Julia Deutschmann machte sich an jenem Morgen hübsch, weil sie glaubte, daß man einer hübschen Frau eher ein Geheimnis verrät als einer verhärmten. Viel hatte sie nicht zu tun; sie war schön, auch wenn um ihre übernächtigten, müden Augen Schatten lagen und ihre Lippen blaß waren. Augenbrauen nachziehen, eine Spur Rouge auf die Lippen, etwas Puder, hundert Bürstenstriche über das lockige, schwarze Haar, das sie offen, ohne Spangen und ohne Kamm, trug. Das schlichte Kostüm war betont auf ihre Figur geschnitten, die hochhackigen Pumps waren auf die Farbe des Stoffes abgestimmt. Als sie hineinschlüpfte, erinnerte sie sich daran, daß es Ernst war, der sie ausgesucht hatte. Einen Augenblick verharrte sie reglos, die Erinnerung huschte wie ein Lichtschein über ihr Gesicht und verlosch.

Sie richtete sich auf und warf einen letzten prüfenden Blick in den Spiegel.

Dann ging sie.

Der Posten vor dem Oberkommando der Wehrmacht, Berlin, Bendlerstraße, las das kurze Schreiben, das sie ihm hinreichte, lange und aufmerksam, als stünden dort nicht nur drei armselige Zeilen – eine unpersönliche Vorladung, beim General von Frankenstein vorzusprechen.

Im Hauptflur des großen Gebäudekomplexes traf sie einen Adjutanten, einen jungen Leutnant, der bei ihrem Anblick sehr zackig, mit knallenden Absätzen, grüßte und sich bereitwillig erbot, sie ins zweite Stockwerk zu führen. Vor der großen Eichentür am Ende des Flurs verhielten sie den Schritt: ein Tor, das in eine andere Welt zu führen schien. In die Welt, die über Ernsts Schicksal entschied: fremd, unbekannt, voller Rätsel.

Neben der Tür ein rechteckiges Schild:

BODO v. FRANKENSTEIN

Der junge Leutnant verbeugte sich ein wenig steif. Julia glaubte fast, einen Corpsstudenten vor sich zu haben:

»Herr General wird Sie gleich hereinbitten. Ich melde Sie im Vorzimmer an. Darf ich Ihr Schreiben haben, gnädige Frau?«

Julia gab ihm den Brief. Der Leutnant mit dem eifrigen, milchigen Gesicht und mit schwärmerischen Augen verschwand im Nebenraum. Es dauerte nicht lange, bis er wieder auf den Flur trat – ein wenig steifer, förmlicher, zurückhaltender und, wie es Julia schien, auch nicht mehr so selbstsicher wie vorhin.

»Einen Augenblick noch. Sie werden gerufen.«

Er wandte sich ab und ging. Seine glänzendpolierten Stiefel knarrten. Kein Gruß mehr, kein ›Gnädige Frau –‹. So ist das also, dachte Julia ein wenig schmerzlich, der Name Deutschmann genügt, um ihn zu einem Eiszapfen erstarren zu lassen.

Sie setzte sich auf eine der klobigen, unbequemen Bänke im Flur und wartete. Erst nach einer halben Stunde öffnete sich die schwere Tür, und der Kopf einer jungen Sekretärin erschien.

»Frau Deutschmann?«

»Ja.« Julia stand auf.

»Herr General läßt bitten.«

General von Frankenstein kam ihr drei Schritte entgegen, als sie das weite Zimmer betrat. Dann blieb er abrupt stehen, wie eine aufgezogene Puppe, der das Räderwerk abgelaufen ist, und nickte ihr zu.

»Frau Dr. Deutschmann?«

»Ja, Herr General.«

»Sie haben wegen Ihres Mannes ein Gnadengesuch eingereicht?«

»Ja.«

»Warum?«

Einen flüchtigen Augenblick lang überfiel Julia der verrückte Vergleich, daß die Stimme des Generals genauso knarrte wie die Stiefel des Leutnants, der sie hierhergebracht hatte. »Er –«, sagte sie stockend, »– er wurde eines Irrtums wegen verhaftet, verurteilt zu einem Strafbataillon – ich weiß nicht, wo er jetzt ist …«

»Es war kein Irrtum«, knurrte der General.

»Aber …«

»Gestatten Sie bitte, daß ich Sie unterbreche«, sagte der General und verbeugte sich leicht: ein altgedienter preußischer Offizier, ein Kavalier alter Schule, dem man in seiner Kadettenzeit beigebracht hatte, daß er sich Damen gegenüber in jeder Situation höflich und korrekt benehmen soll: das war die Tradition. Und Julia war offenbar eine Dame – auch wenn Dr. Ernst Deutschmann ihr Mann war. So etwas sah man. Wenn man jung ist, hält man fast jede Frau für eine Dame, besonders wenn sie hübsch ist. Aber nicht mehr als hoher Sechziger, auch dann nicht, wenn man noch so voll Spannkraft war und immer noch so viel Mark in den Knochen hatte, potztausend, daß man es mit jedem dieser jungen Milchbärte von Leutnants aufnehmen konnte. Um des Generals verkniffenen Mund spielte die Andeutung eines Lächelns, denn: Ein General lächelt, er lacht nicht.

»Sie sind doch Ärztin, gnädige Frau«, fuhr er fort, »und Sie müssen davon etwas verstehen. Es war kein Irrtum. Ich stütze mich hier nicht auf meine eigenen Beobachtungen, sondern auf korrekte wissenschaftliche Analysen bekannter Sachverständiger. Ich selbst bin in diesen Fragen ein Laie. Wir sind nie leichtfertig, gnädige Frau, das entspricht nicht der Art der deutschen Wehrmacht. Wir haben den Fall Ihres Mannes gewissenhaft geprüft, und das Ergebnis heißt eindeutig – Selbstverstümmelung durch Injizierung von Sta-sta-nnn …«

»Staphylokokken –«, sagte Julia.

»Genau!« Jetzt klang seine Stimme schneidend und abgehackt. Er wandte sich ab und ging zu seinem mächtigen Schreibtisch zurück. Die dunkelroten Streifen an seiner Hose leuchteten auf, als er durch einen Sonnenstrahl schritt, der schräg durch die Gardine ins Zimmer fiel. Hinter dem Schreibtisch blieb er leicht vornübergebeugt stehen und stützte sich mit beiden Fäusten auf die Tischplatte. Julias Blick tastete sich von seinen blaugeäderten, braunbesprenkelten Greisenhänden empor, über den hellgrauen, seidig glänzenden Rock – das EK I. Klasse des Ersten Weltkrieges – rote Spiegel mit goldenem, stilisiertem Eichenlaub – ein finnisches Halskreuz – ein faltiger Hals – ein knöchernes, unbewegliches Gesicht – bis zu den blaßblauen, rotgeäderten Augen unter der zerfurchten Stirn und weißen, einer stachligen Bürste ähnlichen Haaren.

Sie sah in seine Augen und sagte:

»Gerade weil ich Ärztin bin und ihm bei seiner Arbeit geholfen habe, weiß ich, daß Sie unrecht haben. Was er getan hat, würde so bald kein zweiter tun. Er wollte anderen helfen, deshalb hat er einen Selbstversuch gemacht. Das ist die Wahrheit. Aber dann – dann wurde er wie ein Verbrecher eingesperrt und verurteilt. Deshalb habe ich ein Gnadengesuch eingereicht.«

»Es hätte schlimmer sein können«, sagte der General ungeduldig. »Hören Sie zu, Frau Dr. Deutschmann: Ihr Mann war ein hinreichend bekannter Wissenschaftler. Deshalb haben wir ihn vom Wehrdienst zurückgestellt, solange es ging. Dann ging es nicht mehr, und er hätte einrücken müssen. Er tat es nicht, sondern infizierte sich mit dieser – eh – Krankheit. Das ist eindeutig Selbstverstümmelung. Und was seine Verurteilung zum Dienst in einem Strafbataillon angeht – es ist eine Einheit der deutschen Wehrmacht. Er muß sich bei dieser Spezialtruppe bewähren, dann wird er in eine andere Einheit kommen. Die Sache ist also für ihn sehr, ich muß schon sagen: sehr glimpflich abgelaufen.«

»Ich habe gehört«, begann Julia wieder, obwohl sie wußte, daß ihre Worte und alles, was sie sagen konnte, an diesem Mann abprallen würden wie ein Ball an der Wand, »ich habe gehört, daß dieses Bataillon 999 …«

»Was haben Sie gehört?« unterbrach sie der General.

»Daß die Leute dort sehr schlecht – wie Verbrecher –«

Der General hob gebieterisch die Hand. »Er ist Soldat«, sagte er kalt. »Sie sollen diesen Gerüchten nicht aufsitzen. Bei der Wehrmacht wird nicht gekegelt. Wir haben zu kämpfen. Nicht nur Ihr Mann wird es tun – Millionen andere tun es schon seit Jahren. Das ist alles, was ich dazu zu sagen habe.«

»Ja –«, sagte Julia schwach.

»Sehen Sie. Ihr Gesuch ist gegenstandslos. Bataillon 999 ist eine Truppe. Ob in der oder einer anderen …«

»Ja«, sagte Julia.

»Na also«, schloß der General, klappte einen Aktendeckel zu, sah auf und lächelte wieder.

Julia ging. Es war umsonst. Sie stand draußen vor der großen Eichentür und stützte sich auf das Fensterbrett. Ob im Bataillon 999 oder in einer anderen Einheit –, dachte sie, er ist Soldat, Millionen andere auch, Strafbataillon, er muß sich bewähren, wenn er sich bewährt, dann –, Ernsti, dachte sie, Ernsti …! Und all die unendlich langen Wochen ihrer Verzweiflung und unnützen Hoffnung und des nutzlosen Kampfes um ihn, die endlosen bangen Nächte, der Prozeß, die Verurteilung, der Versuch zu einer Revision, das vergebliche Ankämpfen gegen Menschen, die ihn verurteilt hatten und gegen die genausowenig anzukommen war wie gegen den General – einer nachgiebigen, undurchdringlichen Gummiwand ähnlich, Angst, Furcht, versteckte Andeutungen oder brutale, harte Worte, und jetzt die endgültig vernichtete, letzte Hoffnung: all dies stürzte über sie zusammen, begrub sie unter sich wie eine Lawine dunklen Schnees. Sie sah mit großen, verstörten Augen um sich, ohne etwas zu sehen, sie verstand nichts mehr – was war es nur, was war es, was hatte der General gesagt?

Als der junge Leutnant mit dem eifrigen Milchgesicht stiefelknarrend und leise vor sich hinpfeifend über die Treppe gelaufen kam, blieb er plötzlich wie angenagelt stehen. Sein Pfeifen erstarb, aber seine Lippen blieben noch eine ganze Weile zugespitzt. Mit erschrockenen, weit offenen Augen starrte er auf das Bündel Mensch, das vor der Tür des Generalzimmers lag. Dann begann er zu laufen: zögernd zuerst und dann immer schneller.

Julia lag ohnmächtig auf dem steinernen Boden. Zwischen ihren halboffenen Lippen hingen Fetzen eines zerbissenen Taschentuches.

Am Stadtrand Posens, nach Kostrzyn hin, lag das Lager ›Friedrichslust‹: der einstweilige Stammsitz des Strafbatallions 999. Wer dieser Ansammlung von massiven, langweilig-nüchternen Steinbaracken im schwermütig-kahlen Land den poetischen, nach licht-heiteren Wäldern, Waldhörnern, kläffenden Hundemeuten und barocken Jagdgesellschaften klingenden Namen gab, wußte niemand mehr. Aber so stand es geschrieben an einem schon etwas verwitterten Schild neben der Wachbaracke und dem Schlagbaum, der nach alter Sitte den Eingang des Lagers von der Außenwelt abtrennte.

Herbst. Aus einem grauverhangenen, schweren Himmel nieselte es langsam und stetig.

Zur gleichen Zeit, als sich in Berlin, viele, viele Kilometer von hier entfernt, der junge Leutnant über die ohnmächtige Julia beugte, empfing der Spieß und somit die Mutter der II. Kompanie des Strafbataillons 999, Oberfeldwebel Krüll, von allen ›Krüllschnitt‹ genannt, am Schlagbaum die Neuankömmlinge. Oder er tat das, was er gemeinhin ›einen würdigen Empfang‹ nannte, und was fast immer gleich aussah.

Zuerst verabschiedete er sich mit einem lässigen Gruß von den Feldgendarmen, die die Neuankömmlinge hierhergebracht hatten, als wollte er ihnen zu verstehen geben: Habt keine Bange, ich pass' schon auf, ich bin da, und wo ich bin, da geht's diesen Burschen genauso, wie sie's verdienen.

Vor dem Wachgebäude ließ er dann die vier Männer der Größe nach in einer Reihe antreten und betrachtete sie mit zusammengekniffenen Augen unter der leicht schief aufgesetzten Schildmütze, lange und eingehend: von links nach rechts, vom größten bis zum kleinsten, von oben bis unten und wieder nach oben. Was er sah, schien ihn zu betrüben: sein breites, fleischiges Gesicht bekam Kummerfalten wie ein Baby, kurz bevor es losheult, die dicke Unterlippe schob er vor, und mehrmals nickte er, als hätte er sich seine Erwartungen genau bestätigt.

»Sie heißen?« fragte er den längsten links in der Reihe.

»Gottfried von Bartlitz«, sagte der grauhaarige Mann mit den müden, tief in den Höhlen liegenden Augen und den tiefen Falten von den Nasenflügeln bis zu den Winkeln der schmalen, blutleeren Lippen. Seine viel zu weite, abgetragene Uniformjacke war durchnäßt, Regenwasser lief ihm über das Gesicht.

»Aha«, sagte Krüll. »Ein von. General, was?«

»Schütze«, sagte der große Mann.

»Und ich bin auch ein Schütze, was?« fragte der Oberfeldwebel sanft.

»Nein. Sie sind Oberfeldwebel.«

»Jawohl. Ich bin ein Oberfeldwebel und noch dazu Ihre Mutter. Gerade geworden. Und was sind Sie? Wie heißen Sie?« Das letzte brüllte er mit weit offenem Mund, vorgebeugt, mit Händen in die Hüften gestemmt, der Schall seiner Stimme zerriß die graue, schwere Luft und brach sich an den langen Barackenwänden jenseits des großen, weiten und naß glänzenden Hofes.

»Schütze Gottfried von Bartlitz, Herr Oberfeldwebel«, sagte der große Mann mit unbewegtem Gesicht.

»Hinlegen!« sagte Krüll, jetzt wieder leise; vielmehr, er sagte es nicht, er stieß das Wort hervor, als spucke er es aus, als schoß es gleichsam in den anderen, und als sich der große Mann hingelegt hatte, ging er schweigend um ihn herum und drückte mit den Füßen seine Absätze herunter in eine Pfütze, betrachtete eine Weile den Liegenden, ging rund um die drei übrigen und baute sich dann mit einer scharfen Kehrtwendung wieder vor ihnen auf.

»Und Sie?« fragte er den zweiten.

»Schütze Ernst Deutschmann, Herr Oberfeldwebel.«

»Beruf?«

Deutschmann zögerte. »Arzt, Herr Oberfeldwebel.«

»Doktor, was?«

»Jawohl, Herr Oberfeldwebel!«

Oberfeldwebel Krüll starrte den hageren Mann mit der hohen Stirn, gelblich-fahlem Gesicht und unruhigen, gehetzten Augen an, zog hoch, spuckte seitwärts aus und sagte schließlich: »Heiliger Bimbam, was muß ich auf meine alten Tage hören! Von Beruf Doktor!« Er schüttelte mit dem Kopf. Und dann brüllte er; er brüllte immer, bevor er ›Hinlegen‹ befahl: »Entweder Doktor oder Schütze, aber jetzt sind Sie Schütze. Von Beruf und Berufung! Hinlegen!«

Schütze Ernst Deutschmann, Doktor der Medizin, Biochemiker, Privatdozent an der Berliner Universität, anerkannter Privatgelehrter und Verfasser einiger beachteter Artikel in den medizinischen Fachzeitschriften, legte sich hin und drückte dabei die Fersen nach innen zu Boden. »Schütze Doktor –!« hörte er die Stimme des Oberfeldwebels noch einmal sagen. Und dann hörte er den dritten in der Reihe:

»Schütze Erich Wiedeck, Herr Oberfeldwebel!«

Dann sagte der Oberfeldwebel etwas, brüllte wieder, aber Deutschmann verstand nicht, was er brüllte; er lag mit dem Gesicht auf den Armen, es war ihm übel, der Regen stach ihm kalt in den Nacken, trommelte sanft auf seinen Rücken, er fröstelte, aber zugleich war es ihm auch heiß, vor seinen Augen lag ein rundes, nasses Steinchen, und eine kleine, nasse, verlorene Ameise kletterte darüber, verharrte, drehte sich herum, lief zurück, und er dachte: Es wird noch eine Weile dauern, bis ich gesund bin.

Und dann hörte er, wie sich der dritte Mann neben ihm hinlegte.

Oberfeldwebel Krüll stand jetzt vor dem vierten. Dieser war mittelgroß und genauso breit wie der Oberfeldwebel. Doch was bei Krüll Fett war, waren bei ihm dicke, schwellende Muskeln, die bei jeder seiner Bewegungen wie von eigenem Leben erfüllt unter dem knappen, geflickten, naß anklebenden Uniformrock spielten. Der mächtige Brustkorb spannte sich weit über den eingefallenen Bauch und stämmigen, dicken O-Beinen. Der Mann schien wie aus einem Felsblock grob herausgehauen zu sein, und sein Gesicht war wie ein plumper Lehmklumpen: eine niedrige Stirn unter dem kurzgeschorenen, schwarzen Haar, eine plattgeschlagene Nase und das Kinn eines Totschlägers. Er grinste. Doch nur sein Mund grinste; die etwas schrägstehenden dunklen Augen waren leblos und stumpf wie zwei Glaskugeln.

»Meine Fresse – hast du eine Visage!« sagte Krüll.

»Hab' auch schon 'ne Schönheitskonkurrenz gewonnen – gleich nach Ihnen«, sagte der andere, »im übrigen heiße ich Karl Schwanecke, habe Schweißfüße, und Sie sind der Spieß, und jetzt leg' ich mich auch gleich hin.« Er machte Anstalten sich neben die anderen hinzulegen, doch der verblüffte, ratlose Krüll schrie ihn an, er solle stehen bleiben. So blieb Karl Schwanecke stehen und grinste den Oberfeldwebel an, der lange nichts sagte.

Weiß Gott, was Krüll in diesen Sekunden dachte. Wahrscheinlich gar nichts; sein Gehirn war wie gelähmt. Etwas Ähnliches hatte er noch nie erlebt. Wohl gab es manchen widerspenstigen Kerl in diesem verfluchten Bataillon, 'ne Menge Intelligenzler und Brillenträger, und auch manchen Kriminellen, der hierher abgeschoben wurde. Aber keiner wagte, ihm, Oberfeldwebel Krüll, so etwas – so etwas –, Schweißfüße, dachte er, und wußte nicht, was er tun sollte. So fing er brüllend zu fluchen an. Das war der beste Ausweg, und wenn man es lange genug tat, fiel einem fast immer etwas Vernünftiges ein.

Es gibt 'ne Menge Flüche, die ein altgedienter, aktiver Oberfeldwebel lernen konnte, und Krüll hatte immer ein offenes Ohr und ein gutes Gedächtnis gehabt. Außerdem besaß er in dieser Hinsicht so etwas wie eine schöpferische Ader und eine mächtige Stimme, die seinen Neuschöpfungen den nötigen Nachdruck verlieh. Dies, in Verbindung mit seinem Eifer und seiner unnachgiebigen, zielstrebigen Schärfe, war weithin berühmt und ließ ihn schließlich im Strafbataillon landen: wenn überhaupt jemand, so wird dieser Mann mit den Volksschädlingen und solchen Elementen dort fertig werden. Tatsächlich, er hatte es im kleinen Finger.

Aber nun ließ ihn sein kleiner Finger im Stich, und das Gehirn hatte er kaum zu gebrauchen gelernt. Menschen wie Schwanecke hatte man bis zu diesen Tagen des totalen Krieges kaum in eine Uniform gesteckt. Man sperrte sie in ein Zuchthaus ein, oder man brachte sie um, je nachdem. Er, der Erfahrene, war jetzt hilflos, und weil er hilflos war, brüllte er und fluchte: mit einem puterroten Gesicht, weit offenem Mund und hervorquellenden, halbgeschlossenen Augen. Seine brüllende Stimme füllte jeden Winkel des weiten Platzes aus und duckte das schläfrige, dumpfe Leben in der Kaserne bis zum völligen Stillstand. Nur Karl Schwanecke lebte weiter in seinem breiten, unverschämten Grinsen, und als Krüll eine Atempause einlegte, breitete sich mit einem Schlag lähmende, fast hörbare Stille aus, hörbar durch das Gluckern des Wassers und durch das hierhergewehte Lied marschierender Soldaten, das von irgendwoher aus der regenverhangenen Landschaft kam.

Dieses hierhergewehte Lied war Krülls Ausweg.

Mit der verblüffenden Fähigkeit altgedienter Soldaten, ab- oder umzuschalten, brach er die Schimpfkanonade ab, sah auf seine Armbanduhr, verglich sie mit der Uhr auf der Wachbaracke, nickte, befahl dem immer noch grinsenden Schwanecke das übliche Hinlegen und stakste dann zum Schlagbaum.

Die vier Neuankömmlinge ließ er liegen: in einer kurzen, schiefen, durchnäßten Reihe, von dem Längsten bis zu dem Kleinsten, vom Schützen Gottfried von Bartlitz bis zum Schützen Karl Schwanecke.

Das war Dr. Ernst Deutschmanns Ankunft im Strafbataillon 999: Er lag auf dem Gesicht, oder auf der Schnauze in der üblichen Umgangssprache, verfolgte mit dem Blick die umherirrende, nasse Ameise, über seinen Körper liefen lange Frostschauer, er kämpfte gegen die Übelkeit an, und er horchte auf den Marschgesang, der langsam und stetig näherkam und immer lauter wurde.

Sie marschierten durch den Regen und sangen.

Unteroffizier Peter Hefe, genannt ›der Gärende‹, stampfte vor ihnen her, verbissen, naß, dreckig, wütend, durch den gleichen Dreck stampfen zu müssen wie die Männer hinter ihm.

Die Straße zog sich lang hin. Sie führte durch die Niederungen der Warthe, durch abgeerntete Kornfelder, vorbei an traurigen Birken und melancholischen Buchen. Der graubraune Fluß rann träge zwischen den sandigen Ufern.

Sie waren müde, und es war keine Zeit zum Singen. Aber sie taten es, weil es ›der Gärende‹ befohlen hatte: marschierende und singende graue Schemen in einer grauen Landschaft unter einem grauen Himmel, mit nassen Gesichtern und aufgerissenen schwarzen Mündern, aus denen sich müde die Lieder vom Heideröslein, dem Edelweiß, den rollenden Panzern und morschen Knochen lösten und sich wie der Regen, der vom Himmel nieselte, auf die traurige, nasse Landschaft senkten.

153 Mann.

»Kompanie – halt!« brüllte Peter Hefe. Er scherte nach links aus und blickte auf die müden, knochigen, verdreckten Männer, die ihn teilnahmslos anstierten und froh waren, nicht mehr singen zu müssen. Ein trauriger Verein, meine Fresse!

»Hört mal zu, ihr Oberpfeifen!«, sagte er mit kratzender, heiserer Stimme, »hört mal zu, ihr singt wie verliebte Waschweiber beim Mondschein. Wenn ich noch mal höre, daß einige aus dem Takt kommen, wenn sie nicht zufällig pennen, machen wir den ganzen Weg im Laufschritt wieder zurück, verstanden?« Er sagte es, aber er meinte es nicht ernst. Keine zehn Pferde würden ihn den langweiligen Weg zurückbringen. Im übrigen war es auch schon ziemlich spät, und deshalb überhörte er auch das müde »Jawohl« aus etwa zwanzig von 153 Kehlen.

»Na also«, sagte er. »In einer Viertelstunde marschieren wir ins Lager ein – daß mir das zackig geht! Der Kommandeur ist da, macht mir also keinen Kummer! Verstanden?«

»Jawohl!«

»Also denn – ein Lied! Es ist so schön, Soldat zu sein! Singt es mit Wonne, meine Lieben! Mit Wonne und Gefühl!«

Sie marschierten wieder, sie sangen, die Warthe rann träge durch den Sand, links und rechts standen triefende Birken und Buchen.

So marschierten sie ins Lager ein, wo sie von Oberfeldwebel Krüll bereits erwartet wurden.

An diesem späten Nachmittag erfand Krüll seine neue Masche, die er später ›Die Kunst des Überrollens‹ nannte.

Er war wütend, das heißt, sein permanenter Wutzustand hatte wegen Karl Schwanecke und wegen der Verspätung der anmarschierenden Kolonne einen neuen Gipfel erreicht. Sieben Minuten über die Zeit! Und der Kommandeur stand womöglich am Fenster, schaute auf die Uhr und grinste auf seine hinterhältige Art.

Ich werde euch –! dachte Krüll, ich werde euch …! Weiter dachte er nicht, nur sein kleiner Finger, wo er das alles hatte, was ein ausgekochter Spieß wissen mußte, arbeitete unablässig.

Der Schlagbaum ging hoch, die Kompanie schwenkte links ein, Unteroffizier Peter Hefe kommandierte mit heller, im Anblick des Kasernenhofes und des breitbeinig, mit in die Hüften gestemmten Fäusten dastehenden Oberfeldwebels wie erneuerter Stimme. Doch genau auf dem Wege der Marschkolonne lagen die vier Neuankömmlinge auf dem Bauch und blickten mit seitwärts gekehrten Gesichtern den Marschierenden entgegen.

Peter Hefe sah es, obwohl etwas spät, und kommandierte Rechtsschwenken, um den Liegenden auszuweichen. In der Kolonne entstand eine leichte Verwirrung.

In diesem Augenblick fiel beim Oberfeldwebel Krüll die Klappe.

»Geradeaus –!« brüllte er. Dadurch wurde die Verwirrung nur noch größer. Aber schließlich schaltete auch Peter Hefe. Er übersah die Situation, er wußte, was Krüll bezweckte, und seine Aufgabe war es nicht, etwas anderes zu bezwecken. Seine laute Kommandostimme schallte über den Hof, und die Dreierkolonne, 153 Mann, aufgeteilt in vier Züge, marschierte über die Liegenden und sang dazu ein Lied.

Krüll wußte, daß er damit nichts riskierte. Die Abstände zwischen den Liegenden waren zwar knapp, aber nicht zu knapp. Wenn man vorsichtig auftrat, konnte man den Fuß zwischen sie setzen – auch wenn er in einem übergroßen Knobelbecher steckte. Außerdem wußte er, daß die Marschierenden genausowenig auf die Liegenden treten werden wie ein Pferd, wenn es über einen Menschen galoppiert, der auf dem Boden liegt … Aber – es war eine hübsche, eine neue Sache, ein Vorgeschmack für Neuankömmlinge, eine Warnung und eine Strafe im Vorschuß zugleich. Infolge hatte er diese Methode weiter vervollkommnet und manchmal die restliche Kompanie über einen liegenden Zug marschieren lassen, streng darauf achtend, daß die Marschierenden nicht aus dem Gleichschritt kamen; da dies fast unmöglich war und die Kolonnen regelmäßig ins Stolpern kamen, hatte er eine gute Handhabe zu immer neuen Übungen.

Die Einrückenden waren müde und teilnahmslos. Viele verstanden nicht, um was es ging. Viele waren zu müde, um die Füße höher als zehn Zentimeter über den Boden zu heben, und meistens sahen sie die Liegenden erst ziemlich spät.

So kam es, daß bei dieser Begrüßungsszene durch Oberfeldwebel Krüll alle vier einige schmerzhafte, blaue Flecke davontrugen, und der erste, Schütze Gottfried von Bartlitz, einen zerquetschten Finger, weil er die Hand zu spät wegzog.

Der Bataillonskommandeur, Hauptmann Barth, stand am Fenster der Schreibstubenbaracke und blickte auf dieses Schauspiel. Als die letzten über die Liegenden schritten und die flach dahingestreckten, von oben bis unten verdreckten Gestalten wieder sichtbar wurden, wandte er sich um.

»Ihre Kompanie, Obermeier?« fragte er den Oberleutnant, der hinter ihm stand.

Der Oberleutnant nickte. »Sie kommt vom Arbeitseinsatz zurück. Sandgruben. Kein Vergnügen, bei diesem Sauwetter!«

»Ein scharfer Hund, der Krüll«, sagte der Hauptmann und sah wieder hinaus. Und als der Oberleutnant hinter ihm nichts antwortete, fuhr er fort: »Genau der Richtige für uns.«

»Na, ich weiß nicht, Herr Hauptmann«, sagte der Oberleutnant.

Die Kompanie stand jetzt mitten auf dem Hof vor Oberfeldwebel Krüll. Peter Hefe machte seine Meldung, aber Krüll überhörte sie, gemütlich den 153 Männern zunickend. Dann schob er den Daumen zwischen den dritten und vierten Knopf seiner Uniformbluse und begann eine seiner alltäglichen Begrüßungsreden, wo er von Picknick in freier Natur sprach, von Steinchen, die sie wahrscheinlich über die Warthe haben hüpfen lassen, da sie zu spät kamen, von diesem und jenem – und im Grunde unterschied sich seine Ansprache kaum von Tausenden anderer Ansprachen, die um diese Zeit auf den Kasernenhöfen fast ganz Europas gehalten wurden, von anderen Spießen an andere Soldaten, Rekruten und Altgediente. Der einzige Unterschied war der, daß es hier Männer eines Strafbataillons waren, die zuhörten – das heißt: die meisten hörten gar nicht zu.

Oberflächlich gesehen, war dieser Unterschied nicht so gewaltig. Ein Strafbataillon war zwar eine Einheit, die aus lauter Todeskandidaten bestand, genauer – aus etwa 95 bis 98 Prozent Todeskandidaten. Aber Todeskandidaten waren in dieser Zeit ja fast alle Uniformierten, auch wenn die Verlustquoten bei anderen Einheiten nicht so groß waren, obschon sie manchmal die der Strafbataillone fast erreichten. Der Unterschied bestand in den Uniformen, in der Verpflegung, vor allem aber in dem, was vor dem Tode kam: dem Unmaß von Erniedrigung, geistiger und körperlicher Vergewaltigung, Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung.

Als Krüll mit seiner Ansprache fertig war, jagte er die ausgepumpten Männer zweimal bis an die hintere Mauer, ließ sie einmal hinlegen und befahl ihnen schließlich abzutreten. Die vier Neuen ließ er immer noch liegen.

»Jetzt prügeln sie sich um die Wasserhähne«, sagte der Oberleutnant.

»Wieso?« fragte Hauptmann Barth. »Draußen regnet's ja.«

»Ich habe einmal zugesehen. Zehn Stunden lang ohne Trinkwasser schuften und dann noch singen, na, ich danke!«

»Aber Obermeier!« sagte der Hauptmann spöttisch, steckte sich eine Zigarette an und legte das Etui offen auf den Tisch, damit sich der andere bedienen konnte. »Ich dachte, ich treffe hier einen fröhlichen Kasino-Kameraden, wie Sie es früher einmal waren – und dabei stehen Sie herum wie ein nasser Regenschirm. In Witebsk waren Sie anders.«

»Das ist es ja, Herr Hauptmann. Dort, an der Front, war ich am Platze – aber das hier? Ich bin ein Offizier und kein Gefängniswärter.« Er nahm sich eine Zigarette aus dem Etui und steckte sie sich mit leicht zitternden Fingern an. Der Hauptmann sah ihm dabei neugierig zu.

»Tun Ihnen die Kerle leid?«

»Ihnen nicht, Herr Hauptmann?«

»Wieso?« Der Hauptmann legte den Kopf auf die Seite. »Es ist keiner unter ihnen, der nicht rechtskräftig verurteilt wurde.«

Fritz Obermeier zerdrückte die kaum angerauchte Zigarette in dem großen Aschenbecher. »Sie haben meine Kompanie gesehen, Herr Hauptmann«, sagte er. »Hundertdreiundfünfzig hin- und hergejagte Leichen, die vom Oberfeldwebel Krüll schnell noch einmal fertiggemacht werden, weil sie sieben Minuten zu spät gekommen sind. Rechtskräftig verurteilt! Der kleine Schmächtige, in der ersten Reihe zum Beispiel, Oberstleutnant Remberg, Ritterkreuzträger, stand als einer der ersten vor Moskau. Bei einer Lagebesprechung sagte er etwas, daß wir uns in den russischen Weiten totlaufen und ausbluten werden. Er sagte, daß wir aufhören müßten, solange es noch geht, weil es sonst eine Katastrophe gibt. Jetzt ist er hier. ›Ich kann da nicht mehr mitmachen, ich bin kein Schlachter‹ hatte er gesagt, und das Hauptquartier reagierte sauer. Jetzt schippt er Sand.«

»Er wollte ja – kein Schlächter sein, jetzt ist er – Sandschipper«, sagte der Hauptmann. »Besser Sandschipper als tot, oder?«

Doch der Oberleutnant beachtete seinen Vorgesetzten nicht. »Oder der Ausgemergelte mit der großen Glatze und Brille. Dort geht er über den Hof – sehen Sie?«

»Was ist mit dem?« fragte der Hauptmann.

»Professor Dr. Ewald Puttkamer. Major der Reserve. Er hatte gesagt, daß das braune Hemd die neue Kluft und Berufskleidung der Totengräber sei.«

»Nicht schlecht«, grinste der Hauptmann.

»Es gibt noch eine Menge solcher Menschen hier. Aber das wissen Sie ja selbst.«

»Aber auch Kriminelle, nicht?«

»Auch die.«

»Und was soll das alles?« fragte der Hauptmann.

»Ich glaube kaum, daß es die Aufgabe eines deutschen Offiziers ist, die Aufgaben eines Gefängnisaufsehers zu übernehmen.«

Hauptmann Barth lächelte. Er setzte sich in den einzigen Sessel und blies den Rauch seiner Zigarette gegen die niedrige Barackendecke. Vom Appellplatz her, durch das geschlossene Fenster hindurch, hörte man Krülls Geschrei; der Oberfeldwebel war auf dem Wege zur Essenausgabe.

»Scheußlich«, sagte Obermeier.

»Ach was!« sprach der Hauptmann gemütlich. »Der Krieg ist scheußlich. Und der Frieden ist noch scheußlicher, weil wir Soldaten dann überflüssig sind. Sie müssen gleichgültiger sein, mein Lieber, viel gleichgültiger. Dann haben Sie vielleicht eine Chance zum Überleben. Dann kümmert Sie nicht mehr, ob ein Oberstleutnant und Ritterkreuzträger oder ein siebenkluger Professor und andere solche Helden von Krüllschnitt gegen die Mauer gejagt werden und – wie haben Sie das gesagt? – aussehen wie herumgetriebene Leichen. So war's doch?«

Der Oberleutnant nickte.

Hauptmann Barth erhob sich schwerfällig, gähnte, reckte seine breite, große Gestalt und drückte den verschobenen Ledergürtel gerade. Dann blickte er auf die kleine goldene Uhr an seinem Handgelenk und gähnte noch einmal, ohne die Hand vor den Mund zu nehmen. Ein weißes Leinenarmband hielt die Uhr fest, und man erzählte, daß Barth dieses Armband jeden Tag gegen ein neues, reinweißes und steif gestärktes auswechselte. Vielleicht stimmte es auch, obwohl dies irgendwie zu diesem großen, starken Mann nicht passen wollte – eher zu dem Kompanieführer der ersten Kompanie und Frauenliebling, Oberleutnant Wernher.

Als er wieder aufblickte, sah er Obermeier in strammer, dienstlicher Haltung vor sich stehen.

»Ich bitte Herrn Hauptmann, meine Versetzung zur Fronttruppe zu beantragen!«

»Ach nee –!« sagte der Hauptmann mokant. »Sieh mal an, ein Held! Hätten Sie noch eine Minute gewartet, dann hätten Sie sich dieses altgermanische Heldenepos ersparen können.« Er griff umständlich in die Tasche, zog einen schriftlichen Befehl heraus und legte ihn zu den Akten, die einen Teil des Schreibtisches bedeckten.

»Ihre Kompanie, die zweite vom Bataillon 999, rückt in den nächsten Tagen nach Rußland ab.«

»Rußland?«

»So ist es. In Abständen von zwei Tagen folgen die restlichen Kompanien. Ich komme mit der letzten, das ist mit der ersten des Bataillons, nach. Zufrieden?«

»Nein, Herr Hauptmann!«

»Noch immer nicht? Zum Donnerwetter, was wollen Sie noch?«

»Eine ordentliche Truppe. Was soll ich mit diesen Halbtoten in Rußland anfangen? Sollen wir mit Wracks Krieg führen und gewinnen?«

»Gewinnen? Obermeier, Sie dummer Junge!« Barth lächelte überdrüssig. »Na, so oder so: wir bekommen eine wunderhübsche Aufgabe. Sie werden Ihren ganzen Heldenmut beweisen können. Eine Aufgabe mit Termin, bis da und da fertig sein – sonst Kriegsgericht. Nicht nur das langweilige, blödsinnige Schanzen, Minenaufräumen, Bombenentschärfen, Gräbenentwässern, Munitionsschleppen, Straßenbauen, Kadaverwegräumen …«

»Und – was soll diese wunderhübsche Aufgabe sein?«

»Sie werden es rechtzeitig erfahren.« Barth trat ans Fenster und sah hinaus. Auf dem Appellplatz jagte Krüll einen Landser hin und her wie einen Hasen, der das Hakenschlagen üben soll.

»Und wer ist dieser da? Sie kennen doch die Lebensgeschichten Ihrer Leute.«

»Oberleutnant Stubnitz«, sagte Obermeier.

»Schütze Stubnitz«, verbesserte ihn der Hauptmann. »Was hat er angestellt?«

»In Dortmund ein Schnapsglas gegen das Führerbild geworfen und ›Prost August!‹ gerufen.«

»Idiot!« sagte der Hauptmann.

»Er war betrunken«, sagte der Oberleutnant.

»Also ein betrunkener Idiot. Warum greifen Sie nicht ein? Warum jagen Sie Krüllschnitt nicht zum Teufel? Sie könnten gegen ihn einen Tatbericht wegen Mißhandlung der Truppe machen.«

»Und was würde dabei herauskommen? Eine kurze Verhandlung. Frage: Welche Truppe? Antwort: Strafbataillon 999. Was haben Sie gemacht, Oberfeldwebel? Ich habe einen aufsässigen Soldaten im erlaubten Rahmen auf seine unrichtige Handlung aufmerksam gemacht. Gut so, Oberfeldwebel, machen Sie weiter! Der Blamierte wäre ich.«

»Stimmt, Sie Schwärmer«, sagte der Hauptmann. »Sie sind gar nicht so dumm. Na, jetzt wird's ja besser, wenn wir nach Rußland kommen. Bald werden Sie von all Ihren Sorgen und tiefsinnigen Gedanken befreit sein.«

»Wieso?«

»Weil Sie –«, sprach der Hauptmann langsam und betonte jedes Wort, als müßte er es an die Wand nageln, »– weil Sie dort nach einigen Wochen keine Kompanie mehr haben werden.«

Schweigen. Und dann, als wollte der Hauptmann den Eindruck seiner Worte besänftigen und die Schatten einer blutigen, gespenstischen Zukunft verjagen, die sich im Zimmer auszubreiten begannen: »Die vier Leute, die dort im Dreck liegen, gehören Ihnen. Das ist Ihr Ersatz. Interessante Leutchen – genau das Richtige für Ihre Sammlung. Der erste heißt« – Barth ging zum Schreibtisch und klappte einen Aktendeckel auf, den er mitgebracht hatte – »Gottfried von Bartlitz, ehemals Oberst und Eichenlaubträger, Divisionskommandeur, nun Schütze. Nach Stalingrad hatte er den Mund zu voll genommen, aber das Rückgrat hat ihm die Sache mit dem Rückzugsbefehl gebrochen – auch er wollte angeblich kein Schlächter sein. Der zweite heißt Erich Wiedeck. Ehemals Obergefreiter, ein Bauer aus Pommern, hat seinen Urlaub verlängert, weil er die Ernte einbringen wollte. Behauptet er. Dritter Karl Schwanecke, ehemals Werftarbeiter, aber nur ab und zu. Sonst hauptberuflich Gewohnheitsverbrecher und sozusagen ein Untermensch. Und der vierte, Dr. Ernst Deutschmann – ein bezeichnender Name, was? – Selbstverstümmelung. Sehr raffiniert ausgeklügelt, ging aber trotzdem schief. Das wär's. Was haben Sie, Obermeier?«

»Wie – wie heißt der erste?« fragte der Oberleutnant stockend.

»Wieso – kennen Sie ihn?«

»Wie heißt er?«

»Gottfried von Bartlitz. Kennen Sie ihn?«

Der Oberleutnant nickte. »Er war früher einmal mein Bataillonskommandeur«, sagte er schwer.

»Ach – nee! Ist ja interessant.« Der Hauptmann ging wieder zum Fenster und sah hinaus, als hätte er noch nicht genug von dem Anblick des umherstolzierenden und brüllenden Krüll. »Sehen Sie, so ist das«, sprach er halblaut, ohne den Oberleutnant anzusehen, »gestern hoch oben, heute unten und morgen ganz tief unten. Ich meine – unter der Erde. Bleiben Sie oben, Obermeier, das ist wichtig. Das ist das wichtigste: immer oben bleiben, versuchen Sie, höher zu klettern, aber nicht zu hoch. Und vergessen Sie, was diese Leute früher einmal waren. Vergessen Sie es, sonst kann Ihnen einmal das gleiche passieren. Diese Menschen haben keine Vergangenheit mehr, Sie sind Schützen in einem Strafbataillon. Schützen ohne Gewehre. Die Ehre, Waffen zu tragen, haben sie sich verscherzt. Es bleibt ihnen nur noch die Ehre, sterben zu dürfen. Schützen im Strafbataillon 999«, sagte er langsam, als müßte er jeden Buchstaben einzeln auskosten. Mit einer schnellen, abrupten Bewegung steckte er die Hände in die Hosentaschen und zog die Schultern hoch. »Überleben«, sagte er, »oben bleiben, kein Idiot sein. Haben Sie etwas zu trinken?«

»Hennessy?« fragte der Oberleutnant.

»Her damit!« sagte der Hauptmann.

Die Hoffnung ist ein Stehaufmännchen. Auch in der dunkelsten Verzweiflung finden wir plötzlich ein Körnchen Hoffnung, verborgen zuerst, doch dann wachsend und größer werdend, einem sich ausbreitenden, immer helleren Sonnenstrahl ähnlich. Es stimmt wohl: Oft ist es eine falsche Hoffnung, trügerisch und unwirklich, an die wir uns klammern; sie ist erwachsen aus unseren brennenden Wünschen und Vorstellungen, die nichts mit der Wirklichkeit zu tun haben. Aber darauf kommt es nicht an: Wir werden stärker durch sie, sie hilft uns, uns selber und unsere Resignation zu überwinden, und läßt uns schließlich, zerstört und unerfüllt, einen Ausweg erkennen oder erahnen – das Körnchen einer neuen Hoffnung.

So erging es auch Julia Deutschmann.

Der Hoffnungsstrahl, den sie nach der demütigenden, vergeblichen Unterredung mit General von Frankenstein zu sehen glaubte, hieß Dr. Albert Kukill.

Seltsam genug: Dr. Kukill war der Sachverständige im Prozeß gegen Ernst. Der Mann mit einem eiskalten Intellekt, dessen Urteile messerscharf und endgültig waren und in allen Prozessen als unfehlbar galten. Wäre Dr. Kukill nicht gewesen, wäre Ernst kaum verurteilt worden. Der General hatte gesagt: »Ich selbst bin in diesen Sachen ein Laie und stütze mich auf korrekte, wissenschaftliche Analysen bekannter Sachverständiger.« Also gab es keinen anderen Weg, als diese Sachverständigen zu überzeugen, daß sie unrecht hatten, dachte Julia. Genaugenommen – einen Sachverständigen: Dr. Kukill.

Wenn Dr. Kukill zugab, daß er sich geirrt hatte, dann gab es doch noch eine Revision des Urteils, dann gab es kein Strafbataillon 999 mehr für Ernst.

Sie wußte, daß ihre Aufgabe nicht leicht war. Sie war selbst Ärztin und kannte viele Kollegen – aber verschwindend wenige waren darunter, die bereit gewesen wären, einen Fehler zuzugeben. Dr. Kukill schien nicht einer von ihnen zu sein. Aber vielleicht, wenn sie es richtig machte, wenn sie die richtigen Worte wählte, wenn sie klug vorging – ja, es war die einzige Möglichkeit, die übrigblieb, wollte sie Ernst helfen.

So kam es, daß sie gegen Abend des gleichen Tages, als sie mit General von Frankenstein gesprochen hatte, vor Dr. Kukills Villa in Berlin-Dahlem stand und ihren ganzen Mut zusammennahm, bevor sie auf die Klingel drückte. Vorher anmelden wollte sie sich nicht; das Dienstmädchen oder die Sekretärin würden mit Sicherheit gesagt haben, Dr. Kukill sei verreist oder sonst was, wenn sie ihren Namen gehört hätten. Sie mußte unverhofft kommen, plötzlich vor ihm stehen, das Gespräch mit ihm erzwingen, ihm keine Frist geben, seinem schiechten Gewissen zu entfliehen.

Nun stand sie vor ihm.

Er trug einen eleganten Zweireiher, sein graues Haar war glatt zurückgekämmt, sein schmales Gesicht zeigte eine entfernte Ähnlichkeit mit einem spähenden Raubvogel. Und seine Augen paßten dazu: Sie waren grau, hart, überlegen.

Er ließ sich seine Überraschung nicht anmerken, als er Julia sah; und wenn er sich ihr gegenüber – oder besser: Ernst, ihrem Mann, gegenüber schuldig fühlte, dann verstand er es zu verbergen. Aber selbst dann: Sah ein Mann so ruhig und überlegen aus, der sich schuldig fühlte?

Julia wurde unsicher.

Er reichte ihr die Hand wie einer guten alten Bekannten. Dabei lächelte er, sein Gesicht verlor mit einem Schlag die Härte und die unnahbare Strenge, und als er sprach, brach aus ihm seine charmante Wiener Art hervor, der betörende Tonfall einer Stimme, die er zu gebrauchen verstand wie ein Instrument: Sie konnte brüllen, eisig dozieren und bezaubernd plaudern.

»Sie wissen, warum ich gekommen bin?« fragte Julia, dankbar für das Dämmerlicht im Vorraum, das ihre zitternden Hände und ihr heißes Gesicht verbergen half. Sie zwang sich zur Ruhe, doch ihre Stimme bebte.

»Ich kann es mir denken, gnädige Frau, oder besser: Kollegin. Wir sind doch Kollegen? Aber kommen Sie, warum stehen wir hier herum? Was es auch ist, was Sie mit mir zu besprechen haben, wir können es uns bequemer machen.« Er öffnete eine dunkle Eichentür und führte sie in den mit zierlichen Möbeln ausgestatteten Salon, der zum Garten hin lag.

Ein großes Glasfenster, beinahe eine Glaswand, ließ den Blick frei in den großen, baumbestandenen, parkähnlichen Garten, der jetzt in die erste Abenddämmerung eingehüllt war. Zwischen Rhododendron und Fliederbüschen lag halb versteckt ein Schwimmbecken.

Dr. Kukill drehte das Licht an und zog die schweren Vorhänge zu. Dann deutete er lächelnd auf einen großen, zitronengelben Sessel: »Bitte, nehmen Sie doch Platz.«

Julia setzte sich. Wie brachte es der Mann nur fertig, unausgesetzt zu lächeln und so ruhig zu erscheinen – obwohl er doch wissen mußte, was sie von ihm wollte?

»Ich möchte mit Ihnen über alles noch einmal sprechen«, begann Julia. Jetzt brauchte sie sich nicht mehr zur Ruhe zu zwingen, sie war ruhig. Der Mann, der aus der Wand einen Bartisch herausklappte, war ihr Gegner. Ein Gegner, den man nur mit kühl rechnendem Verstand besiegen oder in die Enge treiben konnte.

»Ich kann mir nicht vorstellen, welchen Sinn es hätte«, sagte er und drehte sich hin zu ihr. »Aber sagen Sie zuerst – was wollen Sie trinken, einen Kognak? Armagnac 1913? Ich habe ihn für die liebsten Gäste.« Er brachte es tatsächlich fertig, dies ohne eine Spur von Ironie in der Stimme zu sagen.

»Bitte«, sagte Julia.

Dr. Kukill zündete eine Kerze an, wärmte zwei Schwenkgläser über der kleinen flackernden Flamme an und schenkte dann die goldbraune Flüssigkeit ein – etwa fingerbreit voll in jedes Glas. »Es gibt Menschen«, plauderte er währenddessen, »die mir dies alles übelnehmen, das Haus hier oder den Kognak aus dem Jahre 1913, wenn Sie wollen. Es sei keine Zeit dafür, meinen sie. Welche Zeit soll dann dafür sein? Laut Versicherungstabellen beträgt die Lebenserwartung des heutigen Europäers etwa 66 Jahre. Durch den Krieg wird sie einen beachtlichen Fall nach unten machen. Morgen kann es soweit sein – aus für immer. Soll man da das Leben nicht zu würzen versuchen, was meinen Sie?«

»Daran habe ich noch nicht gedacht«, sagte Julia.

»Aber nicht doch! Nicht so bitter!« lächelte er, setzte sich, hob das Glas, betrachtete es prüfend gegen das Licht und sah dann Julia an: »Kommen Sie, trinken wir – auf Ihr Wohl!«

»Ich weiß nicht, was Sie für ein Mensch sind«, begann Julia dann, »vielleicht sehen Sie wirklich nur das hier« – mit der Hand machte sie eine kleine Gebärde, die Kukills Salon, sein Haus, den Garten, den Kognak auf dem Tischchen und seine Worte umfaßte – »vielleicht kümmern Sie sich wirklich nicht darum, was um Sie vorgeht.«

»Kaum«, lächelte Dr. Kukill.

»Aber das andere gibt es auch«, sprach sie weiter, ohne ihn zu beachten. »Gestern gab es einen Luftangriff und viele Tote, und heute wird es wahrscheinlich wieder einen Angriff geben und vielleicht noch mehr Tote, und es gibt Rußland und Italien und immer wieder den Tod, aber auch kleine, scheinbar kleine Sachen, die anderen Menschen das Leben bedeuten – oder das, wofür sie leben.«

»Ihren Mann, das meinen Sie doch?« sagte Dr. Kukill trocken.

»Ja«, antwortete Julia und sah ihn voll an. »Das ist meine Welt. Verstehen Sie mich doch – ich – ich weiß nicht, wohin ich sonst gehen sollte als zu Ihnen. Es war alles eine Verkettung tragischer Umstände.«

»So würde es ein Jurist nennen. Wir wollen einfacher sprechen: Es war ein Irrtum, das wollten Sie doch sagen?«

»Und Sie? Was sagen Sie?«

Dr. Kukill schob die Unterlippe vor und betrachtete sinnend seine schmalen, weißen Hände: »Und wenn es wirklich ein Irrtum gewesen wäre …?«

Julia sprang auf: »Und das – das sagen Sie? Ihr Gutachten hat Ernst den Hals gebrochen, Ihretwegen wurde er verurteilt! Und nun – nun sitzen Sie seelenruhig hier und sagen: Und wenn es wirklich ein Irrtum gewesen wäre?«

»Bitte, beruhigen Sie sich doch! Setzen Sie sich! Mein Gutachten war rein wissenschaftlicher Art. Es war fundiert, es war gerecht, es war nach dem Stand der heutigen Wissenschaft gehalten. Als Sachverständiger vor Gericht können Sie nicht mit Möglichkeiten operieren, mit Annahmen, mit Hypothesen.«

»Wir haben doch gute Ergebnisse erzielt …«

Dr. Kukill hob die Hand leicht an. »Wieviel Versuchsreihen haben Sie durchgeführt?«

»Etwa dreißig.«

»Und dabei wollen Sie von guten Ergebnissen sprechen? Sie als Ärztin? Aber lassen wir das. Wie sieht – oder wie sah die Sache aus?« Er legte die Finger gegeneinander und betrachtete Julia sinnend. Er war nur halb bei diesem Gespräch, das sinnlos war, nutzlos, ermüdend: Ernst Deutschmann war nicht zu helfen. Und einen Augenblick lang dachte er überdrüssig daran, daß er nur seine Zeit vergeude. Aber – sie war hübsch, elegant, gepflegt und mutig. Nein, mehr: Sie war schön. Von ihr ging ein eigentümlicher Zauber aus, wie man ihn bei einer schönen Frau nur selten findet, eine Mischung aus Klugheit, Zielstrebigkeit, reinem Willen und Hilflosigkeit. Was wünscht sich ein Mann mehr? dachte er, ein wenig neidisch auf Ernst Deutschmann. Was wird aus ihr, wenn er im Strafbataillon umkommt? Und während er nach Worten suchte, um sie von der Aussichtslosigkeit ihrer Bemühungen zu überzeugen, dachte er, daß sie eine hübsche, schöne Witwe werden würde – aber bestimmt keine lustige. Das heißt: Sie war schon so gut wie eine Witwe.

»Sehen Sie«, begann er, »betrachten Sie die Sache von unserem Standpunkt. An dem Tage, nachdem Ihr Mann den Einberufungsbescheid bekommen hatte, erkrankte er. Einige Zeit später stellt sich heraus, daß er sich den Eiter eines schwer infizierten Menschen besorgt hat, der todkrank war, und sich damit heimlich infizierte – um angeblich im Selbstversuch die Wirkung eines von ihm gefundenen Gegengiftes genau zu erproben. Eine Infektion mit Staphylokokkus aureus dieser Art zieht eine jahrelange Rekonvaleszenz nach sich, jahrelange Untauglichkeit für den Wehrdienst.« Die letzten Worte sprach er langsam und betont aus. Als Julia nicht antwortete, fuhr er fort:

»Das hat er gewußt. Aber das wissen auch wir: Wegen solcher Infektionen, die meist tödlich verlaufen, haben wir in diesem Krieg Zehntausende verloren. Nun will ich ihm allerdings keine Selbstmordgedanken unterschieben. Es ist durchaus möglich, daß er glaubte, ein – sagen wir Serum gefunden zu haben. Und daß er sich, wie alle ihm ähnlichen – soll ich sagen wissenschaftlichen Fanatiker oder Helden? – infizierte, um seine Entdeckung zu erproben. Das ist es, warum ich meinte, seine Verurteilung könnte ein Irrtum sein: Ein Irrtum, also nicht eine Selbstverstümmelung, um dem Wehrdienst zu entgehen, sondern eben ein bedauerlicher Mißgriff. Allerdings kann ein Militärgericht diese Möglichkeit nicht in Erwägung ziehen. Die Tatsache bleibt, daß er sich selbst verstümmelte. Das allein ist entscheidend.«

»Aber – ich bin überzeugt, ich war die ganze Zeit dabei, ich weiß, daß er auf dem richtigen Wege war. Wir hatten nur so wenig Zeit, es mußte so schnell gehen …«

»Ich schließe auch diese Möglichkeit ein. Aber ein Richter kann es nicht tun. Ich habe Ihnen bereits gesagt: Es gibt kein wirklich wirksames Mittel gegen Infektionen dieser Art. Und ich bezweifle, daß Ihr Mann bei all seinem Talent so genial ist, daß er allein und ohne Hilfe das gefunden hätte, was eine ganze Welt von Forschern seit Jahren umsonst sucht. Das war es, was ich vor dem Gericht ausgesagt habe. Es war und ist meine ureigenste Überzeugung. Welches Interesse sollte ich denn daran haben, Ihren Mann – übrigens, haben Sie es schon mit einer Revision versucht?«

»Ja«, sagte Julia.

»Und?«

»Man sagte mir – es war ein SS-Mann – man sagte mir …«, sprach sie stockend, als fürchtete sie sich vor dem, was sie sagen mußte, oder vor der Erinnerung an den Mann, der es ihr gesagt hatte, »– sollte der Fall Deutschmann in eine Revision gehen, dann stünde am Ende eines neuen Prozesses das Fallbeil.«

Schweigen.

Dr. Kukill zündete sich eine Zigarette an. »Wieso ein SS-Mann?« fragte er dann.

Julia zuckte mit den Schultern.

»Und – was wollen Sie jetzt tun?«

Sie sah ihn an. Ihre Augen waren groß, schwarz, fiebrig. »Kann man nichts tun?« fragte sie leise, mit zitternder Stimme. Sie stand auf, ging um den Tisch, klammerte sich an seinem Oberarm fest, während er hilflos sitzen blieb, erschrocken und wider seinen Willen von ihrem Leid und ihrer Verzweiflung mitgerissen. »Sie können etwas tun – Sie können es sicher – bitte – es hängt nur von Ihnen ab, ich weiß es – zu wem soll ich sonst gehen? – Sie können sagen, daß es ein Irrtum war, er wird dann zurückkommen – bitte, bitte, tun Sie etwas –«

Er versuchte, sie zu beruhigen, aber er sah, daß sie ihn nicht hören wollte, daß sie nicht glauben wollte, Ernst sei verloren, daß man nichts mehr für ihn tun konnte – nicht, nachdem sich die Schranke des Strafbataillons hinter ihm geschlossen hatte. Sie standen sich gegenüber, und als er ihr gesagt hatte, daß er für ihren Mann nichts tun konnte, sah er sie schweigend an und dachte wieder, daß sie von jener fraulichen Schönheit war, die man nicht genießt, sondern verehrt und anbetet, einer Schönheit, der Leid und Verzweiflung nichts anhaben, sondern sie nur vertiefen konnten – und ein kleiner, scharfer Gedanke schoß ihm durch den Kopf: Er wird nicht wieder zurückkommen. Dann …

»Doch«, sagte sie nach einer Weile und sah ihn weiter an, sah durch ihn hindurch, nicht mehr hier in diesem Zimmer mit dem Mann, der sich gespannt und plötzlich seltsam erregt vorbeugte und sie anstarrte. »Doch«, wiederholte sie, »es gibt eine Möglichkeit. Ich war bei all seinen Versuchen dabei. Ich habe alle seine Aufzeichnungen. Ich werde weitermachen. Ich werde seine Versuche wiederholen. Und wenn es sein muß, auch den Selbstversuch. Ich werde …«

»Um Gottes willen!« rief Dr. Kukill aus.

»… ich werde beweisen, daß er recht gehabt hatte. Und dann wird man ihn herausholen und ihn weiterarbeiten lassen. Dann …«

»Das wäre – um Gottes willen, es könnte Ihr Tod sein!« Dr. Kukill sah die Frau vor ihm erschrocken an.

»Bitte, lassen Sie mich jetzt gehen«, sagte Julia.

An diesem Abend, als Julia Deutschmann wie gejagt in ihre Wohnung zurückhastete, den Mantel achtlos über einen Sessel warf, in das rückwärts gelegene Laboratorium ihres Mannes lief, einen weißen Kittel überwarf und die durcheinandergeworfenen Aufzeichnungen zu ordnen begann, geschah im Lager ›Friedrichslust‹ bei Posen, dem Stammsitz des Strafbataillons 999, folgendes:

Oberleutnant Wernher, Kompaniechef der 1. Kompanie, ritt über den Kasernenhof: eine einsame, stumme, dunkle Reitergestalt mit lose umgeworfenem Regenumhang. Die Pferdehufe knirschten auf dem Kies. Er war auf dem Weg zu einer deutsch-polnischen Gutsbesitzerin, die trotz ihrer Jugend bereits Witwe war; ihr Mann war im Polenfeldzug gefallen.

Hauptmann Barth, Bataillonskommandeur, saß in seinem Zimmer unter einer Stehlampe und las ›Tom Sawyers Abenteuer‹. Seine Füße in Socken baumelten über die Sessellehne, manchmal lächelte er. Dann wurde sein Gesicht fast jungenhaft, frei und gelöst.

Oberfeldwebel Krüll stapfte mit dem Stahlhelm auf dem Kopf über den Kasernenhof. Manchmal übersprang er eine Pfütze, einmal blieb er stehen und sah gegen den Himmel. Wahrscheinlich war er auf dem Wege in die Mannschaftsunterkünfte, um seinen allabendlichen Budenzauber zu veranstalten.

Oberleutnant Obermeier folgte ihm eine Weile mit dem Blick. Dann drehte er sich um, zog das Verdunkelungsrollo vor das Fenster, tastete sich durchs Zimmer, knipste Licht an und schloß einen Augenblick geblendet die Augen. Er goß sich ein halbes Glas voll Hennessy ein und trank den scharfen Kognak in einem Zug herunter. Er hatte beschlossen, sich heute abend zu betrinken.

In den Unterkünften erwartete man die Ankunft des UvD, sich besorgt fragend, welche Stube heute an der Reihe war, Krülls Bedürfnis nach Abwechslung zu befriedigen.

Dies war, wie kaum anders zu erwarten, die Unterkunft, in die die vier Neuankömmlinge eingeteilt waren.

Krüll fand zuerst auf dem Boden unter dem letzten Bett einen Kieselstein, vielmehr ein etwas größeres Sandkorn. Er hob es auf, zwischen dem Daumen und Zeigefinger haltend, mit weitgespreizten restlichen Fingern, und ließ es wieder wortlos auf den Boden fallen.

Er sagte nichts.

Dann stellte er schweigend einen Schemel vor einen Spind und fuhr mit dem Zeigefinger oben hin und her, doch er fand keinen Staub. Aber er fand ihn auf einem Deckenbalken und auf einem Fensterrahmen und schmierte ihn dem strammstehenden Stubendienst – dies war der frühere Oberleutnant Stubnitz, den er heute schon einmal über den Hof gejagt hatte – über die Wangen, über die Stirn, über die Nase, kreuz und quer, in schönen, gleichmäßigen Karos.

Dabei sagte er immer noch nichts.

In der Stube herrschte lähmendes, schweres Schweigen, nur Krülls Schritte über den knarrenden Boden und hin und wieder sein verächtliches Schnauben durch die Nase waren zu hören. Niemand rührte sich: Zweiundzwanzig Männer lagen lang ausgestreckt auf dem Rücken, mit den feuchtriechenden Decken bis zum Kinn zugedeckt, die Arme an den Körper gedrückt, Knie und Füße zusammengepreßt – gewissermaßen ›stillgestanden‹ im Liegen – und warteten auf das Unausweichliche. Aus der Ecke kam das schwere, rasselnde Atmen des Schützen Reiner, gewesenen Dr. Friedrich Reiner, Rechtsanwalt in München, seit 1939 Insasse des Konzentrationslagers Dachau, seit Frühjahr 1943 zum Strafbataillon 999 begnadigt: Er litt an Asthma.

Als Krüll meinte, Schütze Stubnitz sähe kariert genug aus, begann er mit der Spindkontrolle. Aus dem ersten warf er nur das Waschzeug auf den Boden, den zweiten leerte er ganz aus, den dritten und vierten ließ er stehen, aus dem fünften warf er die Wäsche, den sechsten räumte er ganz aus.

Dabei sagte er immer noch nichts.

Der siebente Spind gehörte Karl Schwanecke.

Als Krüll ihn öffnete, prallte er zurück: Der Spind war tatsächlich eine Katastrophe. Das einzige, was ordnungsgemäß, das heißt, in militärischer Ordnung angebracht war, waren Bilder nackter Mädchen auf der Innenseite der Tür.

Krüll unterdrückte seine Neugierde, beschloß gleichzeitig, sich die Bilder einmal in Ruhe anzusehen, und jagte die Männer aus den Betten. An sich hatte er vorgehabt, vor der Gymnastik auf dem nachtdunklen Kasernenhof noch die Füße der Liegenden anzusehen. Er verzichtete darauf und ließ dafür alle zweiundzwanzig an Schwaneckes Spind im Paradeschritt vorbeimarschieren und ›die Augen links‹ machen.

Dann jagte er sie auf den Hof.

Es dauerte etwa eine halbe Stunde: Komisch anzusehende, in ihrer unfreiwilligen Komik tragische Männergestalten in kurzen Nachthemden, mit klappernden Holzpantinen an den Füßen, jagten aufgescheuchten, weißen Nachtvögeln gleich über den Kasernenhof, übten Entengang, Hasensprünge, Froschhüpfen.

Als es zu Ende war, waren drei Männer dem Herzzusammenbruch nahe: der asthmatische ehemalige Rechtsanwalt, Deutschmann und von Bartlitz; andere waren nur noch halb ohnmächtige, wankende, leichenblasse, schwitzende, mit Dreck bespritzte Gespenster. Alle, außer Schwanecke: Schwanecke machte es anscheinend nichts aus. Er grinste und verfluchte grinsend den Oberfeldwebel und mußte deshalb einige Extrarunden drehen. Aber das Grinsen verging ihm nicht. Es verging ihm nie, auch später nicht.

Dann kam noch eine gute Stunde Waschen und Stubenreinigen, und so war es elf vorbei, als sie endlich in den Betten lagen, mit einiger Aussicht, die Nacht ungestört durchzuschlafen.

Ernst Deutschmann lag lang ausgestreckt auf dem Rücken und zwang sich, ruhig, tief und gleichmäßig zu atmen. Sein Herz raste. Langsam wurde es besser, das Schwindelgefühl verflog, zurück blieb nur eine schwere, lähmende Schwäche, die seinen Körper zu einem reglosen Bleiklumpen machte.

Im Bett daneben lag der Bauer Wiedeck, der Mann, den er im Militärgefängnis in Frankfurt an der Oder kennengelernt hatte. Er war sein Zellengenosse gewesen, schweigsam, mürrisch, verschlossen. Sie hatten kaum ein Wort gewechselt, obwohl sie stets zusammen waren: in der Zelle, auf dem täglichen Spaziergang im Gefängnishof und in der Werkstatt, wo sie die Sohlen der Militärstiefel mit Nägeln beschlugen. Freunde waren sie erst geworden, als ein Feldwebel, dem Deutschmanns Gesicht nicht paßte, in der Mittagspause einige Kisten voller Nägel umwarf und Deutschmann befahl, sie wieder einzusammeln. Wiedeck hatte ihm dabei geholfen, wortlos, verbissen, finster.

»Wie geht's?« hörte er jetzt Wiedeck flüstern.

»Besser«, flüsterte er zurück.

Schweigen.

»Verfluchte Schweine!« flüsterte Wiedeck nach einer Weile.

»Mach dir nichts draus«, sagte Deutschmann.

Und wieder Stille. Und dann:

»Woran denkst du?«

»An Julia«, sagte Deutschmann.

»Ich auch. An Erna. Hast du Kinder?«

»Nein.«

»Ich habe zwei. Nein, jetzt sind's drei.«

»Maul halten!« kam von irgendwoher eine Stimme.

Und dann begann Erich Wiedeck zu erzählen. Leise, flüsternd, mit langen, schweigenden Pausen, ungelenk, nach Worten suchend. Und trotzdem wuchs vor den Augen des still liegenden, lauschenden Deutschmann eine Welt empor, die ihm bisher fremd geblieben war. Er hörte das schwere Atmen des Asthmatikers und das Schnarchen Schwaneckes nicht mehr. Die dumpfriechende, von undurchdringlicher, säuerlicher Finsternis erfüllte Stube versank und wurde weit, weit wie die Felder von Pommern.

So kam der ehemalige Obergefreite Erich Wiedeck, dekoriert mit dem EK I, Silberner Nahkampfspange, Silbernem Verwundetenabzeichen, zwei Panzer-Abschußstreifen, kurz vor seiner Beförderung zum Unteroffizier, in das Strafbataillon 999:

Der Wind stand leicht über den Feldern von Melchow.

Es war gegen Mittag. Über die Feldwege ratterten einige Trecker. Kahlgeschorene Männer in alten, zerrissenen Lumpen saßen auf den hüpfenden Sitzen, einige Frauen und Mädchen in bunten Kopftüchern folgten den Spuren der großen Räder. Russische Landarbeiter, Bauern aus der Ukraine, aus dem Kaukasus, aus Weißrußland, aus den Feldern um Minsk und den Sonnenblumenäckern der Steppe von Saporoshje, eingefangen wie Wild, nachts aus den Betten geholt, in Viehwagen gepfercht und nach Deutschland gebracht, um die Ernte zu retten, die den Sieg bedeuten sollte.

Wiedeck ließ die Ähren seines Roggens durch die Finger gleiten. Sie waren dick, prall gefüllt mit Körnern, schnittreif wie noch nie ein Korn in den letzten Jahren. Die Felder standen voll davon: achtzig Morgen unter dem Pflug. Roggen, Weizen, Hafer, Kartoffeln, Gerste, Zuckerrüben.

Er sah hinüber zu den Treckern und den Russen, die lachend ins Dorf zogen. Sonnabend. Feierabend. Das Wetter war gut. Die Sonne stand und würde in den nächsten Tagen nicht weggehen.

Sie schaffen es nicht, dachte er. Sie können es nicht schaffen. Die paar Russen, die Frauen, ein paar Trecker – die Ernte verkommt auf den Feldern, wenn sie nicht gleich geschnitten wird. Und dann dachte er daran, daß Erna, seine Frau, schwanger war, daß in knapp drei Wochen das Kind kommen mußte, daß sie einen schweren Leib hatte, sich kaum bücken konnte und unter der Sonne und der schweren Arbeit litt.

Er sah über seine Felder, über das Meer der wogenden Ähren, und er rechnete im Geist die Stunden und Tage aus, die man brauchte, um es zu schneiden und vor Beginn des Regens einzufahren.

Als er am frühen Nachmittag wieder nach Hause kam, stand Erna in der Tür und sah ihm entgegen.

»Wo bleibst du nur?« fragte sie besorgt. »Dein Zug fährt in zwei Stunden.«

»Ich habe mich umgesehen«, sagte er knapp. Er sah sie an: Ihr Leib war schwer.

»Das Korn steht gut«, sagte sie, während sie die Schürze abband. »Komm, iß noch etwas. Einen Kuchen habe ich auch gebacken, zum Mitnehmen.«

»Wer wird es schneiden?«

»Was?«

»Das Korn.«

»Ich –.«

»Du?«

»Natürlich. Und drei Russen. Wenn sie bei Pilchows fertig sind, kommen sie zu uns. Sie bringen den großen Binder mit.«

»Es wird zu spät sein.« Er sah gegen den Himmel. Die Sonne schien noch acht Tage! Wenn es regnen würde, verfaulte das Korn auf dem Feld.

»Komm –!« Erna zog ihren Mann ins Haus. »Es geht eben nicht anders. Was wir einfahren können, tun wir. Das andere …«, sie schüttelte den Kopf. »Einmal ist dieser Krieg auch vorbei, und dann wirst du wieder besser sorgen können.«

»Es ist eine Schande, daß es verfault«, sagte er starrköpfig. Er setzte sich in der Wohnküche an das Fenster und sah hinaus. Dann drehte er sich herum zu Erna, die am Herd stand und Kaffee aufgoß. Bohnenkaffee, abgespart von den seltenen Sonderrationen der Lebensmittelkarten für den Tag, an dem Erich auf Urlaub kam. Die ganze Küche duftete danach. Und auf dem Tisch stand ein dicker Rosinenkuchen. Sogar eine weiße Manschette hatte sie herumgebunden, so, als sei heute sein Geburtstag oder sonst ein Feiertag. Ein Feldblumenstrauß stand daneben – Blumen von seinen Wiesen.

Er wandte sich ab und starrte wieder hinaus auf das Land.

»Ich bleibe«, sagte er knurrend.

»Was?« Erna sah ihn verständnislos an. Sie stellte die Kaffeekanne auf den Tisch und setzte sich. »Was hast du gesagt?«

»Ich fahre nicht.«

»So blieb ich«, erzählte Erich Wiedeck dem Freund, der Dunkelheit und sich selber, und vielleicht erzählte er es nur, weil es finster war und niemand seine feuchten Augen sehen konnte. »Ich habe ihr gesagt, daß mein Antrag auf Verlängerung des Urlaubs durchgekommen ist und daß ich so lange bleiben darf, bis ich die Ernte einbringe. Aber –«, sagte er, »– ich bin nicht nur deswegen geblieben, verstehst du? Der Arzt hatte gesagt, sie muß sich vor der Geburt schonen, aber wie sollte sie sich schonen, wenn ich weg war und wenn sie alles allein machen mußte? Und dann, wenn sie's nicht machen könnte, was sollten sie essen? Was wäre bei diesen Abgaben von der Ernte für sie übriggeblieben? Die Felder haben getragen wie noch nie – und sie hätten hungern müssen. Verstehst du, warum ich nicht weggehen konnte?«

»Ja«, sagte Deutschmann.

»So blieb ich und brachte die Ernte ein. Ich habe geschuftet wie ein Tier. Ich habe fast nicht geschlafen, von frühmorgens bis in die Nacht war ich auf den Feldern, und dann mußte ich auch noch die Hausarbeit machen. Aber –«, und jetzt schwang in seiner flüsternden Stimme Triumph mit, »– aber ich habe die Ernte eingebracht. Alles. Immer habe ich gewartet, daß die Kettenhunde kommen und mich holen. Sie sind nicht gekommen. Es tut mir nur leid …« Er unterbrach sich.

»Was?« fragte Deutschmann.

»Es tut mir nur leid, daß ich nicht noch länger geblieben bin. Bis Erna ihr Kind bekam. Vielleicht ist es ein Sohn. Was meinst du, ob es ein Sohn ist?«

»Sicher«, sagte Deutschmann.

»Ich hätte vielleicht doch noch so lange bleiben können. Aber mit der Zeit, später, als ich die Ernte eingebracht hatte, habe ich es doch mit der Angst zu tun bekommen. So fuhr ich ab. Meine zwei Mädchen brachten mich zum Bahnhof, Erna konnte nicht mit. Die ältere Tochter ist fünf Jahre und heißt Dorthe, und die zweite ist drei Jahre und heißt Elke. Ich fuhr ab und sagte ihnen: Seid immer lieb zur Mutti, weil sie Schweres erleben würde, sie dürften nicht böse sein, und sie versprachen es mir, und ich glaube es ihnen, sie sind brave Kinder, ich glaube es ihnen – wenn ich nur wüßte, ob Erna … glaubst du, daß alles gutgegangen ist?« fragte er mit zitternder Stimme, lauter, drängend, als könnte ihm Deutschmann als Arzt eine erlösende Antwort geben, die ihn von all den peinigenden Fragen befreien und ihm die Gewißheit geben würde, daß sein Opfer nicht umsonst war.

»Sicher«, sagte Deutschmann, »ganz sicher!«

»Ich hätte noch ein paar Tage bleiben sollen«, sagte Wiedeck müde. »Dann würde ich's ganz genau wissen. So aber …«

So aber … dachte Deutschmann. Immer wieder bleibt: So aber –. Hätte ich das getan oder hätte ich's nicht getan, wäre alles anders gekommen, so aber …

Jetzt weiß ich's: Es ist ein Wunder, daß ich überhaupt noch lebe. Das Serum in seiner jetzigen Form ist wirkungslos. Ich habe einen Fehler gemacht. Ich hätte nicht so hastig vorgehen sollen. Ich hätte alles besser durchrechnen und durchdenken sollen. Dann wäre es nicht so weit gekommen. So aber …

»Schlaf gut«, sagte er leise.

»Ja –«, sagte Wiedeck. Er konnte nichts anderes sagen. Er weinte.

Am nächsten Tag, nach dem Arbeitseinsatz, bekam das ganze Bataillon Schreiberlaubnis. Die alten Hasen behaupteten, es stünde etwas bevor, weil sie schreiben durften; wahrscheinlich würden sie nach Rußland kommen.

Deutschmann schrieb an seine Frau Julia:

»Mir geht es gut, Julchen. Das Essen ist reichlich, und auch sonst fehlt es mir an nichts – nur Du fehlst mir, Rehauge, Du weißt nicht, wie! Ich möchte Dich so gerne sehen – aber das ist einstweilen nur ein frommer Wunsch. Habe keine Angst um mich, gib auf Dich acht, besonders jetzt, bei den vielen feindlichen Luftangriffen. Bitte, paß auf Dich auf, Rehauge, ich will Dich gesund und schön wiederfinden, wenn ich zurückkomme.

Kuß, Dein Ernsti.«

Erich Wiedeck schrieb:

»Liebe Erna,

ich weiß immer noch nicht, wie es mit der Geburt war, und ob Du gesund bist und ob es ein Junge oder ein Mädchen ist, schreib mir bitte. Wenn es ein Junge ist, gib ihm den Namen Wilhelm, nach meinem Vater, Du weißt schon, wenn es ein Mädchen ist, dann soll es Erna heißen, wie Du. Mir geht es ganz gut, nur habe ich Sorgen um Dich und die Kinder, aber wir wollen Gott vertrauen, daß sich alles zum Guten wendet und ich bald nach Hause komme. So grüße ich Dich und die Kinder Dein Mann Erich.«

Beide Briefe waren um einige Worte länger, als die Vorschrift erlaubte. Im Hinblick auf das bevorstehende Kommando ließ man sie jedoch durchgehen.

Daß irgend etwas im Gange war, hätte nun auch ein Blinder sehen können. Obermeiers Kompanie brach den Arbeitseinsatz ab und blieb im Lager. Außerdem kam für Hauptmann Barth ein neuer Adjutant.

Barth hatte zunächst verständnislos auf die Zuweisung gesehen, die ihm vom Kommandeur der Strafeinheiten zugeschickt wurde. »Ein neuer Kamerad, meine Herren«, sagte er zu Obermeier und Wernher. »Ein Oberleutnant, Fritz Bevern heißt er. Aus Osnabrück. Ein verdienter Mann, scheint mir: HJ-Führer, Vater Kreisleiter, Kriegsschule mit Sehr gut absolviert, vor allem im Fach Politik ausgezeichnet. Kriegsverdienstkreuz I. Klasse, EK II. Er kommt heute noch.«

»So etwas brauchen wir hier. Das suchten wir doch schon lange, nicht?« seufzte Oberleutnant Wernher.

»Er kann doch auch ein netter Junge sein.« Hauptmann Barth legte die Zuweisung in eine Mappe. »Warten wir ab. Auf jeden Fall bekomme ich einen Adjutanten. Ganz groß, was? Entlastung des Kommandeurs und Verbindung zur Truppe. Ich fürchte nur, daß er bald überflüssig werden wird.«

»Sie sprechen in Rätseln, Herr Hauptmann«, sagte Wernher.

Barth grinste: »Was soll er noch verbinden, mit wem soll er mich verbinden, wenn wir erst einmal drei oder vier Wochen in Rußland sind?«

»Und außerdem sind Sie ein Schwarzseher, Herr Hauptmann, Darf ich mich abmelden?«

»Ist das Pferd gesattelt?« fragte Barth hinterhältig.

»Seit einer Stunde schon.«

»Viel Spaß. Sie bleiben hier und unterstützen mich, Obermeier?«

Bevern kam in einem höchst feudalen Auto angefahren, einem Horch-Achtzylinder, der einmal einem Rittergutsbesitzer gehört hatte.

Als der neue Adjutant ausstieg und federnd zur Kommandeursbaracke ging, lief ein vielstimmiges »Ach« durch die Fensterreihen der Baracken. Blanke Stiefel, Maßuniform, gekniffte Mütze auf dem Ohr, hellgraue Wildlederhandschuhe, eine Pistole in einer hellbraunen, eigenen Pistolentasche. Das Modellbild eines Offiziers. Ein Mannequin aus der Uniformschau: Wie sieht der korrekt angezogene Offizier im Dienstanzug aus?

Barth steckte sich eine Zigarette an. Was soll ich mit diesem geschniegelten Affen anfangen? fragte er sich erschrocken. Himmel – der wird sich maniküren, wenn wir durch den russischen Dreck latschen!

Er irrte sich. Fritz Bevern trat sofort zur Offensive an, als die Vorstellung beendet war und man sich bei einem Glas Rotwein weiter beschnupperte und abtastete.

»Als ich ins Lager fuhr«, erzählte Bevern und nahm einen kurzen, abgehackten Schluck aus dem Rotweinglas, »flegelte sich am Lagertor ein Subjekt herum, mit einem Besen in der Hand. Ich dachte zuerst: Ob das ein Russe ist? Nein, meine Herren, es war ein deutscher Soldat! Tatsächlich! Ich lasse anhalten, sehe ihn mir schärfer an, aber der degenerierte Bursche grüßt immer noch nicht. Sah aus wie ein Untermensch! Und dann – steckt er den Finger in die Nase und popelt. Eine Unverschämtheit! Ich fragte ihn, wie er hieße. Und, was meinen Sie, was er darauf antwortete?«

»Was«, fragte Barth interessiert.

»Ha –.«

»Wie war das?«

»Er sagte: Ha? Unerhört!«

»Und wie hieß er?« fragte Obermeier.

Bevern knöpfte seine Brusttasche auf, zog einen Zettel heraus, knöpfte die Brusttasche wieder zu und las: »Karl Schwanecke, aus der 2. Kompanie. Es war gar nicht so leicht, es aus ihm herauszubringen. Der Bursche ist stocktaub.«

»Was ist er?« fragte Barth und konnte dabei kaum ein breites Grinsen verbeißen.

»Stocktaub.«

»Der Kerl hört besser als Sie und ich zusammen«, sagte Barth genußvoll. Bevern sah verdutzt und sehr wenig geistreich aus. Obermeier lächelte.

»Er hört so gut wie …«, brachte Bevern heraus.

Barth nickte. »Außerdem ist er Spezialist in Einbruchdiebstählen, Raubüberfällen und kleinen Mädchen. Früher war er Gefreiter und soll ein tollkühner Bursche gewesen sein.«

»Ich werde ihn mir morgen vornehmen.« Beverns Gesicht war gerötet. »Eine unerhörte Frechheit!«

»Hoffentlich werden Sie mit ihm fertig werden«, sagte Barth und stieß eine blaue Rauchwolke gegen die Decke.

»Warum sollte ich nicht?«

»Haben Sie schon in einem – in einer solchen Einheit gedient?«

»Ich hatte bisher andere Aufgaben zu erledigen, Herr Hauptmann«, sagte Bevern mit durchgedrücktem Kreuz.

»Dann werden Sie sich umstellen müssen, mein Lieber. In Ihrem Interesse. Das ist nicht eine x-beliebige Einheit. Es ist ein Strafbataillon.« Dieses Wort buchstabierte er nach seiner Art fast genußvoll ausdehnend. »Hier haben Sie Menschen wie Schwanecke, die keine Autorität anerkennen, außer der ihrer eigenen Triebe und Wünsche. Merken Sie sich: keine Autorität, am wenigsten die der Schulterstücke. Dann haben Sie hier Menschen, die sich einer anderen Autorität beugen, der ihrer sogenannten Ideale, die Ihren, ich wollte sagen – eh – unseren Idealen entgegengesetzt sind wie etwa Schwaneckes Verbrecherinstinkten. Ihre Autorität, Bevern, kann auch diesen Menschen genausowenig Angst einjagen wie Schwanecke und seinesgleichen. Und weiter gibt es da noch eine dritte Gruppe: Männer, die selbst nicht wissen, wie sie herkamen – das sind wahrscheinlich die zahlreichsten. Es gibt alle möglichen Schattierungen darunter: Ja – sogar Männer ohne Rückgrat, die Ihnen jeden Wunsch von den Augen ablesen werden, bis zu solchen, die partout mit dem Kopf durch die Wand wollen.«

»Sollen wir etwa kapitulieren?« fragte Bevern entrüstet.

»Ich habe gesagt: umstellen«, sagte Barth ernst. »Sehen Sie sich unseren Oberleutnant Obermeier an. Sein Vater war Offizier. Sein Großvater auch. Sein Urgroßvater war einer der langen Kerls des Soldatenkönigs. Und er selbst? Ein alter Fronthase, mit allen Wassern gewaschen. EK I, das Deutsche Kreuz in Gold und so weiter. Er wurde sogar einmal im Wehrmachtsbericht erwähnt. Als er hierherkam, glaubte er, es gäbe für ihn nichts Neues unter der Sonne. Nach einer Woche wurde er ganz klein. Jetzt ist er wieder ein bißchen gewachsen.«

»Auf alle Fälle werde ich erst einmal diesen – diesen Schwanecke auf dem Appellplatz fertigmachen, daß er sein eigenes Gehirn als Rührei frißt. Gewissermaßen zur Abschreckung.«

»Sie bedienen sich einer wundervoll plastischen Sprache«, meinte Obermeier höflich. »Wo haben Sie das gelernt? Etwa aus der neuesten Ausgabe des deutschen Militärjargons, verfaßt von Oberfeldwebel Krüll und herausgegeben für alle Unteroffiziere?«

»Ha –!« sagte Barth wonnig.

Bevern schwieg verbissen. Welch eine Bande! dachte er grimmig. Schlappsäcke! Kapitulieren vor diesen Lumpen, die man nur aus Mitleid vor dem Galgen rettete. Umstellen? Lächerlich! Er sah aus dem Fenster. Die zweite Kompanie exerzierte. Hohläugige Gestalten mit verbissenen Gesichtern und dreckverkrusteten Uniformen.

Schnell sah Bevern weg. Ihn ekelte. Alle erschießen, dachte er. Das wäre die beste Lösung.

Am Abend, als Obermeier in der Stadt war und ein Kino besuchte, als Wernher bei der Gutsbesitzerin überlegte, ob er noch etwas essen oder schon schlafen gehen sollte, und Hauptmann Barth am Radio saß und Beethoven hörte, strich Oberleutnant Bevern durch die Baracken und stellte sich auf seine Weise dem Bataillon vor.

Zunächst traf er auf Oberfeldwebel Krüll.

Krüll kam von einer Inspektion zurück. Er hatte Deutschmann noch einmal in die Latrine gejagt, weil sie angeblich nicht sauber genug war. Eine Weile stand er dann mit den Händen auf dem Rücken hinter dem umherkriechenden Wissenschaftler, beobachtete verächtlich schnaufend seine Arbeit mit Eimer und Putzlappen und versprach schließlich, in einer halben Stunde wiederzukommen. »Wenn es dann hier nicht aussieht wie in einem Operationssaal, Sie Oberputzer, wischen Sie den ganzen Boden mit Ihrer intellektuellen Visage auf, haben Sie verstanden?«

In dieser Hochstimmung seiner Macht traf er auf Bevern und baute ein Männchen.

»Wie heißen Sie, Oberfeldwebel?« fragte Bevern lässig.

»Oberfeldwebel Krüll, Herr Oberleutnant!«

»Ach – Sie sind also Oberfeldwebel Krüll –!« sagte Bevern überrascht.

»Jawohl, Herr Oberleutnant!« Krüll strahlte. Um seinen Ruhm wußte auch schon dieser Neue! Doch er würde kaum gestrahlt haben, hätte er geahnt, daß Oberleutnant Bevern in diesem Augenblick beschloß, sich an ihm für Obermeiers Frechheit zu rächen.

»Wieviel wiegen Sie, Oberfeldwebel?« fragte Bevern.

Krüll sah in den Nachthimmel. Der ist verrückt, durchfuhr es ihn.

»Ich weiß es nicht, Herr Oberleutnant!«

»Sie wiegen 190 Pfund, Oberfeldwebel.«

»Ich – glaube, nicht so viel –.«

»Wieviel wiegen Sie?«

»190 Pfund, Herr Oberleutnant.«

»Entschieden zuviel, Oberfeldwebel, meinen Sie nicht auch?«

»Jawohl, Herr Oberleutnant!«

»Mindestens vierzig Pfund zuviel!«

»Jawohl, Herr Oberleutnant.«

»Die müssen Sie 'runterkriegen, Oberfeldwebel.«

»Jawohl, Herr Oberleutnant.« Nun dachte der verwirrte Krüll, diese dämliche Fragerei hätte ihr Ende gefunden und er könnte gehen, aber er irrte sich. Der Neue machte keine Anstalten, ihn zu entlassen, im Gegenteil, die Niedertracht kam erst.

Eigentlich hätte es Krüll wissen müssen: Die Methode des Neuen war genau die gleiche wie die seine.

»Fangen wir gleich damit an, Oberfeldwebel«, sagte Bevern und erhob dann seine Stimme zu schneidender Schärfe: »Kehrt marsch!«

Krüll trabte. Dann lief er, 'rauf und 'runter. Mit puterrotem Gesicht und weit aufgerissenem Mund. Seit fünf Jahren lief er zum ersten Male wieder. Das Hemd klebte an seinem schwitzenden Körper. Er verstand die Welt nicht mehr. Es war unfaßbar: Bis heute, bis zu diesem Augenblick, hatte er gedacht, er stünde mit den Offizieren auf der gleichen Seite der Barrikade. Und nun machte ihn dieser polierte Affe zu einem von der anderen Seite. Er keuchte. Und Beverns schneidende Stimme hämmerte in sein zermartertes Gehirn: »Schneller, Oberfeldwebel, los, schneller! Das macht den Körper geschmeidig und frei! Das ist gut für die Bronchien! Kehrt marsch!«

Dann war es zu Ende, Krüll durfte gehen und beschloß, sich besinnungslos vollaufen zu lassen.

Aber für Bevern war das erst der Anfang.

Alle werde ich fertigmachen, dachte er grimmig, entschlossen, unversöhnlich. Alle! Die verdammte Bande von Mannschaften! Die Unteroffiziere! Alle! Und die hundsopportunistischen Offiziere. Alle! Mitsamt Obermeier und Barth!

In der Baracke 2 der 2. Kompanie sah Bevern etwas, was ihn zunächst sprachlos werden ließ. Darin erging es ihm nicht anders als zwei Abende zuvor Oberfeldwebel Krüll: Er entdeckte Schwaneckes Bildersammlung.

Schwanecke war gerade dabei, auch die Stirnseite seines Bettes und den Holzrahmen an der Seite mit den Bildern nackter Mädchen zu zieren.

Oberleutnant Bevern trat näher.

»Aha – da sind Sie ja wieder!« sagte er laut, als er hinter Schwanecke stand. Dieser drehte sich grinsend herum.

»Wie können Sie einen so erschrecken, Herr Oberleutnant? Sind sie nicht hübsch?«

»Sie –«, begann Bevern, aber Schwanecke ließ sich nicht beirren.

»Gefallen sie Ihnen, Herr Oberleutnant? Die Blonde da – die ist aus Berlin. Toll, was? Wenn Sie wollen –«, er beugte sich vor und sagte zu dem zurückweichenden Offizier vertraulich, als hätte er ihm ein Geheimnis zu verraten, »– wenn Sie wollen, Herr Oberleutnant, gebe ich Ihnen ihre Adresse. Wenn Sie mal nach Berlin fahren – von der kann der beste Mann noch 'ne Menge lernen.«

Bevern fröstelte. Er konnte kaum atmen. Mit einem zischenden Laut stieß er die Luft aus der Nase und fuhr sich mit dem Zeigefinger hinter den Kragen.

»Fehlt Ihnen was?« fragte Schwanecke besorgt.

Bevern jagte ihn eine halbe Stunde über den Kasernenhof. Dann war er müde und heiser, aber Schwanecke grinste noch immer. Alles, was man ihm von der Anstrengung anmerken konnte, war ein bißchen Schweiß. »Sie können das beinah so gut wie mein Ausbilder bei den Rekruten«, sagte er, als er vor Bevern stand. »Was die Adresse angeht …«

»Schweigen Sie –!« schrie Bevern.

Nach weiteren fünfzig Kniebeugen durfte Schwanecke gehen. Seine Knie zitterten, aber er grinste und ließ sich nichts anmerken. Nicht der, dachte er böse, nicht dieser –! Ich krieg' dich mal dran, paß bloß auf, ich krieg' dich mal dran –!

Deutschmann war fertig. Mit der Latrine und auch sonst.

Bis jetzt hatte ihn eine Art von Galgenhumor aufrechtgehalten. Nun war es vorbei damit; er war zu erschöpft, zu hoffnungslos, zu sehr erledigt, um in Krülls und anderer Unteroffiziere Geschrei und Schikanen nur eine hohle Aufgeblasenheit mit nichts oder nur wenig dahinter zu sehen. Durch die lange, schwere Krankheit körperlich ausgehöhlt, durch die Haft, den Prozeß und immer neue Demütigungen zermürbt, brauchte er seine ganze übriggebliebene Kraft, um sich aufrechtzuhalten, schutzlos der deprimierenden Umgebung preisgegeben. Jetzt fühlte er keinen Zorn mehr, keine Verbitterung, er war nur noch schwach und müde.

Nachdem er den Eimer, Putzlappen und die Besen aufgeräumt und sich gewaschen hatte, wankte er unter Aufbietung seiner letzten Kräfte in die Unterkunft, nur noch von einem Wunsch erfüllt: eine Zigarette und schlafen. Tagelang schlafen, ohne sich zu rühren. Sein linker Arm schmerzte unerträglich – der Arm, den er sich bei seinem Selbstversuch infiziert hatte, der nun mit Narben überzogen und völlig abgemagert war.

Die schwache, nackte Birne verbreitete ein trübes, unbestimmtes Licht. An dem langen, roh zusammengezimmerten Tisch in der Mitte spielten einige Soldaten Karten, aber die meisten lagen schon auf ihren Pritschen. An einem Ende des Tisches saß der lange Oberst und starrte auf seine verbundene Hand. Der ehemalige Major in einem Armeestab machte sich unlustig mit dem Besen zu schaffen; er hatte Stubendienst.

Deutschmann ging zu seinem Spind und holte aus der hintersten Ecke die Zigarettendose. Sie war aus schwarzem Leder, in Silber eingefaßt, mit seinem Monogramm in der unteren Ecke: ein Geschenk Julias. Dann setzte er sich an den Tisch, klappte die Dose auf und ließ sie vor sich liegen.

»Hat dich Krüllschnitt zur Schnecke gemacht, was?« fragte ihn ein Kartenspieler, ein kleiner, schmächtiger Mann mit einem Rattengesicht. Er lachte und zeigte dabei spitze gelbe Zähne. Früher einmal war er ›Schlepper‹ in Berlin gewesen und ein kleiner Dieb, der das Stehlen nicht lassen konnte.

Deutschmann nickte. Er war zu müde, um zu antworten. Er war zu müde, um die Hand zu heben und eine von den zwei Zigaretten, die er sich für heute abend aufgespart hatte, aus der Dose zu nehmen und sie anzuzünden.

In diesem Augenblick polterte Schwanecke breit grinsend in die Stube. »Mensch«, sagte er, nachdem er die Tür hinter sich zugeschlagen hatte, »er dachte, er kann mich zur Sau machen. Aber er irrt sich.«

»Wo ist er jetzt?« fragte ein Kartenspieler.

»Er ist müde. Ging schlafen. Der verfluchte Hund. Der nicht«, sagte Schwanecke, »der Mann ist noch nicht geboren, der Karl Schwanecke fertigmachen kann.«

»Spielst du mit?« fragte das Rattengesicht.

»Gleich.« Jetzt sah Schwanecke den zusammengesunkenen Deutschmann. »Was is'n mit dir los?«

Deutschmann rührte sich nicht. Schwanecke ging um den Tisch und stellte sich neben ihn. »Was is'n los?« fragte er noch einmal. »War vielleicht jemand böse zu dir, Professor?«

Deutschmann hob die Hand und betastete die Zigaretten in der Dose. Und dann sah er plötzlich Schwaneckes große, behaarte Hand mit breiten Fingern und kurzen, schmutzigen Fingernägeln nach der Dose greifen und sie wegziehen.

Er sah auf.

Schwanecke drehte die Dose hin und her, betrachtete sie genau, nickte ein paarmal mit dem Kopf, hob sie vor die Nase, schnupperte daran, zog eine Zigarette heraus und zündete sie an.

»Geben Sie bitte die Dose her«, sagte Deutschmann schwach.

»Ganz hübsch«, sagte Schwanecke. »Was willst du dafür haben?«

»Geben Sie die Dose zurück!«

»Ich geb' dir zwei Bilder. Du kannst sie selbst aussuchen.«

Deutschmann stemmte sich hoch und griff nach der Dose. Schwanecke wich einen Schritt zurück, steckte die Dose in die Brusttasche, knöpfte die Tasche zu, in seinem Mundwinkel steckte die rauchende Zigarette, die Augen hielt er vor dem Rauch verkniffen. »Ich heb' sie auf«, sagte er mit verzogenem Mund, »bis du dich entschlossen hast, was du dafür haben willst. Drei Bilder. Kapiert?«

Damit schien die Sache für ihn erledigt zu sein. Er drehte sich um und ging zu den vier Kartenspielern. Deutschmann stützte sich auf den Tisch, schloß einen Augenblick die Augen, riß sie wieder auf und rief schrill, verzweifelt, fassungslos: »Die Dose … geben Sie mir die Dose wieder!«

Der lange Oberst sah auf.

»Wer gibt?« fragte Schwanecke das Rattengesicht.

»Werner … setz dich«, sagte das Rattengesicht.

Schwanecke zog mit dem Fuß einen Schemel unter dem Tisch hervor und wollte sich setzen. Doch da fühlte er sich an der Schulter gepackt und herumgewirbelt. Erich Wiedeck war auf bloßen Füßen lautlos herangekommen und stand jetzt vor ihm. Sein Gesicht war gerötet. »Gib ihm die Dose wieder, du Schwein!« sagte er.

»He … langsam, Hände weg!« grinste Schwanecke.

Deutschmann stieß sich vom Tisch weg, machte zwei lange Schritte und packte Schwanecke am Arm. Dieser machte eine leichte, schnelle Bewegung, der keine Anstrengung anzusehen war, als ob er eine lästige Fliege wegwischen wollte. Deutschmann wurde weggefegt wie ein dünnes Blatt Papier, fiel rücklings über einen Schemel, schlug mit dem Kopf hart gegen einen Spind und blieb benommen liegen.

»Du Schwein!« zischte Wiedeck und packte Schwanecke an der Brust. Doch dieser schlug ihn mit einem kurzen, harten Haken in den Magen. Wiedeck ächzte, klappte zusammen wie ein Taschenmesser und wurde von dem zweiten Schlag Schwaneckes, der mit schrecklicher Wucht von unten her gegen sein Kinn schmetterte, wieder emporgerissen. Es gab einen kurzen trockenen Laut, als ob jemand mit flacher Hand auf nasse, festgetretene Erde geschlagen hätte. Wiedeck krachte mit dem Hinterkopf gegen eine Spindtür und rutschte langsam, mit glasigen Augen, zu Boden. Und während all dies geschah, grinste Schwanecke mit bleckenden, weißen Zähnen, schief, ohne die brennende Zigarette aus dem Mundwinkel zu nehmen.

»Wumm … Vorkriegsschule«, sagte das Rattengesicht und fuhr sich mit schneller, feuchter Zunge über die Lippen.

»Noch jemand?« knurrte Schwanecke. Er stand leicht vorgebeugt da, die Augen vor dem Zigarettenrauch zusammengekniffen, sein klobiger, muskulöser Körper strahlte geballte Energie, katzenhafte Geschmeidigkeit und eine unbändige Kraft aus. »Noch jemand?« fragte er zum zweitenmal, und sein tierhaftes Grinsen vertiefte sich.

»Gib's denen nur!« sagte ein Kartenspieler.

»Memmen … Setz dich, Karl …«, sagte das Rattengesicht.

Doch da stand der lange Oberst langsam auf und ging schweigend um den Tisch. Zwei Schritte vor Schwanecke blieb er stehen und richtete sich auf. Wiedeck drehte sich ächzend auf den Bauch, versuchte sich hochzustemmen, sackte wieder zusammen und blieb mit dem Gesicht auf dem Boden liegen.

»Was willst du denn hier?« fragte Schwanecke den Oberst.

»Geben Sie sofort die Dose zurück!« sagte der Oberst.

Das Rattengesicht wieherte laut lachend auf, ein Kartenspieler stand langsam auf und lehnte sich mit verschränkten Armen über den Tisch.

»Ach!« sagte Schwanecke. »Und was noch? Hör mir zu, du lange Latte von einem verkrachten Oberst, hör mal gut zu: Mach dich ja nicht wichtig, hörst du? Denk ja nicht, du bist noch was! Du kannst mir überhaupt nicht imponieren, du bist genauso der letzte Dreck wie ich, verstehst du? Hau ab, sonst geht's dir schlecht! Los! Hau schon ab!«

Der Oberst hatte mit unbewegtem Gesicht zugehört. Und als sich Schwanecke wegdrehte, sagte er wieder, jedoch jetzt mit schneidend erhobener Stimme: »Geben Sie die Dose sofort zurück und entschuldigen Sie sich bei Doktor Deutschmann und Wiedeck! Haben Sie verstanden?«

Schwanecke schnellte wie von einer Stahlfeder angetrieben herum. Wütend riß er die Zigarette aus dem Mund und schleuderte sie zu Boden.

»Maul halten!« schrie er. »Du sollst das Maul halten, du aufgeblasener ›Von‹! Ich hab' genug von euch! Ich muß kotzen, wenn ich euch nur rieche. Herren! Immer noch Herren, was? Hör mal zu, du Herr …« Und jetzt wurde seine Stimme ganz leise, zischend, tödlich ernst. In ihr klang der ganze blinde Haß des Kriminellen gegen die ›Anderen‹ mit. Er brachte sein Gesicht ganz nahe an den anderen heran: »Hör mal zu: Ich habe mich immer von solchen, wie du einer bist, schikanieren lassen müssen, mich immer ducken müssen. Immer sagen müssen: Jawohl, Herr Sowieso! Ich könnte dich mit einer Hand zerquetschen, du Scheißoberst. Und ich tu's, sage ich dir!« Er umklammerte mit einem eisernen Griff die Uniformjacke des Obersten, zog sie zusammen, streckte die linke Hand schlagbereit nach hinten, und das Grinsen war aus seinem Gesicht verschwunden. »Ich tu's, wenn du nicht sofort sagst: Jawohl, Herr Schwanecke! Hast du mich verstanden: Jawohl, Herr Schwanecke …!«

»Loslassen!« sagte der Oberst heiser.

»Jawohl, Herr Schwanecke!« zischte Schwanecke! »Ich bring' dich um! Ich bring' dich um, wenn du's nicht sagst!«

Lähmende, tödliche Stille breitete sich in der Stube aus. Es bestand kein Zweifel: Schwanecke meinte es ernst, und keine Macht der Welt schien imstande, ihn zurückhalten zu können. Der lange, blasse Mann, der früher Oberst war, Eichenlaubträger und Divisionskommandeur, und jetzt nur noch Schütze Gottfried von Bartlitz im Strafbataillon 999, bedeutete für ihn die Verkörperung jener verhaßten Mächte, denen er sich sein Leben lang beugen mußte, vor denen er immerfort auf der Flucht war, gejagt wie ein räudiger Hund, in elenden, stinkenden Löchern vegetierend, sein verdammtes Leben und die Mutter, die ihn geboren hatte, verfluchend. Und trotzdem war das Leben in ihm zu mächtig, als daß er irgendeinen der Polizisten oder Feldgendarmen erwürgt hätte, die hinter ihm her waren, seit er sich erinnern konnte. Er wußte: das wäre sein Tod. Und er durfte nicht in die Fettmasse, die Oberfeldwebel Krüll hieß, hineinschlagen, bis nur noch ein wabbelnder, blutiger Haufen übrigblieb; er durfte nicht dem lackierten Affen von Oberleutnant Bevern die dünnen Knochen brechen, bis kein bißchen wimmerndes Leben mehr in ihm war. Sie waren für ihn unerreichbar, denn hinter ihnen stand die Macht, die das Fallbeil bediente. Aber hier hatte er einen. Hier konnte er nach dem lebenden Körper eines Mannes greifen, der früher zu den anderen gehörte und jetzt auf diese Seite der Barrikaden verschlagen wurde, ihn zwischen seinen mächtigen Händen zerquetschen, sein hochmütiges, widerliches Gesicht zu einem blutigen Brei zerschlagen und allen ihm ähnlichen in dieser gottverfluchten Baracke zeigen, wer hier der Herr war. Er konnte es tun: wer fragte jetzt noch nach einem Oberst von Bartlitz?

»Ich zähle bis drei. Eins –.«

»Genug jetzt, mein Junge«, unterbrach ihn eine sanfte, ruhige Stimme aus der Ecke. Ein noch junger, untersetzter, unscheinbar blond aussehender Soldat kam langsam an den Tisch. Seine bloßen Füße tapsten auf dem Holzboden.

Schwanecke zählte: »Zwei und –.«

»Dreh dich herum!« sagte der junge Soldat lauter.

Schwanecke schien ihn erst jetzt zu hören. Er drehte den Kopf leicht zur Seite, maß mit einem schnellen Blick den neuen Gegner und wendete sich dann wieder zum Oberst. Seine linke Hand ballte sich zur Faust.

»Hierhersehen –!« schrie der junge Soldat auf, flankte wie ein geübter Turner über den Tisch und riß den überraschten Schwanecke vom Oberst.

»Mach ihn kalt, Schwanecke!« schrillte Rattengesichts Stimme durch den Raum. Er sprang auf, und es schien, als wollten sich jetzt auch die anderen Kartenspieler einmischen.

Doch sie kamen nicht dazu.

Was jetzt geschah, ging so schnell vor sich, daß später kaum einer beschreiben konnte, wie der junge, neben dem bulligen, bärenstarken Schwanecke knabenhaft-zerbrechlich wirkende Soldat mit dem Gegner fertig wurde. Zwei Köpfe fegten wie ein Wirbel durch die Stube, rissen den Tisch um, man hörte nur Schwaneckes wütendes Knurren, sein keuchendes Atmen und plötzlich einen unmenschlichen, spitzen, schrillen Schmerzensschrei.

Der junge Soldat löste sich geschmeidig vom liegenden Schwanecke, stand noch einen Augenblick über ihn gebeugt, richtete sich auf und fuhr sich mit der Hand durch die kurzen Haare.

»So –«, sagte er.

Schwanecke lag auf dem Rücken und starrte mit glasigen, schmerzerfüllten Augen gegen die Decke. Über seine Schläfen rannen Tränen. Er öffnete den Mund, aus dem vorhin der schreckliche Schrei gekommen war, klappte ihn wieder zu, durch die Stille drang ein lang ausgezogenes, furchtbar anzuhörendes Knirschen, wie von brechenden Zähnen. »Was ist –«, stammelte er, und wieder:

»Was ist das – was ist das –.«

»Um Himmels willen – was haben Sie mit ihm gemacht?« fragte der Oberst.

»Nichts Besonderes. Es tut ihm nicht lange weh. Ein bißchen Jiu-Jitsu. In einer halben Stunde ist er wieder der alte.«

»Steh auf!« sagte der junge Soldat zu Schwanecke.

Der sah ihn zuerst verständnislos an, dann kam in seine Augen wieder Leben, Erkennen – und Furcht. Ächzend beugte er sich vor, hockte einige Augenblicke auf Knien und Händen, schüttelte den Kopf und zog sich dann, sich auf einen umgeworfenen Hocker stützend, auf die Beine. Schmerzvoll gekrümmt, mit hängenden Armen stand er vor dem Gegner, noch benommen von dem schnellen Überfall.

»Gib jetzt die Dose zurück«, sagte der junge Soldat ruhig.

Schwer, langsam, als hätte er eine Last zu tragen, die weit über seine Kräfte ging, schleppte sich Schwanecke durch die Stube und gab Deutschmann die Zigarettendose zurück.

»Auch die Zigarette«, sagte der junge Soldat.

Schwanecke nahm aus der Brusttasche eine Zigarette und hielt sie hin. Deutschmann zögerte.

»Nehmen Sie's«, sagte der Soldat.

Deutschmann tat es.

»Und jetzt entschuldige dich«, sagte der Soldat.

»Schon gut. Es tut mir leid«, sagte Schwanecke.

»Ich danke Ihnen, junger Mann, es war höchste Zeit!« sagte der Oberst.

Der Soldat drehte sich langsam zu ihm und sah den Obersten lange an. »Sie haben mir nicht zu danken«, sagte er dann mit seiner ruhigen, doch jetzt ein klein wenig zitternden Stimme. »Ich habe es nicht Ihretwegen getan. Wenn es allein um Sie ginge, würde ich nicht mal einen Finger krumm machen, Sie – Offizier. Sie sind selbst schuld, wenn Sie hier sitzen und von solchen Leuten verprügelt werden –«, mit dem Kopf zeigte er gegen Schwanecke, der kraftlos auf einen Schemel gesunken war. »Sie haben selbst geholfen, die Leute hochzubringen, von denen Sie hierhergeschickt wurden, weil Sie nichts gegen sie unternommen haben, als es noch Zeit war. Mehr noch: Ihr habt sie sogar unterstützt – ihr Offiziere!« Seine Stimme war jetzt eisig und verächtlich. Und dann machte er einen schnellen, lautlosen Schritt gegen den verwirrt dastehenden Oberst, beugte sich vor und sagte: »Wissen Sie, warum ich hier bin? Weil ich einen Schweinehund von einem Offizier genauso verprügelt habe wie den da. Und er hat's bei Gott mehr verdient. Schwanecke habe ich nur beigebracht, daß ich keine Lust habe, die Tyrannei der wildgewordenen Spießer und von Offizieren gegen die der Gosse einzutauschen. Dem kann man es auf diese Art beibringen, den anderen – euch nicht. Ihr gebt keine Ruhe, bevor ihr nicht ins Gras beißt.«

Achtlos, wie angeekelt, schob er den leichenblaß gewordenen Oberst beiseite und blieb vor Schwanecke stehen: »Wie geht's?« fragte er. Seine Stimme war sanft und freundlich.

»Mensch!« Schwanecke sah auf. Sein Blick war hündisch ergeben. »Wie hast du das gemacht? Du mußt es mir beibringen. Bis jetzt hat mich noch niemand untergekriegt.«

»Ich werd' mich hüten«, sagte der junge Soldat lächelnd. »Hilf jetzt die Bude aufräumen. Der ›Gärende‹ muß jeden Augenblick kommen.«

Julia Deutschmann saß am Schreibtisch ihres Mannes und schrieb:

»Lieber Ernsti, ich weiß, daß Du diesen Brief nie bekommen wirst. Und trotzdem schreibe ich Dir; ich möchte mit Dir sprechen, Dir sagen, was ich denke und fühle, ich möchte Dir erzählen, wie ich lebe. Es ist ein schlechter Ersatz, vor mir liegt ja nur ein leeres Papier, ich sehe Dich nicht wirklich. Nur wenn ich die Augen schließe und versuche, Dein Gesicht herbeizuzaubern, so bist Du da: groß, dünn, mit langen, ungelenk am Körper herabhängenden Armen, großer, schöner Stirn und grauen, erstaunten Kinderaugen. Aber Du bist auch nicht da; und wenn ich glaube, Dein Bild festhalten zu können, dann verschwindet es, zerfließt langsam, unaufhaltsam …

Vor einigen Tagen habe ich mit der ›Nachtarbeit‹ angefangen; ich will, so schnell es geht, die Arbeit wiederholen, die wir in diesen zwei Jahren getan haben, bevor Du weggeholt wurdest. Manchmal gelingt es mir, ganz dabeizusein; dann vergesse ich auch die ewige, bohrende, zurückgedrängte Angst, ich könnte es nicht schaffen, ich könnte Dir nicht helfen, es wäre zu spät für jede Hilfe – und ich sehe plötzlich unsere Arbeit wie ein neues, fast fertiges Gedankengebäude vor mir stehen.

Wie glücklich waren wir doch in diesen zwei Jahren, glücklich trotz des Krieges! Wir haben es nur nicht gewußt. Oder nicht immer gewußt, weil wir uns unter dem täglichen Kleinkram begraben ließen, dem Ärger mit Bezugsscheinen, der Müdigkeit, dem Verdruß über Mißerfolge, Rückschläge und Trugschlüsse. Ich weiß, manchmal war ich ungeduldig, vielleicht auch zänkisch, immer wieder stolperte ich über Kleinigkeiten. Daß es unwichtige Kleinigkeiten waren, das weiß ich jetzt, damals wußte ich es nicht. Was würde ich heute alles dafür geben, Deine Wäsche in der ganzen Wohnung zusammenzusuchen, wenn Dir plötzlich einfiel, Dich umzuziehen! Was würde ich heute dafür geben, wenn Du mir gegenübersäßest und Du Deinen Teller leerschaufeltest, als ginge es um eine Wette im Schnellessen! Wie glücklich wäre ich heute, wenn wir am Abend in unserer ›Gemütsecke‹ wieder zusammen sitzen könnten und Du meine Fragen nur mit einem ›Ha‹ beantworten würdest! Wie habe ich mich über dies alles und über tausend andere Kleinigkeiten damals geärgert! Wie ungehalten war ich, wenn Du unseren Hochzeitstag vergessen hast – und vergessen hast Du ihn ja oft. Und – wie wütend war ich, wenn ich glaubte, daß Du meine Arbeit, von der ich überzeugt war, daß sie mindestens so wichtig ist wie die Deine, nicht richtig gewürdigt hast.

Ernsti, mein Ernsti, wie lächerlich, kindisch und unwichtig war das! Heute erkenne ich es. Heute weiß ich, daß es allein maßgebend ist: Wer bist Du? Was hast Du getan? Wichtig ist allein unsere Liebe, und wichtig ist: Was bin ich? Was habe ich getan? Wichtig ist, den Platz zu erkennen, auf dem man steht, auf dem ich stehe, die Aufgabe zu sehen, die ich zu erfüllen habe.

Nein, ich bin keine zweite Madame Curie. Aber ich will den Platz, auf den ich gestellt worden bin, ausfüllen. Heute sehe ich, daß es nicht meine Aufgabe ist, mit Dir zu wetteifern, sondern Dir zu helfen. Und jetzt – jetzt ist meine Aufgabe vor allem, Dich nicht nur für mich allein zu erhalten, sondern auch für die anderen, für Deine Arbeit, für Deine Träume, für das, was Du getan hast und was Du noch tun würdest.

Ich sehe meinen Weg.

Ich weiß, es ist gefährlich, was ich tue, aber ich muß es tun. Wenn ich nur mehr Zeit hätte! Wenn ich nur wüßte, wie Du lebst, wo Du bist!

Wenn ich an Dich denke, Ernsti, dann werde ich wieder zu einem kleinen verliebten Mädchen, das in den Sternenhimmel sieht und von dem Mann träumt, dem es gehören möchte. Ich gehöre Dir, ganz, Du lebst in mir, wir haben eine lange und doch so schrecklich kurze Zeit zusammen verbracht – und trotzdem möchte ich einen kleinen, winzig kleinen Stern für uns beide aussuchen; wenigstens ihn könnten wir beide sehen. Klein müßte er sein, fast unsichtbar, dann würde er nur uns gehören, dann gäbe es niemand sonst, der zu ihm hinaufschaut und in ihm den anderen sucht.

Es ist sehr spät abends. Schlaf gut, Ernsti, ich mache die Augen zu, denke ganz fest an Dich, und vielleicht, vielleicht werde ich Deinen Gutenachtkuß fühlen: an den Mund, an die Augen – und zuletzt an die Nasenspitze …«

Julia legte die Füllfeder weg, lehnte sich zurück, schloß die Augen und lächelte.

Über ihre Wangen glitten stille, glitzernde Tränen.

Am Mittwoch, am Tage seiner Ankunft, hatte Schwanecke den Oberfeldwebel Krüll dazugebracht, daß er eine Weile nicht wußte, was er tun sollte. Und am Samstag gelang es ihm, den Spieß sprachlos werden zu lassen, eine Tatsache, die dem Oberfeldwebel seit seinen Anfängen als Unteroffizier seitens der Untergebenen nicht mehr passiert war.

Schwanecke hatte ein Meisterstück vollbracht.

Hinter der Baracke 2, in welcher der erste und der zweite Zug der 2. Kompanie lagen, stand eine Kiste. Und in der Kiste lag ein Kaninchen.

Oberfeldwebel Krüll ging zuerst daran vorbei, ohne sonderlich darauf zu achten, obwohl eine Kiste hier nichts zu suchen hatte. Er war zu sehr mit dem Problem Oberleutnant Bevern und der vorgeschriebenen Abmagerungskur beschäftigt. Dann aber blieb er stehen, rekapitulierte das Geschehene und fuhr wie von einer Tarantel gestochen herum.

Ohne Zweifel: Es war eine Kiste, und in der Kiste hockte ein lebendes, wohlgenährtes Kaninchen.

»Wem gehört das Viehzeug?« schrie Krüll außer sich.

Wütend blickte er auf die Soldaten, die nach dem Revierreinigen frei hatten und in den letzten Strahlen der herbstlich flachen Sonne standen. »Deutschmann, wem gehört das Vieh?«

»Ich weiß es nicht, Herr Oberfeldwebel!« brüllte Deutschmann zurück. Er hatte bereits gelernt, daß die Lautstärke beim Militär wesentlich war. Je lauter, desto besser. Je lauter der Soldat, desto mehr wird er von seinen Vorgesetzten geschätzt.

»Mir –«, sagte Schwanecke und trat zwei Schritte vor.

»Ach –«, schnappte Krüll.

»Jawohl. Ich bin ein Tierfreund, Herr Oberfeldwebel.« Schwanecke strahlte Krüll an. »Ich kann ohne so ein kleines, liebes Tierchen nicht leben.«

»Woher?«

Krüll stand über die Kiste gebeugt und betrachtete das fette Tier. Es ließ ab von einer Mohrrübe und rückte erschreckt in den Hintergrund. Drei Fragen peinigten den Oberfeldwebel:

Erstens: Woher kam das Kaninchen?

Zweitens: Woher kam die Kiste?

Drittens: Woher kam die Mohrrübe?

»Zugelaufen –«, sagte Schwanecke.

Der Oberfeldwebel wandte sich wortlos ab und ging. Vor der Schreibstube traf er auf Oberleutnant Obermeier, der gerade das Lager verlassen wollte, und meldete ihm den unerhörten Vorfall. Doch dieser hatte nur ein halbes Ohr für Krülls Nöte. »Freuen Sie sich doch über das Leben in der Kaserne, genießen Sie es noch ausgiebig!« sagte er und klopfte dem strammstehenden Spieß auf die Schulter. »Wenn wir einmal nach Rußland kommen, wird das sowieso anders.«

Dann ging er, und Krüll stand allein auf dem weiten Platz und sann darüber nach, was der letzte Satz bedeuten sollte. Vor dem Wort ›Rußland‹ hatte er eine höllische Angst. Weil er aber die Fähigkeit besaß, Unangenehmes alsbald fortschieben zu können, und weil er wußte, daß es nichts einbringt, sich mit Rätseln herumzuschlagen, gab er die unnützen Überlegungen auf und wandte sich wieder dem naheliegenderen und greifbaren Problem zu – dem Schützen Schwanecke und seinem Kaninchen.

Mit großen, weit ausholenden Schritten eilte er um die Baracke.

»Geklaut!« sagte er zu Schwanecke, als er ankam. Es klang endgültig, es gab keine Zweifel mehr.

»Zugelaufen!«

»Und die Kiste ist auch zugelaufen, was? Und die Mohrrübe ist auch zugelaufen, was? Kommt durch die Luft gesegelt – sssst – schon ist alles da!«

»Jawohl, Herr Oberfeldwebel!«

Krüll zog die Luft durch die Nase ein, bis es aussah, als würde er jeden Augenblick platzen. »Um den Platz! Marsch, marsch!« brüllte er. »Schneller! Schneller!«

Schwanecke trabte und grinste.

»Noch einmal!« schrie Krüll, als Schwanecke zurückgelaufen kam. Und Schwanecke trabte wieder. Dann blieb er schnellatmend vor Krüll stehen.

»Geklaut!«

»Aber, Herr Oberfeldwebel! Was denken Sie von mir? Zugelaufen!«

Das war der Augenblick, in dem es Krüll innerlich einen Riß gab. Er wandte sich stumm ab, um wegzugehen – und stolperte fast über Oberleutnant Bevern, der unbemerkt herangekommen war und wortlos die Szene beobachtete.

Krüll wollte eine Meldung machen, doch Bevern winkte ab. Langsam, mit einer dünnen Gerte seine Stiefel peitschend, trat er gegen Schwanecke.

»Sie sind also ein Spezialist in Karnickeln?« fragte er freundlich.

»In Karnickelböcken.«

Deutschmann drehte sich ab. Er konnte es nicht mehr mitansehen. Mein Gott, dachte er, der Mann redet sich noch einmal vor ein Erschießungskommando!

Bevern zog die Augenbrauen hoch. »Wieso Böcken?«

»Ich benutze sie zu Studienzwecken, Herr Oberleutnant. Irgend 'ne Kleine sagte einmal zu mir, ich wäre ein Kaninchenbock. Seitdem beobachte ich die Viecher, aber ich bin noch nicht drauf gekommen, was sie damit meinte.«

»Und – das Kaninchen war plötzlich da. Es ist Ihnen einfach zugelaufen?«

»Jawohl. Es saß auf einmal vor mir und machte Männchen. Daran erkannte ich, daß es ein Kaninchenbock war.«

»Wieso?«

»Eine Häsin würde ein Weibchen machen, Herr Oberleutnant.«

Auf dem Appellplatz geschah dann etwas, was sogar Hauptmann Barth zuviel wurde. Er öffnete das Fenster und stoppte die Bevernsche Stunde mit einem kurzen und lauten »Halt!«

Schwanecke mußte sich auf den Bauch legen und quer über den großen Platz hin und her wie ein Wurm kriechen. Durch den Staub, durch den Dreck der Küchenabfälle, durch einige Pfützen aus der verstopften und überlaufenden Latrine der 1. Kompanie, immer das Gesicht auf dem Boden. Und Bevern gab das Tempo an, indem er pfiff.

Nach dreimaliger Überquerung des Hofes ertönte Hauptmann Barths »Halt«.

Lässig, mit federndem Schritt, ging Bevern in die Offiziersbaracke und ließ Schwanecke im Dreck liegen.

»Was soll das, Herr Oberleutnant?« fragte Barth hart, als Bevern eintrat.

»Ich habe diesem Schwanecke beweisen müssen, daß der Mensch vom Lurch abstammt.«

»Unsinn!«

Bevern wurde steif.

»Und damit glauben Sie, den Krieg zu gewinnen?« Hauptmann Barth winkte ab. Gehen Sie! hieß das. Gehen Sie sofort, Sie Dreckhaufen! Bevern verstand und ging. Doch bevor er nach der Türklinke griff, hielt ihn Barths Stimme auf: »Ich würde mir an Ihrer Stelle diesen Mann nicht zum Feinde machen. Wir kommen nach Rußland … Gehen Sie jetzt!«

Schwanecke stand taumelnd auf. Sein Gesicht war dreckverkrustet, unmenschlich verzerrt, schreckenerregend. Schweratmend lehnte er sich an die Barackenwand.

Deutschmann lief weg und brachte ein Kochgeschirr voll Wasser. Dann knöpfte er Schwanecke das Hemd auf. Schwanecke sah ihn mit glasigen, verständnislosen Augen an. In langen Zügen trank er das halbe Kochgeschirr leer und schüttete sich das restliche Wasser über den Kopf. »Oberleutnant Bevern –«, murmelte er dann mit gepreßter, unnatürlicher Stimme.

Deutschmann fröstelte. Mein Gott, dachte er, ich möchte nicht in Beverns Haut stecken.

»Willst du noch Wasser?« fragte er Schwanecke.

»Danke, Kumpel, es war genug. Willst du eine Zigarette?«

In diesem Augenblick bewunderte der vornehme, stille Dr. Deutschmann den Schwerverbrecher Karl Schwanecke. Und in diesem Augenblick faßten der Akademiker und der Kriminelle eine stille, wortlose Zuneigung zueinander, die sie durch das Gefühl, daß sie beide – und alle anderen mit ihnen – nur einen gemeinsamen Feind hatten, um so stärker empfanden.

Die Sache mit dem Kaninchen ging wie ein Lauffeuer durch das Bataillon. Auch Oberleutnant Obermeier erfuhr davon und stellte Bevern zur Rede. »Darf ich Sie aufmerksam machen, mein Herr, daß ich der Chef der 2. Kompanie bin und nicht Sie!« sagte er scharf. »Sie haben als Adjutant des Kommandeurs keinerlei Befehlsgewalt über die Truppe, sondern haben lediglich als Verbindungsmann zu dienen.«

»Dieser Untermensch«, fing Bevern an, aber Obermeier unterbrach ihn barsch:

»Ungeachtet dessen, daß er zu meiner Kompanie gehört, haben Sie sich mit ihm eine verfluchte Schweinerei geleistet!«

»Wollen Sie mir einen Kurs über meine Pflichten geben? – und wie ich sie auszuführen habe?« Bevern ging zum Gegenangriff über. »Ihre Kompanie ist – ein Sauhaufen, Herr Kamerad!«

»Ich werde Sie für diese Worte vor dem Kommandeur zur Rechenschaft ziehen«, sagte Obermeier kalt. »Übrigens verbitte ich mir von Ihnen die Anrede Kamerad. Wären wir jetzt nicht im Krieg, würde ich es darauf ankommen lassen und Sie links und rechts in Ihr dummes Gesicht schlagen!«

»Herr Oberleutnant –!« Bevern wurde bleich. Mit einer schnellen Armbewegung drückte ihn Obermeier zur Seite, ging an ihm vorbei und ließ ihn stehen.

In seiner Stube nahm Bevern aus dem Schrank eine dünne Mappe und machte hinter dem Namen Fritz Obermeier, Oberleutnant, ein Kreuz. Ich werde es dir zeigen, dachte er, ich werde es dir zeigen …! Das tust du nicht mit mir. Nicht mit mir!

Voll unversöhnlichen Hasses schloß er die Mappe wieder ein.

Oberleutnant Bevern war aus bestimmtem Grund im Strafbataillon 999. Er hatte die Aufgabe, alles zu melden, was in dieser Einheit geschah. Insbesondere sollte er sein Augenmerk auf die politische Zuverlässigkeit des Offiziers- und Unteroffizierskorps richten.

Am nächsten Tag erfuhren die Soldaten bei der Befehlsausgabe, daß in zwei Tagen das Bataillon abrückte. Oberfeldwebel Krüll wußte es schon am Abend zuvor. Und deshalb betrank er sich.

Er saß auf seiner Stube und soff.

Ein normaler Mensch trinkt. Er kann auch schnell trinken, er gießt also die Flüssigkeit in kleinen, großen, schnellen oder langsamen Schlucken in sich hinein.

Krüll machte von dieser Regel eine Ausnahme. Ob Bier, Schnaps, Wein, er setzte das Glas oder das Kochgeschirr an die Lippen, öffnete den Mund und schüttete den ganzen Inhalt des Gefäßes in sich hinein, ohne daß man ein Schlucken sah oder auch nur eine Bewegung des Kehlkopfes. »Wie ein Schlauch«, stellte Unteroffizier Hefe einmal halb bewundernd, halb neidisch fest. »Der Kerl kann saufen! Ein Wunder, daß es unten nicht wieder hinausläuft!«

Es gab in der deutschen Wehrmacht eine Reihe von Vorschriften gegen das übermäßige Trinken. Doch wie gern er sonst nach Vorschriften lebte, kümmerte sich Krüll um diese nicht, die zu befolgen ihm sicherlich ganz gut täte. Ganz und gar vergaß er sie aber, wenn er wütend war: Dann artete seine Trinkart zu einem animalischen Saufen aus, dem ein tagelanger Katzenjammer folgte.

Und an diesem Abend hatte er Wut. Und Angst. Wut auf Schwanecke, auf Bevern, auf Obermeier, auf alle Soldaten seiner Kompanie und aller anderen Kompanien rund um den Erdball, auf den Erdball selbst und auf das lausige Leben. Angst hatte er vor Rußland. Vor dem Wort allein und vor allem, was ihm dort widerfahren konnte. Es handelte sich ja nicht nur darum, daß die Russen schossen und ihn treffen konnten. Vielleicht bekam das Bataillon Waffen – und was war einfacher für einen Kerl wie Schwanecke, ihn, den Oberfeldwebel Krüll, anstatt einen heranstürmenden Russen zu treffen?

Oh, du lieber Himmel!

Ein ekelhafter Gedanke.

Eine Bande, dachte er beziehungslos. Eine hundsverfluchte Bande! Man sollte sie alle an die nächste Wand stellen, und peng – peng – peng –. Dann wäre Ruhe für immer.

So soff er und stierte mit glasigem Blick aus dem Fenster über den großen, dunklen Platz. »Scheiße«, sagte er laut. »Rußland –!« Und nach einer Weile: »Aus!«

Er hatte keine Freunde, kein Mädchen, und er hatte nur sich selbst und seine Wut und seine Furcht, seine Stimme, seine Autorität – und 'n Haufen Soldaten, die ihn haßten.

Das ist verflucht wenig für einen Mann. Krüll fühlte es und soff, bis er umfiel.

In der Unterkunft des 2. Zuges der 2. Kompanie sagte Schwanecke: »Paßt auf, Kumpels, in den nächsten Tagen geht's ab!«

»Wieso?« fragte Deutschmann.

»Das hat man im Gefühl«, sagte das Rattengesicht.

»Wohin?« fragte Deutschmann.

»Zur Mammi«, grinste das Rattengesicht.

»Halt die Schnauze!« fuhr ihn Schwanecke an, und das Rattengesicht duckte sich. »Im Ernst, ich spür's in allen Knochen: Es geht weg. Todsicher nach Rußland.«

»Und was sollen wir dort?« fragte Wiedeck von seinem Bett her.

»Das kannst du dir denken«, sagte Schwanecke grinsend.

»Rußland –!« sagte Deutschmann leise.

»'s ist ein verfluchtes Land«, sagte das Rattengesicht.

»Brauchst keine Angst zu haben, Professor –!« Schwaneckes Grinsen vertiefte sich. Er beugte sich vor und stupste den zusammenfahrenden Deutschmann in die Rippen: »Alles halb so schlimm. Und eins sag' ich dir –«, jetzt flüsterte er, »'s gibt 'ne Menge Möglichkeiten dort für unsereinen, 'n Haufen Möglichkeiten! Halt dich nur an mich!«

»Was verstehen Sie darunter?« fragte der Oberst. Aber Schwanecke überhörte die Frage. Er kniff die Augen zusammen und sagte: »Du wirst sehen, Professor, ich bin ein altes Frontschwein. Ich weiß Bescheid: Es gibt 'ne Menge Möglichkeiten. Wir biegen es so hin, daß du aus'm Staunen nicht herauskommst, so wahr ich Karl Schwanecke heiße! Oder glaubst du, Schwanecke hat Lust, für Führer, Volk und Vaterland den Heldentod zu sterben?«

Julia Deutschmann arbeitete fieberhaft, schnell, doch nicht überstürzt. Sie zwang sich, mit all ihren Gedanken bei der Arbeit zu bleiben; allein so würde es ihr möglich sein, in kürzester Zeit Ernsts monatelange Arbeit zu wiederholen.

So lebte sie gleichsam wie ein Deserteur hinter der Front: Angespannt, gejagt von der allzu schnell und doch so fürchterlich langsam verrinnenden Zeit, von Gedanken an ständig lauernde Gefahr gepeinigt, angstvoll auf das Unausbleibliche wartend und zugleich hoffend, es würde nicht eintreten. Sie arbeitete Nächte hindurch und schlief am Tage, und zuletzt gab es für sie keine Tage und Nächte mehr: Sie arbeitete, bis ihre Gedanken vor Müdigkeit zerflatterten und ihr Kopf auf die Schreibtischplatte sank. Sie aß hastig, ohne zu achten, was sie aß, wenn das Gefühl des Hungers zu stark wurde, um es weiter zu ertragen. Und an einem Abend, während sie eine trockene, dünne Brotschnitte mit Margarine bestrich, mitten im Krieg, in einer vom Grauen gepeitschten Welt, in einer dunklen, verzweifelten Stadt, wurde ihr klar, was es bedeutete, bescheiden und ehrfürchtig zu sein und sich einer großen Aufgabe hinzugeben, die scheinbar nicht zu bewältigen war.

Während sie langsam an dem abscheulich schmeckenden Margarinebrot kaute und einen dünnen Pfefferminztee trank, kam eine große Ruhe über sie.

Als sie das Geschirr wegräumte, begannen die Sirenen zu heulen. Vorwarnung. Und schon einige Minuten darauf Fliegeralarm.

Mutterseelenallein saß sie im Keller ihres Hauses, in einem Inferno von Abschüssen und Bombenexplosionen, zitternder Wände und stauberfüllter, trockener Luft, die ihr den Atem abschnürte und sie zum Husten zwang. Doch auch jetzt noch blieb sie ruhig, als hätte sie von irgend wem, der stärker war als die Bomben, die Zusicherung erhalten, ihr würde nichts geschehen. Sie betete, stumm, mit kaum sichtbar sich bewegenden Lippen, die Hände im Schoß gefaltet, reglos, steif aufgerichtet.