Sie kam davon. In der Nachbarschaft wurden einige Häuser zerstört, in den Zimmern ihrer Wohnung flackerte rötlich der Widerschein naher Brände. Sie schloß die Fenster und zog die Verdunkelungsvorhänge herab. Einige Scheiben waren zertrümmert.

Als sie die Scherben zusammenfegte, klingelte das Telefon.

Sie richtete sich auf, fragend, als verstünde sie nicht, was das schrille, scharfe Läuten bedeutete.

Dann hob sie den Hörer ab.

Am anderen Ende meldete sich Dr. Kukill.

»Ich wollte nur fragen, ob bei Ihnen alles in Ordnung ist?« fragte Dr. Kukill. Seine Stimme klang atemlos, abgehackt und etwas unsicher.

»Warum wollen Sie das wissen?« fragte Julia. Und sie überraschte sich dabei, daß ihr seine Stimme fast wohltat: Es war einfach eine menschliche Stimme, die zu ihr sprach, in dieser gespenstigen, durch einen rötlichen Feuerschein und entferntes Prasseln erfüllten Stille. Egal, wem sie gehörte. Und erst nach und nach wurde ihr bewußt, daß der Mann sprach, der ihr Glück zerstört hatte, durch dessen Schuld sie in diesen alptraumähnlichen Zustand geworfen wurde, in dem sie wie in einer ewigen Nacht ohne Aussicht auf Licht leben mußte.

»Nach diesem Angriff – nun, ich bin froh, daß Ihnen nichts passiert ist, Kollegin.« Jetzt schlug er wieder seinen leichten plaudernden Ton an, an dem das Verwunderlichste war, daß er ihn auch ihr gegenüber so leicht anwenden konnte, als spräche er mit irgendeinem beliebigen Bekannten. »Ist Ihr Haus ganz geblieben?«

»Ja, nur einige Scheiben sind kaputt.«

»Das kann man verschmerzen. Ich schicke Ihnen morgen einen Mann, der neue einsetzen wird. Aber ich glaube doch, es wäre besser, wenn Sie bei einem Fliegeralarm in einen sicheren Luftschutzbunker gingen.«

»Mir passiert schon nichts.«

»Darf ich morgen nach Ihnen sehen?«

»Ich weiß nicht, welchen Sinn es hätte.«

»Darf ich?«

»Bitte nicht, ich bin sehr beschäftigt.«

»Was tun Sie? Etwa …?«

Stille.

»Ganz recht. Ich habe es Ihnen ja gesagt.«

Und dann beschwörend: »Machen Sie keine Dummheiten, tun Sie nichts Unüberlegtes. Sie wissen, wie gefährlich das ist, wie könnte ich Sie nur davon abhalten?«

»Es hätte keinen Zweck, mich davon abhalten zu wollen.« Sie lächelte abwesend. Dieses Gespräch war unwirklich, widersinnig und auch ein bißchen komisch. Der Mann, an den sie nur mit Haß im Herzen denken konnte, der Mann, dessen Gutachten Ernst zu verdanken hatte, daß er in das Strafbataillon kam, beschwor sie, vorsichtig zu sein, von der Arbeit abzulassen, nur um – warum eigentlich? Etwa …?

Sie legte auf, ohne auf die verzerrte, aufgeregte Stimme zu achten, die aus dem Hörer kam.

Dann ging sie zurück ins Laboratorium. Zum Glück waren hier die Scheiben ganz geblieben. Sie zündete eine Kerze an und setzte sich hinter den Schreibtisch. Vor ihr war eine lange und jetzt nach dem Angriff hoffentlich auch ruhige Nacht. In anderen Vierteln Berlins aber wüteten Brände …

Deutschmann fiel um, als er langsam, gemächlich über den Kasernenhof gegen die Küchenbaracke ging, wohin er zum Kartoffelschälen geschickt wurde. Der Schwächeanfall kam plötzlich, ohne vorherige Ankündigung; vor seinen Augen fingen helle Punkte, Kreise und Flecke zu tanzen an, er machte die Augen krampfhaft auf, von den Beinen aufwärts kroch über seinen Körper lähmende Schwäche, er fragte sich überrascht, was das bedeuten sollte – und dann stürzten der Hof vor ihm, die Baracken und die Bäume dahinter empor und begruben ihn unter sich.

Er konnte kaum lange ohnmächtig gelegen haben.

Als in der Dunkelheit, die ihn umgab, wieder die Kreise, Punkte und Flecke zu tanzen begannen und immer heller wurden, als er erstaunt und nicht begreifend die Augen aufriß, sah er ganz nahe vor seinen Augen eine Pfütze. Zugleich fühlte er auf seinem Gesicht nasse Kälte. Er verstand immer noch nicht. Erstaunt, aber auch ein wenig gleichgültig, fragte er sich, wo er sei und wie er hierhergekommen war. Wie kam er dazu, mit der Wange in einer Pfütze zu liegen, und warum gelang es ihm nicht aufzustehen?

Er versuchte, die Beine unter den Leib zu ziehen, doch über seinen Körper lief nur ein langes Zittern.

Dann hörte er schnell näherkommende, trampelnde Schritte.

Erich Wiedeck beugte sich über den regungslos daliegenden Deutschmann.

»Ernst!« sagte er erschrocken, »Ernst, was ist denn los?«

Er drehte ihn um und knöpfte ihm den Uniformrock auf. Deutschmann starrte ihn aus glasigen Augen, die nichts verstanden, an, machte den Mund auf, als wollte er etwas sagen, doch über seine Lippen kamen nur kleine, lallende Laute.

Wiedeck überlegte nicht lange. Er hob den Freund auf die Schulter und wunderte sich, daß der lange, große Mann so leicht war.

Schnell trug er ihn in den etwas abseits gelegenen Teil des Lagers, wo die Revierbaracke lag.

Es war nichts Ernstes. Ein einfacher Schwächeanfall. Gegen Nachmittag konnte Deutschmann wieder aufstehen. Als er, etwas schwach noch und zitterig in den Beinen, aufstand und durch den schmalen, langen Gang der Revierbaracke zur Toilette ging, sah er unten die Tür aufgehen. Zwei Soldaten schleppten keuchend eine Trage hinein. Hinterher lief aufgescheucht wie ein Huhn der Sanitäter Kronenberg.

Deutschmann drückte sich an die Wand und ließ die Gruppe vorbei. Auf der Trage lag ein Soldat mit erschreckend violett verfärbtem Gesicht. Sein Mund schnappte weit offen nach Luft, seine Hände fuhren unablässig über die Brust zum Hals und wieder hinab, und sein Körper bäumte sich in kurzen Abständen auf, als wollte er aufstehen und in seiner Pein und Atemnot weglaufen.

»Und der Chef ist nicht hier – was soll ich tun – der Chef ist doch nicht hier!« jammerte Kronenberg verzweifelt.

»Du bist der Sani – du mußt es wissen!« keuchte ein Soldat, dessen Hände die Trage umklammerten.

Deutschmann trat hinter ihnen ins Behandlungszimmer. Kronenberg, der sonst wie ein Wachhund aufpaßte, daß kein Unberufener ›seine‹ Räume betrat, wie er das Revier nannte, kümmerte sich nicht um ihn. Hilflos lief er umher, ohne zu wissen, was er tun sollte. Es war ihm nicht zu verübeln: Nach einem Schnellkursus in ›Erster Hilfe‹ wurde er Sanitäter – und dieser Mann, den die Soldaten jetzt behutsam und ängstlich auf das Sofa legten, kämpfte offensichtlich mit dem Erstickungstod. Oder mit etwas anderem – weiß der Teufel, auf alle Fälle sah es so aus, als könnte er jeden Augenblick sterben.

»Wo ist der Chef?« fragte ein Soldat.

»Weggefahren«, sagte Kronenberg, »ich weiß nicht …«

»Dann such ihn halt!«

»Wo soll ich ihn suchen?«

»Was hat er denn?« fragte Deutschmann, trat zum Liegenden und beugte sich über ihn.

»Verstehst du etwas davon?« fragte Kronenberg mit wiedererwachender Hoffnung.

»Ein wenig«, sagte Deutschmann. »Was hat er?«

»Wie soll ich das wissen?«

»Mensch – du bist vielleicht ein Sani!« sagte ein Soldat.

»Du hast ihm doch vorhin eine Spritze gegeben!« sagte der zweite.

»Was für eine Spritze?« fragte Deutschmann.

»Das hat doch damit nichts zu tun – eine Antitetanusspritze hat er bekommen«, sagte Kronenberg. »Er hat sich mit einem rostigen Stacheldraht …«

»Bringen Sie Adrenalin und eine Spritze!« befahl Deutschmann knapp. »Machen Sie schnell, sonst kann wirklich etwas passieren!«

Jetzt war er wieder dort, wohin er gehörte: in einem nach Medikamenten, Desinfektionsmitteln und kranken Menschen riechenden Raum, neben einem Sofa, auf dem ein Mann mit dem Tode rang. Die Schwäche, Unsicherheit und Unbeholfenheit waren wie mit einem Schlage von ihm abgefallen. Es war wieder wie damals, in den Jahren nach seinem Doktordiplom, als er in einer Berliner Klinik arbeitete, von einem Kranken zum anderen ging, als er mit dem Tode um seine Patienten rang – dort, wo er Julia kennen- und liebengelernt hatte.

Kronenberg sah ihn groß und erstaunt an und brachte das Verlangte: eine Adrenalinampulle und aus dem silbern glänzenden Sterilisator eine Spritze und Nadeln. Deutschmann streifte dem Liegenden den Ärmel hoch und fühlte nach seinem Puls; er war kaum zu spüren, flatterhaft, manchmal beängstigend lange aussetzend.

»Benzin!« sagte Deutschmann.

Die beiden Soldaten standen dabei und sahen ihm zu, wie alle Menschen in allen Zeit einem Arzt bei der Arbeit zugesehen haben: neugierig, scheu, bewundernd.

Deutschmann schnürte den Oberarm des Liegenden ab, so daß die Adern in der Armbeuge dick und blau hervortraten. Dann rieb er mit einem benzingetränkten Wattebausch die Haut ab und stach die Nadel in die Vene.

»Schock«, sagte er.

»Wieso Schock, was …«, fing Kronenberg an, aber Deutschmann unterbrach ihn leise und ruhig, während er die Flüssigkeit langsam und ruhig in die Vene drückte: »Nicht jeder verträgt das Antitetanusserum.«

»Kriegst du ihn durch?« fragte ein Soldat.

»Ich denke schon«, sagte Deutschmann.

Er hat ihn durchgekriegt. Nach langen bangen Minuten, nachdem er alles getan hatte, was zu tun war, und man nur noch warten konnte, wich aus dem Gesicht des Kranken langsam die violette Färbung, er begann wieder zu atmen, sein Puls wurde regelmäßig, obwohl er vorläufig ziemlich schwach blieb.

»Es ist gut«, sagte Deutschmann endlich. »Es kann nichts mehr passieren.«

»Wieso kannst du das so gut?« fragte ihn Kronenberg erstaunt und dankbar zugleich. Er hatte auch allen Grund, dankbar zu sein: Langsam dämmerte es ihm, daß der Soldat durch seine Schuld gestorben wäre. Er hatte ihm die doppelte Menge Serum gegeben, weil ›doppelt ja besser hält‹.

»Ich muß es wohl«, antwortete Deutschmann lächelnd. »Schließlich bin ich ein Arzt.«

»Arzt …?« Kronenberg pfiff durch die Zähne. Seinem breiten, schwerfälligen Gesicht war anzusehen, daß er irgend etwas überlegte. Aber er sagte nichts; er sagte nie etwas, bevor er es nicht gründlich und von allen Seiten abgewogen hatte.

Als Deutschmann gegen Abend wieder in seinem Bett lag, kam Kronenberg zu ihm und holte ihn in seine kleine Kammer neben dem Behandlungsraum.

»Hör mal zu«, begann er, nachdem sich Deutschmann auf dem einzigen Stuhl niedergelassen hatte. »Ich hab' so 'ne Idee. Aber zuerst trinken wir einen Schnaps. Magst du?«

Deutschmann nickte.

Kronenberg machte seinen Spind auf und holte aus der hintersten Ecke eine Flasche. Deutschmann machte große Augen: Französischer Kognak! Kronenberg grinste ihn an:

»Vom Alten, verstehst du? Vom Stabsarzt. Eine Seele von Mensch! Ich kann ihn um den Finger wickeln, wenn ich will.«

Sie tranken.

Schon nach einigen Schlucken erschien Deutschmann die Welt wieder ein klein wenig erträglicher, ja, beinahe angenehm. Er vergaß den Spieß, die Unteroffiziere, er vergaß seine Krankheit und Schwäche und seine Verzweiflung, die dunkle, hoffnungslose Zeit, durch die er gehen mußte; er und alle anderen, er und Julia, er und Kronenberg und Wiedeck und Bartlitz und Schwanecke – auch Schwanecke und alle, alle … Bequem setzte er sich auf dem Stuhl zurecht und wartete gespannt, was ihm Kronenberg zu sagen hatte.

»Paß mal auf«, begann dieser, »ich weiß, es ist kein Spaß da draußen!« Mit dem Daumen machte er eine Bewegung gegen das verdunkelte Fenster. »Du verstehst mich?«

Deutschmann nickte.

»Ich hab' einen Vorschlag. Ich brauche einen Hilfssani, verstehst du? Dann bist du die Brüder los, Krüll und so weiter, keiner kann dir was, und wir machen uns hier eine schöne Zeit.«

»Wie willst du denn das machen?« fragte Deutschmann zögernd. Diese Idee erschien ihm absurd, unwahrscheinlich. Er, Dr. Ernst Deutschmann, Privatdozent – ein Hilfssani! Sozusagen der letzte Dreck im Sanitätskorps! Dabei wäre er nach einem Jahr mindestens Stabsarzt, wenn er nicht im Strafbataillon wäre. Andererseits – warum eigentlich nicht? Wenn man beim Militär ein Klavier tragen mußte, dann suchte der Spieß Musiker aus; wenn die Unteroffiziere ihre Buden geschrubbt haben wollten, dann beauftragten sie damit besonders gute Schwimmer, weil sie ja keine Angst vor Wasser hätten. Und wenn Kronenberg einen Hilfssani brauchte – warum sollte er dann nicht ihn, den Arzt Deutschmann, nehmen?

»Das überlaß du nur mir!« sagte Kronenberg mit einer großartigen Geste. »Ich habe dir doch gesagt – der Chef und ich – du verstehst?«

»Und – was hätte ich zu tun?«

»Ach so, na, jetzt einstweilen noch Pißpötte 'raustragen, Thermometer in den Hintern stecken und so weiter. Du verstehst ja was davon. Und nachher in Rußland – weiß der Teufel! Was halt so kommt. Einverstanden?«

»Pißpötte?« sagte Deutschmann.

»Du bist dir wohl zu gut dazu, was? Du kannst ja wieder 'raus! Du bist gesund – Krüll wartet schon auf dich!«

»Kann ich noch was zu trinken haben?« fragte Deutschmann. Ein kleiner Aufschub. Pißpötte! – dachte er schaudernd. Thermometer in den Hintern, was halt so kommt …

Aber er hatte sich schon entschieden.

»Na gut«, sagte er, nachdem er getrunken hatte. »Machen wir.«

Am nächsten Morgen half er bereits dem Sanitäter Kronenberg beim Fiebermessen und rückte anschließend mit einem Arm voll Nachttöpfen auf die Latrine des Reviers, um sie dort zu leeren und zu spülen. Und im Laufe des Vormittags und Nachmittags sah er mit einiger Besorgnis, daß Kronenberg recht gern sprach, aber weniger gern arbeitete. Im übrigen war er jedoch ganz angenehm, gutmütig, schrie nicht, brüllte nicht, man konnte gut mit ihm auskommen – es war immer noch besser, hier zu sein, als vom ›Krüllschnitt‹ über den Appellplatz gejagt zu werden.

So wurde beiden gedient. Deutschmann empfand die Ruhe im Revier, die Gesellschaft der Kranken, den Sanitäter Kronenberg und die Nachttöpfe als eine Wohltat nach den Tagen unter Krüll, und Kronenberg hatte einen echten Arzt als Hilfssani, er, der kleine Handwerker aus Westfalen. Einen Mann, der alle Arbeiten machte, zu denen er keine Lust hatte, und der bei Bedarf auch noch mit seinem Wissen einspringen konnte. Ein Idealfall, seltenes Glück – und zugleich doppelte Rückendeckung.

Am Abend sprach Kronenberg mit Stabsarzt Dr. Bergen. Er rückte mit seinen Problemen in der schiefen Schlachtordnung vor und fühlte erst einmal nach der allgemeinen Lage.

»Ist die Herzsache vom Zimmer 3 schlimm, Herr Stabsarzt?«

»Warum?« Dr. Bergen blickte von seinen Notizen auf. Er hatte die pedantische Angewohnheit, über jeden Tag eine Art Rapport zu führen, den keiner las und der in dicken Aktenstößen im Rollschrank verstaubte. »Wieder ein Anfall? Geben Sie ihm Myokarden.«

»Jawohl.« Kronenberg sah auf die Papiere. Appendizitis Zimmer 4, las er. Überstellung in Reservelazarett Posen 1 zwecks Ektomie. »Da ist noch was, Herr Stabsarzt.«

»Bitte?«

»Der Schütze Ernst Deutschmarin ist recht anstellig. Wir brauchen noch einen Mann fürs Revier. Eine Art Hilfskraft. Durch die Arbeitskommandos ist das Revier so belegt, wie Herr Stabsarzt selbst wissen, daß ich allein …« Er stockte und verbesserte sich sofort: »Das heißt, ich schaffe es schon allein. Aber das dauert manchmal zu lange bei dringenden Fällen. Und jetzt überhaupt, wenn wir nach Rußland kommen …« Daß Deutschmann Arzt war, verschwieg er wohlweislich.

»Ich werde mit dem Kommandeur sprechen. Welche Kompanie?«

»Die zweite, Herr Stabsarzt.«

»Gut. Lassen Sie mich jetzt in Ruhe, Kronenberg!« Dr. Bergen beugte sich über seinen Rapport, und Jakob Kronenberg entfernte sich zufrieden mit einem zackigen Gruß und einer krachenden Kehrtwendung – aber nicht bevor er sah, daß Dr. Bergen notierte: Anfordern Schütze Ernst Deutschmann, zweite Kompanie, als Hilfssani.

»Man muß die Leute zu nehmen verstehen«, sagte Kronenberg später zu Deutschmann. Sie saßen am Fenster, und der Sanitäter weihte seinen Hilfssani in die Geheimnisse des ›17 und 4‹ ein. »Der Deutschmann kommt zu uns, Herr Stabsarzt«, habe ich gesagt, »oder ich gehe!« Kronenberg sah sein Gegenüber an, um sich zu vergewissern, ob seine Worte Wirkung zeigten. Deutschmann staunte ihn pflichtgemäß an. »Da hat er natürlich sofort ja gesagt!«

Und nach einer Weile knallte Kronenberg die Karten hin: »Einundzwanzig!«

Es war ein schöner Abend.

Am nächsten Tag packten die 1. und 2. Kompanie ihre Sachen. Der erste Befehl war umgeändert worden – zuerst rückten die beiden ersten Kompanien ab. Nach fünf Tagen folgten die 3. und 4. Kompanie mit dem Bataillonsstab und dem Revier, das jetzt den Namen ›Lazarett‹ erhielt. Ernst Deutschmann, als neuer Hilfssani, wurde der 2. Kompanie als Sanitäter zugeteilt, was Oberfeldwebel Krüll mit den Worten begrüßte: »Na, Sie trübe Tasse! Sie haben wohl schon gelernt, wie man sich drückt, was? Sie laß ich noch hüpfen!«

Worauf Deutschmann, der tatsächlich überraschend schnell lernte, still entgegnete: »Darf ich Herrn Oberfeldwebel darauf aufmerksam machen, daß ich allein dem Herrn Stabsarzt und dem Herrn Bataillonskommandeur unterstehe?«

»Schnauze!« brüllte Krüll. Aber er raffte sich zu keinen weiteren Gegenmaßnahmen auf, einerseits weil Deutschmann im Recht war, andererseits, weil es nach Rußland ging. Man wußte nie, ob nicht gerade dieser lausige Intellektuelle derjenige war, der einem den ersten Verband anlegte und die Tetanusspritze gab. Oder gar abschleppte –!

Die Reaktion auf Deutschmanns ›Beförderung‹ in seiner Unterkunft war verschieden. Manche beneideten ihn, manche beglückwünschten ihn, und Schwanecke sagte:

»Du hast den richtigen Dreh 'raus. Das hast du sehr gut gemacht. Dadurch erhöhen sich unsere Chancen, sag' ich dir!«

»Wie meinst du das?« fragte Deutschmann verblüfft.

Aber Schwanecke antwortete nicht. Er grinste nur vieldeutig und blinzelte ihm zu.

Jakob Kronenberg blieb einstweilen im Revier und würde in fünf Tagen nachkommen, hieß es. Stabsarzt Dr. Bergen rief jede Stunde bei der Sanitätsersatzstaffel an, beschwor den Oberarzt und verlangte den Generalarzt zu sprechen. »Ich brauche einen Assistenten!« schrie er. »Was soll ich allein in Rußland? Bisher hatte ich ein Revier, aber an der Front, bei dem Anfall von Verwundeten! Ich garantiere für keinerlei vorschriftsmäßige ärztliche Versorgung, wenn keine Hilfe kommt!«

In Posen sah man das ein und versprach ihm einen Unterarzt. Aber Dr. Bergen wußte im voraus, daß das wahrscheinlich nur ein Versprechen war wie immer.

Unterdessen packte die Schreibstube der 2. Kompanie die Akten, die Wehrpässe und die wichtigen Schriftstücke in große Blechkisten. Die transportable Einrichtung wurde in Kartons und Holzkisten verstaut, die mit Draht und dicken Bindfäden umwickelt wurden. Darauf kam, mit Tusche gemalt, das taktische Zeichen und die Ziffern 2./999./Ia oder Ib.

In die Schreibstube kam Oberleutnant Obermeier. »Was Neues, Krüll?« fragte er.

»Nein, Herr Oberleutnant. Packen geht planmäßig weiter. Kompanie steht um 20.00 Uhr abmarschbereit.«

»Um 19.00 Uhr Fassen der eisernen Rationen. Alle Unteroffiziere und Feldwebel erhalten Pistolen, Munition und jeder Zug zwei Maschinenpistolen. Wir fahren drei Tage durch Partisanengebiet. Sie sehen so rot aus, Krüll. Haben Sie etwas?«

»Nein, Herr Oberleutnant, nichts.«

Die Schreiber grinsten. Unteroffizier Kentrop rieb sich die Nase. Aber Krüll sah es nicht. In diesen Tagen und Stunden lebte er wie in einem Nebel.

Hilfssanitäter Ernst Deutschmann packte seine Ambulanztasche zusammen. Kronenberg half ihm dabei mit fachlichen Ratschlägen und steckte schließlich eine Flasche Kognak zwischen die Medikamente. »Falls dir mal schlecht ist oder gegen Magenschmerzen. Und wenn der ›Krüllschnitt‹ Magenschmerzen hat – die hat er immer, wenn er gesoffen hat, dann gibst du ihm einen großen Eßlöffel Supergastronomia

»Supergastronomia?«

»Rizinusöl heißt das auf deutsch. Der Name stammt von mir. Krüll hat einen großen Respekt vor ihm. Seinen flotten Durchmarsch schiebt er dann immer auf schlecht gebrannten Schnaps.«

Lächelnd stapelte Deutschmann die Verbandspäckchen und Schnellbinden in der großen Ledertasche, zählte die Leukoplastrollen und die verschiedenen Scheren und Pinzetten. Kopfschüttelnd erinnerte er sich an das Instrumentarium und an all die modernen Geräte, die ihm in Berlin zur Verfügung gestanden hatten. Was soll er im Ernstfall mit diesen paar Pinzetten und Scheren anfangen?

Stabsarzt Dr. Bergen kam in den Raum.

»Haben Sie alles zusammen?« fragte er Deutschmann.

»Jawohl, Herr Stabsarzt.«

»Wenn Sie genau wissen, wo das Lazarett hinkommen soll, versuchen Sie schon, Quartier zu suchen.«

»Wenn Herr Oberfeldwebel mir das erlaubt.«

»Oberfeldwebel?« Dr. Bergen richtete sich auf. »Sie haben von mir den dienstlichen Befehl, für das Lazarett Quartier zu suchen. Mit der 2. Kompanie haben Sie nur verwaltungstechnisch zu tun. Befehle haben Sie nur von mir entgegenzunehmen! Übrigens – was sind Sie – was waren Sie früher von Beruf?«

»Arzt«, sagte Deutschmann.

Dr. Bergen fuhr herum. »Arzt?« fragte er überrascht. »Wieso … warum?« Er wirkte auf einmal unbeholfen.

»Jetzt bin ich hier«, sagte Deutschmann trocken.

»Ja – jetzt sind Sie hier, jetzt sind Sie hier«, sprach Dr. Bergen hilflos und gab sich schließlich einen Ruck. Jetzt war er wieder so, wie ihn alle kannten: kühl, ruhig, abwesend. »Also tun Sie, was ich Ihnen gesagt habe.«

»Jawohl, Herr Stabsarzt.«

Deutschmann exerzierte das gleich durch, als er auf die Stube kam, wo er Wiedeck und Schwanecke traf. Er packte die Kognakflasche aus und ließ sie kreisen. Und wie stets im unrechten Augenblick tauchte auch diesmal Krüll überraschend auf.

Der Oberfeldwebel zwinkerte überrascht mit den Augen, als er die drei Soldaten um den Tisch sitzen sah; offenbar wollte er sich vergewissern, ob ihm seine aufgeregten Sinne nicht nur irgend etwas vorgaukelten. Aber es stimmte: Auf dem Tisch stand eine Flasche Kognak.

»Schütze Deutschmann«, schrie er, »was haben Sie da?«

»Kognak, Herr Oberfeldwebel.«

»Kog…« Krüll machte ein paar Schritte in die Stube und starrte auf die Flasche. Ein guter Dreistern, ein vollendeter, reiner Kognak! Bei diesen drei Schurken! Ein echter Kognak bei Soldaten von 999! »Her damit!« brüllte Krüll auf. »Wo haben Sie den Kognak her? Schwanecke – geklaut, was? Das gibt einen Tatbericht!« Er wollte die Flasche sicherstellen, aber Schwanecke war schneller, griff hämisch grinsend nach der noch halb gefüllten Flasche und gab sie Deutschmann, der sie in seiner Tasche verschwinden ließ.

»Die Flasche ist Eigentum des Reviers, Herr Oberfeldwebel«, sagte Deutschmann erklärend. »Ich wurde gerufen, weil – weil Schütze Schwanecke einen Schwächeanfall bekam. Kognak ist dagegen das beste Mittel.«

Krüll wurde weiß im Gesicht. »Eine Frechheit – Sie – Sie auch – und der Schütze Wiedeck, he?« fragte er gefährlich leise.

»Hatte Sodbrennen, Herr Oberfeldwebel. Auch dagegen verordnete ich einen Schluck Kognak.«

»Geben Sie sofort die Flasche her!« Krüll beugte den roten Kopf vor. Doch Deutschmann sah ihm fest in die zusammengekniffenen Augen.

»Darf ich den Herrn Oberfeldwebel noch einmal darauf aufmerksam machen, daß ich der Kompanie nur zugeteilt bin und nur Befehle des Herrn Stabsarztes entgegennehme. Denn ich habe ausdrückliche Weisung des Herrn Stabsarztes.« Seine Stimme zitterte leicht. Und noch während er redete, fragte er sich, über sich selbst erschrocken, woher er den Mut nahm, mit Krüll so zu sprechen. Er wollte sich mitten in der Rede stoppen, die Flasche aus der Tasche nehmen und sie dem wütenden Spieß geben. Aber er tat es nicht, er sprach weiter, als würde jemand anders aus ihm sprechen, über den er keine Gewalt hatte.

Schwanecke sah Deutschmann bewundernd an, als wollte er sagen: Mensch, das habe ich dir aber nicht zugetraut, alle Achtung!

Und Krüll? Er war wie ein aufgeblasener Ballon. Er konnte schreien und seine Untergebenen schinden und schikanieren wie kein zweiter, aber er hatte kein Gewicht. Er gab nach. Sicher hätte er es nicht getan, hätte er alle drei über den Appellplatz gejagt – wenn auf ihm nicht die Gewißheit lasten würde: Rußland. So aber ging er und ließ die drei mit der Kognakflasche allein.

Um 19.00 Uhr empfingen die Unteroffiziere ihre Pistolen und Karabiner und jeder Zug zwei Maschinenpistolen. Die ausgegebene Munition wurde dreimal durchgezählt und dreimal quittiert. Außerdem bekam jede Gruppe einen Kasten mit zwölf Stielhandgranaten. Der WuG – Unteroffizier für Waffen und Geräte – schüttelte den Kopf, als er sie über den Tisch hinwegschob und die unterschriebenen Empfangsbescheinigungen einsammelte.

»Als ob ihr damit die Partisanen aufhalten könnt, wenn sie einmal losgehen!« Er war viermal verwundet, hatte beide Eisernen Kreuze und blieb – garnisonsdienstfähig geschrieben – in Posen, um die Waffen und Geräte des Ersatzbataillons zu übernehmen. Peter Hefe, aus den seligen Gefilden Frankreichs nach Posen gekommen, betrachtete beklommen die Waffen auf den Tischen. Sie blinkten schwach, gut gepflegt, geölt, vorbildlich.

»Bekommen wir keine MGs?«

»Zwei pro Kompanie.« Der WuG lochte die Empfangsbescheinigungen und heftete sie in einem Ordner ab. »Aber nur unter Verschluß. Freigegeben nur im Notfall. Was wollt ihr mit MGs, wenn ihr doch nur an die Front kommt, um den ganzen Mist wegzuräumen, der da 'rumliegt?«

»Also ein besserer Bautrupp?«

»Besser – ist gut!« sagte der WuG gleichgültig. »Die Arbeit, die ihr kriegt, mein Lieber, faßt kein Bautrupp mit der Zange an.«

Peter Hefe und die anderen schwiegen bedrückt. Der WuG war der einzige unter ihnen mit großer Rußlanderfahrung. Auch Krüll hatte die Worte gehört, als er in die Waffenkammer kam, um nachzusehen, wo seine Gruppenführer blieben.

»Und was bekomme ich?« fragte er.

»Eine 08 und 50 Schuß.«

»50 Schuß? Wohl verrückt! Was soll ich mit lächerlichen 50 Schuß?«

»Hör mal zu –«, der WuG schob Krüll die Pistole mit einer Tasche, zwei Magazinen und den Patronenschachteln über den Tisch, »ehe du die 50 Schuß im Ernstfall verfeuerst, fliegst du als Englein schon längst über die Wolken …«

Oberleutnant Obermeier studierte die Marschbefehle. Wernher, der Chef der 1. Kompanie, stand neben ihm.

»Zuerst nach Warschau«, sagte Obermeier, der mit dem Finger vergleichend über die Landkarte fuhr, »dann weiter nach Bialystok und Baranowitschi. In Baranowitschi zwei Tage Aufenthalt und Verladen. Dann weiter nach Minsk und Borissow.«

»Borissow an der Beresina«, sagte Oberleutnant Wernher sinnend. »Am 26.11.1812 überschritt Napoleon die Beresina. In Geschichte war ich schon immer gut.«

»Und am 10.11.1943 das Strafbataillon 999. Du kannst das später einmal in deinen Memoiren als einen Markstein deines Lebens verwenden. Auf Napoleons Spuren …«

»Hoffentlich ergeht es uns nicht so wie ihm«, seufzte Wernher.

Obermeier beugte sich wieder über die Karte und den Zugplan.

»Von Borissow geht es nach Orscha weiter. Dort werden wir endgültig ausgeladen.«

»Hoffentlich kommen wir auch an!«

»Das halte ich für sicher. Entlang der ganzen Strecke sollen in Bunkern bulgarische Truppen als Sicherung liegen. Der Mist beginnt erst hinter Orscha. Dort sickern Sowjets laufend durch unsere Stellungen und verstärken die Partisanen. Um Gorki herum soll ein intaktes, mit allen Waffen ausgerüstetes Bataillon der Partisanen in den Wäldern liegen. Übrigens – hast du eine Ahnung, was für einen geheimnisvollen Auftrag wir dort übernehmen sollen?«

»Keine Ahnung. Barth hüllt sich in Schweigen. Allerdings bezweifle ich, ob er es selber weiß.« Oberleutnant Wernher richtete sich auf und zupfte seinen enganliegenden, eleganten Uniformrock gerade. Er besaß eine Bilderbuch-Reiterfigur. »Die Schrecken zu erfahren, verschieb, solang du kannst«, zitierte er. »Wann sollen wir abrücken?«

»Neuester Befehl: Morgen früh sieben Uhr.« Obermeier lächelte. »Ich würde dir raten, gleich zu deiner Witwe zu reiten. Oder hast du schon Abschied genommen?«

»Halb und halb. Es wird für lange Zeit die letzte Frau sein, die ich sehe«, maulte Wernher. Aber er blieb und machte sogar den Appell seiner 1. Kompanie mit.

Die Angetretenen betrachteten dies als einen endgültigen Beweis, daß es tatsächlich ernst wurde.

Oberfeldwebel Krüll meldete Punkt 20.00 Uhr die angetretene 2. Kompanie. Er hatte seine 08 umgeschnallt, den Stahlhelm auf den dicken Kopf gestülpt und trug eigene Reithosen, die in langen schwarzglänzenden Stiefeln steckten. Er sah sehr kriegerisch aus.

Die Kompanie stand feldmarschmäßig: mit gepackten Tornistern, gerollten Decken und Zeltplanen. Spaten waren das einzige Gerät, das sie bei sich trugen. Schulterstücke und Kragenspiegel fehlten. Sie waren grau in grau, eine Masse Mensch, die in drei Reihen aufgebaut war und auf das Kommando »Dieeee Augen – links!« die Köpfe mit einem Ruck zur Seite warf.

»2. Kompanie, 24 Unteroffiziere und 157 Mann, angetreten, 6 Mann im Revier, 3 Mann abkommandiert.« Krülls Stimme klang laut über den Platz.

Oberleutnant Obermeier ließ rühren und überblickte seine Kompanie.

Der lange Oberst von Bartlitz im ersten Glied war blaß, sein Gesicht war ruhig und unbeweglich wie immer. Hinter ihm der Major – wie hieß er gleich? – ein tollkühner Draufgänger und Ritterkreuzträger, dessen schnelle Karriere einst verblüffte. Wiedeck und Schwanecke hatten gleichmütige Mienen wie fast alle die anderen, und fast alle waren alte Landser. Sie kannten das. Ihnen konnte man nichts vormachen. Sie wußten, wohin sie fuhren, sie machten sich keine Illusionen – aber tief in ihnen steckte wohl immer noch ein Rest der Hoffnung, die in jedem Menschen steckt, solange er lebt: Vielleicht – vielleicht komme ich durch …

Am Ende der Kompanie, gewissermaßen als Schlußlicht, stand ein wenig vornübergebeugt Ernst Deutschmann mit einer Rote-Kreuz-Armbinde und seinem Ambulanzkasten. Der Arzt als Hilfssani! Und als er daran dachte, kurz bevor er die kurze Ansprache an seine Kompanie begann, durchfuhr Oberleutnant Obermeier der Gedanke an den Widersinn des Ganzen: Alte, hohe Offiziere, die mehr von Kriegführung verstanden als alle die ›Jetzigen‹, die sich anmaßten, Armeen zu führen und den Krieg zu gewinnen, standen hier, um an die Front zu fahren und dort als der letzte Dreck den Tod zu finden. Spezialisten, über deren Mangel man klagte. Verbrecher, die in keine Armee der Welt gehörten. Ein Arzt als Hilfssani – und dabei der Mangel an Ärzten. Was war es nur, was da nicht stimmte?

Doch Obermeier riß sich zusammen.

»Soldaten«, rief er laut, »ihr wißt, daß es nach Rußland geht. Ich brauche da nichts mehr zu sagen. Wir werden unsere Pflicht tun, wohin wir auch gestellt werden. Morgen früh um 7.00 Uhr rücken wir ab. Der 3. Zug zuerst. Er bereitet auf dem Güterbahnhof die Waggons vor, bis der Rest der Kompanie kommt. Ich brauche für den Küchenwagen noch zwei Mann. Bartlitz und Vetterling vortreten!«

Hauptmann Barth, der den Appell durch das Schreibstubenfenster beobachtete, trat jetzt zurück. Bei der 1. Kompanie hielt jetzt Oberleutnant Wernher die obligate Ansprache. Elegant, drahtig stand er vor der Dreier-Reihe und ermahnte mit heller Kommandostimme seine Leute. Beste Kadettenschule, dachte Barth. Der Obermeier denkt zuviel. Wieso jetzt wieder dieser Unsinn mit dem ehemaligen Oberst von Bartlitz und dem Professor Vetterling. Küchenwagen! Als ob er sie dort am Leben erhalten konnte! So ein Unsinn, dachte er, so ein Unsinn …

Über den Appellplatz rollten die ersten Lastwagen mit dem Bataillonstroß zum Bahnhof.

Mischa Serkonowitsch Starobin saß vor der Erdhütte im Schnee und suchte in seinem Pelz nach Läusen. Die Sonne schien, der Schnee funkelte, an der Front war es still. Ein schöner ruhiger Tag. Um ihn herum lag die Einsamkeit russischer Wälder. Selbst die Wölfe waren weitergezogen, ostwärts, dem Ural und der Mongolei zu. In ihrem alten Revier hausten Soldaten, und die Erde brach auf unter den Granaten. Die Wölfe wurden vertrieben und rannten dem Wind entgegen, der über die unendliche Weite zog; die Zungen weit heraushängend, die Körper nahe am Boden, die kalten, gelben Augen zusammengekniffen. Nur ihre Höhlen blieben zurück, die Dickichte, die verfilzten Wälder, die Urstämme, an denen sich der Sturm brach und in denen der Frost sich verbiß. Jetzt lebten Menschen dort: wieselflinke, erdbraune, wimmelnde Gestalten, gierig wie die Wölfe vor ihnen, doch weitaus gefährlicher.

Manchmal ging ein Flüstern durch die Wälder bei Gorki und Bolschie Scharipy. Es flog von Höhle zu Höhle, von einer eingegrabenen Hütte zur anderen. Wenn dann die Nacht kam, zogen Schemen durch das Unterholz wie große, gepanzerte Ameisen – zum Waldrand, zu der Straße nach Babinitschi, zum Flusse Gorodnia. Aus der Dunkelheit heraus flammte es dann auf, vielfältig, verderbend, den Tod um sich streuend, die Stille der Wälder zerreißend. Menschliche Stimmen schrien auf und verebbten stöhnend, helle Kommandos, Scheinwerfer, die unter Schüssen erloschen, Schatten, die durch den Schnee hetzten und im Waldesdunkel untergingen, als seien sie nie dagewesen. Dann schneite es, und die Flocken bedeckten jegliche Spur des nächtlichen Spuks. Die Sonne an den nächsten Tagen beschien nur kleine Hügel, aus denen eine Hand ragte oder ein gelbblasses Gesicht oder ein Bein in einem derben Stiefel. Oder sie sah einen Menschen, der langsam und schwerfällig über das Schneefeld kroch, die Beine hinter sich herziehend, um Hilfe schreiend …

»Es ist ein neues Bataillon gekommen, Annaschka«, sagte Mischa und schüttelte den Pelz. »Weiß es der Starschi Leitenant?«

Anna Petrowna Nikitewna kroch aus der Höhle und schaufelte Schnee in einen zerbeulten Kochtopf. Sie hatte die derben Knochen mittelrussischer Bäuerinnen und das lange, schwarzsträhnige Haar der Mongolinnen.

»Sergej ist bereits in Orscha«, sagte sie.

»Der Satan hole die Deutschen! Sie werden Sergej fangen!« Mischa Starobin erhob sich und zog seinen Pelz an. Er war groß und stark wie ein Bär, mit leicht geschlitzten Augen, einem buschigen Schnurrbart und Beinen, die wie Säulen durch den Schnee stapfen.

»Er wohnt bei Tanja, seinem Täubchen.« Anna Nikitewna lachte.

»Die Neuen haben keine Nummer.« Mischa sah zu, wie Anna den zerbeulten Kessel über das Feuer hing. Der Schnee schmolz langsam. In das Schneewasser würde sie Kapusta tun, ein Stückchen Fleisch – Flügelchen und die Brust einer Krähe. »Gott beschütze Sergej – die Neuen sind verflucht schlimm.«

Mischa sagte Gott, und Anna lachte darüber. Wenn Mischa von Gott sprach, hatte er Angst. Der große, starke Mischa Starobin! Wie kann er Angst haben? dachte sie und rührte in dem Schnee. In die Wälder von Gorki kommt kein Deutscher. Zweimal sind sie um sie herumgezogen. Dort, wo die Wölfe lebten, ist meistens auch der Mensch sicher.

Durch das Dickicht kroch ein kleiner krummbeiniger Mann in einem langen, alten Schafspelz. Seine Fellmütze mit den Ohrenschützern war schneeverkrustet. Als er Mischa und Anna sah, winkte er und arbeitete sich durch den kniehohen Schnee zu der Erdhöhle.

»Brüderchen Pjotr!« Mischa Starobin lachte breit. »Was macht die Kolchose? Von Deutschen besetzt, ha?« Er reichte dem Kleinen die Hand entgegen und zog ihn heran.

Pjotr Sabajew Tartuchin blinzelte mit seinen kleinen, listigen Augen. Er sah mongolischer als ein Mongole aus. Seine gelbe Haut zog sich faltig und pergamentartig über das runde Gesicht, in dem die Nase wie ein Knopf mit zwei Löchern saß. Seine überlangen Arme baumelten am Körper herab, als gehörten sie nicht zu ihm, und seine Schultern waren unverhältnismäßig breit.

»Draußen laufen die Deutschen herum!« Er trat gegen Annas Kessel, warf ihn um und schaufelte mit dem Stiefel Schnee auf die Feuerstelle. Zischend erlosch die Flamme. »Man sieht den Qualm, ihr Holzköpfe! Freßt den Kapusta kalt!«

Anna Petrowna Nikitewna holte den Kessel aus dem Schnee und warf ihn in die Erdhöhle. »Sie werden nicht wagen, in den Wald zu kommen. Sind es viele?«

»Nein, aber wenn sie den Rauch sehen, wissen sie, wo wir stecken.« Pjotr wischte sich über die Augen und über das gelbe, vor Kälte starre Gesicht. »Starschi Leitenant läßt sagen, daß heute nacht Sammeln ist.«

»Och – verflucht!« sagte Mischa und dachte an den verlorengegangenen Kapusta. »Heute nacht?«

»Wir müssen einen Mann der Neuen fragen. Sie haben keine Nummern, nicht einmal Schulterstücke. Vielleicht ist es ein Sonderkommando, um uns zu fangen?«

»Unsinn, wer soll uns fangen?«

»Sie sind ganz frisch aus Deutschland gekommen, junge und alte. Sergej sagt, es sei eine merkwürdige Truppe. Sie haben kaum Waffen …«

»Und da wollen sie uns fangen?« Mischa lachte dröhnend.

»Sie sollen Geheimwaffen haben, du Esel! Sie kommen noch nach, sagt Sergej.« Tartuchin hauchte in die Hände und schob dann den Kragen seines Pelzes höher gegen das Gesicht. »Wo sind die anderen?«

»Wo sollen sie sein?« Mischa zeichnete einen Kreis in die Luft. »Im Wald natürlich. Du wirst sie treffen, Brüderchen.«

Fluchend stapfte Tartuchin weiter durch den Schnee. Hinter einem Busch verschwand er in der Unergründlichkeit des Waldes. Ab und zu hörte man den Schnee dumpf klatschend von den Bäumen fallen. Dann erstarb auch dieser Laut.

»Heute nacht, Annaschka«, sagte Mischa Serkonowitsch leise, als fürchte er, daß seine Stimme die tiefe Stille stören könnte. »Wenn wir Glück haben, erbeuten wir Büchsenfleisch und Zwieback.«

In Orscha saß Starschi Leitenant Sergej Petrowitsch Denkow am Ofen und blätterte in den Papieren, die ihm Tanja gegeben hatte. Mittelgroß, schlank, braun wie ein Kaukasier, trug er die abgeschabten und vielfach geflickten Sachen eines armen Kolchosbauern, der sich von den Deutschen überrollen ließ und nun in seiner Hütte mühsam sein Leben fristete. Neben ihm wirkte Tanja Sossnawskaja wie ein Bild altrussischer Ikonenmaler. Ihr schwarzglänzendes, glattes Haar war eng an den Kopf gelegt, ihre leicht hervorstehenden Backenknochen gaben dem schmalen Gesicht mit den großen Augen den Zauber und das Geheimnis östlicher Weiten. Sie trug eine wollene Bluse, eng über die runden Brüste gespannt, und dicke gesteppte Hosen, die in weichen Juchtenlederstiefeln steckten.

Oberleutnant Denkow hatte sie schon eine Weile angesehen.

»Du bist schön, Tanjuschka …«

»Lies die Papiere, Serjoscha.« Sie blies mit gespitzten Lippen in das Feuer des gemauerten Herdes und hörte auf das Summen des Wassers im Kessel. »Ich koche dir einen starken Tee.« Sie sah vom Feuer hoch, ihr Gesicht war von den Flammen gerötet. »Wann mußt du wieder gehen?«

»In zwei Stunden.« Denkow legte die schmalen Hände auf die Papiere. »Woher hast du sie?«

»Von der Kommandantur. Ich wurde – als Putzfrau angestellt. Ein Feldwebel wollte mich auf sein Zimmer nehmen. Er ging, Wein und Schnaps zu holen. Er blieb lange weg – und ich habe die Papiere abgeschrieben und hier verborgen.« Sie zeigte auf ihre Brust und lächelte. »Ich ging, bevor er kam. Sind die Papiere wertvoll?«

»Das weiß ich noch nicht. Die neue Truppe heißt 999. Aber warum tragen sie die Nummer nicht wie die anderen auf den Schulterstücken? Sie haben gar keine Schulterstücke. Merkwürdig …« Er erhob sich und trat zu Tanja. »Du mußt es erfahren, Mädchen. Aber ohne Feldwebel!«

»Bleibst du heute nacht hier, Serjoscha?« fragte sie leise.

»Es geht nicht. Sie warten im Wald auf mich.«

Noch eine Stunde, und er würde durch die deutschen Nachschubstellen gehen. Ein armer, zerlumpter Bauer, der durch den Schnee zu seiner Hütte stapft, die irgendwo in der weiten Unendlichkeit lag. Der deutsche Posten am Dnjepr, an der Holzbrücke, über die er gehen mußte, würde ihn anhalten: »Halt! Wohin, du krummer Hund?« Und er würde demütig sagen: »Damoi, Brüderchen, damoi …« Nach Hause. Der Posten würde nicken und ihn über die Brücke lassen – wie immer. Er war irgendein einfältiger Bauer im alten Schafspelz und mit einer hohen Fellmütze. Hinter Orscha stand ein Schlitten. Fedja wartete dort mit zwei Pferden. Sie würden über die Schneefelder fliegen wie Schemen, vorbei an Babinitschi, in einem Bogen um Gorki. Das Land ist weit … Die Deutschen konnten nicht überall sein. Und dann kam der Wald, die dunkle Wand, die sich von Horizont zu Horizont erstreckte. ›Heimat der Wölfe‹ nannten ihn die Bauern von Gorki und Bolschie Scharipy. Jetzt wohnten darin Menschen – die Wölfe Stalins, die zweite Partisanenkompanie unter Oberleutnant Sergej Petrowitsch Denkow. Tanja bewegte sich. Er erwachte aus seinen Gedanken.

»Der Tee«, sagte sie leise.

Sie goß eine Kanne voll. Der Samowar stand in der Ecke, es dauerte zu lange, ihn in Betrieb zu setzten. Tanja saß neben ihm und sah ihm zu, wie er aus einer Untertasse den heißen, grünlichen Tee schlürfte.

»Sie wollen mich als Dolmetscherin haben, weil ich ein bißchen Deutsch kann«, sagte sie. »Soll ich, Serjoscha?«

Oberleutnant Sergej nickte mehrmals. »Natürlich! Um so mehr wirst du erfahren!«

»Wirst du dann öfter kommen?«

»Vielleicht …« Er sah in ihre großen schwarzen Augen. Ihr schmales Gesicht schwamm in der Dämmerung des Raumes. »Du bist schön«, sagte er, »du wirst dich vor ihnen wehren müssen …«

»Ich hasse sie, Serjoscha!«

»Aber sie hassen dich nicht …«

»Sie werden es nie erreichen, nie!«

Sie blickte gegen den Ofen. Sergej verfolgte ihren Blick. Hinter dem Kamin, in einer Wandvertiefung, lag eine geladene und entsicherte russische Armeepistole.

»In einem halben Jahr haben wir Witebsk und Orscha zurückerobert«, sagte Sergej. Seine Stimme war heiser vor Erregung. »Dann werden wir heiraten, Tanjuschka. Nur noch ein halbes Jahr … Wir werden es durchhalten!«

Sie nickte tapfer, wischte sich über die großen Augen und lächelte ihn an.

»Du gehst jetzt?«

»Ja.« Er küßte sie. Ihre Lippen waren kalt.

»Gott schütze dich!« flüsterte sie.

Er verließ schnell das Haus und rannte durch die Dunkelheit über den Hof. Gott, dachte er, wie kommt sie auf Gott? Er nahm sich vor, den Satz zu vergessen. Er war ein Bolschewik, und er kannte keinen Gott und wollte keinen kennen. Sein Gott war die Partei, war Rußland und der abgrundtiefe Haß gegen die deutschen Eindringlinge. Ihnen lebte er, sie waren allgegenwärtig und übermächtig, weit mächtiger als dieser merkwürdige Gott alter Leute …

Hauptmann Barth meldete sich bei dem Stadtkommandanten von Orscha. Der alte Major, Reservist, der sich in der russischen Einsamkeit völlig fehl am Platze fühlte, sah auf die Papiere, die ihm Barth vorgelegt hatte. Mit wässerigen Augen schaute er über seine Brille.

»999? Welches Regiment, welche Division?«

»Bei dem Bataillon 999 handelt es sich um ein selbständiges Strafbataillon, Herr Major.«

»Strafbataillon?«

»Ja, Herr Major.«

»Hm.« Der Alte musterte Hauptmann Barth mißtrauisch von oben bis unten. War sicher Kavallerist, dachte Barth. So mustert man einen Gaul, der lahmt. Kann ich ihm nicht übelnehmen. Für den bin ich vorerst ein besserer KZ-Aufseher. »Sie sind der Kommandeur?«

»Ja, Herr Major. Meine Truppe ist zur Frontbewährung nach Orscha gekommen.«

»Zur Frontbewährung. Natürlich.« Der Major sah Hauptmann Barth wieder kritisch an. »Sie hören noch von mir. Oder haben Sie Sonderbefehle?«

»Jawohl. Meine Truppe soll im Rahmen des rückwärtigen Frontaufbaues eingesetzt werden. Vor allem in Spezialaufgaben, die außerhalb der Aufgaben anderer Truppenteile liegen«, sagte Barth mit ironischer Stimme.

»Ich verstehe.« Der alte Major bemühte sich nicht, sein fast körperliches Unbehagen über dieses Gespräch zu verbergen. Er sah auf Barths Ordensbänder und schob die Unterlippe vor. »Sie waren schon an der Front?«

»Von Anfang an. Polen, Frankreich und der Vormarsch in Rußland bis 1943. Ich war bei der Panzerspitze, die die Türme von Moskau sehen konnte.«

»Und jetzt 999?«

»Ja, Herr Major. Freiwillig.«

»Freiwillig?« Der Standortkommandant von Orscha legte die Papiere umständlich in eine Mappe, als wollte er seine Überraschung und Ratlosigkeit verbergen. »Ich würde mich freuen, Sie an einem der nächsten Abende zu sprechen, Herr Hauptmann. Bei einem Glas Grog. Ich schicke Ihnen eine Ordonnanz.«

»Vielen Dank, Herr Major.« Barth lächelte leicht. Der Köder saß, der Alte hatte angebissen. Oder – kavalleristisch ausgedrückt: Der Gaul keilte, aber scharf auf Kandare geritten, trabte er ganz folgsam. Man wußte nie, wofür das gut war …

Während Hauptmann Barth sein Bataillon anmeldete, saß Deutschmann in seiner Unterkunft und schrieb an Julia. Der kleine Raum in einem halbzerschossenen Bauernhaus war von Kerzen notdürftig erleuchtet. Die zwei schwachen, flackernden Lichter drohten jedesmal auszugehen, wenn jemand durch die Türe kam und der Luftzug von draußen eisig durch die Stube strich. Große verschwommene und dann wiederum scharf umrissene Schatten tanzten an den rauchgeschwärzten Wänden und huschten über das Papier, auf dem sich langsam Wort an Wort und Zeile an Zeile reihten.

Deutschmann schrieb:

Mein liebes, liebes Julchen, Du wirst schon lange keinen Brief von mir bekommen haben, Rehauge. Oder ist es gar nicht so lange her? Mir jedenfalls scheint von damals, als ich Dir noch von unserem alten Standort geschrieben habe, bis heute eine Ewigkeit vergangen zu sein. Heute sind wir in Rußland, damals waren wir in Europa. Ich weiß, auch der Ort, wo wir uns befinden, liegt auf der Landkarte in Europa. Aber es ist eine so völlig andere Welt, in die wir gekommen sind, es ist alles so neu und furchtbar fremd, daß ich mich manchmal fragen muß, ob ich wirklich noch bin, ob ich das alles wirklich erlebe und nicht nur erträume. Ein ›Früher‹ gibt es fast nicht mehr; die Bilder, die aus meinem Gedächtnis aufsteigen, wenn ich an ›früher‹ denke, sind blaß und konturlos geworden – allein Du bist immer noch so stark in mir wie früher. Mehr noch: stärker, lebendiger als je, manchmal so stark und lebendig, daß ich vermeine, Deine Stimme zu hören und Deinen Hauch an meiner Wange zu spüren …

Deutschmann setzte ab und sah unwillig zur Tür, die krachend aufging. Unteroffizier Peter Hefe oder der ›Gärende‹, wie er von den Soldaten genannt wurde, stürmte in den kleinen Raum. »Wiedeck, Schwanecke, Graf Hugo, los fertigmachen! Wir müssen auf Störtrupp gehen.«

»Einundzwanzig!« sagte Schwanecke. Er spielte Karten mit Wiedeck und dem Grafen Hugo von Siemsburg-Wellhausen, den alle nur Hugo nannten. Er beachtete Hefe nicht. Dann sah er langsam auf und fragte: »Was is'n los? Was müssen wir machen?«

»Störtrupp«, sagte Hefe. »Die Leitung ist kaputt.«

»Es geht schon wieder los«, sagte Schwanecke und stand seufzend und sich räkelnd auf. »Ich möchte wissen, wann in diesem verfluchten Land mal keine Leitung kaputt ist.«

Daß die Telefonleitung zur 1. Kompanie in Babinitschi gestört ist, hatte Oberfeldwebel Krüll entdeckt.

»Welcher Idiot hat die Leitungen gelegt?« schrie er durch den niedrigen Raum eines halbwegs gut erhaltenen Bauernhauses, wo sich die Schreibstube eingenistet hatte. Auf den Blechkisten und Pappkartons klebten überall Kerzen. »Solche Idioten, nicht einmal 'ne Telefonleitung können sie legen! Tür zu, ihr Tränen!« schrie er, als über seinen schweißglänzenden Nacken ein eisigkalter Luftzug strich. Dann schnellte er empor, denn die Träne war Oberleutnant Obermeier. »Verbindung zur 1. Kompanie abgerissen, Herr Oberleutnant«, meldete er. »Es fängt ja gut an.«

Daß ›es gut anfing‹, hatte er bereits gemerkt, als sie beim ersten Aufenthalt in Baranowitschi die ganze Kompanie von einem Güterzug in den anderen verladen mußten, weil der Hauptteil der Waggons für die Artilleriemunition abgehängt wurde. Die Kompanie wurde in einige wenige Waggons zusammengepfercht, jeweils 40 Mann in einen. Zudem war Schwanecke nach dem Umladen mit drei Büchsen Thunfisch erschienen und einem kleinen Sack mit Hartkeks.

Krüll hatte es sich abgewöhnt, bei Schwanecke jedesmal ›woher?!‹ zu brüllen. Die Antworten waren stets so dämlich, daß die ganze Kompanie grinste. So hatte er auch diesmal nur gesagt:

»Wenn eine einzige Meldung kommt, daß das Zeug geklaut ist, binde ich dich hinten an den Zug, an die Puffer, und du kannst hinterherlaufen!«

Natürlich war keine Meldung gekommen. Schwanecke hatte Deutschmann angegrinst:

»Wer soll denn das melden? Die haben das Zeug ja selbst geklaut …«

Oberleutnant Obermeier versuchte es jetzt selbst am Telefon. Er drehte an der Kurbel und lauschte. Nichts. Die Leitung war tot. »Haben Sie das Bataillon erreichen können?«

»Auch nicht, Herr Oberleutnant.«

»Da hilft alles nichts. Ein Störtrupp muß die Leitung abgehen.«

Oberfeldwebel Krüll atmete auf. Ein Störtrupp – das war Aufgabe der Unteroffiziere.

So kam es, daß Unteroffizier Hefe mit sechs Mann über die schneeverwehte Straße von Gorki nach Babinitschi zog.

Schwanecke, der Stärkste, schleppte die Kabelrolle auf dem Rücken. Wiedeck trug das Kontrolltelefon, Schütze Lingmann, ein ehemaliger Feldwebel, der allzugern soff und in seiner Trunkenheit die ganze Welt, einschließlich seiner Vorgesetzten und der ›Reichsführung‹, beschimpfte, trug die beiden schweren Werkzeugtaschen. Am Ende der kleinen Reihe, die auseinandergezogen durch den Schnee stapfte, ging Hugo, der Graf von Siemsburg-Wellhausen. Er war ein stiller, immer hilfsbereiter, nie auffallender Kamerad, der sein Los mit einer gleichgültigen Wurstigkeit trug. In den Akten von 999 war vermerkt, daß er wegen Vorbereitung zum Hochverrat und Anstiftung von Sabotageakten am Wehrmachtseigentum verurteilt wurde. Die Wahrheit war, daß er Anfang 1943, als die 6. Armee in Stalingrad sinnlos geopfert wurde, einen kleinen Kreis von Offizieren um sich geschart hatte, mit dem Ziel, Widerstand gegen die Machthaber zu leisten, und wenn möglich, Frieden zu schließen, solange es noch Zeit war. Doch bald schon wurde die Gruppe verraten. Sein Leben hatte er nur dem Umstand zu verdanken, daß sein Bruder, der in Spanien lebte und für die deutsche Abwehr arbeitete, dabei über gute Beziehungen mit maßgebenden Kreisen in New York verfügte und verschiedene Dinge ausplaudern konnte, wenn Hugo getötet werden würde …

Allen voran ging Peter Hefe, die Maschinenpistole in den Händen.

Die Nacht war eisig und dunkel. Die beiden Männer, die den Draht abgingen, hüpften ab und zu auf der Stelle, um die trotz der Filzstiefel erstarrenden Beine warmzuhalten. An verschiedenen Stellen war die Straße zugeweht. Nur vereinzelte, weit auseinanderstehende Masten zeigten den Verlauf des Weges an.

An einer Buschgruppe standen Mischa Starobin und Pjotr Tartuchin. Sie hatten sich einen Schneeschutz aus geflochtenen Zweigen gebaut, wie es die Tungusen machen, wenn der Schneesturm über die Steppe heult. Sie kauten Sonnenblumenkerne und starrten in die weiße Nacht.

»Hast du die Leitung richtig durchgeschnitten?« fragte Tartuchin leise. »Sie müßten längst hier sein. Eine deutsche Kompanie ohne Telefon ist wie ein Säugling ohne Mutter.«

»Still!« zischte Mischa. »Hörst du?«

Sie lauschten. Der Wind zog leise singend, pfeifend und raschelnd durch das Gebüsch und über die offene Steppe. Mischa spuckte die Sonnenblumenkerne aus und richtete sich auf. Mitten aus der Nacht kam plötzlich ein Laut, der nicht hierher gehörte: das Klappern der Kabelrolle auf Schwaneckes Rücken, leise, kaum vernehmlich, langsam lauter werdend, und plötzlich ein verhaltener Ruf. Mischa Starobin griff nach hinten. In seiner Hand lag eine russische Maschinenpistole – »Kommen sie von Gorki oder Babinitschi?«

»Ich sehe sie noch nicht.«

»Hörst du sie?«

»Ja, halt jetzt den Mund!« Tartuchin glitt in den Schnee und blieb dort liegen wie ein Bündel Lumpen. Mischa schob ihm die zweite Maschinenpistole zu.

»Dort!« flüsterte Tartuchin. »Von Gorki!«

»Wie viele sind es?«

»Ich sehe sie noch nicht – ich sehe sie noch nicht«, flüsterte Tartuchin, als würde er mit sich selbst sprechen, als hätte er Mischa und die Kälte, den Wind, den Schnee, den dunklen, niedrigen Himmel vergessen, als gäbe es nichts mehr auf der Welt, als nur ihn allein und die fremden Laute, die von Menschen kamen, die er haßte, mehr als er je Menschen gehaßt hatte. Nur er allein war da mit ihnen und mit seiner Maschinenpistole und mit seinem Haß und dem übermächtigen Wunsch zu töten.

Jetzt konnten sie bereits die Stimmen unterscheiden. Sie hörten den Unteroffizier Peter Hefe, der nach hinten rief:

»Alles in Ordnung?«

Und Hugo, am Ende des kleinen Trupps, meldete zurück:

»Alles klar.«

Über Tartuchins vereistes, starres Gesicht glitt ein verzerrtes, schiefes Lächeln und erstarrte zu einer Grimasse.

Die Deutschen waren jetzt ganz nahe vor der Stelle, wo das Kabel zerrissen war. Starobin schob langsam und vorsichtig seine Maschinenpistole auf den kleinen Hügel zusammengescharrten und jetzt steif gefrorenen Schnees, drückte den Kolben an die Wange und visierte die kleine Gruppe an, die auf der Straße anhielt.

»Unterbrechung entdeckt!« Der eine der Sucher hob die Hand. Schwanecke wuchtete die Kabelrolle von der Schulter und wischte sich über das Gesicht. Trotz der schneidenden Kälte schwitzte er.

»Zerrissen?«

»Anscheinend.«

Lingmann stellte die Werkzeugtasche hin. Wiedeck kniete nieder, um das Kontrolltelefon anzuschließen.

»Mach schnell, 's ist kalt«, sagte Hugo.

»Mensch, ich hab' ganz klamme Finger«, sagte Wiedeck.

»Los, beeilen Sie sich!« sagte Peter Hefe.

Schwanecke schnüffelte wie ein witterndes Tier in der Luft. Irgend etwas stimmte nicht. Die Sache war ihm nicht geheuer. Verdammt noch mal, dachte er, wenn … »Was ist mit dem Draht los?« fragte er.

»Gequetscht«, sagte Wiedeck. Er hatte jetzt das Kontrolltelefon angeschlossen. Er kurbelte und lauschte. Dann nickte er zufrieden. Am anderen Ende meldete sich Krülls Stimme.

»Na, gefunden? Was war denn los, ihr Tränen?«

»Der Draht war gequetscht«, sagte Wiedeck.

Aus dem Hörer kam Krülls laute, quäkende, schimpfende Stimme. Unteroffizier Hefe nahm den Hörer aus Wiedecks Hand und nickte ihm grinsend zu.

Tartuchin und Starobin sahen sich kurz an, und Tartuchin flüsterte:

»Du von links nach rechts, ich von rechts nach links … dann haben wir sie doppelt …«

Tartuchin drückte den Kolben der Maschinenpistole gegen die Schulter. »Halt in die Mitte, in ihre Bäuche!« flüsterte er. »Ich sage, wann …« Seine Stimme war fast zärtlich.

Karl Schwanecke kniete neben Wiedeck, hob den Draht vor die Augen und glitt mit den Fingerspitzen langsam und prüfend darüber. Und plötzlich fuhr er herum, warf die Arme hoch, sprang mit einem Satz in eine Schneeverwehung und schrie:

»Deckung!«

Wie auf ein Zauberwort lagen die anderen auf der Straße. Im gleichen Augenblick tackten die beiden Maschinenpistolen los. Die Schüsse und die hellzischenden Geschosse kamen irgendwo aus der Nacht – nein, aus dem Gebüsch nicht weit von der Straße entfernt. Im Fallen noch durchjagte Hugo ein dumpfer Schlag gegen seinen Körper, er spürte, wie seine linke Schulter gefühllos wurde. Überrascht fragte er sich, was geschehen war. Schmerzen fühlte er nicht. Doch dann merkte er, wie es warm und naß über seinen Rücken rann. Jetzt erst wußte er, daß er verwundet worden war. »Mich hat's erwischt, verdammt«, stöhnte er, und in seiner Stimme schwang immer noch die Überraschung mit.

Wiedeck lag neben ihm, den Kopf in den Schnee gedrückt. Er drehte ihn auf die andere Seite. »Wo?«

»In die Schulter.«

»Teufel noch mal – wir können nicht zurückschießen, was sollen wir tun, wir können nicht zurückschießen«, stammelte Wiedeck verzweifelt.

Die Gruppe hatte eine einzige Maschinenpistole, die von Unteroffizier Hefe, der in einer Mulde lag und in die Nacht hineinballerte, in die Richtung, aus der die Schüsse gekommen waren. Er kämmte das Gelände ab. Wie aufgestöberte Füchse lagen Tartuchin und Mischa hinter ihrem Schneehaufen, flach wie ein Stück der verschneiten Erde. Aber die Kugeln pfiffen weit weg und hoch über ihnen durch die Luft. Sie begannen wieder zu schießen.

Schwanecke robbte flach, mit schlangenhaften Bewegungen, zu Peter Hefe. Sein Gesicht war verzerrt. »Der Draht war durchgeschnitten!« sagte er.

»Wir wären alle im Eimer ohne dich.« Unteroffizier Hefe hob den Kopf etwas an und preßte ihn sofort wieder in den Schnee, als knapp über ihn eine Garbe zischte und sofort danach eine zweite den Schnee vor ihnen aufwirbelte. Ohne zu zielen, drückte er den Abzugshahn durch und jagte einen langen Feuerstoß gegen das Gebüsch.

»Mensch – gib her, so kann man das nicht!« sagte Schwanecke ärgerlich. Er war bereits dreimal in Rußland gewesen, er kannte die Gegner, er kannte sie so gut, wie er sich selber kannte.

Peter Hefe gab ihm die Maschinenpistole, als wäre er froh, sie loszuwerden. Als Schwanecke das kalte Metall berührte, ging mit ihm eine plötzliche wunderliche Veränderung vor. Er wurde eins mit der Waffe, als wäre diese zu seinem verlängerten, gefährlichen Arm geworden, mit dem er umzugehen verstand, als wäre er mit einer Maschinenpistole in der Hand geboren worden. Während die anderen zur Mitte sammelten – Wiedeck zog den verwundeten Hugo hinter sich her –, rollte Schwanecke in seine Schneeverwehung und wühlte sich hinein wie ein Schneehuhn, das Gefahr wittert. Sicher und ohne lange zu zielen, schoß er Punktfeuer auf jeden Busch, wechselte das Magazin, schoß wieder. Wie Tartuchin und Mischa war auch er jetzt in seinem Element. Seine Sinne reagierten mit dem Instinkt eines Tieres, blitzschnell, völlig sicher. Er dachte nicht an die Gefahr, die ihm von seinem Gegner drohte. Er wollte nur noch töten.

Er hörte auf zu schießen. Es hatte keinen Zweck, wenn er kein Ziel sah. Still, als sei nichts geschehen, lag die schneeverwehte Straße in der weiten russischen Ebene. Am Horizont stand wie eine schwarze Wand, drohend und geheimnisvoll, der Wald.

Unbeweglich warteten sie: Tartuchin und Mischa hinter ihrem Schneehaufen, Schwanecke in seiner Verwehung. Sie belauerten sich, sie atmeten kaum. Tartuchins gelbes Gesicht war starr. Er drehte den Kopf zu Mischa. Die unheimlich nahe liegenden Garben, die knapp über sie gepeitscht waren und in den Schnee vor sie einschlugen, hatten ihn vorsichtig gemacht. Das war nicht der Mann, der zuerst geschossen hatte. »Er hat schon gegen uns gekämpft!« flüsterte er, mit dem Instinkt des Naturmenschen die Gefahr erkennend, die ihm vom unbekannten, unsichtbaren Gegner drohte. »Sie werden Verstärkung bekommen, gehen wir zurück!«

In die Stille der Nacht klingelte schrill das Telefon und unterbrach den Bann der fast unerträglich gewordenen Spannung. Ein Zeichen aus einer anderen Welt. Tartuchin hob den Kopf und spähte in die Richtung des schnarrenden Geräusches.

Erich Wiedeck, der neben dem Apparat lag, streckte den Arm aus und nahm den Hörer ab.

»Ruhe!« zischte er.

Aus dem Hörer kam Krülls wütende Stimme: »Idioten! Wo bleibt die Verbindung zur ersten Kompanie?«

»Im Himmel! Wir werden beschossen. Partisanen! Schütze Siemsburg – verwundet …«

Tartuchins Maschinenpistole ballerte los. Er schoß in die Richtung, aus der das Klingeln gekommen war. Wiedeck legte den Hörer in den Schnee und preßte sich, so tief er konnte, in seine Mulde.

Mit starren Augen saß Oberfeldwebel Krüll am anderen Ende der Leitung auf seiner Blechkiste. Er konnte nicht begreifen, was geschehen war. Und langsam, langsam dämmerte ihm die Erkenntnis herauf, daß er nun tatsächlich in diesem verfluchten Land war, vor dem er sich mehr fürchtete als vor der Hölle. Eine Erkenntnis, die er die ganze Zeit bis jetzt von sich weggeschoben hatte, an die er nicht glauben wollte, um nicht zu einem hilflos zitternden, von Angst gepeinigten Bündel Mensch zu werden. »Sie schießen!« stammelte er. Er hörte deutlich die Abschüsse, dann krachte es im Apparat, und die Verbindung riß ab. »Getroffen!« Krüll warf den Hörer hin, als könnte ein Schuß durch die Leitung sein Ohr treffen. Er war bleich und merkte nicht, daß er zitterte. »Die Partisanen beschießen sie … Siemsburg ist verwundet …«

»Es ist eben Krieg, Oberfeldwebel!« Obermeier winkte Unteroffizier Kentrop zu. »Mit zwölf Mann ab! Machen Sie schnell, Kentrop! Seien Sie vorsichtig, keine unnötigen Verluste. Nehmen Sie Handgranaten mit! Der Sanitäter – Deutschmann – soll mitgehen.«

»So ein Schwein«, sagte Schwanecke wütend. »So ein verdammtes Schwein!« Er kniete in seiner Verwehung und schoß auf zwei zickzacklaufende, kleine, dunkle Gestalten, die im ungewissen Licht zwischen den Büschen gegen den Wald hetzten, verschwanden, wieder auftauchten, aber nur sekundenlang, sich hinwarfen – und schließlich in der Dunkelheit untergingen.

Mischa keuchte hinter dem schnellen, wendigen Tartuchin hin. Das stoßweise, böse Rattern der deutschen Maschinenpistole jagte ihm Angst ein. Er warf sich durch das Gebüsch, riß sich das Gesicht an den harten, gefrorenen Zweigen blutig und lag schweratmend im Schnee.

»Mutter Gottes von Kasan«, keuchte er, »das war der Teufel selbst!«

Der kleine Asiate schwieg. Er riß mit den Zähnen ein Verbandspäckchen auf und umwickelte seine linke Hand. Mischa starrte ihn an.

»Hat er dich erwischt?«

Tartuchin schwieg. In seinen zusammengekniffenen Augen stand brennender Haß. Er verband seine Hand und fühlte nicht den Schmerz, der den ganzen Arm ergriff. Der Haß glühte in ihm wie ein übermächtiges Feuer.

»Ich werde ihn töten!« zischte er endlich leise. »Er ist der einzige, der mich bis jetzt getroffen hat, obwohl ich – ich – es wird nicht eher Friede sein, bis einer von uns tot ist. Er oder ich!«

Dr. Kukill sagte:

»Ich glaube, Sie waren schon lange nicht mehr aus – oder irre ich mich?«

»Nein«, sagte Julia.

»Oh – es wird Ihnen sicher gefallen, ich hoffe, der Abend wird hübsch werden … Kennen Sie den ›bosnischen Keller‹?«

»Nein.«

»Er ist nicht groß, aber recht nett«, plauderte Dr. Kukill, während er seinen Wagen durch den spärlichen Verkehr lenkte. »Ich habe dort einen Tisch bestellt, weil ich dachte, daß Sie kaum Lust hätten, in einem großen, feudalen Lokal zu Abend zu essen, wo es vor Uniformen wimmelt. Ist doch recht so, oder?«

Julia nickte.

»Ich kenne den Besitzer des Lokals ziemlich gut. Wir sind sozusagen befreundet – oder das, was man mit dem Besitzer eines Gasthauses eben sein kann. Er scheint über gute Beziehungen zu verfügen – ein Balkanmensch. Bei ihm gibt es sogar das, was es sonst, wo die ›hohen Herren‹ verkehren, nicht mehr gibt. Natürlich nur für seine Freunde. Sie werden sehen, der Mann ist ein Original.« Die Worte flossen leicht plaudernd von seinen Lippen, gerade so laut, daß man sie durch das Geräusch des Motors hören konnte, ohne sich anzustrengen. Hin und wieder sah er zur Seite und lächelte Julia an. In seiner Brille spiegelten sich die spärlichen blauen Lampen der Straßenbeleuchtung.

Julia saß in die Ecke gedrückt und hörte kaum zu. Seine Worte plätscherten an ihren Ohren vorbei, drangen nur halb in ihr Bewußtsein, wie das Gemurmel eines Baches, neben dem man eine lange Zeit sitzt. In den vergangenen Tagen hatte Kukill sie oft angerufen, manchmal zweimal täglich – und sie war immer ans Telefon gelaufen. Aber nicht seinetwegen. Immer, wenn es scharf und durchdringend durch die Wohnung klingelte, dachte sie: Jetzt, jetzt – und hinter diesem Jetzt verbarg sich die Erwartung an etwas, das kommen mußte, das sicher kommen würde, eine Nachricht von Ernst oder von irgend jemandem, der von Ernst kam. Oder noch mehr. Vielleicht meldete er sich selbst. Sie wußte, daß diese Hoffnung unsinnig und vergeblich war. Aber nichts ist so unsinnig und nichts so vergeblich, als daß der Mensch das letzte Fünkchen Hoffnung verlieren könnte.

Sie lebte in ständiger Erwartung. Irgend etwas mußte geschehen, so konnte es nicht weitergehen, ein erlösendes Wort mußte fallen, mußte gesprochen werden, sonst konnte sie diese andauernde Spannung, in der sie lebte, nicht länger ertragen.

Aber niemand außer Kukill hatte angerufen. Es schien, als hätte es die Menschen, die früher, vor Ernsts Verurteilung, in ihrem Hause ein- und ausgingen, nie gegeben. Freunde … Wenn sie an dieses Wort dachte, dann lief über ihr Gesicht ein kurzes, bitteres Lächeln. Freunde … und sie dachte daran, wie wahr es ist, daß ein Mensch, der ins Unglück geraten war, oder schlimmer noch: der plötzlich auf der Liste der Feinde des allmächtigen Regimes stand, keine Freunde mehr hat. Sie hatte es bislang nicht glauben wollen, daß es so sein könnte; vielleicht weil sie, genauso wie Ernst, bereit war, zu den Menschen, mit denen sie in Freundschaft verbunden war, unter allen Umständen zu halten. Jetzt aber sah sie, daß ihre gemeinsamen ›Freunde‹ anders dachten. Das erfüllte sie mit Bitterkeit und Trauer.

Dr. Kukill hatte sie lange bestürmt, mit ihm auszugehen. »Sie müssen mal was anderes sehen, gnädige Frau«, hatte er am Telefon immer wieder gesagt. »Sie dürfen nicht immerzu in Ihren vier Wänden bleiben – und Sie dürfen nicht immerzu an Sachen denken, die Sie doch nicht ändern können. Sie gehen dabei zugrunde, glauben Sie mir!«

Schließlich hatte sie eingewilligt. Sicher war Dr. Kukill der letzte, mit dem sie sonst ausgehen würde, ›um ihren vier Wänden zu entfliehen‹. Aber sie sagte sich, daß sie in diesem Falle ihre Feindschaft und ihre Antipathie beiseite schieben mußte: Er war der Mann, der trotz allem eine Revision des Verfahrens und damit Ernsts Rehabilitierung erreichen konnte. Sonst niemand. Und deswegen durfte sie ihn nicht vor den Kopf stoßen – nicht allzusehr. Aber wie weit sollte sie gehen? Seine Nähe war ihr von allem Anfang an widerlich gewesen, er erfüllte sie mit einem Gefühl körperlichen Unbehagens. Allerdings überraschte sie sich dabei, daß sie in der letzten Zeit seine Anrufe fast erwartete. Nicht, daß sich in ihrer Einstellung ihm gegenüber etwas verändert hätte. Im Gegenteil, zu dem Widerwillen gesellte sich auch Furcht, denn sie sah, daß ihr Dr. Kukill keineswegs aus selbstloser Sympathie helfen wollte. Er begehrte sie. Sie war zu sehr Frau, um das nicht zu sehen. Und irgendwann mußte der Augenblick kommen, wo er ihr das sagen würde …

Vor einem unscheinbaren Haus in einer Seitenstraße zum Kurfürstendamm parkte Dr. Kukill den Wagen. Über die Gehsteige hasteten abgehärmte, farblose, vermummte Gestalten. Berlin nach vier Jahren Krieg. Es schien, als hätte es die lebensfrohe, lichtüberflutete, heitere und leichtsinnige Stadt, wie sie noch kurz vor dem Krieg war, nie gegeben.

Die Garderobiere schien Dr. Kukill zu kennen. Sie war sehr dienstbeflissen und freundlich, eine Eigenschaft, die man zu dieser Zeit immer seltener traf. Und genauso war es mit dem alten Kellner, der sie im ersten trüberleuchteten Raum in Empfang nahm, durch die Hintertür und durch einen langen Gang in den Hinterraum begleitete, der anscheinend nur für die Freunde des Hauses reserviert war.

Der Raum war nicht groß, weich beleuchtet, an den Wänden hingen farbenfrohe Teppiche, die Tische waren klein, meistens für zwei Personen, mit schneeweißen Tischtüchern bedeckt. Und es gab sogar Servietten.

»Zuerst wollen wir etwas für unseren Appetit tun«, sagte Dr. Kukill aufgeräumt und nickte dem Kellner zu, der sie hier bedienen sollte. Der brachte, ohne zu fragen, zwei bauchige Gläser, angefüllt mit goldgelbem Sliwowitz, als wüßte er genau, was Dr. Kukill wünschte.

»Das ist kein Schnaps, gnädige Frau, jedenfalls kein gewöhnlicher Schnaps«, plauderte Kukill, während er sein Glas langsam an seiner Nase vorbeiführte. »Es scheint, daß die Balkanbauern, die den Schnaps brennen, auf irgendeine Art die Sonne und den Geruch nach warmer Erde, Gras und Zwetschgen auffangen und konservieren können. Wie machen sie das wohl?« Sein Gesicht hatte die Strenge und die verkniffene Schärfe verloren. Er war gelöst und schien glücklich. Kein Wort über Ernst oder über Julias Arbeit, über ihr selbstmörderisches Unterfangen, das Experiment ihres Mannes zu wiederholen und es vielleicht mit einem Selbstversuch abzuschließen, war bisher gefallen. Aber Julia wußte, daß Kukill alles, was in seiner Macht stand, tun würde, um es zu vereiteln. Sie wußte es, und sie dachte daran, daß dieser Mann vor nichts zurückschrecken würde, um das zu erreichen, was er wollte. Sie mußte sich beeilen. Wer weiß, wozu er imstande war. Sie mußte sich beeilen – und sie saß hier, ihm gegenüber und hörte das Geschwätz über Sliwowitz und über die Fähigkeit der Bosniaken, die Sonne – und was sagte er noch? – in diesen Schnaps einzufangen.

Sie gab sich Mühe, ihre Ungeduld zu verbergen, aber er merkte es wohl. Insgeheim lächelte er.

Ich habe sie soweit, daß sie hier sitzt und mit mir Schnaps trinkt, dachte er. Ich hab' sie soweit, daß sie in mir nicht mehr das Untier sieht, das sie noch vor einigen Tagen gesehen hatte. Ich werde sie noch weiter bringen. Ich werde ihr diesen verdammten Deutschmann ausreden. Sie ist schön. Trotzdem sie mager geworden ist, aber vielleicht ist sie deswegen noch schöner weil ihr Gesicht und ihr Lächeln traurig sind. Ich werde … dachte er, und er sagte:

»Versuchen Sie es zu vergessen – wenigstens für eine kurze Zeit, und glauben Sie nicht, daß ich Ihnen irgend etwas ausreden will, was Sie sich in den Kopf gesetzt haben …«

»Das versuchen Sie doch schon die ganze Zeit …«

»Nicht mehr«, erwiderte Dr. Kukill. »Ich will Ihnen nur sagen, daß Sie dann um so besser arbeiten können, wenn Sie das Ganze wenigstens für einige Stunden vergessen. Versuchen Sie abzuschalten. Sie werden stärker dadurch.«

»Vielleicht haben Sie recht, vielleicht sollte ich es wirklich versuchen«, sagte Julia und tat damit genau das, was er wollte.

»So ist es recht, trinken Sie, es wird Ihnen bestimmt gut schmecken. Nachher werden wir essen – ohne Lebensmittelmarken und solchen Unsinn, was wir wollen, und dann – wollen wir dann tanzen gehen?«

»Tanzen? Wieso tanzen, ich dachte …«

»Das gibt es auch noch, obwohl es offiziell verboten ist. Wollen wir?«

»Nein, ich glaube nicht.«

»Auf Ihr Wohl! Vielleicht werden Sie sich's noch überlegen …«

Schütze Hugo Siemsburg kam nach Orscha ins Feldlazarett. Er war der erste Verwundete des Bataillons 999. Ein Schultersteckschuß, der das linke Schulterblatt zertrümmert hatte. Siemsburg würde durch seine Verletzung für immer eine leicht schiefe Schulter behalten; er war somit untauglich geworden, einen Tornister zu tragen …

»Netter Heimatschuß«, kommentierte Oberfeldwebel Krüll, als sich Siemsburg zum Transport ins Lazarett abmeldete. »Steckt kaum die Nase aus dem Bau – bum! – ist er wieder in der Heimat.«

»Das nächste Mal kannst du ja mitkommen«, meinte Unteroffizier Hefe anzüglich. »So einen Schuß kann ich dir jederzeit beschaffen.« Rußland schien die straffe, unmenschliche Disziplin im Bataillon etwas gelockert zu haben. Aber so ging es um diese Zeit nicht nur dem Strafbataillon 999, sondern allen Einheiten der deutschen Wehrmacht, die sich in den russischen Weiten herumschlagen mußten. Oft wich die Disziplin einem tiefen, starken Gefühl der Zusammengehörigkeit und der Verbundenheit, wie es nur eine langandauernde Todesgefahr erzeugen kann, oft aber wurde es von Aufsässigkeit und Egoismus verdrängt, wobei jeder nur an sich selbst dachte und daran, wie er diese schreckliche Zeit überstehen konnte.

Deutschmanns Ambulanztasche kam in dieser Nacht zum ersten Male zum Einsatz. Mißtrauisch sah Krüll zu, wie Deutschmann Hugos Wunde, die er auf der schneeverwehten Straße nur notdürftig verbunden hatte, so gut wie möglich versorgte. Als er fertig war, wickelte er mit geschickten Händen vier Binden um die Schulter, durch die Achsel hindurch und befestigte sie mit einer Klammer. Krüll verzog den Mund. Er fühlte sich in diesem Augenblick neben Deutschmann klein und unwichtig.

»Vier Binden? Ist das nicht Verschwendung?«

»Wenn Sie einmal dran sind, werde ich nur zwei nehmen, Herr Oberfeldwebel«, sagte Deutschmann kalt, während er Hugo eine Tetanusspritze in den Hintern jagte.

Brummend ging Krüll weg. Das Leben der 2. Kompanie war an diesen beiden ersten Tagen knapp hinter der Front mehr als improvisiert. Sie lag hier in der Schnee-Einsamkeit am Rande von Gorki und wußte nicht, was sie hier tun sollte. Die Front selbst verlief sieben Kilometer östlich vor dem Wald. Auch dort war es in dieser Zeit still, als wären die Menschen und mit ihnen der Krieg im Frost erstarrt. Ab und zu kamen einige Munitionsschlitten vorbei. Der Kommandeur des vor ihnen liegenden Infanteriebataillons sah kurz herein und begrüßte sehr kameradschaftlich Obermeier, bis er erfuhr, daß hier eine Kompanie von 999 lag. Da wurde er sehr förmlich und fuhr bald wieder ab.

»Als hätten wir Krätze!« stellte Kentrop fest.

Es war, als spräche sich's herum, daß ein Strafbataillon im Abschnitt lag. Zuerst nur ab und zu, dann aber immer zahlreicher, tauchten Offiziere, Zahlmeister, Feldwebel und einmal sogar ein Oberst auf – Divisionskommandeur der 26. Infanteriedivision auf der Durchreise nach Orscha –, um einen Blick auf den Betrieb zu werfen, der in einem solchen ›Todeshaufen‹ herrschte. Sie wurden zunächst enttäuscht. Die Kompanie – genauso wie die 1. Kompanie in Babinitschi, wo Oberleutnant Wernher mißmutig herumsaß und an seine Gutsherrin von Murowana dachte – lag in völliger Ruhe, machte ihren Dienst, der zunächst aus Sauberhalten der Quartiere und Freischaufeln der Anfahrtswege bestand, und döste im übrigen herum. Man erwartete Befehle des Bataillons. Sie wurden nicht nach Rußland an den Dnjepr geschickt, um zu faulenzen, das war klar. Schwanecke witterte es: »Diese Stille«, sagte er einmal zu Deutschmann, »das ist Mist. Irgendwas braut sich zusammen. Und wenn es losgeht, sitzen wir mitten im Dreck, sag' ich dir. Es wird Zeit, daß wir irgend etwas unternehmen …«

Mit einem Nachschubschlitten wurde Schütze Siemsburg nach Orscha gebracht. Deutschmann mußte ihn begleiten und sollte gleichzeitig bei Hauptmann Barth einige wichtige Papiere abholen. Eigentlich sollte dies Peter Hefe tun, aber da Deutschmann sowieso nach Orscha fuhr, meinte Hauptmann Barth am Telefon: »Warum soll nicht mal ein Sanitäter Kurier spielen?«

Krüll verabschiedete sich von ihm mit den Worten: »Hauen Sie schon ab, Mann! Und wenn es unterwegs schießt, halten Sie ja Ihre Birne hin. Das wäre das Beste für Sie und für mich!«

Die Fahrt mit dem Motorschlitten nach Orscha ging glatt vonstatten. Wohl sahen sie hin und wieder zerlumpte, eingemummelte russische Bauern, aber der Unteroffizier, der den Schlitten fuhr, winkte ab. »Arme Kerle«, sagte er, »sie versuchen ihre Höfe zu retten – als ob es noch was zu retten gäbe. Sie wurden alle überprüft und sind froh, daß sie nicht mehr in ihren Kolchosen sein müssen. Viele sind Hiwis bei uns und versorgen unseren Nachschub. Partisanen sehen anders aus!«

Als sie durch Babinitschi fuhren, stand neben der Straße ein zerlumpter Kerl und winkte dem Schlitten zu. Sein eingefallenes Gesicht unter der hohen Fellmütze war gelblichbraun.

»Guten Morgen, Väterchen!« rief der Unteroffizier vom Schlitten herab.

Oberleutnant Sergej Petrowitsch Denkow grinste breit.

»Guten Morrgenn, Briderrchen!« rief er zurück und winkte wieder. Dann ging er weiter, hindurch durch Babinitschi, vorbei am Quartier Oberleutnant Wernhers gegen das freie Land zu, an dessen Horizont der dunkle Wald lag …

In Orscha gab Hauptmann Barth dem wartenden Deutschmann ein dickes Kuvert. »Einsatzbefehle. Passen Sie gut auf!« sagte er abschließend.

Deutschmann grüßte und ging. Langsam stapfte er durch den schmutzigen auseinandergezogenen Ort. Er hatte Zeit bis zum Abend. Im Bataillonsgefechtsstand hatte er erfahren, daß der nächste Schlitten erst bei Anbruch der Dunkelheit zurückfuhr. So ging er zum Feldlazarett, einem der wenigen festen Ziegelbauten des Ortes, in dem früher eine Schule war, um Graf Siemsburg zu besuchen. Siemsburg war inzwischen neu verbunden worden und sollte mit dem nächsten Zug nach Borissow kommen. In Orscha hatte man keine Röntgenapparate, um ihn zu durchleuchten.

»Wenn ich Glück habe, können sie das Schulterblatt flicken«, sagte Hugo und lächelte schwach. »Allerdings kommt es darauf an, welcher Chirurg mich unter die Finger bekommt. Hier erzählt man, daß in Sokolow ein phantastischer Arzt sitzen soll. Ehemaliger Chefarzt einer Universitätsklinik. Aber dahin bringt man wohl keinen von 999 …«

»Auch nicht wenn er ein Graf ist?« fragte Deutschmann lächelnd. Siemsburg gähnte. Man hatte ihm eine Spritze gegeben, die Schmerzen ließen nach, er wurde müde. »Auch dann nicht. Die Zeit der Grafen ist vorbei«, murmelte er. »Aber sag einmal, du bist doch selbst ein Arzt. Wird man mich wieder einigermaßen zusammenflicken können?«

»Von der Chirurgie verstehe ich nicht viel, aber soviel ich weiß, kann man das so machen, daß du später nicht mal merkst, daß du verwundet worden bist.«

»Hoffen wir's«, murmelte Siemsburg, »hoffen wir's. Mußt du jetzt gehen? Vielleicht sehen wir uns irgendwann, irgendwo einmal wieder …«

Deutschmann schlenderte durch die harten, festgefrorenen, vor Schneewehen fast unpassierbaren Straßen hinunter zum Dnjepr und blieb in der Nähe der hölzernen Brücke stehen, wo er später den Unteroffizier mit dem Motorschlitten treffen sollte. Eis trieb auf den trägen Wellen und brach sich an großen eisernen Dornen, mit denen die Pioniere die Brücke geschützt hatten. Ein Mädchen schleppte sich mit einem großen Korb Holz ab, setzte ihn ab und zu auf den Schnee, wischte sich über das Gesicht und hob den Korb dann wieder auf. So ging es langsam gegen ein kleines, im Schnee halb verstecktes Bauernhaus am Dnjepr zu.

Deutschmann sah dem Mädchen eine Weile zu und ging dann langsam zum Ufer hinunter, um ihr zu helfen. Hinter ihr blieb er stehen. Ihr Haar glänzte in der Sonne wie schwarzer Lack. Sie hatte ihn nicht kommen hören. Seufzend bückte sie sich, um den Korb, den sie hingestellt hatte, wieder aufzuheben. Da legte er die Hand auf ihren Arm.

Sie fuhr herum, ihr Blick war voller Schrecken und Entsetzen. Über die aus dem schmalen Gesicht leicht heraustretenden Backenknochen lief eine kurze, blasse Röte. Sie preßte ihre Hände gegen die Brust und sah Deutschmann aus den großen schwarzen Augen ängstlich an.

»Hast du Angst?« fragte er. »Komm, der Korb ist viel zu schwer für dich. Ich trage ihn dir ins Haus.«

»Njet!« Sie schüttelte den Kopf. Die Angst in ihren Augen verflüchtigte sich. Über ihr Gesicht huschte ein kleines Lächeln. »Ich kann traggenn.«

»Du sprichst Deutsch?«

Sie nickte. »Ein bißchen«, sagte sie. »Ein wenigg.« Sie blickte auf die Schulter seiner Uniform und sah, daß er keine Schulterstücke trug. Wie hatte Sergej gesagt? Sie müssen eine Geheimwaffe ausprobieren. Fieberhaft überlegte sie. Was sollte sie tun? Sie mußte ihn ausfragen, festhalten, sie mußte … Kein Soldat auf der Welt läuft ohne Schulterklappen herum. »Bist du schon lange in Orscha?« fragte sie. Deutschmann bückte sich und nahm den Korb mit Holzscheiten auf. »Geh voraus, ich trag' dir den Korb ins Haus.«

»Danke, Soldatt …«

Sie schritt ihm voran, in Stepphosen und welligen Stiefeln. Beim Gehen wiegte sich ihr Körper leicht; sie war schlank, fast unwirklich schmal in der Taille. Deutschmann hatte bislang eine andere, landläufigere Vorstellung von Russinnen. Er dachte, wie es üblich war, daß alle klein, dick und rund seien. Doch dieses Mädchen hier …

»Serrr schwerr?« fragte sie nach hinten.

»Nicht sehr.«

»Nicht für einen Mann«, lachte sie. Ihre Zähne waren weiß wie der Schnee ringsherum.

Durch Deutschmanns Gehirn schoß ein kurzer, scharfer Gedanke an Julia. Sehr deutlich sah er sie plötzlich vor sich stehen – und vergaß es wieder. Der Korb war schwer und drückte ihm auf die Schulter. Er war nicht gewohnt, Lasten zu tragen.

Das Mädchen stieß die Tür der Hütte auf. Deutschmann schleppte den Korb hinein und stellte ihn aufatmend neben das lustig flackernde Feuer, an den gemauerten Ofen.

»Nicht herumsehen«, sagte sie leise. »Es ist Krieg, und Krieg ist schmutzig.« Deutschmann lauschte entzückt dem Klang ihrer weichen, melodischen Stimme, die der starke slawische Akzent noch anziehender machte. Er hatte viel darüber gehört, wie hübsch es klingt, wenn Russinnen Deutsch sprechen. Nun hörte er's zum erstenmal selbst. Er setzte sich auf den Stuhl, auf dem sonst Sergej saß und betrachtete ein Ikonenbild, das verraucht und vom Alter dunkel geworden an der Wand neben dem Ofen hing.

»Die Heilige Mutter von Kasan«, sagte er.

»Du kennst sie, Soldatt?«

Deutschmann lächelte. »Wie alt bist du?« fragte er auf russisch.

Sie fuhr herum und starrte ihn wieder ängstlich geworden an.

»Zwanzig Jahre«, sagte sie, ebenso auf russisch.

»Sehr jung – und sehr hübsch«, sagte er. Ein merkwürdiger, nie gekannter Leichtsinn überkam ihn, ließ ihn leicht und fröhlich und neugierig auf den Ausgang dieses Abenteuers werden.

»Du sprichst Russisch?« fragte sie.

»Soviel wie du Deutsch.«

Über Deutschmanns Gesicht zuckte das schwache Licht des offenen Feuers auf dem Herd. »Wer bist du?« fragte er. »Wie heißt du?«

»Tanja«, sagte sie.

»Tanja – sehr hübsch. Und was machst du hier? Lebst du ganz allein?«

»Ja.«

»Hast du keine Angst – vor dem Krieg, vor uns?«

»Ja. Ich habe Angst. Vor dem Krieg – und vor euch. Warum hast du getragen Korb?«

»Um dir zu helfen. Er war zu schwer für dich.« Deutschmann erhob sich. »Also – Tanja – Tanjuschka, wie ihr sagt, ich muß jetzt gehen.«

»Wohin?«

»Wohin? Zu meinen Kameraden.«

»An den Wald von Gorki?«

Deutschmann fuhr herum und schaute sie mißtrauisch an. Aber sie lächelte ihn an wie ein unschuldiges Kind. Ihr Gesicht war mild und sanft, über ihr schwarzes Haar huschte rötlich der Widerschein des Feuers. »Woher weißt du das?«

»Das weiß jeder. Alle Truppen, die hier vorbeiziehen, gehen nach Babinitschi und Gorki.«

»Du bist nicht von Orscha?«

»Warum?«

»Du hast ein anderes Gesicht. Woher kommst du?«

»Von der Wolga … Kennst du Wolga?«

»Nein.«

»Du würdest Wolga nie vergessen. Sie ist schön, wunderschön. Sie ist …«

»Du bist wunderbar«, unterbrach Deutschmann sie leise.

Sie lachte. Es klang hell, silbern und frei. »Willst du essen?« fragte sie.

»Du hast doch selbst nichts. Ich habe keinen Hunger.«

»Es ist eine russische Sitte, du bist in Rußland, du bist mein Gast – ich habe Fleisch und Brot.«

Deutschmann nickte, unfähig zu sprechen. Er ging wie durch einen Traum und fürchtete zu erwachen. Tanja trat einen kleinen, schnellen Schritt gegen ihn und strich mit den Fingerspitzen über sein Gesicht. Er nahm ihre Hand und küßte sie. Die Hand war klein, schmal und paßte nicht hierher in diese halbverfallene Hütte, genausowenig wie das ganze Mädchen nicht hierher paßte. Aber er fragte nicht danach. Er lebte in einem Wunder. Das Mädchen war ein Wunder, und ihre Hand war eines und ihre Finger, die jetzt über seine Lippen strichen.

»Wie heißt du?« fragte sie.

»Deutschmann …«

»Oh – kein schöner Name. Ein böser Name. Ich werde ihn vergessen. Du bist Michael, der große, strahlende Held Michael …«

»Ja …«, sagte er zitternd. Eine Schwäche durchzog ihn, gegen die er sich umsonst wehrte, ihr Zauber umfing ihn, und er wußte, daß er die Schwäche und den Zauber nie besiegen würde.

»Du bist schön«, flüsterte er, »du bist schön, du bist wunderschön …«

Deutschmann aß Fleisch und Brot, die Eier und die Butter. Tanja bediente ihn; sie stand am Herd und briet die Eier in einer großen, kupfernen Pfanne. Draußen zog der Abend über den Dnjepr. Das Eis krachte gegen die Brückenpfeiler. Dumpfe Sprengungen der Pioniere rollten durch die Dämmerung.

Tanja saß neben Deutschmann und starrte hinaus durch das Fenster und über den Fluß. Er hatte seinen Arm um ihre Schultern gelegt. Sie schmiegte sich an ihn, als suchte sie Schutz bei diesem großen, fremden, seltsamen Mann, der so ganz anders war als Sergej und die anderen Männer, die sie bis dahin kennengelernt hatte, so verschieden von den deutschen Soldaten, die sie täglich sah. Ihren Kopf mit den glatten schwarzen Haaren hatte sie an seine Wange gelegt.

»Ich muß gehen«, sagte er endlich. Seine Stimme zerriß die zauberhafte Stille. Sie nickte und hob das Gesicht empor.

»Küß mich«, sagte sie kaum hörbar.

Er tat es. Ihre Lippen waren weich und kühl.

»Tanja …«, flüsterte er und immer wieder: »Tanja – Tanja …« Was war mit ihm geschehen? Wie war das möglich? Er saß hier, mitten in Rußland, und hielt einen warmen, anschmiegsamen und leicht zitternden Mädchenkörper in den Armen und sank in eine weiche, zärtliche, dämmernde Stille, in der es nur noch ihn und sie gab.

Von der Brücke herüber tasteten Scheinwerfer den Dnjepr ab. Eine Autokolonne rumpelte mit aufheulenden Motoren über die Holzbohlen. Er mußte gehen. Er mußte sich losreißen von ihr. Es ging nicht. Julia …

Deutschmann stand mit einem Ruck auf.

»Leb wohl«, sagte er heiser.

»Auf Wiedersehen, Michael …«

Ihre Augen begleiteten ihn, bis er in der Dämmerung verschwand. Sie waren ängstlich und traurig.

Der Motorschlitten wartete schon auf ihn. Wortlos hockte er sich neben den schimpfenden Unteroffizier auf den unbequemen Sitz. Er hörte kaum, was der andere sagte. Er starrte in die Schneenacht, sein Blick war leer, abwesend. Er fror nicht in der klirrenden Kälte, er spürte nicht die Stöße des ungefederten Fahrzeugs. Er dachte an Tanja und an Julia und wieder an Tanja …

Zwischen Gorki und Babinitschi überholten sie einen alten, wackeligen Bauernschlitten. Das kleine, struppige Pferdchen vorne zockelte durch den Schnee als kenne es nichts anderes: Schneesturm und Einsamkeit.

Vergnügt und höflich winkte Sergej Denkow dem Motorschlitten zu.

Aber auch ihn bemerkte Deutschmann kaum. Er sah die Augen Tanjas und hörte ihre weiche, singende Stimme. Sang der Südwind so, wenn er über die Wolga strich?

Oberleutnant Obermeier las die Befehle und Verordnungen, die Deutschmann aus Orscha mitgebracht hatte. Er las sie zum zweiten und zum dritten Male, ehe er ans Telefon ging und sich über die 1. Kompanie nach Orscha mit dem Bataillon verbinden ließ. Vorher jedoch warf er Oberfeldwebel Krüll aus dem Zimmer: »Sehen Sie mal zu, was die Feldküche zusammenbraut. Und kommen Sie vor einer halben Stunde nicht wieder.«

Zutiefst beleidigt verließ Krüll die ›Schreibstube‹.

Die Verbindung zu Hauptmann Barth kam schnell.

»Grüß Gott, Obermeier«, sagte Barths Stimme freundlich. »Was gibt's?«

Obermeier räusperte sich. Er wußte nicht, ob Barth wirklich freundlich war oder nur so tat. Bei Barth wußte man es nie genau.

»Ich habe soeben die Befehle bekommen, Herr Hauptmann«, sagte er. Die Papiere in seiner Hand zitterten.

»Ist ja fein. Freuen Sie sich?«

»Freuen – darüber könnte man geteilter Ansicht sein, Herr Hauptmann. Was heißt das: Zwischen Gorki und Babinitschi nach dem vorliegenden Plan Auswerfen eines Grabensystems? Das ist doch Schanzen. Sie sagten, wir sollten etwas anderes …«

»Alles überholt, Obermeier, alles überholt. Sie wissen ja, wie das geht: Heute das, morgen wieder etwas anderes. Die linke Hand weiß nicht, was die rechte tut, und so viel Köpfe, so viel Pläne. Wollen Sie noch mehr Zitate?«

»Wann sollen wir anfangen?«

»Morgen.«

»Die Erde ist bis zu einem Meter steinhart gefroren. Darauf liegt zirka siebzig Zentimeter Schnee.«

»Was hat das mit dem Schanzen zu tun? Es gibt Spitzhacken und für hartnäckige Fälle Sprengladungen.«

»Außerdem werden hinter Gorki mehr als anderthalb Kilometer der Strecke vom Feind eingesehen. Sollen wir etwa bei voller Feindeinsicht schanzen?«

»Obermeier, hören Sie mal zu!« Barths Stimme wurde trocken und hart. »Sie denken zuviel, und Sie reden zuviel. Wenn in dem Befehl steht: Auswerfen eines Grabensystems zwischen Gorki und Babinitschi, dann gilt das auch für den vom Feind eingesehenen Teil! Dort wird entweder nachts oder am frühen Morgen gearbeitet. Das Oberkommando der Wehrmacht rechnet damit, daß nach Abflauen der Frostperiode, also etwa gegen Ende Februar, der Russe einen großen Gegenangriff unternimmt und den Keil, der noch immer auf Smolensk zeigt, zusammendrückt. Witebsk ist in Gefahr. Dort liegt kaum Schnee, die Schlammstraßen sind gefroren und sind eine ideale Rollbahn für die russischen Panzer. Im Süden – bei Kiew – stoßen die Russen über den großen Dnjepr-Bogen vor und wollen unsere Flanke aufreißen. Es stinkt an der ganzen Front, Obermeier. Hier soll eine Auffangstellung gebaut werden, von der ziemlich viel abhängt. Wieviel können Sie schon daraus ersehen, daß sie so knapp hinter der ersten Frontlinie ausgeworfen wird. Es geht um die Rollbahn, mein Lieber. Und die Truppen, die von Smolensk zurückgedrängt werden, sollen hier ein neues, verteidigungsreifes Grabensystem vorfinden. Darum müssen wir schanzen auf den Teufel komm 'raus! Auch unter Feindeinsicht …«

Obermeier legte die Papiere neben das Telefon. »Bei diesen Arbeiten wird die halbe Kompanie draufgehen«, sagte er erschüttert.

»Sagen Sie besser: Zwei Drittel der Kompanie. An der Front gibt es Bataillone, die aus einem jungen Leutnant und zwanzig bis dreißig Mann bestehen. Im übrigen scheinen Sie immer noch nicht den Sinn der Sache erfaßt zu haben.«

»Also – ein besseres Todesurteil.« Obermeiers Stimme sollte spöttisch klingen, aber sie tat es nicht. Sie war erschrocken und verzweifelt.

»Todesurteil! Sie sind wirklich zu romantisch. Lassen Sie doch endlich diese großen Worte! Sie haben einen klaren Einsatzbefehl erhalten, weiter nichts. Glauben Sie ja nicht, daß Wernher besser dran ist. Er muß mit seiner Kompanie entlang der Straße nach Orscha Baumwälle bauen, um die Verwehungen aufzuhalten. Jede Nacht zerstören die Partisanen, was er tagsüber gebaut hat. In der letzten Nacht wurde er beschossen. Er hat vierzehn Tote und vierunddreißig Verletzte. Eine ganze Partisanengruppe, die übrigens blendend geführt wird, lieferte ihm eine regelrechte kleine Schlacht mit MGs und Granatwerfern. Wollen Sie noch etwas wissen, Obermeier?«

»Nein, Herr Hauptmann.«

Obermeier hängte ab. Er saß in der halbdunklen Hütte und starrte auf die Kerzen, die auf den Blechkisten klebten.

Draußen brüllte Krüll herum. Er hatte Schwanecke, Wiedeck und Deutschmann überrascht, wie sie über einem Holzfeuerchen eine Bouillon aus Brühwürfeln kochten. »Aus dem Paket von meiner Braut, kennen Sie sie nicht?« erklärte Schwanecke. Daß er kein Paket erhalten hatte, wußte er genausogut wie Krüll: Die Würfel hatte er bei dem zweistündigen Aufenthalt in Orscha aus der Rote-Kreuz-Verpflegungsstelle geklaut.

»Eine Bande!« schrie Krüll außer sich. »Welch eine Erlösung wäre für mich euer Heldentod!«

Obermeier trat aus der Hütte und winkte Krüll herbei. »Fünfundzwanzig Mann müssen heute nacht nach Babinitschi fahren und das Gerät holen. Drei Schlitten genügen. Ab morgen wird geschanzt.«

»Geschanzt?« Krülls Gesicht war dumpf und verständnislos. Er sah über die Schneewüste und verzog den Mund. »Hier?«

»Wo denn sonst?«

»Au Backe!«

Obermeier sah Krüll mit Widerwillen an. »Unterlassen Sie diese dämlichen Bemerkungen, Oberfeldwebel! Soviel mir bekannt ist, haben Sie bis jetzt noch bei keinem Arbeitskommando einen Finger krumm gemacht. Also werden Sie's hier auch kaum tun. Sparen sie sich Ihre große Fresse!«

Nachts zog ein Trupp von fünfundzwanzig Mann unter der Führung der Unteroffiziere Kentrop und Bortke mit drei Schlitten nach Babinitschi, um die Schanzgeräte abzuholen, die von einer Transporteinheit in Orscha dorthin gebracht worden waren.

Auf dem ersten Schlitten hockte Schwanecke hinter dem MG 42 und suchte mit wachsamen, zusammengekniffenen Augen die buschbewachsenen Schneefelder nach einer Bewegung ab. Sie fuhren an Oberleutnant Sergej Denkow vorbei, der unsichtbar, auch für Schwaneckes scharfen, spähenden Blick, tief in einem Gebüsch saß. Neben ihm hockte Tartuchin. Die dickverbundene, zerschossene Hand lag in einer Armbinde.

Ungehindert erreichten die drei Schlitten Babinitschi, wo die 1. Kompanie einem Holzfällerlager glich. Gefällte, vollbezweigte Tannenbäume lagen am Straßenrand aufgestapelt und wurden mit Motorschlitten durch den Schnee geschleift. Fünf bis acht Mann richteten sie dann auf und stemmten sie in den Schnee und in die Löcher, die vorher mit Spitzhacken in den eisenharten Boden geschlagen wurden. Tanne an Tanne, dazwischen aufgeschichtete quergelegte Bäume … ein grüner Wall gegen den Schneesturm und die Verwehungen, die in kürzester Zeit eine freigeschaufelte Straße wieder einebneten.

Der Chef der 1. Kompanie, Oberleutnant Wernher, saß mißmutig in seinem warmgeheizten Bauernhaus und schrieb die Verlustlisten der vergangenen Nacht. An einige Hinterbliebene schrieb er sogar persönlich. Er glaubte, das der Höflichkeit schuldig zu sein. Unter den Gefallenen waren ein ehemaliger Major, zwei bekannte Juristen und ein Schriftsteller, dessen Bücher auf der Goebbelsschen Verbotsliste standen. Nur als er schrieb: ›Gefallen für Großdeutschland‹, zögerte selbst Wernher und kam sich reichlich dumm vor. »Sie taten bis zuletzt ihre Pflicht«, schrieb er am Ende und »Ihr Tod war gnädig, das mag ein Trost sein.« Das war richtig so. Ein Trost. Sie haben es überstanden, dachte Wernher.

Die Übernahme der Schanzgeräte und der Pioniersprengladungen für besonders harten Boden vollzog sich reibungslos. Dann fuhren die Schlitten die Straße zurück nach Gorki. Sie ratterten wie Gespenster mit langen Schneefahnen hinter sich an Sergej und Tartuchin vorbei, die in ihrem Gebüsch kauerten.

»Jetzt!« sagte Tartuchin und grinste hart.

Sie starrten auf eine Stelle auf der Straße. Der erste Schlitten – der zweite … »Verflucht!« zischte Tartuchin. Sergej biß die Zähne zusammen, daß die Muskelstränge aus seinen eingefallenen Wangen traten. Der dritte Schlitten … Nichts!

Tartuchin schlug mit der rechten Faust in den Schnee. Sein gelbes Gesicht war vor Wut verzerrt.

Da –! Schon ziemlich weit hinter dem dritten Schlitten zischte eine grelle Flamme aus dem Schnee, eine krachende Detonation erschütterte die Nacht, ein Teil der Straße schoß in den Himmel und prasselte in schmutzigen Kaskaden wieder zurück.

»Spätzünder!« sagte Sergej bedauernd und spuckte wütend aus.

Es war, als ob für einen Augenblick die Erde die Hölle ausgespuckt hätte, und dann träumte die Landschaft wieder im tiefsten Frieden, als verschluckten Schnee und Frost jeden Laut. Der letzte Schlitten, auf dem Kentrop saß, bekam einige niederprasselnde Erdbrocken ab und machte einen Satz nach vorn.

Wie huschende Schatten sprangen die Männer von dem Fahrzeug, am weitesten Schwanecke mit seinem MG. Fünfundzwanzig Soldaten lagen flach im Schnee, um dem unsichtbaren Feind kein Ziel mehr zu bieten. Unteroffizier Bortke robbte zu Schwanecke und schob den Stahlhelm aus dem Gesicht, der ihm über seine Augen gerutscht war.

»Eine Mine«, sagte er.

»Und was für eine!«

Sie suchten die Gegend ab. Die Büsche, die vereinzelten Baumgruppen, die Senken, die sich bis zum Wald von Gorki hinzogen.

»Abwarten.« Schwanecke überblickte nachdenklich die Buschgruppen. Er witterte Gefahr wie ein gehetztes Wild. Irgend etwas sagte ihm, daß die Menschen, die die Mine gelegt hatten, noch nicht weg waren. Langsam zog er den Kolben des MGs an seine Schulter und streute eine schnelle, rasselnde Garbe über die Büsche hinweg, ging dann etwas tiefer und kämmte kurz über dem Boden die Zweige durch. Das helle, rasend schnelle Knattern des MGs war wie eine Erlösung. Hier und da tauchte ein dunkler Kopf aus dem Schnee auf, schoben sich kriechende Körper zu Gruppen zusammen.

Tartuchin und Sergej lagen tief im Schnee eingewühlt. Über sie hinweg, zentimeterhoch nur, pfiffen Schwaneckes Maschinengewehrgarben. Der Mongole kniff die schrägen Augen zusammen.

»Er ist es wieder, ich weiß es!« sagte er heiser vor Haß. »Ich weiß es ganz genau, so kann nur er schießen!« Über ihn hinweg surrten die Geschosse, brachen die Zweige ab und schüttelten Eissplitter über seinen Körper.

»Nichts!« sagte Bortke. »Ich hab's ja gesagt, sie sind weg.« Er erhob sich und streckte die Hand empor. »Alles sammeln! Auf die Schlitten!«

Dunkle Gestalten stiegen aus dem Schnee und rannten zu den Schlitten. Gleich darauf zerriß das Knattern der Motoren die Nacht. Kentrop und Schwanecke gingen die wenigen Meter zur Sprengstelle zurück. Schwanecke das MG um den Hals gehängt, bereit, aus der Hüfte heraus zu schießen. Sie standen an dem Sprengtrichter, der über die ganze Straßenbreite ein gähnendes schwarzes Loch aufgerissen hatte.

»Das hätte genügt!« Kentrop wandte sich ab. »Noch mal Schwein gehabt!«

Tartuchin starrte auf den Mann mit dem MG. Durch seinen gedrungenen, breitschultrigen Körper flog ein Zittern. Sergej spürte es und legte ihm die Hand auf die Schulter: »Ruhig – bleib ruhig!«

»Das ist er, Starschi Leitenant!«

»Wir werden ihn bekommen, Pjotr, darauf kannst du Gift nehmen!«

Sie sahen, wie die Schlitten anfuhren. Dann verebbte der Lärm der Motoren in der Ferne.

»Ich gehe zurück nach Orscha«, sagte Oberleutnant Sergej. »Sage den Genossen im Wald, daß sie sich ausruhen sollen. In drei Tagen komme ich zurück mit neuen Befehlen. Ich werde mit dem Genossen General sprechen.«

»Und wo erreicht man dich inzwischen?«

»Bei Tanja.«

Tartuchin grinste und schmatzte mit dem Mund. Sergej sah ihn wütend an, sagte aber nichts. Er kroch aus dem Busch, reckte sich in der eisigen Kälte und schlug die Arme um den Körper, um sich zu erwärmen.

Über dem Wald dämmerte es: fahlgrau, schneeverhangen, nur eine leichte Verfärbung des nächtlichen Himmels. Der Morgen.

Sergej ging über die Straße. Neben dem großen Minentrichter blieb er einen Augenblick stehen, sah hinein und zuckte mit den Schultern. »Nitsche wo! Ein anderes Mal!« Dann lief er weiter gegen Babinitschi.

Ein kleiner Panjeschlitten zockelte über die Ebene. Fedja – der Sergeant Fedja, der einen armen Bauern spielte, winkte ihm zu.

»Nichts Neues?« Sergej stieg in den Schlitten.

»Njet, Starschi Leitenant.«

»Nach Orscha. Fahre um Babinitschi herum.«

Den Dnjepr erreichten sie, ohne einen deutschen Soldaten zusehen. Sergej lächelte still. »Die Weite ist ihr Tod«, sagte er langsam. »Wie kann ein Schiff, das über ein Meer fährt, glauben, das Meer gehöre ihm?«

In Babinitschi glaubte Oberleutnant Wernher seinen Augen nicht zu trauen, als Fritz Bevern unerwartet bei ihm auftauchte und wie die Erscheinung aus einer anderen Welt in seine Unterkunft stapfte. Wernher lag im Bett.

»Guten Morgen, Herr Wernher!« sagte Bevern und grüßte stramm. Wernher sah auf die Armbanduhr und stellte fest, daß es 4 Uhr morgens war. »Grüß' Sie!« sagte er mißmutig und dachte, daß den verdammten Schnüffler der Teufel holen sollte. Was suchte er hier mitten in der Nacht? Wernher schlüpfte in seinen Uniformrock und strich sich mit beiden Händen über das Haar.

»Ich bin dienstlich hier. In Vertretung des Kommandeurs. Ich wollte Ihren Abschnitt inspizieren«, sagte Bevern steif.

»Bitte.« Wernher erhob sich. »Sie suchen sich genau den richtigen Morgen aus … Bis um ein Uhr hatten wir drei Tote und sieben Verwundete. Wie viele es jetzt sind, weiß ich noch nicht.«

»Partisanen?«

»Nein, diesmal nicht. Wenn es Partisanen gewesen wären, würde ich kaum …« Wernher sah grinsend zu seinem Bett hinüber, hob die Teetasse und blies in die dampfende Flüssigkeit. »Diesmal waren es reguläre Truppen. Meine Leute schanzen und bauen auf einer Breite von zwölf Kilometern, bei Feindeinsicht. Ab und zu wird dieses Gewimmel den Rußkis zu bunt, und sie ballern ein paarmal herüber. Um sich gewissermaßen in Erinnerung zu bringen: Bitte vergeßt nicht, daß wir auch noch da sind!«

»Unangenehm.« Oberleutnant Bevern blieb sitzen und sah sich um. »Haben Sie keine Karte? Sie müssen doch eine Karte Ihrer Strecke haben!«

»Aber ja, natürlich habe ich eine. Doch wozu brauchen wir eine Karte? Gehen wir doch hinaus und sehen uns den ganzen Kram selbst an. Es wird gleich hell sein – das heißt, ganz dunkel wird es hier sowieso nie.«

»Bei Feindeinsicht?« fragte Bevern zögernd.

»Warum nicht? Wenn meine Leute da arbeiten müssen, können wir ruhig zugucken!« sagte Wernher.

»Vergessen Sie nicht, daß diese – Leute – rechtmäßig verurteilt worden sind.«

»Und wir sind ihre Offiziere, die Vorbilder zu sein haben!« sagte Wernher ruhig. Bevern sah auf seine Hände.

»Bitte! Gehen wir.«

Später standen sie etwas außerhalb Babinitschis und sahen mit den Nachtgläsern hinüber zur HKL und zu dem Arbeitstrupp. Die Männer waren mit russischen Mänteln und Feldmützen bekleidet, die sie gefallenen Sowjets abgenommen hatten. Die erdbraunen Mäntel waren bei ihnen sehr begehrt, weil sie warmhielten und sie vor dem beißenden Schneewind und der klirrenden Kälte schützten. Wernher war nicht bis zu den Auffanggräben gefahren. Er wollte vermeiden, daß die russische Artillerie auf sie aufmerksam würde und neue Ausfälle in der Kompanie verursachte. Soviel war ihm Bevern nicht wert.

»Tagesleistung?« fragte Bevern und setzte das Glas ab.

»Wie vorgesehen.« Oberleutnant Wernher schlug den Kragen seines Mantels hoch. Er zitterte; die Kälte schnitt durch den Stoff und jagte eisige Schauer über seine Haut.

»Und bei Obermeier?«

»Ich nehme an, das gleiche. Er ist noch schlimmer dran als ich. Er hat eine Granatwerferkompanie der Russen gegenüber und liegt außerdem im Schußbereich eines russischen Feldartilleriebataillons. Die verpassen keine Gelegenheit, ihn ordentlich zu beharken …«

Oberleutnant Bevern überblickte zufrieden das endlose Schneefeld vor sich. Das war die Front! Welch ein erhabenes Gefühl, an der Front zu sein! Soldat des Führers! Beschützer Großdeutschlands vor dem asiatischen Sturm!

Der junge, dumme, begeisterte Offizier konnte nicht wissen, daß er nur noch einige Tage Soldat des Führers sein sollte. Und er wußte nicht, daß er in den letzten Minuten seines Lebens nicht nach dem Führer, nicht nach Deutschland, nicht nach dem Ruhm und nicht nach den Auszeichnungen flehen würde, sondern nach seiner Mutter – nach der Frau, die ihm altmodisch und kleinbürgerlich vorkam und die zu seinem großen Kummer und Zorn wenig von den Idealen ihres Mannes und ihres Sohnes zu halten schien …

Julia Deutschmann schrieb:

»Mein lieber Ernsti, das ist der fünfte Brief, den ich Dir schreibe. Der fünfte in der Reihe der Briefe, die ich nie abschicken werde. Junge Mädchen schreiben schwärmerische Tagebücher. Wenn man sie danach fragt, warum sie Tagebücher schreiben, behaupten sie, sie täten es für sich selbst, weil es ihnen einfach Spaß macht. Wenn sie einigermaßen intelligent sind, sagen sie, sie täten es, um Klarheit in ihre verworrenen Gedanken zu bringen. Doch bei allen sollen die Tagebücher ein Selbstzweck sein. Aber das sind sie nicht; jede Zeile, die sie schreiben, ist jemandem gewidmet. Es muß nicht ein bestimmter Mann sein – es ist der Prinz, auf den sie warten, der eines Tages kommen würde, um sie irgendwohin zu führen, wo es ein Meer von Liebe gibt.

Ich bin kein junges Mädchen mehr, und ich warte nicht mehr auf einen Prinzen, den es so, wie man sich ihn mit 16 oder 17 Jahren vorstellt, nirgendwo gibt. Aber eines habe ich doch noch mit der 17jährigen Julia gemein: Mein Herz ist voller Erwartung und voller Liebe. Mein Prinz bist Du, und mein Tagebuch sind diese Briefe an Dich. Zugegeben, oft warst Du ein recht nachlässiger und zerstreuter Prinz, manchmal auch ein schlecht gelaunter, nörgelnder und kratzbürstiger – und ich glaube kaum, daß Du Dich je ändern wirst. Aber was wäre eine Liebe wert, die sich davon beeinflussen ließe?

Schluß damit. Ich habe Angst, weiter so zu schreiben; denn ich will nicht wieder weinen. Ich habe zu oft geweint in den letzten Wochen, auch dann, wenn ich eigentlich keine Zeit dazu hatte. Du hast mich immer für eine selbstbewußte, energische Frau gehalten. Manchmal sogar, fürchte ich, für einen Blaustrumpf. Vielleicht war ich es auch. Aber jetzt, jetzt bin ich es nicht mehr. Jetzt bin ich nur noch hilflos und voller Sehnsucht, und fast immer voller Angst und Furcht vor heute, vor der Stunde, in der ich gerade lebe und vor der nächsten und übernächsten …

Vor einigen Tagen hat mich Dr. Kukill eingeladen: Der Mann, der den Stab über Dich gebrochen hat. Ich glaube, er weiß, daß ich ihn hasse und verabscheue. Aber er stellt sich blind und tut so, als ob nichts vorgefallen sei. Und doch bin ich fast sicher, daß auch er sich Gedanken macht über die Rolle, die er in Deinem Prozeß gespielt hat, und über seine unglückselige Rolle, die er tagtäglich spielt – spielen muß, wie er behauptet.

Er wollte, daß wir tanzen gehen nach dem Abendessen im Bosnischen Keller. Ich habe natürlich abgelehnt. Ich fragte ihn, ob und wie er es über sich bringen könnte, mit der Frau zu tanzen, deren Mann seinetwegen in diesem fürchterlichen Strafbataillon leben muß. Ich habe nicht mehr darauf geachtet, was ich sagte; ich konnte sein glattes Gesicht und seine Konversation einfach nicht mehr ertragen. Ebenso wie mich all die glatten nichtssagenden Gesichter um mich herum langweilten, Gesichter von Menschen, die so taten, als gäbe es nicht einen millionenfachen Tod rundum, legalisierten Mord, und all das Schreckliche, was dieser Krieg mit sich bringt. Ich dachte auch nicht mehr daran, daß er der Mann ist, der uns beiden vielleicht doch noch helfen kann. Es war leichtsinnig und unverantwortlich, ich weiß, aber ich fragte ihn, wie er es eigentlich fertigbringe, hier mit mir zu sitzen und so zu tun, als wären wir im tiefsten Frieden, als gäbe es nichts Wichtigeres, als Wein zu trinken und über Wein und andere belanglose Sachen zu sprechen und eine Frau zu umschwärmen mit dem Ziel, ihren Haß zu brechen und sie zu besitzen, obwohl nach seinen Gutachten bestimmt viele Menschen verurteilt und von einer unmenschlichen Justiz ermordet wurden.

Wie immer, konnte ich auch damals aus seinem Gesicht nichts herauslesen: Unbeweglich, fast steinern war es, als er mich ansah. Aber dann sagte er, mit einer Stimme, die ich an ihm noch nicht kannte: ›Meine Nächte sind sehr lang. Und meine Träume und meine Gedanken sind selten schön …‹ Warum sind sie das? Fühlt er am Ende seine Schuld? Weiß er um sie?

Ich weiß nicht, wie es kam, aber in diesem Augenblick tat er mir fast leid. Trotz allem. Sind wir Frauen nicht unvernünftig? Wenn wir in einem Menschen Tragik oder auch nur Hilflosigkeit zu erkennen glauben, dann bemitleiden wir ihn, und unser Blick wird getrübt. Dann wollen wir helfen und fragen uns nicht mehr, ob der Mensch unsere Hilfe auch wert ist.

Ich werde nicht klug aus diesem Mann. Manchmal frage ich mich, ob er wirklich der selbstbewußte, unabhängige Mann ist, für den er sich ausgibt, oder nur ein hilfloses, schwaches Werkzeug der Stärkeren, ein Mann, der keinen Ausweg mehr findet aus der Sackgasse, in die ihn seine Gier nach Macht, nach Unabhängigkeit und Geld gebracht hat.

Wie dem auch sei, welche Gedanken ich auch wälze, das Wichtigste vergesse ich nie. Und das ist, Dich wieder herauszuholen, und sei es nur, daß Du zu einer normalen Truppe versetzt wirst. Nein, es stimmt nicht, was ich mir manchmal selbst vorgeworfen habe: daß ich alle die Frauen vergesse, deren Männer an der Front sind. Ich will keine Ausnahme sein, obwohl ich genauso wie alle diese Frauen wünsche, es gäbe den Krieg nicht und Du wärst bei mir. Aber ich will nicht, daß Du als Verbrecher angesehen und abgestempelt wirst, denn ich weiß, daß Du verurteilt wurdest, nur weil Du anderen helfen wolltest.

Ich war recht fleißig in den letzten Wochen. Ich habe Deine ganze Arbeit mit den Pilzkulturen wiederholt. Es ging schneller, weil ich alle Fehler und alle Sackgassen vermeiden konnte, die Dir damals so viel zu schaffen machten. Es ist mir gelungen, einige Kulturen des Strahlenpilzes voll zu entwickeln. Jetzt gehe ich daran, unsere geheimnisvollen ›Mikrobentöter‹ zu isolieren. Wenn ich genug von dem ›Aktinstoff‹ habe, mehr als damals bei Deinem unglücklichen Selbstversuch, dann werde auch ich einen Selbstversuch machen. Ich bin sicher, daß es diesmal gelingen wird und daß wir damals nur zu wenig davon gehabt haben, um eine wirksame Therapie durchzuführen. Ich bin sicher, daß es Dir gelungen ist, ein wirksames Mittel gegen die Infektionserreger zu finden, denen besonders jetzt im Krieg Zehn- oder Hunderttausende von Menschen erliegen müssen. Daran glaube ich nicht nur, weil ich Dich liebe. Das wäre falsch. In dieser Hinsicht bin ich unbestechlich. Aber je länger ich darüber nachdenke, desto mehr bin ich davon überzeugt, daß wir auf dem richtigen Wege waren. Wenn mein Selbstversuch gelingt, dann wird man Dich nicht mehr festhalten können.

Sonst ist es hier so wie immer: Bombenangriffe, Furcht, lange Schlangen vor den Lebensmitteiläden, eingefallene, hungrige Gesichter, Hoffnungslosigkeit und sehr, sehr wenig von dem ›Siegeswillen‹, von dem unser ›deutsches Volk‹ beseelt sein soll. Es ist ein großer Widerspruch zwischen der Wirklichkeit und dem, was man im Radio hört oder in den Zeitungen liest. Und auch bei mir: Sehnsucht, Sehnsucht und Liebe. Ich denke an Dich, Ernsti, immer. Ich will an Dich denken, denn die Gedanken an Dich halten mich aufrecht und helfen mir über die Mutlosigkeit und Verzweiflung hinweg, die mich so oft überwältigen wollen. Wärst Du nur hier, könnte ich doch nur mit der Hand über Dein Gesicht fahren … Jetzt würde ich sogar meine Wange an Deinem Stoppelbart reiben, also das, was ich früher nie tun wollte, weil Du ja so schrecklich aussahst mit den harten, roten Bartstoppeln … Du brauchtest Dich nie mehr zu rasieren. Du könntest Deine Sachen überall in der Wohnung verstreuen, die leeren Tassen mitten im Zimmer auf dem Boden stehen lassen. Du könntest alles das tun, worüber ich mich früher so geärgert habe, wärst Du nur hier, wärst du nur hier, Ernsti … Gute Nacht!«

Acht Tage nach der Ankunft des Strafbataillons kam auch das Lazarett in Orscha an. Jakob Kronenberg bildete mit vier Mann die Vorausabteilung und begab sich in Orscha auf die Suche nach Ernst Deutschmann, bis er erfuhr, daß dieser mit der 2. Kompanie bei Gorki lag. Hauptmann Barth, bei dem er sich meldete, versetzte ihm gleich einen Schreck, als er sagte: »Gut, daß die Medizinmänner da sind! Das Lazarett kommt nach Barssdowka am Dnjepr. Dort kann es vom ganzen Bataillonsbereich die Verwundeten aufnehmen. Bisher hatten wir siebzehn Tote und sechsunddreißig Verwundete.«

Der Sanitäter verließ den Bataillonsgefechtsstand in ziemlich düsterer Stimmung. Die Begrüßung mit der Nachricht, daß für das Lazarett des Bataillons eine sehr windige Ecke ausgesucht worden war, empfand er beunruhigend. Er hatte zwar etwas Ähnliches erwartet – dafür war es ja auch ein Strafbataillon – aber wie üblich, hatte auch er ein unbehagliches Gefühl im Magen, nachdem er sich vor vollendete Tatsachen gestellt sah. Er meldete seine Bedenken auch gleich dem Stabsarzt Dr. Bergen weiter, als er frühmorgens mit einem behelfsmäßigen Lazarettzug in Orscha eintraf und auf die versprochenen Lastwagen wartete, die die Medikamente, die Betten und die sonstige Lazarettausrüstung transportieren sollten.

Dr. Bergen hatte einen Assistenten bekommen, einen jungen Unterarzt. Er war Chirurg, hatte keinerlei Fronterfahrung und war bisher Assistent in einem Warschauer Reservelazarett gewesen. Er sah unscheinbar aus, schmalbrüstig, zartgliedrig, fast mädchenhaft. Die langen Wimpern und sein schüchternes Wesen verstärkten noch den Eindruck der Hilflosigkeit, den er auf Dr. Bergen machte. Fast unmerkbar hatte er sich in den Lazarettbetrieb eingelebt. Nur einmal war er aus seiner grauen Anonymität hervorgetreten. Während der Fahrt zur Front hatten sie einen Tag Aufenthalt in Borissow. An einer Straßenkreuzung der Rollbahn erlebten sie einen Unfall: Ein Muniwagen war mit einem kleinen Kübelwagen zusammengeprallt. Aus dem Schrotthaufen hatte man einen jungen Leutnant gezerrt, dessen linkes Bein oberhalb des Knies nur noch an ein paar Fetzen hing. Aus der zerrissenen Schlagader schoß in rhythmischen Schlägen das Blut. Noch auf der Straße, neben dem Trümmerhaufen des Kübelwagens, hatte der Unterarzt das Bein amputiert. Seit diesem Tag empfand Dr. Bergen eine stille Hochachtung für den unscheinbaren jungen Mann.

Jakob Kronenberg kam von der Suche nach den Lastwagen zum Bahnhof von Orscha zurück. Der behelfsmäßige Lazarettzug stand noch immer auf einem Nebengleis. Unterarzt Dr. Hansen hatte in einem Viehwagen eine Ambulanz eingerichtet und behandelte einige Unfälle, die sich auf dem Bahngelände ereignet hatten. Stabsarzt Dr. Bergen dagegen suchte bei der Bahnverwaltung den verantwortlichen Transportoffizier. Er hatte sich vorgenommen, entgegen seiner sonst ruhigen Art, energisch nach dem Rechten zu sehen. Schließlich war man jetzt an der Front …

»Haben Sie die Wagen?« fragte Dr. Hansen. Er verband eine gequetschte Hand und sah während der Arbeit zu Kronenberg hinab, der neben den Geleisen stand und trotz seines offenen Pelzes schwitzte.

»Sie kommen bei Einbruch der Dunkelheit, Herr Unterarzt. Der Kommandeur sagt, bei Tage sei es unmöglich, durch die paar Kilometer zu fahren, die der Iwan einsieht – auch mit dem Roten Kreuz nicht. Die schießen auf alles, was sich über den Schnee bewegt.« Kronenberg setzte sich auf eine leere Tonne und wischte sich über das Gesicht. »Drecknest!« sagte er voller Verachtung.

Über die zarten, mädchenhaften Züge des Unterarztes glitt ein Lächeln. »Und ich dachte, Sie würden sich wohl fühlen, wenn wir in Rußland sind, Kronenberg?«

»Wieso?«

»Sie sind doch – was man ein altes Frontschwein nennt. Wie oft waren Sie in Rußland?«

»Jetzt bin ich zum viertenmal hier.«

»Es heißt doch, daß sich der deutsche Landser, der einmal an der Front war, in der Etappe nicht wohl fühlt. Sobald er dann die HKL wittert, wird er lebendig und blüht auf. Ein moderner Landsknecht. Stimmt das?«

Jakob Kronenberg steckte sich eine Zigarette an. Er sah dem Soldaten eines Baubataillons nach, der mit seiner verbundenen Hand über die Geleise trottete und zurück zu den Kolonnen ging, die die durch Granaten zerfetzten Schienen auswechselten und Weichen reparierten.

»Weiß nicht«, sagte er. »Vor dem Gedanken, wieder nach Rußland zu kommen, hat jeder einen Bammel. Aber wenn man dann wieder hier ist, dann denkt man doch irgendwie, wieder zu Hause zu sein. Klingt blöd, was? Rußland und zu Hause?«

»Warum nicht?«

»Na ja – dieses trostlose Land und dann die Menschen, die am Tage unsere Munition auf die Lastwagen schleppen und in der Nacht dieselben Wagen in die Luft jagen?«

»Aber alle können doch nicht Partisanen sein!«

»Alle nicht, aber 'ne Menge. Mehr als wir denken.« Kronenberg behielt beim Sprechen die Zigarette im Mund.

»Wir kommen nach Barssdowka«, sagte der Kommandeur, »das Nest liegt am Dnjepr, das armseligste Kaff im Mittelabschnitt, das man sich vorstellen kann!« Er schnippte die Zigarettenkippe weg und erhob sich von seiner Tonne. Der scharfe Schneewind zog in einem langen Stoß über die Ebene. Er knöpfte seinen Lammpelz zu. »Sie kommen aus Warschau, Herr Unterarzt. Sie wissen noch nicht, was es heißt … na ja, Sie werden's ja merken! Unsere Leute kommen mir vor wie Tontauben, mit denen die Russen schießen lernen. Es wird 'ne Menge Arbeit geben.«

»Aber wir schießen ja auch, Kronenberg, oder?«

Kronenberg sah den Unterarzt verwundert an. »Na ja, sicher«, sagte er, »dafür ist eben Krieg. Wir wollen die Bolschewiken vernichten, und die Bolschewiken wollen die Nationalsozialisten vernichten, und beide behaupten, sie hätten recht …«

»Und wer hat recht?«

Kronenberg spuckte aus und sagte abschließend: »Wir natürlich, Herr Unterarzt, wer denn sonst?«

Stabsarzt Dr. Bergen kletterte über einen Haufen Schienen und stapfte zu dem Lazarettzug zurück. Dr. Hansen sprang aus seinem Waggon und ging ihm entgegen.

»Haben Sie etwas erreicht, Herr Stabsarzt?«

Dr. Bergen nickte grimmig. »Ich habe festgestellt, daß wir hier eine mustergültige, fast friedensmäßige Verwaltung haben. Ich meine insofern, daß nämlich niemand zuständig ist. Ein Haufen Offiziere, ein Haufen Dienststellen …« Dr. Bergen winkte mit einer müden Handbewegung ab.

»Hauptmann Barth hat Lastwagen für die Nacht versprochen.« Dr. Hansen zog den Ohrenschützer herunter. »Ein scharfer Wind«, sagte er. »Wenn alles gut geht, sind wir übermorgen in Barssdowka aufnahmebereit.«