gesagt hatte, es tat ihr gut, hier zu sitzen und mit ihm Kognak zu trinken – auch wenn es aus einem Wasserglas war, aus dem schon weiß Gott wie viele vor ihr Kognak getrunken hatten.

»Schieß los, was gibt's?«

»Du weißt, daß sich Ernst mit Aktinomyzessarten beschäftigte, mit Strahlenpilzen … Er war schon ziemlich weit, als diese – diese …«

»Schweinerei passierte. Sprich's ruhig aus«, sagte der Arzt kurz.

»Ja. Wir hatten zu wenig Zeit, um die Versuchsreihe zu beenden. Aber wir waren überzeugt, auf dem richtigen Wege zu sein.«

»Wie ich Ernst kenne … wird es wahrscheinlich stimmen.«

»Kurz – wir hätten noch ein bißchen Zeit haben sollen, dann wären wir soweit, es mit Streptokokken, Staphylokokken, vielleicht auch mit Typhuserregern aufzunehmen. Es ist eine ganz neue Sache – es ist uns gelungen, einen Stoff zu isolieren, der in kürzester Zeit diese Mikroben tötet, sie einfach verschwinden läßt, du hättest das sehen müssen …« Sie hatte sich in Erregung geredet, der Arzt beugte sich gespannt vor, sprang dann auf und sagte:

»Moment mal, was hast du gesagt, einen Stoff abgesondert, der diese Biester einfach verschwinden läßt … aus Strahlenpilzen?«

»Ja.«

»Weißt du auch, was du da sagst?«

»Natürlich weiß ich das!«

»Aber das ist ja – das ist ja großartig! Wenn das wirklich stimmt, Mädchen, das ist ja mehr als großartig! Wenn du wüßtest, wie schwer wir es mit diesen alten, eiternden, jauchenden Wunden haben … na … warte einmal, ich muß mich zusammennehmen, erzähl weiter!«

Er setzte sich wieder, trank seinen Kognak in einem Zug aus und schenkte sich gleich wieder ein.

»Du kennst mich – jedenfalls gut genug, um zu wissen, daß ich nie etwas zuviel gesagt habe …«, sagte Julia.

»Das stimmt. Viel zu wenig«, grinste der Arzt.

»Bleib bitte ernst. Also wir haben diesen Stoff isoliert, und dann machte Ernst einen Selbstversuch.« Jetzt sprach sie sehr langsam und überlegt weiter. Sie durfte keinen Fehler machen. Sie mußte das bekommen, was sie von ihm wollte – und wenn sie lügen mußte.

»Das war falsch, er hätte es nicht machen sollen, es war noch zu früh. Nun ist er weg, ich bin ganz allein – und was sollte ich schon tun? Ich habe an der Sache weitergearbeitet. Ich habe wieder etwas von diesem Stoff hergestellt – ›Aktinstoff‹ nannten wir ihn – und möchte ein paar Tierversuche machen. Was ich von dir brauche, ist Eiter von einem Patienten, der eine Staphylokokken-Infektion hat, am liebsten hätte ich Staphylokokkus aureus. Du wirst doch hier irgend etwas Ähnliches haben, eine Pyodermie, eine Furunkulose …«

»Für einen Tierversuch?« Der Arzt sah sie fragend, forschend und zweifelnd an.

»Ja«, sagte sie und erwiderte seinen Blick. Ihr Herz klopfte langsam und schwer. Und mit gespielter Leichtigkeit – wie gut können doch Frauen spielen, wenn sie etwas erreichen wollen – setzte sie hinzu: »Natürlich, was denn sonst? Du hast doch sicher solche Patienten?«

Der Arzt Dr. Franz Wissek kannte Julia von früher her als eine umsichtige, zielstrebige Ärztin, die ihre Absichten immer sehr energisch in die Tat umsetzte. Gewiß war die Arbeit, mit der sie sich jetzt befaßte, nicht ungefährlich. Aber er war sicher, daß sie genau wußte, was sie tat und was sie wollte. Warum sollte er ihre selbstgestellte Aufgabe erschweren? Es gab keinen Grund dazu. Andererseits verschaffte es ihm eine gewisse Befriedigung, gerade Julia zu helfen – nicht nur deswegen, weil er früher einmal geglaubt hatte, sie würde seine Frau werden, sondern auch, weil sie die Frau des verpönten Dr. Deutschmann war, des Mannes, dessen Namen einige seiner Kollegen nicht einmal mehr auszusprechen wagten, obwohl sie früher stolz behaupteten, seine Freunde zu sein.

»Nun ja«, sagte er, »wenn's so ist – mit diesen Biestern kann ich dir immer dienen. Ich habe hier einen sehr hübschen Fall. Einen Mann mit einem mächtigen Gesichtsfurunkel. Ich bin nicht sicher, daß wir ihn durchkriegen.«

»Genau das Richtige. Komm, laß uns gehen.«

»He, so schnell schießen die Preußen nicht! Trink zuerst deinen Kognak aus. Aber mir scheint, du hast gar nicht gemerkt, was für ein tolles Gesöff das ist. Ich hab' ein paar Flaschen von einem Parteibonzen bekommen, den ich von einer sehr unangenehmen Krankheit geheilt habe.« Er grinste breit. »Das gibt's auch noch, ob du's glaubst oder nicht.«

»Hast du auch Privatpatienten?«

»Das darf man ja nicht – aber kannst du mir verraten, wie man auf Lebensmittelkarten satt wird? Ab und zu kommt jemand zu mir, meistens hohe Herren und ihre Damen … man muß mitnehmen, was sich einem bietet.«

»Das ist eine der häufigsten Redensarten, die man in diesen Tagen hört. Aber du hast dich auch schon früher daran gehalten … Komm, gehen wir jetzt.«

»Also gut«, sagte der Arzt und stand auf.

Der Patient, ein Mann von etwa vierzig Jahren, trug einen Verband, der das ganze Gesicht bedeckte. Schweigend, mit schnellen, geschickten Fingern nahm Dr. Wissek den Verband ab. Julia zuckte zusammen, als sie das Gesicht des Kranken sah: Es war verschwollen, die Augen waren hinter den dicken Wülsten kaum zu sehen, die Lippen waren eitrig verkrustet, und an einem Nasenflügel saß ein großes Geschwür, aus dem Eiter hervordrang.

»Sieht schon besser aus«, sagte der Chirurg, und Julia wußte, daß diese Worte für den Patienten gedacht waren, nicht für sie. Der Kranke bewegte die Lippen, doch aus seinem Mund kam nur ein unverständliches Lallen. Er mußte gräßliche Schmerzen haben.

»Nur ruhig«, sagte der Arzt. »Wir wollen eine kleine Eiterprobe entnehmen – immerhin haben Sie einen ganz schönen Furunkel, der wert ist, näher untersucht zu werden. So, mit dem Laboratorium und dem ganzen Drum und Dran.« Seine Stimme war sanft, plaudernd, sie beruhigte den Patienten, und Julia dachte, daß er der geborene Arzt war: Ein Mann, der wußte, was Schmerzen waren, der sie selbst erleiden und immer wieder von neuem besiegen mußte, ein Mann, dessen Stimme und dessen Hände verrieten, daß er allein um zu helfen da war, um zu helfen und zu trösten.

Mit einem Spatel strich er vorsichtig etwas Eiter ab und schmierte ihn in eine kleine flache Schale. »Das wird genügen«, sagte er später, als er mit Julia wieder auf dem Gang stand. »Ein paar hundert Millionen Staphylokokken sind sicher drin. Unser Bakteriologe hat gesagt, es sei einwandfrei der Staphylokokkus aureus. Deine Viecher werden es nicht leicht haben. Arbeitest du mit Mäusen?«

»Ja.«

»Kann ich einmal vorbeikommen?«

»Sicher kannst du das. Aber nicht, bevor ich etwas Endgültiges weiß!«

»Und wann wird das sein? Du kannst dir ja denken, daß mich die Geschichte ungeheuer interessiert.«

»In einigen Tagen. Ich denke, vielleicht fünf, sechs Tage. Ich werde dich anrufen.«

»Tue das. Ich werde warten.«

Erich Wiedeck saß in einem halbfertigen, abgestützten Bunker und rauchte eine Zigarette – die letzte aus seiner Zuteilung – als sich der schmale Eingang verdunkelte und sich eine breite Gestalt in den Bunker schob. Wiedeck blieb die Zigarette auf halbem Weg zum Mund in der Luft hängen. Zuerst dachte er, er irrte sich – doch es stimmte:

Krüll.

»Da wirst du doch verrückt«, murmelte er fassungslos, während er langsam aufstand.

»Na, ihr Schlappschwänze? Schon Feierabend? Ach ja – da ist ja nur einer drin. Wo sind die anderen?«

»Wer?« fragte Wiedeck.

»Na – die anderen. Oder baust du etwa den Bunker allein?«

»Ich hab' da noch etwas zu tun gehabt«, sagte Wiedeck. Es stimmte nicht ganz. Er hatte sich in diesem Bunker eine halbe Stunde vor der Ablösung versteckt; er wollte Ruhe haben, er war hundemüde, und im Bunker war es einigermaßen warm. Jedenfalls wärmer als draußen, wo dieser verdammte Wind über die Ebene zog und die Schneekristalle wie Nadeln ins Gesicht stachen.

»Na, ich weiß nicht«, polterte Krüll. »Scheint ganz gemütlich hier zu sein. Soldatenspielen – welche Wonne! Jetzt weiß ich auch, warum die fünfzig Meter Graben fehlen. Statt zu schanzen, sitzt ihr hier herum. Es war Zeit, daß ich einmal selbst nach dem Rechten sehe!«

Erich Wiedeck drückte die Zigarette bedächtig aus, verwahrte die Kippe in der Brusttasche und setzte sich wieder. Krüll starrte ihn entgeistert an und brüllte dann laut:

»Hopp, hopp – 'raus aus dem Bunker und 'ran an die Spitzhacke.«

»Nee«, sagte Wiedeck, »Ablösung ist bereits fällig. Ich bin schon seit zehn Stunden – die ganze Nacht – hier. Und die ganze Zeit hab' ich nichts zu fressen gekriegt und keine Ruhe gehabt. Feierabend!«

»Ruhe? Ist die Wehrmacht etwa ein Sanatorium?« schrie Krüll. Er kam sich sehr stark vor. Mit Hefe und Kentrop war er mit vier Schlitten von Gorki an die Schanzstellen gefahren, in der Morgendämmerung, bei Feindeinsicht, ohne daß die Russen auf sie reagiert hätten. Das ließ in Krüll den Verdacht aufkeimen, daß alle Meldungen von den Sowjets, die auf jeden Punkt schossen, der sich über das Schneefeld bewegte, weit übertrieben seien und nur dazu dienten, eine ruhige Kugel zu schieben. Allein, das blieb noch rätselhaft, woher die große Zahl der Verwundeten und Toten kam. Aber darüber machte er sich jetzt keine Gedanken. Wahrscheinlich gab's 'ne Menge Selbstverstümmelungen. Himmel, man wird besser aufpassen müssen!

Gleich nachdem er in den ausgehobenen Gräben angelangt war, beschloß er, einen Erkundungsgang zu machen – und anstatt hart arbeitender Männer fand er müde, in den Bunkern und auf den Grabenböden hockende Gestalten, die auf Ablösung warteten. So kam er auch zu dem kleinen, vorgeschobenen SMG-Bunker, in dem Wiedeck hockte.

Es sah gar nicht so schlecht aus, in solch einem Bunker. Harte Erdrinde, Holzbretterverschalungen, dicke Abstützbalken, ein paar Nischen, in denen man Bretterbetten mit Strohsäcken aufstellen konnte. Richtig komfortabel. Aber er hatte noch Zeit, er konnte sich später umsehen, zunächst einmal mußte er diesen widerspenstigen Wiedeck zum Teufel fahren lassen. Er machte den Mund auf, um loszubrüllen, doch ein gefährliches, entferntes Donnern ließ ihn innehalten. Gleich darauf heulte es durch die Luft, vier-, sechs-und achtmal krachte es, der Boden und die Bunkerwände vibrierten leicht, als ginge durch sie ein Fieberschauer. Krüll hielt sich an einem Abstützbalken fest und zog den Kopf tief ein. Sein dickes Gesicht war blaß geworden, und auf seiner Stirn standen trotz eisiger Kälte plötzlich Schweißtropfen.

»Was is'n los?« fragte er, als der Feuerüberfall vorbei war.

»Russen«, sagte Wiedeck lakonisch. Er hatte sich von seinem Bretterstapel nicht gerührt. Zusammengesunken, die Ellenbogen auf die Knie gestützt, saß er da und sah Krüll an.

»Russen? War das …«

»Artillerie. Ich dachte, Sie wüßten das, oder waren Sie noch nie draußen?«

»Schnauze!« bellte Krüll. Wiedeck hatte eines seiner tiefsten Geheimnisse angerührt. Seinen Papieren nach hatte er bereits Fronteinsatz hinter sich – 1939 in Polen und 1940 in Frankreich. Daß seine Einheit durchweg als Reserve eingeteilt war, die viele Kilometer hinter der vorstürmenden Truppe marschierte, den Kanonendonner nur von weitem hörte, sich aber sonst vornehmlich mit Hühnchen, Eiern, Wein und anderen Annehmlichkeiten eines Vormarsches beschäftigte, das brauchte ja niemand zu wissen. Später machte er Dienst in der Etappe, wo er Rekruten und danach den Soldaten des Strafbataillons beizubringen hatte, wie sie sich im feindlichen Feuer verhalten sollten. Die Einschläge der leichten russischen Artillerie rund um den Bunker waren die ersten, die er in seiner langen soldatischen Laufbahn aus solcher Nähe erlebte.

»Geht das oft so?« fragte er, kleinlaut geworden.

»Die Russen haben Sie kommen sehen. Jetzt lassen sie Sie nicht mehr 'raus«, sagte Wiedeck gleichgültig. »Sind Sie mit der Ablösung gekommen?«

»Ja, natürlich, mit wem denn sonst.«

»Oh, verdammt, dann muß ich mich ja beeilen!« Wiedeck erhob sich, schnallte die Feldflasche ans Koppel und setzte den Helm auf. Während er die Kapuze seines Tarnanzuges über den Helm zog und unter dem Kinn mit dem Zugband befestigte, schielte er zu Krüll hinüber, der immer noch den Pfosten umklammerte. »Bleiben Sie noch hier, Herr Oberfeld?«

»Ja, natürlich!« Doch Krülls Stimme war nicht mehr so entschlossen. Er hatte vergessen, daß sich Wiedeck vorhin eine ungeheuerliche Disziplinlosigkeit erlaubt hatte, für die er ihn zur Rede stellen wollte. Er beneidete den Abgelösten und suchte nach einer Möglichkeit, sich ihm anzuschließen. Aber wie? Der Kompaniechef hatte ihm befohlen, die Gräben auszumessen, und er selbst hatte gesagt, es am hellichten Tag tun zu wollen. Ich bin ein hirnverbrannter Idiot, dachte er, wie konnte ich nur … wie konnte ich nur? Aber allein bleiben wollte er hier nicht. Das konnte keiner von ihm verlangen. Er würde mit Wiedeck zurückgehen, zu den anderen, da wird man schon weitersehen. Nur nicht allein bleiben! Eine einzelne Granate heulte hoch über den Bunker hinweg und schlug krachend ins Hinterland. Nur nicht allein bleiben …!

»Wo wollen Sie hin, Wiedeck?« fragte er heiser.

»Zur Sammelstelle. Die warten auf mich.«

Er trat hinaus aus dem Bunker, und Krüll ging hinter ihm her. Draußen herrschte die lange russische Dämmerung, vor einem trüben, grauen, schneeverhangenen Tag. »Höchste Zeit – hoffentlich sind sie nicht ohne mich weg«, murmelte Wiedeck. Er hatte Angst, die Ablösung verdöst zu haben, er mußte sich beeilen, sonst konnte ihm passieren, daß er den ganzen Tag hier festgenagelt war. Tagsüber konnte man nicht über das Schneefeld.

Und dann kam es.

Von den russischen Linien gab es einen Riß durch den Himmel. Und dann rauschte es, pfiff, heulte, orgelte es durch die Luft, eine blitzende, schwarze Feuerwand stieg vorne aus der Erde, dort, wo die deutsche HKL lag.

Wiedeck sah über den Grabenrand, drehte sich dann nach dem wie ein Häufchen Elend zusammengekauerten Krüll um und schrie: »Los jetzt – wenn Sie mitkommen wollen! Jetzt geht's noch, dann nicht mehr. Dann schießen die Russen Sperrfeuer, und wir können uns nicht mehr rühren.«

Es war ein gewöhnlicher trommelfeuerartiger Überfall der schweren russischen Artillerie vor einem Angriff der Panzer und der Infanterie in der frühen Morgendämmerung. Ein vorbereitender Feuerüberfall, wie er zu dieser Zeit, und bestimmt auch zu dieser Minute, an Hunderten von Stellen der Ostfront losbrach, und einen Tag einleitete, der so voll Sterben, Qualen und tödlicher Angst war wie ungezählte Tage vor ihm und nach ihm.

Es war kein besonders starker Feuerüberfall. Jedenfalls erreichte er nicht die vernichtende, wütende Zerstörungskraft anderer Feuerüberfälle, die Großoffensiven einzuleiten pflegten. Aber für Soldaten, die ihn über sich ergehen lassen mußten und nichts andres tun konnten, als sich in die gefrorene Erde zu krallen und auf den Schlag zu warten, der sie auslöschen würde, war es die Hölle auf Erden.

Hölle für die Infanteristen in der HKL. Ein Vorgeschmack auf die Hölle, die bald kommen mußte, für die Soldaten des Strafbataillons dahinter. Und eine Hölle für Krüll, der sich plötzlich einer Situation gegenübersah, die er sich bis jetzt nicht vorstellen konnte. Wohl wußte er, daß man im Krieg sterben konnte. Aber dieser Tod hatte für ihn immer etwas Glorienumwobenes, Schmerzloses – ein tapferer, großartiger Soldatentod, von dem er überdies annahm, daß er ihn nie treffen würde. Das aber, was jetzt geschah, war etwas ganz anderes. Das, was jetzt riesengroß vor ihm aufstand, hatte keine Ähnlichkeit mit dem Soldatentod aus den Büchern. Es war ein elendes, anonymes, unpersönliches, angstvolles Krepieren. Es kam auf ihn zu, es drohte ihn zu umschlingen, unter sich zu begraben und machte ihn zu einem furchtgepeinigten Häufchen Mensch, der sonst nichts tun wollte, der keinen Wunsch mehr hatte, als den, zu leben. Am Leben zu bleiben.

Und als einige russische Granaten kurz vor dem Graben krepierten, in dem Wiedeck und er hockten, und als er sah, daß Wiedeck wirklich weglaufen wollte, der einzige Mensch außer ihm in dieser grauenhaften, von detonierenden Granaten zerrissenen Weite, verlor er das letzte Fünkchen Selbstbeherrschung. Er wollte nicht, er konnte nicht weiter und noch weniger konnte er allein bleiben. So umklammerte er Wiedecks Arm und schrie: »Sie bleiben … Sie bleiben … nicht weggehen, nicht!«

»Zum Teufel, lassen Sie mich los!« schrie Wiedeck zurück und versuchte ihn abzuschütteln. Aber Krüll klammerte sich wie eine Klette an ihn und zog ihn herab. »Loslassen!« schrie Wiedeck und duckte sich vor einer heranzischenden und in der Nähe krepierenden Granate.

»Ich kann nicht allein – ich kann nicht hierbleiben!«

»Dann kommen Sie doch mit!«

»Wiedeck …«, keuchte Krüll, »Wiedeck, Mensch, wir sind doch Kameraden, bleib hier und hilf mir beim Ausmessen, hörst du?«

»Ich bin doch nicht verrückt!«

»Wiedeck – Erich …«

»Scheiß drauf!« Er riß sich los, aber Krüll gab nicht nach. Er sprang hinter ihm her und riß ihn zurück. Halb hockend klebten sie eng aneinandergepreßt an der Grabenwand.

»Ich sag' dir zum letztenmal – laß mich los. Du sollst mich loslassen, sonst schlag' ich dir den Schädel ein!« sagte Wiedeck kalt und beherrscht. Aber er wußte, daß er sich nicht mehr lange würde beherrschen können. Es war nicht das erste Mal, daß er einen Mann zusammenbrechen sah. Aber alle vor Krüll waren seine Kameraden gewesen. Dieser aber hier, dieses Schwein, der Schinder mit dem großen Maul … er mußte ihn loslassen, sonst …

»Du kannst doch nicht deinen Kameraden allein lassen – sie schießen!« stammelte Krüll mit grauem, eingefallenem Gesicht. Über sein Kinn lief der Speichel. Ein Bild unmenschlicher, widerlicher Angst. Und genau das war es, was Krüll nicht hätte sagen dürfen. Jeder andere, ja, aber nicht Krüll. Wiedeck hob die Hand und schlug dem Oberfeldwebel mit ganzer Kraft ins Gesicht und noch einmal und zum drittenmal. Krüll sank in sich zusammen, aber Wiedeck hob seinen Kopf empor und schlug immer wieder in diese widerliche, verzerrte Fratze. »Kamerad«, zischte er, »du und ein Kamerad! Ja, sie schießen. Es ist ja Krieg. Scheiß in die Hosen, du Kamerad, und dann stirb den Heldentod, du erbärmlicher Hund! Du elender, erbärmlicher Hund! Ich schlag' dich tot!«

Doch plötzlich ekelte ihn dieses Häufchen Elend an. Es wurde ihm gleichgültig. Er schlug noch einmal und wie abschließend zu, daß Krülls Kopf gegen die Grabenwand donnerte. Dann rannte er, den Kopf eingezogen, durch den Graben, warf sich hin, als eine Granate heranheulte und etwa dreißig Meter vor ihm einschlug, sprang wieder auf und lief weiter, der Sammelstelle zu.

Als er um die Ecke des Grabensystems flitzte, war der Platz leer. Der Schnee war zertreten von vielen Stiefeln, eine einsame Schaufel lehnte an der Grabenwand. Ziemlich weit weg hörte er schanzen – das wird die Ablösung sein, die tagsüber arbeitete. Ab und zu sah er das Blatt eines Spatens über den Grabenrand blitzen, den kurzen Strahl einer geschwungenen Spitzhacke. Erd- und Schneehaufen quollen aus der Erde, als würde ein riesiger Maulwurf das Land zerwühlen. Die russische Artillerie schoß jetzt Sperrfeuer hinter die deutsche HKL. Nicht lange und das Feuer würde zurückverlegt werden – und dann war er mitten drin.

Wiedeck wischte sich den Schweiß von der Stirn. Die anderen waren abgerückt. Er war für den ganzen Tag hier festgenagelt. Und er mußte sich beeilen. Der beste Bunker war eigentlich der, aus dem er jetzt gekommen war. Aber dort war Krüll …

Wiedeck lief zurück.

Er fand Krüll immer noch an der Stelle, wo er ihn stehengelassen hatte; zusammengesunken, voll Erde und Dreck hockte er auf dem Grabenboden und sah ängstlich und dankbar zugleich empor, als Wiedeck mit der Stiefelspitze gegen ihn stieß.

»Bist du wieder zurück?« fragte er mit kleiner, gebrochener Stimme, als ob er nicht glauben wollte, daß er nicht mehr allein sei, nicht mehr allein in diesem schrecklichen Graben, mitten in einer schrecklichen, drohenden Welt, die es darauf anzulegen schien, ihn zu vernichten.

»Die andern sind abgehauen, ich bin zu spät gekommen, weil du mich festgehalten hast, du Scheißkerl. Jetzt können wir den ganzen Tag hier hockenbleiben. Los, komm jetzt mit in den Bunker.«

Wiedeck spürte keinen Haß mehr gegen Krüll, seine Wut war verflogen, und zurück blieben nur Gleichgültigkeit und eine Spur von geringschätzigem Mitleid.

»Den ganzen Tag«, murmelte Krüll, als er hinter Wiedeck in den Bunker kroch. Er wußte, daß er sich elend benommen hatte. Aber er schämte sich dessen nicht; es war ihm gleichgültig. Man konnte Heldentum nicht befehlen. Er war kein Held. Warum sollte er das verbergen? Mit zitternder Hand holte er aus seiner Tasche eine Packung Zigaretten, brach sie auf und hielt sie Wiedeck hin.

Wiedeck nahm eine Zigarette, ohne Krüll anzusehen. Er konnte diesen erbärmlichen Anblick kaum ertragen. »Solltest du nicht die Gräben ausmessen?« fragte er spöttisch. »Es fehlen noch fünfzig Meter, erzählte mir Hefe, und du hättest das herausbekommen. Du hast das doch genau berechnet. Paß mal auf – ich mach' dir einen Vorschlag: Wenn die Iwans sich beruhigt haben, gehen wir hinaus und messen nach. Du mißt, und ich schreibe auf – wenn wir bis dahin nicht abgekratzt sind.«

»Wie meinst du das?«

»Ja, hörst du blöder Hund nicht, daß die Russen angreifen? Mach deine Ohren auf!«

Ganz deutlich hörte man von vorne, von der HKL, das rasende Rattern der Maschinengewehre, das Gedröhn der Granatwerfer – und dann ein paarmal hintereinander das helle trockene Krachen der Handgranaten. Und dahinter war noch ein Geräusch; kaum hörbares, manchmal lauter aufdröhnendes Gebrumm schwerer Motoren.

»Panzer«, sagte Wiedeck. »Hoffentlich brechen sie nicht durch.«

Krüll sah ihn mit großen, erschrockenen Augen an. Es war jetzt etwas Kindliches in ihnen, ein Staunen und Nichtbegreifen, das seinem grauen, nicht mehr ganz so aufgedunsenen Gesicht den Schein einer nahezu rührenden Hilflosigkeit gab. Aber Wiedeck sah es nicht. Und hätte er es gesehen, so würde es keinen Eindruck auf ihn gemacht haben.

»Wir wollen hoffen«, sagte er dann, »daß die Kumpels vorne durchhalten. Und dann gehen wir messen. Obermeier hat es doch befohlen, oder?«

»Obermeier kann mich kreuzweise«, sagte Krüll.

»Ach nee!« meinte Wiedeck spöttisch. »Wer hat denn immer von der Disziplin gequatscht? Warst du es, oder war ich das?«

Rruuums, schlug es ganz in der Nähe ein.

»Das war knapp«, sagte Wiedeck ruhig.

Krüll hockte auf der Erde. Sein Mund war voller Gallensaft, bitter, in der Kehle brennend. Er konnte es hier drinnen nicht mehr aushalten. Er konnte nicht mehr hier sitzenbleiben und auf das Ende warten, das mit einer tödlichen Sicherheit auf ihn zukam. Er mußte etwas tun, etwas unternehmen, er mußte 'raus, weg von hier, so weit wie möglich, nur weg aus dieser Rattenfalle! Er sprang plötzlich auf und taumelte gegen den Ausgang des Bunkers.

»Halt! Wohin?« Wiedeck bekam ihn an der Tarnjacke zu fassen und riß ihn zurück. »Wo willst du hin, du Idiot?«

»Laß mich!« schrie Krüll. »Laß mich los. Ich will 'raus!« Mit geballten Fäusten schlug er um sich, sein Gesicht hatte die hilflose Kindlichkeit verloren und war erschreckend drohend und verzerrt. »Ich will weg von hier«, brüllte er. »Die Panzer … ich will weg!«

Es war nicht sehr leicht, ihn zu überwältigen. Wiedeck atmete schwer, als Krüll endlich auf einem Bretterstapel lag und nur noch leise vor sich hin wimmerte. »Reiß dich endlich zusammen!« sagte er kalt, »du benimmst dich ja schlimmer als ein Weib!«

»Ich will 'raus hier – ich will 'raus!« wimmerte Krüll und dann sah Wiedeck, wie er an seiner Pistolentasche nestelte. Doch bevor er die 08 aus dem Futteral reißen konnte, schlug ihn Wiedeck mit einigen harten, wuchtigen Schlägen nieder und nahm ihm die Pistole weg.

Draußen heulte es laut und durchdringend durch die Luft, und dann schlug es langanhaltend donnernd in die Erde, viele Explosionen, die wie eine einzige klangen.

Stalinorgeln.

Wiedeck sah nach, ob eine Kugel im Lauf der Pistole war. Dann sicherte er die Waffe wieder. »Wo hast du die Munition?«

»Warum?« fragte Krüll störrisch.

»Los, gib schon her!«

Krüll gab ihm vier Munitionsstreifen. Das war so gut wie nichts. Aber wenn die Russen tatsächlich durchbrachen, wollte Wiedeck wenigstens nicht ohne Waffe in der Hand zum Teufel gehen.

Er schob die Pistole hinter das Koppel.

»Los, Krüll, 'raus jetzt!«

»Wohin denn?«

»An die frische Luft. Los doch!«

Durch die dichten Explosionen rannte Wiedeck Krüll voraus. Er brauchte sich nicht umzusehen, er wußte, daß Krüll ihm wie ein Schatten folgte. In weiten Sprüngen hetzte er der Senke zu, wo der Auffanggraben endete. Krüll keuchte ihm nach. Den Helm hatte er verloren, er warf sich hin, wenn Wiedeck sich in den Schnee warf und sprang auf, wenn Wiedeck wie ein gehetzter Hase durch die Einschläge jagte.

In den Minuten ihrer Flucht nach hinten bestand Oberfeldwebel Krüll seine Feuerprobe. Er machte eine Wandlung durch wie vor ihm schon unzählige Soldaten. Nicht daß er ein anderer geworden wäre – er blieb der alte, rücksichtslose, beschränkte Oberfeldwebel, der er bis dahin gewesen war. Aber die hündische, wimmernde Angst fiel von ihm nach und nach ab. Er gewann wieder Selbstsicherheit zurück, und die Welt um ihn rückte wieder in ihre gewohnten Dimensionen. Das heißt, es war die Welt, die er bis dahin kannte, verändert nur durch das brüllende Inferno um ihn, durch Granateinschläge, spritzende Erde, surrende Splitter … Sicherlich blieb in ihm immer noch Angst zurück; aber es war die normale Angst aller Soldaten, die in ihren Gräben weiter aushielten und gegen die Angreifer ankämpften. Wiedecks Angst oder Hefes oder Kentrops oder Deutschmanns …

So war Krüll nach langen Jahren des Uniformtragens doch noch ein Soldat geworden, der mit einem Male verstand, daß es gerade die entsetzliche panische Angst vor dem Tode ist, die viele blind in ihren Untergang rennen läßt. Wie vorhin in dem Bunker, als er herauslaufen wollte und ihn Wiedeck niederschlagen mußte, damit er es nicht wirklich tat und mitten in die krepierenden russischen Granaten lief. Genaugenommen hatte ihm also Wiedeck das Leben gerettet. Aber auch darüber machte sich Krüll keine großen Gedanken; auch nicht später. Wiedeck hatte nur das getan, was er, Krüll, in Zukunft auch tun würde. Jedem gegenüber, der die gleiche Uniform trug und mit dem er sozusagen in einem Boot saß.

Aus dem anmaßenden, selbstsüchtigen Einzelgänger Krüll wurde jetzt ein Mann, der keine dieser Eigenschaften verlor und dennoch in eine Gemeinschaft gefunden hatte, wie sie nur Männer kennen, die gemeinsam lange Zeit hindurch auf Leben und Tod verbunden waren.

In einem gut ausgebauten Bunker weiter rückwärts warteten sie das Ende des russischen Feuerüberfalls ab. Die HKL hatte dem russischen Angriff wieder einmal standgehalten. Und als der Feuerzauber vorbei war, ging Krüll hinaus, um Obermeiers Befehl auszuführen und die Gräben auszumessen. Wiedeck befahl er, im Bunker zu bleiben. Und als eine halbe Stunde später ein Mann mit warmem Kaffee, einem Kanten Brot und etwas Schnaps erschien und es Wiedeck gab, mit der Bemerkung, die Sachen schicke Oberfeldwebel Krüll, fragte sich Wiedeck verblüfft, was mit dem Spieß geschehen sei. Doch während er die dünne schwarze Brühe trank und an dem Brotkanten kaute, begann er zu verstehen. Er war ein alter Frontsoldat, und oft schon hatte er Ähnliches erlebt.

Hoffentlich legt es Krüll jetzt nicht darauf an, das EK zu verdienen, dachte er. Wahrscheinlich wäre er jetzt imstande, Dinge zu drehen, wie man sie von ›heldenhaften deutschen Soldaten‹ in den Zeitungen liest. Und so ein Krüll, dachte Wiedeck schläfrig, wäre noch gefährlicher als der alte …

Der Schlitten schüttelte und rumpelte durch die Nacht, Orscha entgegen. Deutschmann saß, gegen den Schlaf ankämpfend, neben dem Fahrer auf dem Bock. Dr. Bergen hatte ihn nach Orscha geschickt, um Sanitätsmaterial zu holen. Kronenberg und die anderen Sanitäter des Bataillons waren unabkömmlich, es gab zu viele Verwundete, die man versorgen mußte, bevor sie zurückgeschickt werden konnten. Die 2. Kompanie betreute während der Abwesenheit Deutschmanns ein anderer Hilfssani – das heißt, er organisierte den Transport der Verwundeten nach Barssdowka. »Sie verstehen etwas davon, von diesen Medikamenten und dem ganzen Krempel, den wir brauchen«, hatte Dr. Bergen zu Deutschmann gesagt. »Gehen Sie hin, hier haben Sie eine Liste, und schlagen Sie sich mit diesen Etappenhengsten herum. Aber lassen Sie sich nicht abfertigen, bevor Sie nicht alles haben. Ich weiß genau, daß die Magazine voll sind.«

Vor diesem Auftrag hatte Deutschmann Angst. Er fürchtete sich, nach Orscha zu fahren, denn er wußte nicht, ob er stark genug sein würde, der Begegnung mit Tanja auszuweichen. Ob er stark genug sein würde, nicht in das kleine Blockhaus in der Nähe der Brücke über den Dnjepr zu gehen. Denn er sehnte sich nach dieser Begegnung, er sehnte sich nach Tanja, nach ihrem schmalen, weichen Gesicht, nach ihrem feingliedrigen Körper, nach dem Blick ihrer graugrünen Augen, nach der Wärme und Hingabe, die sie ausstrahlte.

Die Straße war aufgewühlt und vereist. Der Schlitten rumpelte über die Buckel wie verrückt. Deutschmann hielt sich fest und stemmte die Stiefel gegen das Schutzblech. Der Fahrer neben ihm, ein alter Obergefreiter der Transportkompanie, rauchte eine Hängepfeife, die er mit Machorka gestopft hatte. Er stank, der Rauch biß Deutschmann in die Augen. Er wandte den Kopf ab und starrte über das Schneefeld und das wie ausgestorben daliegende Kusselgelände, durch das sich der vereiste Dnjepr zog.

Der Obergefreite stieß Deutschmann mit dem Ellbogen in die Seite. »He, du!«

»Ja?«

»Du bist doch von 999? Ist ein Sauhaufen, was?«

»Na ja«, sagte Deutschmann.

»Kriegt ihr überhaupt etwas zu fressen?«

»Es geht.«

»Aber satt davon werdet ihr nicht?«

»Wirst du etwa immer satt?«

»Nee – da hast du recht. Stimmt's, daß ihr alle zum Tode verurteilt seid und dann begnadigt? Oder wie geht das?«

»Einige waren's.«

»Du auch?«

»Ich auch.«

Der Obergefreite schwieg. Er rauchte hastig und blies den ätzenden Qualm vor sich her.

»Was hast du denn angestellt?« fragte er nach einer Weile.

»Das ist doch unwichtig.«

»Na ja, man ist halt neugierig«, sagte der Obergefreite. Er schien ein bißchen eingeschnappt, und es dauerte eine ganze Weile, bevor er wieder begann:

»Ein Vetter von mir ist auch in so einem Haufen«, sagte er. »Er hat mal die Schnauze aufgemacht, wo es besser gewesen wäre zu schweigen.«

»Dann weißt du ja Bescheid.«

Der Obergefreite schwieg und spuckte in den Schnee. Dnjepr. Vor ihnen tauchte die Silhouette der Stadt auf. Am Fluß, hinter der großen Holzbrücke, Tanjas Haus. Dünner Rauch stand über dem Dach. Deutschmanns Herz klopfte langsam und schwer. Er könnte jetzt aussteigen und hinuntergehen, sie war zu Hause, er würde an die Tür klopfen und eintreten, oder vielleicht würde er gar nicht anklopfen, sondern ganz leise den steilen Pfad hinuntergehen und einfach eintreten, sie würde am Herd stehen und ihn nicht kommen hören, und er würde von hinten die Hände über ihre Augen legen und nichts sagen. Sonst wüßte sie sofort, wer er ist, und dann würde sie sich umdrehen, und er würde sie ganz fest an sich drücken …

»Jetzt sind wir gleich da«, sagte der Obergefreite.

»Wann fahren wir zurück?« fragte Deutschmann.

»Morgen früh.«

»Heute können wir nicht mehr zurück?«

»Ich möchte den Idioten sehen, der nachts durch das Partisanengebiet fährt!«

Erst morgen früh, dachte Deutschmann, dann bleibe ich die ganze Nacht hier. Ich könnte zu ihr gehen und bei ihr bleiben. Ich könnte …

Sie fuhren zwischen die armseligen dunklen Hütten der Randgebiete der Stadt.

»Ist es weit?« fragte Deutschmann.

»Nein – noch um fünf, sechs Ecken, dann sind wir da.«

Es dauerte einige Stunden, bevor Deutschmann mit dem ganzen Papierkram und dem Verladen des Schlittens fertig war. Es ging nicht ganz leicht, das Strafbataillon schien nicht in den Listen der Zahlmeister und des Apothekers zu sein. Erst nachdem Deutschmann mit dem Schreiber des Bataillonskommandeurs Hauptmann Barth und dieser wiederum mit dem Hauptmann selber sprach, und schließlich der Hauptmann einige saftige Flüche durch die Telefonleitung schickte, klappte es.

»Ich geh' ins Soldatenheim«, sagte der Obergefreite, als sie mit der Arbeit fertig waren. »Kommst du mit?«

»Nein«, sagte Deutschmann.

»Komm nur, du gehst ja mit mir. Es sind ein paar tolle Puppen dort, und Bier haben sie auch.«

»Nein, vielen Dank. Wir trinken unser Bier ein anderes Mal.« Deutschmann hatte sich entschieden. Das heißt – er brauchte sich gar nicht zu entscheiden: Er wußte von allem Anfang an, daß seine Sehnsucht nach Tanja größer war als die Furcht vor einer Begegnung mit ihr. Er wollte zu ihr gehen, und als er immer schneller durch die nachtdunklen, verlassenen Straßen Orschas gegen die Dnjeprbrücke ging, wurde seine Sehnsucht immer größer und brennender, bis er schließlich beinahe lief.

Es war kurz nach elf Uhr abends, als Deutschmann endlich vor der Bohlentür der Hütte stand, in der Tanja wohnte. Aus dem Schornstein kräuselte dünner Rauch gegen den klaren Nachthimmel; das Feuer in der Hütte ging nie aus. Es war kalt. Die Kälte stach Deutschmann ins Gesicht, kroch unter seinen Mantel, zwickte ihn in die Füße.

Er zögerte. Die Hütte war dunkel, und Tanja schlief sicher schon. Das Ufer war menschenleer. Das Eis auf dem Dnjepr schloß sich wieder. Am Morgen werden die Pioniere wieder sprengen müssen. Schließlich drückte er gegen die Tür. Sie war nicht verschlossen; einen kurzen Augenblick dachte er daran, daß man in Rußland selten verschlossene Türen fand, und daran, daß sich dies kaum mit den Vorstellungen deckte, die man zu Hause, in Deutschland, über dieses große, grenzenlose Land hatte.

Die Tür bewegte sich knarrend in die vom Feuerschein rötlich gefärbte Dunkelheit hinein. Auf dem offenen Herd glimmten knisternd dicke Holzscheite, manchmal züngelte ein Flämmchen empor, tauchte den Raum in ein huschendes Licht und versank wieder in der Glut. Die Tür zu Tanjas Kammer war offen.

Deutschmann schloß die Tür hinter sich und blieb tiefatmend in der warmen rötlichen Dämmerung stehen – und dann, plötzlich, hörte er durch das leise Knistern des Feuers Tanjas Atem.

Die Bohlen knackten unter seinen Füßen, als er langsam durch den Raum gegen die dunkle Öffnung schritt, aus der das leise, tiefe Atmen der Schlafenden kam. Dann blieb er stehen, legte den Mantel, die Mütze und die Handschuhe ab, ohne den Blick von der offenen Tür in die Schlafkammer zu wenden. Die Wärme im Haus umgab ihn weich.

Vor Tanjas Bett blieb er stehen. Langsam, als hätte er Angst, die Schlafende zu wecken, den tiefen Rhythmus ihres Atems zu stören und waches Bewußtsein auf ihr gelöstes, in der warmen Dunkelheit kaum sichtbares Gesicht kommen zu lassen, ließ er sich auf die Knie nieder und brachte sein Gesicht ganz nahe an ihres. Ihr Mund war leicht geöffnet, ihr Haar lag schwarz und seidig auf dem Kissen.

Sie bewegte sich und wachte auf.

»Tanja …« flüsterte er.

Ihre Augen waren weit offen, groß und schwarz. Um ihre Lippen spielte ein leichtes Lächeln, die Andeutung eines Lächelns nur. Oder irrte er sich? Bildete er sich nur ein, Glück herauszulesen, Glück darüber, daß er gekommen war? Doch dann hörte er ihre Stimme und wußte, daß er sich nicht geirrt hatte.

»Michael …«, flüsterte sie, ihre nackten Arme kamen unter der Decke hervor, sie umarmte ihn und zog seinen Kopf zu sich herab.

Als Deutschmann erwachte, sah er zuerst auf die Uhr. Es war kurz vor sechs.

»Ich muß bald gehen«, sagte Deutschmann.

»Wann?« fragte Tanja.

»In einer Stunde.«

»Mußt du wirklich?«

»Natürlich. Soll ich etwa hierbleiben? Sie würden mich sehr bald holen.«

»Du könntest hierbleiben … ich würde dich verstecken … du könntest immer hierbleiben, und einmal wird Frieden.« Sie klammerte sich an ihn, als fürchtete sie sich, daß sie ihn unwiederbringlich verlieren würde, wenn sie ihn nur für einen kleinen Augenblick losließ. »Ich liebe dich – ich liebe dich sehr – ich liebe dich mehr als Rußland, mehr als meine Mutter, mehr als meinen Vater, mehr als alles, alles … ich weiß nicht, wie das kommt, ich weiß es nicht … ich liebe dich so sehr!« Und dann, nach einer Weile, in der Deutschmann erschrocken und betroffen über ihren Gefühlsausbruch schwieg, sagte sie, als ob sie träumen würde und sich bereits in einer Zukunft befand, die es für die beiden nicht gab, nicht geben konnte, wie Deutschmann genau wußte: »Wenn der Krieg gestorben ist, werden wir weiterleben, Michael, ich werde mit dir gehen, wohin du gehst … ich liebe mein Land, aber du wirst mein Land sein, überall …«

Als sich Deutschmann anzog, sprang ihn ein Gefühl der Unwirklichkeit an. Das alles konnte nicht möglich sein. Wie kam er in diese Hütte? Was war geschehen? Wie konnte es möglich sein, daß ihn dieses wunderschöne Mädchen liebte? Mein Gott, wie konnte das alles geschehen? Es war ein Irrtum, das Reale, das Wirkliche war die Uniform, war das Strafbataillon, war Obermeier, Krüll, Schwanecke, Wiedeck, waren die blutigen zerfetzten Leiber und die ewige Angst vor dem Sterben. Alles andere war ein Traum, einer von jenen Träumen, die man als Soldat irgendwo in einem dreckigen, kalten Loch oder in einem dunklen, stinkenden Bunker träumte, während draußen der Tod umging. Und wahr blieb der Gedanke an Julia und seine und Julias gemeinsame Vergangenheit, obwohl auch die manchmal in unwirkliche Ferne versank, als hätte es sie nie gegeben, genausowenig wie es diese vergangene Nacht gab.

Tanja kochte Tee. Sie frühstückten schweigsam, jeder in seine eigenen Gedanken verloren – und doch fühlte Deutschmann – und wußte zugleich, daß auch Tanja dasselbe fühlte, daß sie sich so nah waren, wie es nur zwei Menschen sein können. Und wieder fragte er sich, wie es dazu kam und wie das möglich sein konnte. Vielleicht deswegen, weil es für sie nur Augenblicke in der Gegenwart gab und keinen einzigen in der Zukunft? Vielleicht deswegen, weil sie die Vergangenheit und alle ihre versäumten Stunden und Minuten und die ganze Zukunft in eine einzige Nacht und in den grauen, heraufdämmernden Morgen zu pressen versuchten?

»Iß, Michael«, sagte Tanja weich und lächelte ihn an, und in ihren einfachen alltäglichen Worten und in ihrem Lächeln verbarg sich eine Welt voll Liebe und bedingungsloser Hingabe.

Sergej Petrowitsch Denkow stieß die Tür auf und trat in die Hütte, ohne daß sie seine Schritte draußen gehört hatten. Seine Mütze, sein Pelz, seine Augenbrauen waren voll weißen Reifs. Mit der Ferse stieß er die Tür wieder zu und sah wortlos die beiden an. Seine Augen waren weit offen und seltsam leer. Ohne den Blick zu wenden, nahm er seine hohe Fellmütze vom Kopf und warf sie auf einen leeren Stuhl. Dann lächelte er, und Deutschmann überlief es kalt: Es war ein drohendes, verbissenes Lächeln eines Menschen, dem nicht nach Lachen zumute war, und der hinter dem Lächeln irgend etwas verbergen wollte.

»Guten Tag«, sagte Deutschmann zögernd.

»Gutten Tagg«, antwortete Sergej. Seine Stimme war leise und heiser. Sein Blick glitt von Deutschmanns Gesicht herab über die Uniform. Keine Rangabzeichen, keine Schulterstücke, keine Waffen. Damals, als die neue Truppe in Orscha ankam, hatte er dies nach Moskau gefunkt, und von dort hatte man geantwortet, daß es sich um ein Strafbataillon handele. Sergej kannte die Strafbataillone in der russischen Armee. Schurken, Mörder, Verbrecher, Feinde des Sozialismus. In der sibirischen Taiga schlugen sie Holz aus den Urwäldern, arbeiteten in Bergwerken – wenn es Frieden war. Im Krieg mußten sie andere Sachen tun, wenn sie stark genug waren, die Strapazen vor dem Sterben zu überstehen.

Und dann sah er Tanja an. In ihrem blassen Gesicht brannten die Augen. Er verstand, was sie sagten. Er sah die schwarzen Schatten unter ihnen, und sein Lächeln versteifte sich zu einer drohenden Maske. Er brauchte nicht zu fragen. Er wußte, was geschehen war. Er wußte es genau …

Tanja stand auf. »Das ist Sergej«, sagte sie mit kleiner, gebrochener Stimme. »Ein Bauer aus Babinitschi.« Und zu Sergej gewandt laut und deutlich: »Das ist Michael.«

Sergej sah sie einige Sekunden schweigend an und sagte dann mit einer gewöhnlichen und gerade deswegen um so kälter und verachtungsvoller wirkenden Stimme auf russisch – ohne zu wissen, daß es Deutschmann verstand: »Hündin!«

Dann drehte er sich um und trat zur Tür.

Deutschmann sprang auf. Die Lähmung, die ihn beim Anblick des jungen fremden Mannes befallen hatte, wich von ihm. »Halt«, sagte er. Jetzt hatte er nur noch wenig Ähnlichkeit mit dem weichen, unentschlossenen und hilflos wirkenden Deutschmann von früher. Langsam ging er um den Tisch und stellte sich vor Sergej, der sich umgedreht hatte und ihn kalt ansah.

»Warum?«

»Wer bist du?« fragte Deutschmann.

Sergej lächelte. »Warum?« fragte er wieder.

»Wo lebst du?«

»Im Wald«, sagte Sergej langsam.

»Ich habe es gewußt«, sagte Deutschmann leise.

»Was?«

»Du bist …«

»Was?«

Sie sahen sich einige Sekunden wortlos an, und dann nickte Sergej. »Da. Ein Partisan.«

Deutschmann hörte hinter sich Tanja leise aufschreien. Aber er wandte sich nicht um. Er sah in Sergejs harte Augen. Wie war es möglich, daß er, dieser Russe, sich nicht scheute, ihm, dem deutschen Soldaten, zu sagen, er sei ein Partisan? Was wurde hier gespielt? Und das mitten unter deutschen Truppen – oder war es nicht so? War er, Deutschmann, in eine Falle geraten? Warteten draußen noch mehr von dieser Sorte auf ein Zeichen? Aber das war völlig ausgeschlossen – vom Dnjepr her hörte er die Pioniere sprengen. Der Morgen graute, auf den Straßen und auf der Brücke erwachte das Leben. Nachschubkolonnen polterten dumpf über die Holzbohlen – überall wimmelte es von deutschen Soldaten. Und doch stand hier ein Partisan und bekannte sich furchtlos dazu.

»Ein Offizier«, sagte Sergej. Und dann, nach einer Weile, als Deutschmann nichts erwiderte, sprach er in einem fast fehlerfreien Deutsch weiter:

»Ich wollte Tanja besuchen, meine Braut. Aber die reine Jungfrau von früher ist eine Hündin geworden. Sie läßt sich mit einem verfluchten Feind ein, während ich kämpfe.« Seine Stimme klang leidenschaftslos, so als erzählte er eine ganz belanglose Geschichte. Dann drehte er sich wieder zu Tanja und zischte, doch jetzt auf russisch: »Hure«.

Später konnte sich Deutschmann nicht erklären, was ihn dazu getrieben hatte. Bis dahin hatte er es noch nie getan, nicht einmal als Junge. Aber jetzt hob er die Hand und schlug Sergej ins Gesicht. Mit der flachen Hand, weitausholend, klatschend. Sergej wich nicht zurück. Er rührte sich nicht. Er nahm die Schläge hin, und was das Schrecklichste daran war, er zählte sie mit einer harten, leidenschaftslosen Stimme: »Eins – zwei – drei – vier – fünf –.«

»Sechs«, schrie Deutschmann, und schlug noch einmal zu.

Sergej nickte. »Sechs. Für jeden Schlag ein deutscher Soldat.«

Deutschmann trat zurück, und wieder überfiel ihn das Gefühl der Unwirklichkeit. Tanja stand neben der Wand, das Gesicht hatte sie gegen die Mauer gelegt, ihr schmaler Rücken zuckte. Sie weinte. Deutschmann blickte wieder zu Sergej, der langsam zu sprechen begann:

»Ich hasse sie. Sie ist keinen Tritt wert. Sie trägt jetzt fremdes Blut in sich und du – du wirst mich jetzt gehen lassen. Ich weiß genau, was du denkst. Aber du wirst es nicht tun. Du wirst mich nicht den Gendarmen übergeben. Du hast Angst. Was tust du hier bei einer Russin, bei einer Partisanin? Du bist ein Mann aus dem Strafbataillon. Auch du bist ein Verräter!«

Dann drehte er sich um, nahm seine Mütze und ging.

»Ich muß jetzt gehen«, sagte Deutschmann etwas später und versuchte, sich aus Tanjas Umarmung zu lösen. »Ich komme wieder«, flüsterte er, »ganz sicher, ich komme wieder.«

»Ich habe Angst!«

»Ich weiß – was soll ich tun?«

»Du kannst nichts tun.«

»Ich komme wieder«, sagte Deutschmann und kam sich sehr erbärmlich vor. Sicher, er konnte nichts für sie tun, und dennoch … Sie war nun schutzlos der Rache ihrer Landsleute ausgeliefert. »Es wird alles gut werden«, flüsterte er und wußte, daß er log. Nichts würde gut werden. Es gab nichts Gutes mehr für sie. Die Nacht, die hinter ihnen lag, hatte einen Abgrund vor ihnen geöffnet, in dem Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit der kommenden Tage lauerten.

Er ging.

Zuerst langsam und dann immer schneller stapfte er über den Hang gegen die Stadt, wo ihn der Fahrer mit dem beladenen Schlitten erwartete. Er hatte sich schon verspätet. Die Posten an der Brückenauffahrt pendelten hin und her, ein Feldwebel der Feldgendarmerie schrie mit einem Lkw-Fahrer herum, der mitten auf der Straße einen Achsenbruch hatte und den ganzen Nachschubverkehr aufhielt. Dann lief er durch die engen, nun belebten Straßen der Stadt, die Hütte, Tanja und Sergej blieben hinter ihm und vor ihm ein neuer Tag im Strafbataillon.

Sergej Petrowitsch Denkow hatte hinter einem Lattenzaun gewartet, bis er Deutschmann weggehen sah. Dann ging er langsam zu Tanjas Hütte.

Tanja stand immer noch mitten im Zimmer. Als sie Sergej sah, hob sie die Hände erschrocken zum Mund und machte einen schnellen Schritt gegen den Herd – zur Wandvertiefung, in der sie die Pistole versteckt hatte.

»Laß sie liegen«, sagte er. »Ich müßte dich töten, wenn du sie herausnimmst.«

»Was willst du?« flüsterte Tanja.

»Das fragst du noch?«

»Was willst du tun – geh! Geh!« Die letzten Worte schrie sie voll tödlicher Angst vor dem großen, in seinen unförmigen Pelz gehüllten Mann, der sie mit einer kalten, drohenden Überlegenheit ansah.

»Ich gehe«, sagte er, »ich werde nicht wiederkommen – bis wir die Deutschen verjagt haben. Aber dann, wenn wir sie hinausgejagt haben, werde ich wiederkommen und dich töten. Das wollte ich dir sagen. Du wirst mir nicht entkommen. Versuche nicht zu fliehen. Es würde dir nichts nützen. Wir werden aufpassen. Und wenn ich dich getötet habe, werde ich alle holen und zu ihnen sagen: ›Seht, das ist Tanja Sossnowskaja. Vielmehr – das war sie. Jetzt ist sie nur noch ein Kadaver. Früher einmal war sie eine von uns. Aber dann machte sie sich an einen Deutschen heran. Sie hat uns verraten. So wird es jedem gehen, der uns verrät …‹«

Tanja lehnte gegen die Lehmwand. Ihre Hand, mit der sie an den Hals griff, zitterte. »Geh«, stöhnte sie. »Du bist ein Teufel!«

»Bin ich das – bin ich das? Ein Teufel und eine Dirne – wie das gut zusammenpaßt! Paßt das gut zusammen?« Während er sprach, kam er langsam näher, griff mit der Hand unter ihr Kinn und hob ihr Gesicht empor. »Sieh mich an, du Dirne, los sieh mich an! Was hast du getan? Hast du alles vergessen? Hast du uns alle vergessen?«

»Ich liebe ihn«, flüsterte sie.

»Hündin!« schrie er voller Wut und Schmerz, trat einen Schritt zurück und schlug auf sie ein. Wortlos, verbissen, ein Schlag nach dem anderen. Sie fiel neben dem Ofen auf den Boden, er beugte sich und schlug weiter auf die Kniende ein. Sie hatte die Arme schützend über den Kopf gelegt, wehrte sich nicht und schrie nicht. Mit geschlossenen Augen ertrug sie die Schläge, ein Bündel schuldbewußter, armseliger Mensch, bis es ihr schwarz vor den Augen wurde.

Sergej richtete sich wieder auf, drehte mit dem Stiefel die Ohnmächtige auf den Rücken und wartete geduldig, reglos, bis sie wieder zu sich kam und die Augen öffnete. Als er sicher war, daß sie ihn sah und wiedererkannte, sagte er:

»Ich komme wieder. Ich werde dich töten!«

Dann trat er aus dem Haus, schloß die Tür sorgfältig hinter sich zu und nickte freundlich einigen Pionieren zu, die mit langen Eisenstangen die gesprengten Eisschollen vom Ufer stießen. Nach allen Seiten demütig grüßend, ging er die Uferstraße entlang und verschwand in dem Gewirr halbzerstörter Häuser und Schuppen am Rande von Orscha.

In einer erhalten gebliebenen Banja erst fiel die Demut von ihm ab wie der Pelz, den er auszog und in die Ecke warf. Einen Augenblick stand er wie versteinert da, doch dann konnte er es nicht mehr ertragen. Mit den Fäusten und der Stirn schlug er gegen die Wand, und aus seiner Brust entrang sich ein entsetzlich anzuhörendes Schluchzen:

»Gib mir die Kraft, das zu ertragen!« schrie er. »O Gott, laß mich nicht verrückt werden – laß mich nicht verrückt werden!«

Es war das erstemal in seinem Leben, daß er Gott anrief. Aber er merkte es nicht. In ihm war sonst nichts als ein schrecklicher, brennender, unerträglicher Schmerz.

Zu derselben Stunde, als Deutschmann den Schlitten bestieg, ohne sich um den fluchenden Fahrer zu kümmern, der bereits eine halbe Stunde in der bitteren Kälte gewartet hatte, tauchte bei der 2. Kompanie im vorderen Grabenabschnitt eine dickvermummte und dennoch zackig aussehende Gestalt auf, die allgemeines Verwundern erregte: Oberleutnant Bevern. Er kam von der 1. Kompanie Oberleutnant Wernhers herüber, um die Schanzarbeiten der 2. Kompanie zu kontrollieren.

Der erste Soldat, auf den Bevern stieß, war Wiedeck. Er lehnte die Spitzhacke, mit der er vergeblich gegen den steinhart gefrorenen Boden ankämpfte, bedächtig gegen die Grabenwand, baute ein nachlässiges Männchen und meldete:

»Schütze Wiedeck bei den Schanzarbeiten. Keine besonderen Vorkommnisse.«

»Welche Kompanie?« schnauzte Bevern. »Ist das eine Meldung? Schanzen Sie etwa für Latrinenreiniger?«

»Jawohl, Herr Oberleutnant!«

Bevern riß die Augen auf. »Was soll das heißen?«

»Jawohl, Herr Oberleutnant!«

Was sollte Bevern tun? Gegen dieses ›Jawohl‹ – und er wußte, daß dieser sture Soldat auf alle seine weiteren Fragen nur Jawohl sagen würde – konnte er nichts ausrichten, wenigstens nicht hier im Graben. So sagte er nur: »Wir sprechen uns noch, Wiedeck, wir sprechen uns noch!«

Wütend stapfte er weiter, den Graben entlang, vorbei an einigen Soldaten, die ebenfalls stramm grüßten und ihre Meldung so laut hinausbrüllten, daß die nächsten und übernächsten bereits gewarnt waren, bevor Bevern bei ihnen auftauchte.

In den halbfertigen Bunkern lagen die anderen Männer der 2. Kompanie und schliefen erschöpft. Sie hatten die ganze Nacht gearbeitet, jetzt tagsüber durften sie ausruhen. Seit zwei Tagen mußten sie in den Stellungen bleiben. Es wurde befohlen, daß die Arbeit beschleunigt zu beenden sei. Aber sie waren ganz glücklich darüber, denn durch die Linien waren einige russische Scharfschützen gesickert und schossen vom nahen Wald aus auf alles, was sich in den Gräben bewegte. Sie waren so gut getarnt, daß man sie nicht ausmachen konnte. Ein deutscher Zug, der eingesetzt wurde, um sie aufzustöbern und zu liquidieren, war unverrichteterdinge zurückgekommen. Es war nichts zu machen. Der Wald war groß und dicht, und nicht nur ein einzelner Mensch konnte sich dorthin auf alle Ewigkeit verkriechen, sondern ein ganzes Bataillon oder Regiment. Zudem war durch diese Scharfschützen nicht nur die dünnbesetzte HKL bedroht, sondern auch die Männer des Strafbataillons. Und man war nicht bereit, ihretwegen die schwachbesetzte HKL noch schwächer zu machen und Leute zu Suchtrupps abzukommandieren. Der Antrag Oberleutnant Obermeiers und Hauptmann Barths, einen Zug des Strafbataillons – oder was noch besser wäre, eine ganze Kompanie – zu bewaffnen und in den Wald zu schicken, war bis jetzt unbeantwortet geblieben. So waren im Laufe von drei Tagen sechs Mann bei Obermeier und fünf bei Wernher durch Kopfschüsse ausgefallen.

Um wenigstens einigermaßen die Weiterarbeit zu sichern, hatten Obermeier und Wernher einige gegen den Wald vorgeschobene Posten aufgestellt, die mit ihren MGs auf jede verdächtige Bewegung schießen sollten. Allerdings waren diese Posten auf dem besten Wege, als erste abgeschossen zu werden. Bereits am ersten Tag fand die Ablösung zwei Tote hinter den Maschinengewehren; ihre Stahlhelme wiesen knapp über den Augen ein kleines, rundes Loch auf.

»Eine Saubande«, murmelte Bevern, als er einige Bunker besichtigt hatte. »Pennen wie die Ratten, ist das noch ein Krieg?« Tief gebückt – auch er wußte natürlich von der Gefahr, die von den Scharfschützen drohte, obwohl er eigentlich nicht so recht daran glaubte – ging er durch einen Laufgraben weiter nach hinten, um einen der Posten zu kontrollieren. Das letzte Stück Weges mußte er auf allen vieren kriechen, bis er zu einem Loch kam, in dem zusammengekauert ein Soldat – schlief.

Nein, es war kein Irrtum: Der Posten schlief.

Den breiten Kragen des Lammfellmantels hatte er hochgeschlagen, so daß nur der obere Teil des Stahlhelms heraussah, sein Gesicht war im Pelz vergraben, und in seinen regelmäßigen Atemstößen zitterten die dünnen Reiffäden, die sich rundum gebildet hatten. Die Hände hatte er in die Ärmel gesteckt und die Füße in Filzstiefeln unter den Mantel gezogen.

Das war ungefähr das Schlimmste, was Bevern passieren konnte. Ein schlafender Posten! Und als er kniend und unbeweglich auf den Schlafenden sah, erfüllte ihn fast triumphierende Befriedigung: Hier hatte er einen erwischt. Nur ganz kurz bedauerte er, daß er keinen Zeugen hatte. Aber das würde ja nicht notwendig sein. Sein Offizierswort würde bei der Verhandlung genügen, und die exemplarische Strafe, die nur Tod durch Erschießen heißen konnte, würde auf alle anderen in diesem verfluchten Haufen sehr erzieherisch wirken.

Sein Blick glitt langsam empor zu den Sandsäcken, die im Halbkreis, gegen den Wald sichernd, rund um das MG-Nest aufgebaut waren. Mitten darin befand sich eine schmale Scharte, davor stand das MG. Wenn er den Mann aufweckte, wollte er es nicht kniend tun, in einer, wie es ihm schien, lächerlichen Haltung, sondern so, wie sich's gehörte: Hochaufgerichtet, auf ihn herabblickend. Langsam, jedes unnötige Geräusch vermeidend, rutschte er ins Loch und richtete sich auf – dabei immer zu den Sandsäcken aufschauend. Ob sie wohl genügend Schutz boten? Natürlich, sagte er sich, durch die kann keine Kugel durchdringen – und außerdem konnte ihn ja niemand sehen, wenn er den Kopf nicht herausstreckte. Dabei entging ihm, daß sich die unbewegliche Gestalt des Postens rührte. Als er wieder hinuntersah, den Mund bereits offen, um loszubrüllen, schaute er in zusammengekniffene, spöttische Augen – Schwaneckes.

Seine Verletzungen aus dem Messerkampf mit Tartuchin waren schmerzhaft, aber nicht gefährlich gewesen. Nachdem ihn Kronenberg gefunden und seine Stichwunden versorgt hatte, blieb Schwanecke noch ein paar Tage im Lazarett. Dann hatte ihn Bevern aufgestöbert. »Der Mann ist doch nicht krank«, hatte er zu Kronenberg gesagt. »Zum Faulenzen ist die Zeit zu ernst. Sorgen Sie dafür, daß sich Schwanecke morgen wieder dienstfähig bei seiner Einheit meldet …«

Schwanecke hatte vor Wut gekocht.

»Aufwachen!« schrie Bevern und dachte nicht daran, daß es lächerlich war, »Aufwachen!« zu brüllen; und auch die einzige folgerichtige Antwort Schwaneckes ging an ihm vorbei, als hätte er sie gar nicht gehört. Er dachte nur daran, daß er ihn jetzt hatte. Jetzt gab es keine Ausflüchte und Mätzchen mehr. Der Mann war schon so gut wie tot. Und das war richtig so. Es war das Beste, was geschehen konnte, daß es gerade Schwanecke war, den er hier erwischt hatte.

»Warum? Ich bin ja schon wach«, sagte Schwanecke.

»Stehen Sie auf!«

Schwanecke stand langsam und sich reckend auf. Dann gähnte er. »Sie kommen immer in einem unrichtigen Augenblick«, sagte er, zum zweitenmal gähnend. »Ich habe gerade …«

»Sie haben geschlafen!«

»Das wollte ich Ihnen ja sagen. Ich habe gerade geträumt, ich wäre in Hamburg mit so 'ner hübschen Blonden … Sie können gar nicht glauben, was für tolle Hüften sie hatte. Und nun kommen Sie …«

»Sie haben geschlafen – und Sie geben es zu?«

»Na klar«, sagte Schwanecke. »Allerdings habe ich Sie schon bei der dritten Krümmung von hier ab gehört. Sie haben auf der Kriegsschule nicht aufgepaßt, Herr Oberleutnant! So darf man sich an der Front nicht anschleichen!« Sein Gesicht grinste, seine Stimme grinste – nur seine Augen waren kalt, leblos wie zwei Glaskugeln.

»Wissen Sie, was das bedeutet?« fragte Bevern lauernd.

»Nee. Was denn?«

Bevern sagte langsam: »Schlafen auf Posten in unmittelbarer Nähe des Feindes …«

»Ach so – das meinen Sie! Und wie geht's weiter?«

»Kriegsgericht«, sagte Bevern ruhig. »Und das wird gleich hier bei uns erledigt. Packen Sie Ihre Siebensachen, Sie kommen mit.« Er war ruhig, Schwaneckes dreckige Antworten prallten wirkungslos an ihm ab. Warum sollte er sich noch darüber aufregen, der Mann war sowieso erledigt.

»Darf ich nicht – bevor nicht die Ablösung kommt«, sagte Schwanecke. »Leisten Sie mir so lange Gesellschaft, Herr Oberleutnant? Wir könnten uns – wir könnten uns aussprechen, Herr Oberleutnant. Was meinen Sie? … Wir sind ja ganz allein hier, und wir bleiben noch eine ganze Weile allein. Es ist doch eine Gelegenheit … ein Wort unter Männern …«

Die kalte, überlegene Ruhe fiel langsam von Bevern ab. Schwaneckes Worte drangen nur nach und nach in sein Bewußtsein, doch dann verstand er. Über seinen Rücken kroch es eisig, und er machte einen Schritt zurück, als wollte er in den Laufgraben entweichen. Doch Schwanecke streckte ganz langsam den Arm aus, packte ihn an den Mantelaufschlägen, zog ihn zu sich und drehte sich dabei selbst so, daß er den Rückweg versperrte.

Bevern war unfähig, sich zu widersetzen. Es war zu ungeheuerlich, was jetzt geschah, es war unmöglich. Doch als er in Schwaneckes Gesicht sah, stürzte die Wirklichkeit über ihn: Es blieb wahr. Und dann sah er, wie sich Schwaneckes grinsender Mund öffnete und wie aus ihm langsam Worte kamen und wie Lebewesen in ihn drangen und von ihm Besitz ergriffen, bis jede Zelle seines Körpers von ihnen durchdrungen war: