»Vors Kriegsgericht, sagst du? Erschießen, sagst du? Puff-puff – und weg ist Schwanecke, meinst du? Das würde dir so gefallen, was? Schwanecke tot und Bevern – oder wie du schon heißt – freut sich wie ein Schneekönig …«

»Lassen Sie mich vorbei!« zischte Bevern.

»Aber, aber, sachte, sachte! Ich habe gesagt, wir wollen ein Wort unter Männern sprechen, du Schwein! Kannst du dich erinnern? Wir haben über viele Sachen zu sprechen. Nicht doch, nicht die Pistole, was willst du damit? Ich müßte dir auf das Pfötchen schlagen – weg die Hände!«

Bevern ließ ab von der Pistolentasche. »Was wollen Sie – wissen Sie, was das bedeutet? Behinderung eines Vorgesetzten …«

»Halt's Maul!« Schwanecke wischte sich über die Augen. Kleine Eisstückchen klebten an den Wimpern, jetzt grinste er nicht mehr, und Bevern hatte plötzlich das Empfinden, daß er weit, weit weg war von hier, wie ein Mann, der angestrengt über irgend etwas nachdachte. Und dann kam er wieder zurück, und als er weitersprach, grinste er nicht mehr:

»Du bist ein verdammtes Schwein – und ich werde dich jetzt erledigen. Was glaubst du, wie sich die andern freuen werden, wenn du ein toter Mann bist? Das wird ein Feiertag für das ganze Bataillon. Kriegsgericht – meinst du? Nicht ich werde ins Gras beißen – das kannst du mit mir nicht machen!«

»Sie – Sie –!« schrie Bevern mit einer hohen, fistelnden Stimme, sein Gesicht war verzerrt, und aus seinen Augen schrie unsinnige Angst. Und dann rief er um Hilfe, aber seine Stimme ertrank in der weißen Weite umher, und er wußte, daß ihn hier niemand hören würde. Es war umsonst, der Mann vor ihm war der Tod. Es gab keine Hilfe. Das wußte Bevern, und er schrie seine Angst hinaus, aber er schrie nicht nach Hilfe anderer Soldaten, sondern nach Hilfe jener Frau, nach der so viele tödlich verwundete Männer schrien, wenn sie ihr Leben mit dem Blut, das aus ihnen rann, mitten in Schmerzen entweichen fühlten. Er schrie »Hilfe!«, aber er meinte die Mutter: jene stille, bescheidene Frau, die er früher verachten zu müssen glaubte, weil sie sich nichts aus seinem Glauben machte und aus seinen Idealen; und er meinte nicht nur diese bestimmte Frau, die seine Mutter war, sondern alle Welten, die sich hinter diesem Wort verbergen, und die aus ihrem Schoß entspringen, und alle Mütter, die schützend die Hände um die weinenden Kinder legen: die letzte Instanz der Hilflosen und Sterbenden.

Mitten in diesen Schrei schlug Schwanecke zu.

Bevern sank betäubt zu Boden.

Nun handelte Schwanecke schnell und sicher, als hätte er es schon hundertmal durchexerziert.

Ohne den Blick von Bevern zu wenden, jagte er aus dem Maschinengewehr zwei, drei Feuerstöße gegen den Wald, in dem sich, wie er genau wußte, mindestens drei Scharfschützen verbargen. Dann schlug er mit der Handkante gegen Beverns Halsschlagader, packte ihn unter den Armen, hob den schweren, schlaffen Körper ächzend hoch, trug ihn hinter das Maschinengewehr und schob den Ohnmächtigen langsam empor.

Er brauchte nicht lange zu warten.

Schon nach zwei oder drei Minuten hörte und fühlte er einen dumpfen Schlag gegen Beverns Körper, und gleich darauf hörte er drüben im Wald einen Abschuß.

Er ließ den Körper fallen und beugte sich über ihn.

An der Nasenwurzel des leicht erstaunten, ein wenig verzerrten Gesichtes saß ein kleiner, runder, sauberer Einschuß. Der Stahlhelm wies hinten ein gezacktes Loch auf. Ein glatter Durchschuß. Manchmal ist der Krieg doch zu etwas nütze, dachte Schwanecke grimmig, und schießen können die Bruder, verdammt noch mal …

Dann richtete er sich wieder auf, drehte sich um und jagte eine ganze Serie wütender, langer Feuerstöße gegen den Wald. Immer wieder drückte er auf den Abzug, bis der Gurt leer war. Dann legte er einen neuen ein und jagte auch diesen durch den Lauf, und ein wilder, düsterer Triumph erfüllte ihn, als er das rüttelnde Stoßen des Maschinengewehrs in seiner Schulter spürte und die rasenden Garben den Schnee von den Zweigen im Wald gegenüber peitschten. Seine Augen waren voll flackernden Irrsinns.

»So«, sagte er, als auch der zweite Gurt leergeschossen war. »Das genügt.«

Der Tod Oberleutnant Beverns war keine große Sensation.

Er wurde registriert, in Listen aufgenommen, in Wehrstammrollen eingetragen. Hauptmann Barth sagte am Telefon zu Obermeier: »Er war ein irregeleiteter Junge – es gibt 'ne ganze Menge davon.« Und Wernher, der seine Probleme, die Bevern betrafen, so plötzlich und einfach gelöst sah, sagte: »Armer Kerl – stirbt, ohne je ein Mädchen geliebt zu haben …« Nur Krüll war recht nachdenklich und still. Daß dem schneidigen Bevern niemand eine Träne nachweinte, im Gegenteil, daß es aussah, als ginge ein Aufatmen durch das ganze Bataillon, vor allem aber durch die rückwärtigen Dienste, die Bevern mit Vorliebe unsicher gemacht hatte, machte ihn ängstlich oder gab ihm zumindest zu denken. Er wußte, daß er nicht weniger verhaßt war als Bevern. Wenn er auch ein wenig zahmer geworden war, nach seinem Erlebnis im Graben, wenn er auch fühlte, daß er etwas mehr in die Gemeinschaft der Soldaten gefunden hatte, war er sich seiner Untergebenen nicht sehr sicher – zumal er immer noch der Überzeugung war, daß ein Spieß im Strafbataillon vornehmlich dazu da war, um den Soldaten die Freude am Leben zu vergällen.

Für Schwanecke allerdings war die Sache mit Beverns Begräbnis hinter den Häusern von Babinitschi nicht zu Ende.

Als erster, im Graben noch, hatte ihn Unteroffizier Hefe ausgefragt.

»Bevern ist von den Scharfschützen geknackt worden!« hatte Schwanecke keuchend erzählt, wie ein geborener Schauspieler darauf achtend, daß in seiner Stimme das richtige Maß von Bestürzung war.

»Wo?«

»Bei mir, ganz vorne.«

»Ach …« Unteroffizier Hefe hatte Schwanecke schief angesehen. »Besser konnte der Affe ja nicht fallen. Wer war dabei?«

»Keiner. Nur ich.«

»Also bist du der einzige Zeuge?«

»Na klar.«

»Und warum hast du nicht verhindert, daß der Idiot über den Graben guckt?«

»Kann ich einem Offizier befehlen?«

»Hast du ihn gewarnt?«

»Aber ja.«

Mit Obermeier war es dann schon schwieriger. Der Oberleutnant ließ ihn heranholen und verhörte ihn eingehend.

»Wie lange waren Sie mit dem Oberleutnant zusammen?«

Schwanecke sah gegen die Decke des Blockhauses. »Vielleicht – na, vielleicht fünf Minuten.«

»Und was sagte Oberleutnant Bevern?«

»Als er mich sah, sagte er: ›Da bist du ja, Sauhund!‹«

Obermeier sah auf seine Hände. Wenn er auch kein Mitleid mit Bevern empfand, so kam ihm der Heldentod des verhaßten Adjutanten doch verdächtig vor, und seine Pflicht als Offizier war – und nicht nur die als Offizier –, daß dieser Tod restlos geklärt wurde. An jeder anderen Stelle hätte man Bevern den unglücklichen Schuß geglaubt und die Sache zu den Akten gelegt. Aber ausgerechnet bei Schwanecke, allein, ohne Zeugen. Das wird eine Situation gewesen sein, dachte er, wie sich Schwanecke eine ähnliche nur erträumen konnte. Die Konsequenzen, die aus diesen Überlegungen erwuchsen, waren ungeheuerlich. Sie waren zu abwegig, um weiter untersucht zu werden, und doch … und doch: bei Schwanecke hatte man es nicht mit einem gewöhnlichen Soldaten zu tun. Er war ein Krimineller, und man brauchte nur in seine Augen zu sehen, um zu wissen, daß er auch ein Mörder sein konnte.

»Wie ist das passiert?«

»Ich sage: ›Obacht, Herr Oberleutnant, da drüben liegen sibirische Scharfschützen‹, und er sagt: ›Haben Sie Angst, Sie Flasche?‹ Ich sage: ›Nein, aber die schießen verdammt genau!‹ Und er sagt: ›Blödsinn!‹ guckt über den Rand, und da macht's bumm, und er kippt um. Aus war's. Es ging alles sehr schnell, Herr Oberleutnant, er wollte ja immer beweisen, daß …«

Obermeier winkte ab. »Schon gut, gehen Sie jetzt, Melden Sie sich beim Oberfeldwebel Krüll.«

Aufatmend verließ Schwanecke den nachdenklichen Obermeier. Er bummelte hinüber zur Schreibstube, begrüßte ein paar alte Bekannte und trat dann bei Krüll ein. Er glaubte, die Sache nun endgültig hinter sich zu haben. Bevern war tot, was konnte ihm, Schwanecke, schon passieren? Er starb den Heldentod, dachte er böse, und dabei wollte er mich vors Kriegsgericht bringen, erschießen, das Erschießungskommando selbst leiten – bums, weg ist der Schwanecke. Aber dabei hat's bums gemacht, und weg war der Bevern, und keine Spur mehr vom Kriegsgericht …

Jetzt hat dich der Teufel geholt, dachte er, ich hab's dir gesagt: Nicht mit mir. Mit allen anderen, aber nicht mit mir …!

Oberfeldwebel Krüll sah auf, als Schwanecke ohne anzuklopfen eintrat. Er lehnte sich zurück, verschränkte gelassen die Arme und nickte ein paarmal.

»Natürlich, wer denn sonst. Der Mann ohne Kinderstube. Der beinahe perfekte Sittlichkeitsverbrecher und Räuber!«

»Lassen Sie man das ›beinahe‹ weg«, grinste Schwanecke.

»Und Mörder? Wie wär's mit dem ›beinahe perfekten Mörder‹?«

Schwanecke kniff die Augen zusammen. Sein Gesicht verzog sich zu einer häßlichen Grimasse. Heiße Wut zuckte in ihm empor und überspülte für einen Moment seine lauernde, fast immer wache Vernunft.

»Sie kommen auch noch dran!« zischte er. Krüll fuhr auf.

»Was heißt – auch?« schrie er.

»Auch – heißt, daß Sie drankommen, wie wir alle drankommen werden«, sagte Schwanecke, wieder vorsichtig geworden.

»Auch – das kann mehr heißen! Halt mich nicht für dumm!«

Krülls Stimme war plötzlich heiser. Er hatte Angst vor dem klobigen Mann, der mächtig und ungebändigt vor ihm stand und ihn aus seinen kalten Fischaugen anstarrte.

»Kann es«, sagte Schwanecke ungerührt.

Krüll fühlte, wie über seinen Körper ein langes Zittern lief, wie sich seine Wut auf einmal entladen wollte.

»Ich weise es dir nach, mein Junge … ich weise es dir nach, darauf kannst du Gift nehmen.« Sein dicker Kopf pendelte hin und her, wie immer, wenn er scharf nachdenken oder irgend etwas überlegen mußte. »Und wenn sie dir die Rübe abhacken, ziehe ich meine Sonntagsuniform an und saufe mich voll!«

Schwanecke gab keine Antwort. Doch er konnte es nicht unterlassen, in die Ecke des Raumes zu spucken, bevor er die Schreibstube verließ …

Eine Stunde später trat Stabsarzt Dr. Bergen in das Haus, wo Obermeier seinen ›Gefechtsstand‹ eingerichtet hatte.

»Wenigstens für acht Tage haben wir jetzt Lazarettmaterial«, sagte er müde. »Ihr Deutschmann hat einiges organisiert. Nächste Woche soll er wieder nach Orscha gehen … Die Heeresapotheke bekommt neues Material. Als ob etwas in der Luft liegt …«

»Mich wundert's ja schon lange, daß der Iwan so still ist. Die Felder sind steinhart gefroren, es gibt nicht allzuviel Schnee … die Russen können sich kein besseres Rollfeld für ihre Panzer wünschen. Ich glaube, es wird nicht mehr lange dauern, dann knallt es.«

»Malen Sie den Teufel nicht an die Wand, Obermeier!« Dr. Bergen setzte sich und trank schnell einen Schluck Schnaps, den ihm Obermeier im Deckel seines Kochgeschirres reichte. »Aber ich komme nicht deswegen … wenn's losgeht, werden wir es früh genug wissen. Ich bin zwar kein alter Frontsoldat, aber man müßte aus Holz sein, um nicht zu spüren, daß dies – eh – wie man so sagt, die Ruhe vor dem Sturm ist. Was ich sagen wollte … Dr. Hansen hat da etwas entdeckt, was er mir erst heute gesagt hat. Er hat darüber ein Protokoll angefertigt … es geht um Bevern. Aber lesen Sie selbst, bitte.« Er reichte Obermeier einige Blätter Papier und trank noch einen Schluck Schnaps.

»Daß ihr Ärzte auch kein Deutsch schreiben könnt«, sagte Obermeier nach einer Weile seufzend.

»Also ich will's Ihnen erklären: An der Leiche von Oberleutnant Bevern wurde neben dem Einschuß im Kopf noch eine Schwellung am Kinn und, was wichtiger ist, eine am Kehlkopf seitlich, mit einem kleinen Bluterguß, festgestellt. Das bedeutet, daß diese Schwellungen schon da waren, bevor Bevern durch den Kopfschuß getötet wurde. Können Sie sich das erklären?«

»Was meinen Sie damit?«

»Passen Sie auf: Es ist möglich, daß Bevern bei seinem Inspektionsgang durch die Gräben ausgerutscht und hingefallen ist. Das könnte die Schwellung am Kinn erklären. Oder glauben Sie, daß er etwa in eine Schlägerei verwickelt war?«

»Kaum anzunehmen«, sagte Obermeier.

»Also, das wäre die Schwellung am Kinn. Aber wie erklären Sie sich die Schwellung und den Bluterguß am Hals? Diese können durch keinen Sturz entstehen. Ich war eine Zeitlang – es ist schon lange Jahre her – Polizeiarzt. Solche Schwellungen am Hals entstehen nur, wenn man mit einem stumpfen Gegenstand dagegenschlägt. Etwa mit einem dicken Stock oder …« Dr. Bergen schlug mit gestreckter Hand durch die Luft.

»Sie meinen – Handkantenschlag?« fragte Obermeier fassungslos.

»Kann sein …« Dr. Bergen zuckte mit den Schultern. »Solche Schläge können, wenn sie mit großer Wucht ausgeführt werden, tödlich sein.«

»Und Sie meinen …«

Dr. Bergen winkte ab. »Nein, nein. Beverns Tod ist eindeutig durch ein Infanteriegeschoß verursacht worden. Vorne 'rein, hinten 'raus – und Sie wissen ja, daß die modernen Infanteriegeschosse mit ihrer Rasanz bei Kopfdurchschüssen verheerende Wirkungen haben können. Und das ist bei Bevern geschehen. Aber – und das ist, worüber Sie sich Gedanken machen müssen: Der Schlag gegen Beverns Kehlkopf genügte, um ihn bewußtlos zu machen. Und das muß kurz vor dem Tode gewesen sein. Ich bin kein Detektiv – und Sie wahrscheinlich auch nicht. Aber Sie sind der Kompaniechef. Bei Ihnen ist das passiert...«

Schweigen.

Nach einer Weile sagte Obermeier langsam und schwer: »Wenn ich Sie recht verstanden habe, hat irgend jemand – wir wollen jetzt keinen Namen nennen – Bevern niedergeschlagen und ihn dann erschossen.«

Dr. Bergen trank wieder. »Hansen hat festgestellt, daß der Schuß nicht aus unmittelbarer Nähe abgefeuert wurde. Sie wissen ja, wir Mediziner können das. Wahrscheinlich war's doch ein russischer Scharfschütze. Ich möchte mich nicht festlegen … aber das, was Sie vorher gesagt haben, dürfte meiner Meinung nach der Wahrheit ziemlich nahekommen.«

»Also sprechen wir es aus: Schwanecke – niemand anders kann es gewesen sein – hatte Bevern zuerst k.o. geschlagen, ihn mit einem Handkantschlag noch tiefer betäubt und am Ende erschossen – oder von einem russischen Scharfschützen erschießen lassen. So etwas kann man arrangieren – wenn man Bescheid weiß …«

»Es war Bevern, aber …«

»Sie meinen – aber es wird mir nichts anderes übrigbleiben, als diesen Bericht an Hauptmann Barth weiterzugeben«, beendete Obermeier.

»So ist es.« Dr. Bergen trank den restlichen Schnaps aus. Auch wenn er widerlich schmeckte, war es doch ein Gesöff, das ihm half, das Ganze zu ertragen. Alles, was sich hier abspielte, war ungeheuerlich, zu ungeheuerlich, um es mit wachen Sinnen und klarem Verstand ertragen zu können. »Auch wenn Bevern ein Schwein war … Mord bleibt Mord, ganz gleich, an wem er verübt wurde.«

»Ich werde gleich – ich werde nachher Schwanecke festnehmen lassen und ihn noch einmal verhören.«

Dr. Kukill hatte vergeblich versucht, Julia Deutschmann telefonisch zu erreichen. Da nach dem letzten Angriff britischer Bomberverbände die Leitungen zerstört waren, fuhr er hinaus nach Dahlem, getrieben von einer ihm bis dahin unbekannten Sorge und Ungewißheit, die sich immer mehr in Furcht wandelte, je länger er daran dachte, daß Julia den wahnwitzigen Plan ausführen könnte, Deutschmanns Versuche an sich selbst zu wiederholen.

Die Villa in Dahlem war verschlossen. Er schellte umsonst. Die Jalousien, durch Bombenabwürfe in der Umgebung zum Teil aus dem Rahmen gerissen, waren so weit heruntergelassen, wie es möglich war.

Dr. Kukill wartete eine Weile, dann öffnete er die kleine Vorgartentür und ging um das Haus herum. Nichts rührte sich. Das Haus sah grau, verlassen und leblos aus. Die Küchentür, die nach hinten in den Garten führte, war verschlossen. Julia war offensichtlich verreist. Doch merkwürdig – sie hatte ihm nie etwas davon gesagt. Aber dann sagte er sich, mit einer plötzlich aufkeimenden Bitterkeit, daß sie ihm, gerade ihm, sicher nie etwas sagen würde. Weder daß sie verreisen wollte noch irgend etwas anderes. Sie haßte ihn. Wie konnte er solch ein Narr gewesen sein, zu glauben, sie würde Deutschmann vergessen und seinen Wünschen entgegenkommen? Wohin konnte sie gegangen sein? Er wußte, daß sie keine Angehörigen mehr hatte. Ist vielleicht etwas mit Dr. Deutschmann vorgefallen? Vielleicht ist er in Rußland gefallen?

Dieser Gedanke, mit dem er in der letzten Zeit sehr oft gespielt hatte, war ihm nicht unangenehm. Und doch war da ein Unterschied zu früher, ein seltsames, bohrendes Gefühl der Unsicherheit – oder der Schuld? – wie er es früher nicht gekannt hatte. Früher war alles klar und einfach: Er begehrte Julia, er wollte sie haben, und er traute sich zu, sie zu gewinnen. Er mußte sie haben; ihr Widerstand reizte ihn nur und machte das Begehren oder das Besitzen zu einer fixen Idee. Er hatte bis jetzt alles bekommen, was er haben wollte. Warum sollte es mit Julia anders sein? Das schwierigste Hindernis war allerdings der lebende Dr. Deutschmann. Wenn er tot war, dann mußte ihm nach einer Weile des Trauerns Julia wie eine reife Frucht in den Schoß fallen. Was er dann mit ihr tun würde, wie es nachher weitergehen sollte, darüber macht er sich keine Gedanken.

Doch neuerdings war das alles nicht mehr so klar. Nach wie vor wollte er Julia für sich haben, aber anders als früher. Und er war nicht mehr ganz so sicher, ob er wirklich noch Deutschmanns Tod wünschte. Die Grenzen hatten sich verwischt, seine Empfindungen wurden seltsam kompliziert – ein Zustand, den er bislang nicht gekannt hatte. War das etwa – Liebe? Wenn es das war, dann war Liebe eine seltsame Angelegenheit …

Bevor er wieder zu seinem Wagen ging, stand er noch eine ganze Weile im Garten und betrachtete das Haus. Irgend etwas in seiner Brust tat ihm weh, es stieg ihm in den Hals, es war fast ein physischer Schmerz. In diesen Augenblicken hätte er vielleicht seine ganze Karriere und alles das, was er war und was er vorstellte, darum gegeben, wenn die Tür plötzlich aufgegangen wäre und Julia mit ausgebreiteten Armen auf ihn zukommen würde. Aber die Tür blieb verschlossen, das Haus war still und verlassen. So ging er wieder weg und fuhr davon. Am nächsten Tag wollte er wiederkommen, und er wußte schon, daß er immer wiederkommen würde – bis er sie fand. Er wollte sie suchen, er mußte sie finden, und sei es nur, um mit ihr über Belanglosigkeiten zu sprechen oder in ihrer Nähe zu schweigen.

Hinter einer schiefhängenden Jalousie, seitlich verborgen von der Gardine, sah ihm Julia aus dem Wohnzimmer nach.

Das war ein anderer Kukill als der, den sie bis dahin gekannt hatte. Nicht mehr der eiskalte, selbstsichere Gerichtsarzt, der gesuchte Sachverständige, ein Liebling der Partei und der Frauen. Jetzt erinnerte er sie an den Kukill, der sagte, seine Nächte seien lang und seine Träume selten schön. Und noch etwas anderes war da, das ihn umgab und das in seiner Haltung zu lesen war. Aber sie konnte es nicht ergründen, und nachdem er weggefahren war, wollte sie es auch nicht mehr. Sie zwang sich, nicht mehr an ihn zu denken, als sie sich hinter Ernsts Schreibtisch setzte. Dr. Kukill war einstweilen nebensächlich. Später, wenn der Selbstversuch gelungen war, mußte er die Revision des Verfahrens einleiten. Später – wenn alles gut ging.

Ein Berg von Kladden, Berichten über Versuchsreihen und eigenen Experimenten bedeckte die Tischplatte. Sie schob das Papier achtlos beiseite und begann auf ein großes Blatt zu schreiben:

»Mein Liebster!

Es wird ein kurzer Brief sein, denn es ist möglich, daß er der letzte ist. Man soll beim Abschied nicht zu viele Worte sagen, sie machen das Weggehen nur noch schwerer, und, was beinahe schlimmer ist – sie drohen, den Mut wegzunehmen, das bißchen Mut, den ich habe, um das zu tun, wovor mir bangt. Aber nein, ich will nicht so schwarz sehen. Ich glaube, ich bin ein bißchen übermüdet, und wenn man müde ist, dann erscheint einem Notwendiges sinnlos, Schweres noch schwerer.

Unlängst habe ich mich dabei ertappt, eitel zu sein. Fast mit Stolz habe ich daran gedacht, daß es doch eine Menge ist, was ich tue. Für Dich tue. Das kann, so sagte ich mir befriedigt, nur eine Frau tun, die fähig ist, sehr stark zu lieben. Ich kam mir wie eine kleine Heldin vor. Oder eine große? Du siehst, Liebster, selbst in diesen Situationen kann man sich von gewissen Eigenschaften und Schwächen, die uns mit auf den Lebensweg gegeben wurden, nicht befreien. Dann, etwas später, fragte ich mich, wie oft wohl Menschen aus Eitelkeit – gut waren, um sich selbst sagen zu können oder es von anderen zu hören, sie wären gut gewesen oder hätten eine gute Tat vollbracht. Ich fragte mich, wieviel von Eitelkeit oder sogar Selbstsucht in Menschen steckt, die – nennen wir es so – eine Heldentat vollbracht haben, die nach außen hin als völlige Aufgabe ihrer selbst und die Negation des angeborenen, notwendigen Egoismus oder des Selbsterhaltungstriebes erscheint? Dies und jenes ging und geht mir durch den Kopf … Aber ich sagte ja, ich will nicht einen sehr langen Brief schreiben. Nur das noch: Wie die Zeit auch sei, in der ich leben muß, wie schwer es auch manchmal oder fast immer ist, ich habe viele neue Ansichten gewonnen und viele Einblicke. Ich bin eine andere geworden, doch nicht in dem Sinn, wie man so leichthin sagt: Du bist nicht mehr die alte. Was ich früher ahnte, weiß ich heute, und ich ahne jetzt, was mir früher ein Buch mit sieben Siegeln war. Das nennt man wohl – Entwicklung.

Wenn ich mit diesem Brief fertig bin, werde ich das Experiment wagen. Oh, Liebster, ich habe Angst! Vielleicht wird dieser Brief doch nicht so kurz werden – denn jede Zeile, jedes Wort, das ich schreibe, ist ein kleiner Aufschub.

Das alles wirst Du wahrscheinlich nie erfahren. Zumindest wirst Du es nicht wissen, wenn der Versuch mißlingt. Wenn es schiefgehen sollte, werde ich nicht mehr sein, um es Dir zu erzählen. Aber auch wenn ich am Leben bleibe, so glaube ich nicht, daß Du je heimkommen würdest, denn dieser Krieg wird noch lange dauern, und er verschlingt Menschen wie eine ewig hungrige, riesenhafte Bestie – und sicher vor allem Menschen, die verurteilt sind, in Einheiten wie dem Strafbataillon zu leben. Wir werden dann zwei von den Millionen Opfern des Krieges sein, zwei Namenlose, deren Schicksal niemand aufrütteln wird, denn es wird untergehen in vielen, vielen anderen Schicksalen, die nicht minder schwer sind. Übrigbleiben wird der geschichtliche Begriff: Krieg. Übrigbleiben wird dieses schreckliche Wort, dessen Tragweite niemand ermessen kann, der nicht gerade zu der Zeit gelebt hatte, als er wütete, und alle anonymen, tausendfachen Schicksale werden in diesem Sammelbegriff verschwinden.

In wenigen Minuten ist es soweit. Und in zehn oder zwölf Stunden werde ich wissen, ob wir recht hatten mit unserem Aktinstoff oder ob wir uns getäuscht haben. Ich verspreche Dir, tapfer zu sein … ich werde es versuchen. Auf alle Fälle aber laß mich Abschied nehmen von Dir. Ich versuche zu lächeln, während ich das schreibe, nicht zu weinen. Ich versuche an die unzähligen schönen, glückhaften Stunden zu denken, die wir zusammen verlebt haben, und nicht an das Bittere, das danach kam. Wenn ich Lebewohl sage, dann will ich zugleich sagen: Ich habe ein erfülltes Leben hinter mir, obwohl es so kurz war.

Und ich will daran glauben, daß wir uns wiedersehen werden, daß wir beide jetzt nur durch eine tiefe, lange Nacht gehen, hinter der ein Morgen kommen muß. Ich küsse Dich in Gedanken, wie damals, als Du mir sagtest: Gott hat die Welt erschaffen, damit es auch dich gibt. Damals war ich Dir dankbar für diese Worte, aber nicht so wie heute. Heute würde ich auch Dir dasselbe sagen.

Deine Julia.«

Sie legte den Brief, ohne ihn noch einmal zu überlesen, zu den anderen nicht abgeschickten Briefen, klappte die Ledermappe zu, in der sie die Schreiben aufbewahrte, und steckte sie in einen Koffer, den sie sorgfältig verschloß. Dann ging sie ins Labor und trat zu einem hölzernen Ständer, auf dem zwei kleine Phiolen mit leicht trüber Flüssigkeit standen.

Ohne mit der Hand zu zittern, zog sie zwei Spritzen mit der Flüssigkeit auf. Ihre Bewegungen waren knapp und ruhig.

Es war 11.17 Uhr vormittags.

Sie klappte eine Kladde auf und trug die Zeit mit dem Datum als Kopf des Berichtes ein, den sie über sich selbst schreiben wollte.

Sie schrieb:

11.19 Uhr. Erste Injektion mit 2 ccm Staphylokokkus aureus intramuskulär, in den musculus vastus lateralis.

Sie hatte die Einstichstelle am Oberschenkel vorher mit Alkohol gereinigt. Hinterher mußte sie darüber lächeln. Wie selbstverständlich waren ihr die einzelnen Handgriffe geworden! Sie reinigte die Einstichstelle, in die sie Eiter injizieren wollte! Über diese Widersinnigkeit lächelte sie noch, als sie mit der dünnen Hohlnadel in den Muskel stach, die Flüssigkeit schnell in das Fleisch drückte und die Nadel wieder mit einem Ruck herauszog.

Die zweite Spritze injizierte sie sich in den Unterarm. Anschließend trug sie in die Kladde ein:

11.22 Uhr: Injektion Nr. 2 in den musculus flexor digitorum profundus. Ich unterbreche hier den Versuch und warte die Wirkung ab.

Sie stellte den Wecker auf 21.00 Uhr und legte sich auf das alte Ledersofa. Hier hatte Ernst oft gegen Morgen, erschöpft von der durchwachten Nacht, ein oder zwei Stunden geschlafen. Die Vorhänge vor den beiden Fenstern waren zugezogen, es herrschte eine fahle Dämmerung, in der alle Gegenstände um sie unwirklich wurden. Neben dem Sofa stand auf einem Tischchen das Telefon. Daneben lag ein Zettel mit den Rufnummern Dr. Wisseks in der Charité und in seiner Wohnung.

Sie hatte versucht, an alles zu denken, bevor sie mit dem Experiment begann. Ihre Notizen wiesen auch die geringste Einzelheit auf. Kühl und überlegt ordnete sie, was zu ordnen war, wie ein alter, müder und über seinen Tod hinaus korrekter Mann, der mit seinem Leben abschloß, weil er das nahende Ende fühlte. Sie hatte sogar einen Brief an Dr. Kukill geschrieben, der – ohne daß sie es wollte – mit den bitteren Worten begann: »Wären Sie als gerichtlicher Sachverständiger mehr Ihrem Gewissen oder auch Ihrer Einsicht gefolgt und nicht den Vorurteilen des sogenannten ›Gebotes der Stunde‹, dann wäre es nie so weit gekommen, daß Sie diesen Brief lesen müssen …«

Es war vollbracht. Ruhig, als habe sie eine leichte Dosis Schlafmittel genommen, lag sie auf dem alten Ledersofa. Ihr Gesicht war sehr bleich und ihre Augen geschlossen. Sie dachte an Ernst. Sie dachte an den grausamen russischen Winter, von dem sie so viel gehört hatte. Ob er wohl einen Mantel hatte? Ob er wohl ihr Päckchen bekommen hatte mit den dicken Wollhandschuhen, Socken und Schal und dem Kuchen und zwei Schachteln Zigaretten und anderen Kleinigkeiten? Ob er Filzstiefel besaß? Oder sogar Pelzstiefel? Es waren kleine, vorbeifließende, zärtliche Gedanken einer Frau, die sich Sorgen um ihren Mann machte oder einer Mutter um ihren Sohn.

Am frühen Nachmittag – sie sah auf die Uhr: 14.16 – hörte sie, wie ein Wagen draußen vorfuhr. Am Motorengeräusch erkannte sie, daß es Dr. Kukills Auto war. Eine Weile war es still, dann gingen leise, über den Kies knirschende Schritte um das Haus. Dann klingelte es an der Eingangstür zweimal – dreimal – fünfmal. Einen Augenblick lang mußte sie mit aller Macht gegen den Wunsch ankämpfen, aufzustehen, zur Tür zu laufen, aufzuschließen und ihm alles zu erzählen, um Hilfe zu bitten, bevor es zu spät war. Doch sie blieb liegen, preßte die Hände gegen die Ohren und drehte den Kopf zur Wand. Und wieder nach einer langen Weile hörte sie, nun kaum vernehmbar, den Motor des Wagens anspringen. Dann entfernte sich das Geräusch schnell und erstarb.

Dr. Kukill war wieder fortgefahren.

Die Ruhe des leeren Hauses, die Dämmerung des Labors schläferten Julia ein. Sie schreckte hoch, als neben ihrem Kopf das Telefon schrill klingelte. Aber sie hob den Hörer nicht ab. Es war sicher wieder Dr. Kukill, und sie wollte ihn nicht sprechen.

18.47 Uhr: Sie sah auf die Einstichstellen. Um die am Oberschenkel hatte sich ein kleiner roter Kreis gebildet. Am Unterarm zeigten sich keinerlei Symptome. Sie trug diese Beobachtungen gewissenhaft in die Kladde ein, maß ihre Temperatur und stellte am Oberschenkel eine leichte Druckempfindlichkeit fest.

Gegen 20.30 Uhr rief sie Dr. Wissek in der Charité an, noch bevor der Wecker zu klingeln begann, getrieben von einer starken Unruhe, der sie nicht Herr werden konnte und die ihr das Gefühl gab, als bekäme sie zu wenig Luft.

»Tag, Mädchen, wie geht's? Was kann ich für dich tun?« hörte sie die Stimme des Freundes wie durch das Rauschen einer Brandung. Sie fühlte ihre Stirn und zuckte zurück. Die Haut war glühend heiß und feucht.

»Und du, wie geht es dir?« fragte sie mit Mühe. »Hast du viel zu tun?«

»Wie immer. Der Operationssaal ist beinahe mein Schlafzimmer geworden.«

»Ich habe eine Bitte, Franzi …«

»Schieß los. Schon erfüllt!«

»Ich brauche ein Bett.«

»Hier in der Charité? Ausgeschlossen! Aber Julchen – wie stellst du dir das vor?« versuchte Dr. Wissek seine schroffe Absage zu mildern. »Wir haben die Patienten schon im Luftschutzkeller übereinander liegen. Hast du etwa auch – Privatpatienten?«

»Nein, ich brauche das Bett dringend, sonst würde ich nicht anrufen.«

»Um was handelt es sich denn?«

»Staphylokokkus aureus. Infektion. Unterarm und Oberschenkel«, sprach Julia langsam, schwer atmend.

»Schwer?«

»Ziemlich.«

»Also voraussichtlich Amputation. Wer ist es denn?«

»Ich«, sagte Julia.

Einen Augenblick war es auf der anderen Seite still. Dann kam aus dem Hörer ein zischendes Geräusch, als hätte der Mann am anderen Ende die Luft tief und krampfhaft eingeatmet, und dann hörte sie wieder seine Stimme, doch jetzt hoch, verändert, fassungslos: »Julia – Julia – was machst du, was ist geschehen?«

»Ich habe Ernsts Versuch wiederholt.« Julia zwang sich ruhig und klar zu sprechen, obwohl das Zimmer um sie zu tanzen begann und sie sich wie betrunken fühlte. »Die einzige Möglichkeit ist … mit Ernsts Aktinstoff … Hör zu, Franzi: Du kannst mich jetzt abholen. Ich liege im Labor auf dem Sofa. Auf dem Tisch wirst du den Aktinstoff finden und die Gebrauchsanweisung.« Bei dem letzten Wort nahm sie dreimal Anlauf, bevor sie es mit der trockenen, wie Glaspapier rauhen Zunge bilden konnte. »Halt dich daran, sonst ist alles umsonst. Hast du mich verstanden?«

»Ja – aber …«

»Ich kann jetzt nicht mehr weitersprechen. Mach's gut, Franzi und …« Sie wollte ›Auf Wiedersehen‹ sagen, aber sie brachte die Worte nicht sogleich heraus, und dann vergaß sie, was sie ihm sagen wollte. Mühselig legte sie den Hörer wieder auf und sank dann zurück. Es geht weiter, dachte sie sinnlos, immer weiter und hundert Millionen kleine Biester … eine Milliarde …

Oberfeldwebel Krüll schien an seinen Streifzügen durch die fertigen und halbfertigen Gräben Spaß gefunden zu haben. Die überraschten Gesichter der Männer, vor denen er plötzlich auftauchte, verschafften ihm eine tiefe Befriedigung, die größer war als seine Furcht vor russischem Artilleriefeuer. Zudem war es seit einigen Tagen an der Front merkwürdig still – eine Stille, die alte Soldaten nichts Gutes ahnen ließ – und so erschien ihm das Risiko der Besichtigungen nicht allzu groß. Möglich auch, daß er sich nach seinem ersten Erlebnis im Graben selbst beweisen wollte, er wäre nach der Feuertaufe ein furchtloser Krieger geworden. Jedenfalls fuhr er eines Abends zum drittenmal zu den Gräben. Doch diesmal lief es nicht so glimpflich ab. Als der Bautrupp am Waldrand entlangfuhr, wurde er plötzlich von Partisanen beschossen. Es war kein starker Feuerüberfall, eigentlich kaum der Rede wert, und niemand hätte ein Wort darüber verloren – wenn nicht ausgerechnet Krüll etwas abbekommen hätte.

Auf dem Verbandsplatz in Barssdowka fiel Kronenberg aus allen Wolken, als sich die Tür der Scheune öffnete und Oberfeldwebel Krüll eintrat.

Kronenberg warf seine Verbände hin und schob sich zwischen den Betten auf den Gang, den Krüll entlangkam. Erst jetzt sah er, daß sich der Oberfeldwebel auf einen Stock stützte und anscheinend nur mühsam gehen konnte.

»Das ist doch nicht möglich …«

»Was denn, mein Sohn?«

»Sie – Sie sind doch nicht verwundet?«

»Wenn es Sie beruhigt – ja, mich hat's erwischt. Schuß in den Hintern!«

»Wo – wohin?« Kronenberg schluckte. Das war einer der schönsten Augenblicke seines Lebens. »Was haben Sie gesagt? In den …?«

»So ist es – genau in die linke Backe. Ich habe sie eine Zehntelsekunde zu langsam herunterbekommen.«

»Und da machte es bumm?«

Krüll verzog den Mund. Er hatte offensichtlich Schmerzen, und es war ihm nicht mehr zum Scherzen zumute. »Kronenberg«, sagte er langsam, »wenn Sie, dämliche Mißgeburt, denken, mit mir einen Zirkus zu veranstalten, dann haben Sie sich schwer getäuscht! Welches Bett?«

»Über die Einweisung ins Lazarett entscheidet der Herr Stabsarzt. Ob Sie ein Bett bekommen, Herr Oberfeldwebel, hängt davon ab, wie groß das Loch da hinten ist … Vielleicht genügt ambulante Behandlung. Es wäre nicht das erstemal.« Kronenberg ging um Krüll herum. »Man sieht ja gar nichts –!«

»Als anständiger Mensch habe ich die Hosen gewechselt.«

»Wieder einmal – nach einem Jahr!« schrie einer aus der Tiefe der Scheune. Brüllendes Gelächter folgte. Kronenberg grinste diskret.

»Sie dürfen nicht auf sie hören, Herr Oberfeldwebel«, sagte er wie entschuldigend. »Sie wissen ja – jede Abwechslung …«

»Idioten!« schrie Krüll laut und verächtlich.

In der Tür erschien Dr. Hansen. Er trug einen weißen Chirurgenkittel und eine lange, blutbespritzte Gummischürze. Krüll meldete sich, immer noch stramm. Blaß, sichtlich von Schmerzen gepeinigt, aber mit Haltung den Spott um sich herum schluckend, stand er zwischen den grinsenden Gesichtern. Dr. Hansen empfand fast Mitleid mit ihm. Er legte ihm die Hand auf die Schulter.

»Kommen Sie mit, Oberfeldwebel, ich werde Sie untersuchen. Schon eine Tetanusspritze bekommen?«

»Jawohl, von Sanitäter Deutschmann.«

Krüll dachte an diese Situation nicht gern zurück. Nachdem ihn Wiedeck und Hefe nach dem Feuerüberfall in den Schlitten geschleift und nach Gorki gebracht hatten, setzte sich Deutschmann neben ihn und begann Mullbinden zu zählen.

»Nur noch 17 Stück«, sagte er bedauernd. »Herr Oberfeldwebel haben von Verschwendung gesprochen, als ich Schütze Siemsburg mit vier Binden verband. Bei Ihnen muß es jetzt wohl mit zwei gehen …«

»Machen Sie keinen Quatsch, Deutschmann!« stöhnte Krüll. Die Wunde brannte. Sein linkes Bein war gefühllos. Ich sterbe langsam ab, dachte er entsetzt.

»Zuerst die Spritze!« Deutschmann schnitt ihm die Hose auf. Als er die blutverkrusteten Fetzen der Unterhose mit einem Ruck von dem Einschuß riß, schrie Krüll auf. Es war nicht sehr viel zu sehen. Eine einfache Fleischwunde: Die kleinkalibrige Kugel einer Maschinenpistole hatte den Muskel nicht tief unter der Haut glatt durchschlagen.

»Oh, oh, oh – der halbe Hintern ist weg!« sagte Deutschmann voll spöttischen Mitleids.

»Halten Sie den Mund und geben Sie die Spritze!«

»Sofort!« Deutschmann holte die Spritze, suchte eine besonders stumpfe Nadel aus, die er eigentlich schon zurückgeben wollte, zog aus der Ampulle das Serum und klopfte Krüll väterlich auf das nackte Gesäß. »Nur ein bißchen Geduld – jetzt macht der Onkel Doktor pik, und dann ist alles vorbei!«

»Ich – jei!« schrie Krüll hell auf. Deutschmann hatte die Nadel langsamer als erlaubt in das Fleisch hineingedrückt und drückte nun das Serum nicht minder langsam in den Muskel. Als er die Nadel wieder herauszog, konnte er dem tiefen Wunsch, noch einmal anzufangen, kaum widerstehen.

»Fertig?« stöhnte Krüll.

»Aber nein, ich muß die Wunde noch säubern und verbinden.«

»Macht man das nicht hinten?«

»Ab und zu kann man's auch hier machen. Sie wissen ja, ich bin immerhin ein Gelernter.«

»Machen Sie's mit – Betäubung?«

»Aber, aber! Bei Ihnen doch nicht. Sie sind doch nicht wehleidig, oder?«

»Und dann?«

»Mal sehen, was der Herr Oberleutnant sagt.«

»Wann bringen Sie mich zurück nach Barssdowka?«

»Ich glaube nicht, daß dies so dringend notwendig ist. Dort kommen nur schwere Fälle hin, wissen Sie, Sie haben das ja selbst befürwortet …«

»Aber Sie sagten doch … es ist eine große Wunde … das kann Gasbrand geben …«

»Und dann eine große Narbe. Sie sind doch keine Schönheitstänzerin, Herr Oberfeldwebel, da macht es ja nichts.«

Das Verbinden war für Krüll nicht weniger schmerzhaft als die Tetanusspritze. So hatte er mit zusammengebissenen Zähnen beschlossen, sich an Deutschmann bei erster sich bietender Gelegenheit zu rächen. Nachts wurde er dann nach Barssdowka gebracht. Die ganze dienstfreie Kompanie war versammelt, als er zu dem Schlitten humpelte und mit schmerzhaft verzogenem Gesicht hinaufkletterte. Als er abfuhr, sangen einige Stimmen: »Muß i denn, muß i denn, zum Städtele hinaus …« Krüll verkroch sich in seinen dicken Pelz. Er hätte vor Wut weinen können, vor Wut und vor der plötzlichen Erkenntnis, daß er ganz allein war, daß alle gegen ihn standen und sicherlich wünschten, seine Verwundung wäre viel schwerer – oder sogar tödlich gewesen …

Gegen 23 Uhr erschien Dr. Kukill wieder vor der Villa Dr. Deutschmanns in Dahlem. Seitdem er einige Male versucht hatte, Julia telefonisch zu erreichen, konnte er es nicht mehr aushalten. Einige Sätze und hingeworfene Worte Julias fielen ihm wieder ein, Worte, die er damals, als sie gesprochen wurden, nicht besonders ernst genommen hatte, die aber jetzt einen unheimlichen, bedeutungsschweren Sinn erhielten:

»Von meinem Selbstversuch wird niemand etwas erfahren, bis es soweit ist«, sagte Julia einmal.

Oder: »Auch Sie werden mich nicht zurückhalten können.« Oder: »Ich werde allen beweisen, daß man Ernst unrecht getan hatte.«

Diesmal begnügte sich Dr. Kukill jedoch nicht damit, um das Haus herumzugehen und in die Fenster zu sehen, ob er irgendwo einen Lichtschein bemerkte, das Bewegen einer Gardine, ein Geräusch wahrnahm, das ihm verraten würde, daß Julia zu Hause war. Er rannte sogleich auf die Rückseite des Hauses, klopfte einige Male gegen die Küchentür und drückte schließlich das Fenster ein.

Die Küche war peinlich genau aufgeräumt. Nur auf dem Herd stand ein Topf voll Bohnensuppe.

»Julia!« rief Dr. Kukill. »Julia – wo sind Sie? Warum verstecken Sie sich vor mir?«

Keine Antwort. Seine Stimme hallte durch das stille Haus, und Dr. Kukill wußte plötzlich, daß er umsonst rief. Das Haus war leer. Er rannte weiter – durch die Diele – in das Wohnzimmer – in das Arbeitszimmer.

Als er die schwere Tür des Labors aufriß, blieb er wie festgenagelt stehen. In dem großen, sorgfältig verdunkelten Raum brannten alle Lampen. Auf dem Ledersofa in der Ecke lag eine zusammengeknüllte Decke. Das Telefon stand auf einem Beistelltisch neben dem Sofa und neben dem Telefon ein weißes Viereck: ein Brief.

Langsam, wie unter einem Zwang ging er hin. Der Brief war an ihn adressiert. Sein Blick blieb an einem Zettel hängen, der halb unter das Telefon geschoben war: Dr. Franz Wissek, Charité, und dann die Nummer. Ohne den Blick von dem Zettel zu lösen, riß er das Kuvert auf.

Dann las er:

»Wären Sie als gerichtlicher Sachverständiger mehr Ihrem Gewissen oder auch Ihrer Einsicht gefolgt und nicht den Vorurteilen des sogenannten ›Gebotes der Stunde‹, dann wäre es nie soweit gekommen, daß Sie diesen Brief lesen müssen.

Ich werde den Selbstversuch unternehmen. Und wenn Sie diese Zeilen lesen, werde ich entweder nicht mehr am Leben sein oder – den Beweis erbracht haben, daß die Verurteilung meines Mannes ein Irrtum war.

Vermuten Sie in mir keine Heldin. Ich habe entsetzliche Angst. Aber es ist der einzige Weg, Ernst zu rehabilitieren und das Werk fortzusetzen, von dem er überzeugt war und an das auch ich glaube …«

Er zwang sich, den Brief Zeile für Zeile, Wort für Wort durchzulesen. Und gerade, weil Julia nicht anklagte, sondern kühl und sachlich mitteilte, empfand er seine Schuld um so tiefer. Es stimmte genau, was Julia im ersten Satz schrieb. Doch – wo war sie jetzt?

Vielleicht half ihm der Zettel mit der Telefonnummer weiter? Charité – natürlich! Sie wird dort irgend jemanden, nein – diesen Dr. Wissek angerufen haben … sicher war sie jetzt dort …

Es war, als hätte eine Welle fieberhaften Lebens Dr. Kukill erfaßt und ihn emporgehoben. Seine Hände zitterten, als er den Telefonhörer von der Gabel riß und die Nummer wählte, die auf dem Zettel angegeben war.

Es dauerte eine ganze Weile, bis er die Verbindung bekam.

Kukill trommelte mit den Fingern nervös auf die Tischplatte, und dann hörte er Schritte, die näherkamen, und eine männliche Stimme:

»Dr. Wissek.«

»Ist Julia – Frau Julia Deutschmann bei Ihnen?« Dr. Kukill zwang sich mit aller Macht zur Ruhe.

»Wer spricht dort?«

»Kukill – Dr. Kukill – antworten Sie mir, Mann! Ist Frau Julia bei Ihnen?«

»Ja. Warum wollen Sie denn das wissen?«

»Herrgott – fragen Sie nicht – was ist los?«

»Es sieht schlecht aus … eine allgemeine Infektion …«

»Schlecht?«

»Sehr.«

Es war Dr. Wissek, als höre er ein leises, unterdrücktes Schluchzen. Aber das war völlig unmöglich, er mußte sich getäuscht haben. Der junge Arzt kannte Dr. Kukill – wer kannte ihn nicht? –, und es schien ihm unvorstellbar, daß Dr. Kukill weinen könnte. Es war völlig absurd, und doch …

»Ich komme sofort!« hörte Dr. Wissek nach einer Weile Kukill sagen. Und dann, wie der Hörer am anderen Ende aufgelegt wurde. Einige Sekunden stand er noch ratlos da, schüttelte den Kopf, legte selbst auf und sagte zur Telefonistin: »Wenn mich nicht alles täuscht, hat es jetzt jemanden schwer erwischt!«

In einem abseits liegenden kleinen Zimmer lag Julia und rang mit dem Tode. Verzweifelt und hilflos standen die Ärzte um ihr Bett und sahen zu, wie Professor Dr. Burger, den Dr. Wissek aus dem Bett geholt hatte, die dritte Injektion mit dem von Dr. Deutschmann entwickelten Aktinstoff machte. Er injizierte das Serum in die Armvene, damit es schneller wirken sollte.

Julia lag im Koma. Ihre Haut war fahl, blaß, mit kaltem Schweiß überzogen, ihre Fingerkuppen waren weißlich, und die Nase stach erschreckend hart aus dem verfallenen Gesicht.

»Ich weiß nicht, ob es viel Sinn hat«, sagte Professor Dr. Burger, als er die Spritze leergedrückt hatte. »Bei einer solch irrsinnigen Infektion versagen alle konventionellen Mittel. Und an diesen Aktinstoff glaube ich nicht. Ich habe mir abgewöhnt, an Märchen zu glauben.«

Dr. Wissek nickte. Dann sagte er unvermittelt: »Dr. Kukill hat angerufen, daß er hierherkommen will.«

»Was will denn der hier?« Professor Burger sah überrascht auf. Seine hellen Augen im faltigen Gesicht unter dem schlohweißen Haar waren müde.

Dr. Wissek erwiderte: »Er war sehr aufgeregt …«

»Ach so, ach so. Nun – das kann ich mir ja denken … schließlich hat er ja … Sie kennen doch die Geschichte?«

»Es war eine Schweinerei«, sagte Dr. Wissek hart.

Professor Burger antwortete nicht. Er schob Julias Lider hoch und sah auf die Augäpfel. Sie waren starr, gläsern.

»Hat sie Cardiazol bekommen?«

»Ja.«

Der Professor stand auf. »Sie sind ja hier, bleiben Sie bei ihr. Wenn irgend etwas geschehen sollte, rufen Sie mich.«

Dr. Wissek nickte. Er konnte jetzt nichts sagen. In seinem Hals saß ein Kloß, er fürchtete sich, zu sprechen.

»Ich möchte nicht diesen – diesen Kukill sehen«, sagte Professor Burger und ging dann wortlos hinaus.

Dr. Wissek zog einen Stuhl zum Bett und setzte sich hin. Seine straffe, jugendliche Gestalt sank in sich zusammen. Er hatte den ganzen Tag gearbeitet. Mechanisch griff er nach Julias Arm und fühlte den Puls.

So fand ihn Dr. Kukill.

Es war ein anderer Dr. Kukill, dieser Mann, der ins Zimmer gestürmt kam, mit wirren Haaren, ohne Mantel, mit einem heruntergerutschten Schlips und schweißnassem Gesicht, als derjenige, den Dr. Wissek in Erinnerung hatte: von einigen Gesellschaften her, Empfängen, zuletzt vom Prozeß gegen Ernst. Er war um Jahre gealtert, und seine kühle und spöttische Selbstsicherheit schienen verpufft. Ohne sich um Wissek zu kümmern, kniete er vor Julias Bett nieder.

»Warum hat sie das bloß getan?« fragte er heiser, und Dr. Wissek hatte den Eindruck, daß er ihn nicht fragte, sondern sich selbst oder einfach fragte, wie schon so viele vor ihm, denen gesagt werden mußte, daß ein Mensch, den sie liebten, gestorben sei: Warum? Warum mußte das geschehen?

»Guten Abend, Kollege Kukill«, sagte Dr. Wissek leise. In seiner Stimme schwang bitterer Sarkasmus.

»Was?« Kukill sah verständnislos zu ihm auf und blickte dann wieder auf Julia. »Wieviel Aktinstoff haben Sie injiziert?«

»Zweimal 5 ccm.«

»Mein Gott – ist das nicht zuviel?«

»Was kann hier noch passieren?« sagte Dr. Wissek.

»Und sonst? Haben Sie sonst nichts unternommen? Sulfonamide?«

»Wir haben alles getan.«

Dr. Kukill prüfte Julias Puls, zog – genauso wie Professor Burger vor ihm – ihre Lider hoch, blieb noch eine Weile knien, stand dann langsam, sich auf das Bett stützend, auf. »Und Sie meinen?« fragte er dann, ohne den Blick von Julias Gesicht zu wenden. Er erwartete keine Antwort, denn er wußte selbst: Hier schien nichts mehr zu helfen. Dann drehte er sich um und ging langsam hinaus, als ob er sich zu jedem Schritt zwingen mußte.

Dr. Wissek sah hinter ihm her und fühlte jetzt keinen Zorn mehr gegen diesen Mann.

In Barssdowka war der Teufel los.

Nicht allein, daß Oberfeldwebel Krüll mit seinem Hinternschuß Mittelpunkt des Feldlazaretts wurde, mit Kronenberg erregte Diskussionen beim Verbandwechseln führte und sich auch sonst bemerkbar machte, auch Schwanecke sorgte für Abwechslung.

Das zweite und das dritte Verhör durch Oberleutnant Obermeier waren genauso ergebnislos verlaufen wie das erste. Schwanecke leugnete, irgend etwas mit Beverns Tod zu tun zu haben. Er machte es sehr geschickt und überzeugte Obermeier beinahe, daß alle Verdächtigungen gegen ihn gegenstandslos seien. So sagte er zum Beispiel: »Klar, ich hab' manchmal daran gedacht, den Herrn Oberleutnant … Sie verstehen schon. Aber welcher Rekrut tut das nicht? Und sagen Sie mir, Herr Oberleutnant, welcher Landser hat solche Gedanken nicht, wenn ein Vorgesetzter … na ja, Sie wissen schon! Aber das zu tun? Um Gottes willen! Und Sie sagen selbst, das Ganze soll sehr gut vorbereitet gewesen sein. Ach, du liebe Zeit, und wann hätt' ich die Zeit, das vorzubereiten? Zuerst lag ich hier im Lazarett, und dann mußte ich Wache schieben … wie sollte ich wissen, wann Herr Oberleutnant zur Inspektion und daß er ausgerechnet zu mir kommen würde? Es war genau, wie ich es erzählt habe. Ich sagte: ›Da drüben sind Scharfschützen, da muß man aufpassen!‹ Und der Herr Oberleutnant sagte: ›Haben Sie etwa Angst, Sie Scheißkerl?‹ Und guckte 'rüber, und da hat's schon geknallt. Genauso war's!«

Obermeier gab das Protokoll der Verhöre mit dem Bericht Dr. Hansens an Hauptmann Barth weiter und sprach selbst mit ihm über das Telefon, das ausnahmsweise einmal intakt war.

»Es sind doch alles Vermutungen …«, sagte Barth. »Sie können dem Kerl ja nichts beweisen. Niemand hat irgend etwas gesehen …«

»Was soll ich mit ihm machen? Festsetzen?«

»Nein, warum?«

»Er könnte immerhin …«

»Sie meinen – fliehen? Wohin soll er gehen? Zu den Partisanen? Er weiß ganz genau, daß die keine Gefangenen machen. Und über die HKL wird er kaum kommen. Nein, nein, halten Sie ihn in greifbarer Nähe. Irgendwo beim Stab, er ist ja recht brauchbar. Und lassen Sie ihn nicht fühlen, daß Sie weiterhin Verdacht gegen ihn haben, damit er nicht kopfscheu wird. Ach – was ich noch fragen wollte … warum bemühen Sie sich eigentlich so sehr um die Aufklärung des angeblichen Mordes? Wenn ich mich nicht irre, mochten Sie Bevern nie so recht.«

»Es geht ums Prinzip, Herr Hauptmann.«

»Mein lieber Junge, Sie werden an einem Ihrer Prinzipien noch einmal ersticken. Lassen Sie sich das gesagt sein von einem, der es wissen muß …«

So kam es, daß Schwanecke in Barssdowka blieb und beim Stab Dienst machte. Doch allen, die ihn von früher her kannten, fiel sein verändertes Wesen auf. Er war noch mürrischer und verschlossener geworden, und seine Antworten auf neugierige Fragen bestanden meist aus Flüchen. Er schien keine Ruhe zu finden und gönnte sich kaum Schlaf. Wie ein gefangenes Raubtier strich er, wenn er nur konnte, um Barssdowka herum. Er wanderte ruhelos durch den Schnee, die Straße nach Babinitschi hinab, die Straße nach Gorki oder nach Orscha …

Er suchte Tartuchin.

Über Bevern machte er sich keine Gedanken. Die Sache war für ihn erledigt. Für ihn – aber nicht für die anderen. Und er wußte nicht, daß zwischen Orscha und dem Stammlager in Posen, zwischen Posen und Frankfurt/Oder und wieder zurück Schriftstücke, Meldungen und Telefongespräche gewechselt wurden, die sich mit ihm befaßten, mit ihm und Oberleutnant Bevern. Man hatte zwar keine Beweise für Schwaneckes Schuld, aber man kannte sein Vorleben. Und selbst wenn sein Vorleben weiß wie neugefallener Schnee gewesen wäre, so war er verdächtig. Und verdächtig sein konnte zu jener Zeit nicht nur den Soldaten eines Bewährungsbataillons den Kopf kosten.

Für Deutschmann kam wieder der Tag, an dem er von Stabsarzt Dr. Bergen nach Orscha geschickt wurde.

»Sie kennen ja diesen Apotheker«, sagte der Arzt, als er Deutschmann eine lange Liste in die Hand drückte. »Wenn Sie nur ein Viertel von diesem Zeug mitbringen, das ich hier aufgeschrieben habe, dann sind wir glücklich.«

Je näher der Schlitten Orscha und dem Dnjepr kam, um so unruhiger wurde Deutschmann. Er wußte, daß er Zeit genug haben würde, Tanja wiederzusehen. Er würde sie im Schlaf überraschen, wie das letztemal … er würde neben ihrem Lager knien und ihren Kopf zwischen seine Hände nehmen, und dann würde er wieder jenseits der Vergangenheit und der Gegenwart sein, auch jenseits jeglicher Erinnerung: An Julia, an Berlin, an Dr. Ernst Deutschmann aus Dahlem, an das Leben, aus dem man ihn herausgerissen hatte. Er würde weiter nichts sein als der Landser Deutschmann, ein Schütze der 2. Kompanie des Strafbataillons, der Hilfssani, der Verbände, Morphium, Cardiazol, Tetanusserum und Evipan holen mußte. Weiter nichts: Eine Nummer in einer Wehrstammrolle, ein Name wie alle anderen Namen. Und: Ein glücklicher Mann. Ein Mann ohne Reue und ohne Gewissensbisse und in den Augenblicken des Vergessens ohne den Gedanken, daß er Verrat an einer anderen Frau übte – einer Frau, die so weit weg von seinem jetzigen Leben war, so unerreichbar, daß sie ihm wie ein schönes Bild erschien, das er einmal vor langer Zeit betrachtete, bewundert und besessen hatte.

An der hölzernen Dnjeprbrücke kontrollierten Feldgendarmen die Urlaubsscheine und Marschbefehle.

Während die Gespräche und die vielfältigen Geräusche an seine Ohren plätscherten, sah Deutschmann hinab auf die kleine Hütte am Dnjeprufer. Dort hatte sich nichts verändert. Die Holzstapel waren noch da, die Stalltür hing schief in ihrer Angel, ein schmaler schmutzig-weißer Pfad zog sich durch den Schnee zur verschlossenen Bohlentür …

Die Ausgabe des Sanitätsmaterials ging schneller vonstatten als das letztemal. Der Apotheker war nicht da, und ein stiller, freundlicher Sanitäter holte zusammen, was Deutschmann verlangte. Er bekam zwar nicht alles, aber es war mehr als ein Viertel … Er konnte sich das zufriedene Gesicht Dr. Bergens genau vorstellen. Doch alles dies, die Stadt, die von Soldaten wimmelte, der freundliche, hilfsbereite Sanitäter, seine eigene Zufriedenheit über den gut erfüllten Auftrag, all dies berührte ihn nicht, als ginge es ihn nichts an. Alle seine Gedanken und sein Sehnen waren in der kleinen Hütte am Dnjepr.

Die Nacht war sehr dunkel. Deutschmann tastete sich den Hang hinunter und öffnete leise die Tür zu Tanjas Kate, nur so weit, daß er hineinschlüpfen konnte.

Als er in der warmen Dunkelheit des Raumes stand, war es ihm, als habe er eine neue Welt betreten, die allein ihm gehörte, eine Welt ohne Krüll, ohne Schwanecke, ohne Obermeier, ohne Dr. Bergen, ohne Krieg … Es war seine Welt, und sie war zugleich sein Traum und sein Vergessen.

»Es wird kein Ende nehmen …«, sagte Tanja gegen Morgen.

»Was?«

»Das Glück.«

»Wir müssen daran glauben. Dann wird es vielleicht bleiben.«

»Es ist schwer, immer zu glauben.«

»Dann kannst du es nicht zurückhalten, Tanja.«

»Ich würde sterben, Michael. Aber trotzdem – nur der Tod kann mein Glück beenden.«

»Es ist Krieg, Tanjascha.«

»Kann man den Krieg nicht besiegen – durch Liebe?«

»Nicht wir beide allein. Ich fürchte …«

»Was?« Sie hob den Kopf ein wenig und blickte ihn an. Er starrte gegen die Decke. Sein Gesicht war kantig, schmal, fremd. »Du darfst nicht wieder weggehen, Michael«, sagte sie beschwörend, »du darfst nicht!«

»Ich werde es wohl müssen.«

»Wann?«

»Wie kann ich das wissen? Das weiß nur Gott allein.«

»Glaubst du an Gott?«

»Ja. Und du?«

»Ich bin bei den Komsomolzen groß geworden, verstehst du? Ich habe gelernt, daß es keinen Gott gibt, nur Stalin und Lenin, die Partei und den Sozialismus. Meine Mutter … ich kann mich erinnern, sie sprach oft von Gott. Meine gute, arme Mamuschka, sie ist gestorben, als ich noch ein ganz kleines Mädchen war.«

»Und dein Vater?«

»Er wurde verschleppt. Ich weiß nicht wohin, ich habe nie mehr von ihm gehört. Und ich kam in ein Komsomolzenheim.« Jetzt sah sie gegen das verhangene, gegen die Kälte mit Papier an den Seiten verklebte Fenster. Der Morgen dämmerte … der schreckliche Morgen mit dem letzten Kuß und mit dem schrecklichen Wort ›Auf Wiedersehen‹.

»Woran denkst du?« fragte er und zog ihren Kopf wieder zu sich herab.

»Warum bleibst du nicht bei mir?«

»Ich kann nicht.«

Vor der Hütte, am Ufer des Dnjeprs, fingen Motoren an zu dröhnen. Über die Holzbrücke polterten die Lastwagen des Nachschubs. Stimmen schrien dünn und kaum hörbar durch den eisigen Morgen. Weiter oben zerbarst das Eis unter den Sprengladungen der Pioniere. Als Deutschmann aufstehen wollte, hielt sie ihn fest. Sie klammerte sich an ihn wie eine Ertrinkende.

»Bleib! Nur noch eine Stunde, eine einzige Stunde!«

»Es geht nicht. Ich muß weg.«

»Ich sehe dich nie wieder!« schrie sie grell. »Ich weiß es, ich weiß es ganz genau. Du bist gekommen, und du warst hier. Jetzt gehst du und wirst nie mehr wiederkommen. Ich liebe dich … Du darfst nie gehen, du darfst nicht!«

Er nahm den Krug mit Krimwein, den Tanja am Abend, als er gekommen war, aus einem Versteck geholt hatte, und trank einen langen Schluck.

»Ich töte dich, wenn du gehst«, sagte Tanja leise.

Deutschmann schwieg.

»Du bleibst hier, Michael!« sagte sie, noch leiser geworden, während sie zum Ofen ging.

Er schüttelte den Kopf. »Sei doch vernünftig, Tanja. Wir müssen vernünftig sein.«

»Die Welt ist verrückt, sie zerreißt sich, geht unter, und du sagst – vernünftig sein! Immer – vernünftig. Du – Deutscher! Bleib doch hier. Du kannst später bei uns leben, ich werde dich jetzt verstecken, und wenn ihr … wenn es keine deutschen Soldaten mehr hier gibt, werde ich hintreten und sagen: ›Das ist Michael, Michael, den ich liebe.‹ Bleib hier!«

»Und deine Leute werden uns an die Wand stellen und erschießen, was?«

»Michael!«

Deutschmann sah zu ihr und erschrak. Sie hatte eine russische Pistole in der Hand und zielte auf ihn.

»Mach keine Dummheiten«, sagte er dumpf und fast ein wenig überdrüssig.

»Ich töte dich, wenn du gehst!«

Er sah sie an und bemerkte in ihren Augen einen erschreckenden, kalten Funken, der ihren Willen, das Angedrohte auch wirklich zu tun, auszudrücken schien. Er beugte sich vor, als wollte er nach dem Stiefel greifen und stürzte sich dann überraschend auf sie, drückte sie gegen die Wand und preßte die Knöchel ihrer Hand, daß sie aufschrie und die Pistole zur Erde fallen ließ. Er trat die Waffe gegen die Tür und versuchte, sich gegen ihre Hände und Arme, die nach ihm schlugen, zu wehren.

»Hund«, schrie sie und hieb mit ihren Fäusten in sein Gesicht. »Oh – du Hund, du Hund …! Ich hasse dich! Ich hasse dich, ich will dich töten … töten!«

Doch plötzlich sank sie weinend in sich zusammen. »Bitte laß mich!« bat sie und warf sich auf das Bett. Deutschmann wußte nicht, was er tun sollte. Alles Trösten war hier umsonst. So stand er noch eine Weile da, trat dann zu ihr, strich ihr hilflos über die Schulter und ging. Bevor er die Hütte verließ, hob er die Pistole auf und legte sie auf den Tisch.

»Tanja!«

Sie antwortete nicht. Sie lag auf dem Bett, und ihr ganzer Körper zitterte. Aber sie weinte nicht mehr laut.

»Tanja!«

»Geh!« sagte sie müde.

»Du sollst wissen, daß … ich liebe dich, du hast mir eine neue Welt gezeigt … ich werde dich nie vergessen …«

»Geh!«

»Ja, ich gehe schon. Und versteck das«, sagte er und sah auf die Pistole. »Wenn sie dich damit erwischen, dann erschießen sie dich.«

Sie antwortete nicht, und er wandte sich ab und verließ die Hütte. Die Tür zog er hinter sich zu wie einen Vorhang nach einem Stück, das man nur einmal spielen konnte; er würde es nie wieder sehen auf der Bühne des Lebens.

In der kleinen Hütte am Dnjeprufer lag Tanja wie ausgebrannt auf den Decken und vergrub ihr Gesicht in den Kissen – dorthin, wo sich noch die kleine Mulde von Deutschmanns Kopf abzeichnete.

»Michael«, wimmerte sie, »oh, Michael … ich liebe dich … ich hasse alle – alle …«

Berlin:

Draußen schneite es. Dicke, nasse Schneeflocken fielen aus dem dunklen Himmel und zerschmolzen auf den Steinen der Terrasse. Dr. Kukill stand am Fenster und starrte in den trostlos aussehenden, kahlen Garten, der in der langen grauen Morgendämmerung versank. Sein Raubvogelgesicht war bleich, eingefallen und ruhig. Seine Augen waren weit offen, aber sie sahen nicht in den Garten. Abwesend, seltsam leblos starrten sie vor sich hin, als konzentrierte sich der Mann auf einen unsichtbaren Punkt. Schließlich drehte er sich um, zog die schweren Vorhänge zu, ging fröstelnd zu seinem Schreibtisch, setzte sich und fing zu schreiben an:

»Sehr geehrter Herr Kollege Dr. Deutschmann!

Wenn Sie dieses Schreiben erhalten, ist es aller Wahrscheinlichkeit nach bereits zu spät. In Erfüllung einer Liebe, vor der man sich nur in Ehrfurcht beugen kann und die einem Menschen wie mir unverständlich und unfaßbar ist und, ich fürchte auch bleiben wird, hat Ihre Frau Julia an sich selbst den Versuch wiederholt, dessentwegen man Sie als Selbstverstümmler verurteilt hatte. Sie wollte beweisen, daß Sie recht gehabt hatten, und daß Ihr eigener Versuch nur mißlungen war, weil Ihr Gegenserum zu schwach wirkte. Allem Anschein nach hat sie sich mit einer zu großen Dosis des Staphylokokkus aureus infiziert; Professor Dr. Burger, Dr. Wissek und auch ich sind der Meinung, daß es für sie keine Rettung mehr gibt.

Damals, bei meinem Gerichtsgutachten, habe ich nach dem Stand der heutigen Medizin geurteilt und mich nicht auf das spekulative Gebiet der Möglichkeiten gewagt, weil das, was Sie an sich versuchten und was Ihre Frau gegen meinen Rat und trotz meines Widerstandes wiederholte, so phantastisch war, so unglaubwürdig, daß der nüchterne Verstand sich sträubte, es einzusehen. Jetzt allerdings ist mir klar, daß ich mich geirrt habe. Wir hatten Nachrichten aus England, nach denen es den dortigen Wissenschaftlern bereits gelungen ist, das zu vollbringen, was Sie versucht hatten. Aber das ist ja jetzt in dieser Stunde unwichtig. Ich weiß, wie schrecklich Sie diese Nachricht über Julia treffen muß, noch viel mehr, wo Sie selbst nichts tun können. Glauben Sie mir, ich empfinde mit Ihnen, ich weiß, was Sie mit ihr verlieren, denn auch ich – ich gestehe es – habe sie sehr achten und verehren gelernt.

Jetzt, da ihr Leben an ihrer großen Liebe zerbrochen ist, verspreche ich Ihnen, alles zu tun, was in meiner Macht steht, um Sie aus dem Strafbataillon herauszuholen. Ich weiß, daß Ihre Arbeit Ihr einziger Trost sein wird, und ich werde Sie dabei mit allen meinen Kräften unterstützen. Sie werden in ein paar Tagen von mir hören; ich bin überzeugt, daß es nicht allzu lange dauern wird, bis Sie wieder in Berlin eintreffen.

Ich gebe meinen Irrtum zu. Wie glücklich wäre ich doch, wenn dies auch Ihre Frau retten könnte!

Ich stehe immer in Ihrer Schuld.

Dr. A. Kukill«

Den Brief legte er sofort in den Umschlag, schrieb die Adresse und versiegelte ihn. Dann stand er auf, blieb einige Augenblicke nachdenklich stehen und ging dann hinaus.

Noch am selben Vormittag trug er das Schreiben zum OKW in der Bendlerstraße. Seine weiten Verbindungen bewährten sich auch diesmal: Der Brief ging als wichtige Dienstsache in Richtung Orscha.

Gegen Mittag rief Dr. Kukill wieder in der Charité an. Noch bleicher als zuvor und mit versteinertem Gesicht verlangte er Professor Dr. Burger.

»Wie geht es Julia?« fragte er knapp, ohne Umschweife.

»Ist Dr. Kukill dort?«

»Ja. Wie geht es Julia Deutschmann? Ist der Exitus …«

»Nein, nein. Warten Sie, ich gebe Ihnen Dr. Wissek, er hat die ganze Nacht bei ihr gewacht.«

Dr. Kukill wartete. Und dann, nach endlos erscheinenden Minuten, meldete sich die müde, übernächtigte Stimme Dr. Wisseks.

»Wie geht es ihr?« fragte Kukill wieder.

»Etwas besser. Puls nicht mehr so flach. Die Atmung ist kräftiger. Wir geben Sauerstoff. Aber immer noch tiefes Koma …«

»Atmung kräftiger?« Kukill mußte sich auf den Tisch aufstützen. Er fühlte plötzlich eine flaue Schwäche von seinen Beinen empor über den Körper kriechen. »Kräftiger«, wiederholte er, »es geht ihr besser?« Das letzte schrie er fast.

»Es läßt sich noch nichts Bestimmtes sagen. Aber es scheint, daß dieser Aktinstoff zu wirken begonnen hat. Wir haben noch einmal 5 ccm gespritzt …«

»So viel?«

»Wir müssen alles versuchen …«

»Ja, natürlich, natürlich … wir müssen alles versuchen … Warten Sie, ich komme hin, mein Gott, vielleicht …«, stotterte Dr. Kukill sinnlos, legte den Hörer wieder auf und fuhr sich mit beiden Händen über das naßgewordene Gesicht. »Vielleicht«, murmelte er, »Julia … wenn das stimmt … ich hol' ihn heraus, wenn das … wenn das nur stimmt!«

Er hatte schon den Mantel angezogen, als ihm der Brief an Deutschmann einfiel. Für einen Moment blieb er unschlüssig – die Hand auf der Türklinke – stehen, überlegte – dann ging er mit großen Schritten zum Telefon und ließ sich mit dem Kurier-Offizier, dem er vormittags den Brief persönlich übergeben hatte, verbinden.

Die Blässe war aus seinem Gesicht verschwunden; seine gewohnten, energischen Züge kamen wieder zum Vorschein. In kurzen, abgehackten Sätzen forderte er den Brief wieder zurück.

Aber Dr. Kukill kam zu spät. Der Brief war schon seit einer halben Stunde mit der planmäßigen Kuriermaschine nach Orscha unterwegs …

In Barssdowka ging ein Gerücht durch die Reihen der 2. Kompanie. Oberleutnant Obermeier war zu Hauptmann Barth nach Babinitschi befohlen worden.

»Es liegt eine Sauerei in der Luft«, sagte Wiedeck. »Beim Furier soll Schnaps angekommen sein. Das kenne ich … wenn es Schnaps gibt, liegt Rabatz in der Luft.«

»In einer normalen Truppe – allerdings.« Bartlitz zerteilte sein Stück Brot in kleine Brocken, die er mit billiger Marmelade bestrich und einen nach dem andern aß. Bei ihm sah es aus, als diniere er das feinste Hors d'œuvre. »Sie glauben doch nicht im Ernst, daß wir hier Schnaps bekommen?«

»Warum nicht? Es geschehen noch Wunder«, sagte Deutschmann.

»Hat sich was, mit dem Wunder! Wunder gibt's keine«, sagte Wiedeck. »Wenn wir Schnaps bekommen, dann kommt gleich danach ein Befehl … du weißt schon, was ich meine. Ein Befehl, verstehst du, bei dem man besoffen sein muß, um ihn überhaupt durchzuführen. Himmelfahrtskommando. Ist doch so. Oder?«

»Möglich«, sagte Bartlitz. »Allerdings muß ich sagen, daß sich diese Art von Kriegsführung sehr weit davon entfernt hat von der, wie wir einen Krieg führen wollten.«

»Wolltet ihr das?« fragte Deutschmann.

»Nein, ich wollte sagen – wie wir es gelernt haben.«

»Gelernt oder nicht, das ist scheißegal«, sagte Wiedeck. »Ich glaube nicht, daß man einen Krieg so führen kann – wie ihr es gelernt habt. Das ist jetzt unwichtig. Ich sage nur eins: Es stinkt!«

Aber Genaueres wußte niemand. Alle warteten darauf, daß Oberleutnant Obermeier aus Babinitschi zurückkam. Außerdem sollte er auch Post mitbringen – die erste Post nach langen Wochen. Und die war noch wichtiger als Schnaps oder eine Sonderration glitschigen Brotes.

Der Motorschlitten rumpelte durch die weiße Nacht. Oberleutnant Obermeier saß neben dem Fahrer, einem altgedienten Gefreiten, und döste vor sich hin.

Plötzlich wurde das Motorengebrumm tiefer, und der Schlitten fuhr langsamer. Obermeier schreckte aus seinen Gedanken hoch und sah den Gefreiten an, der auf die Straße vor sich spähte.

Am Rand der Straße lag ein Pferd.

Ein kleines, braunes, struppiges Panjepferd. Seine Augen schienen fast zugefroren, das Fell war weiß überkrustet. Es rührte sich nicht, und vom Schlitten aus sah es so aus, als wäre es vom Schnee halb zugedeckt. Eine Räumkolonne der 1. und 4. Kompanie hatte die Straße am Abend zuvor frei gemacht und die Schneeberge einfach gegen die Telegraphenmasten gedrückt, die wie einsame, dürre Zeigefinger aus der Ebene ragten.

Seitlich von dem Panjepferd lag hinter einer Schneeverwehung Oberleutnant Sergej Petrowitsch Denkow. Er hatte die Maschinenpistole mit dem großen, runden Magazin auf dem Unterarm liegen und sah hinüber zu dem hoppelnden Schlitten, der aus der Nacht gefahren kam.

»Was ist das?« fragte Obermeier.

Der Gefreite fuhr langsam gegen den dunklen Haufen im Schnee.

»Ich glaube, es ist ein Pferd, Herr Oberleutnant.«

»Sie träumen wohl, wie soll ein Pferd hierherkommen?« Doch dann sah auch Obermeier, daß der Gefreite recht hatte. Anscheinend war es tot. So wenigstens dachte Obermeier. Doch der Gefreite sagte:

»Wahrscheinlich erschöpft. Wer hat es wohl hier liegen lassen? Darf ich anhalten?« In ihm regte sich der westfälische Bauer – und wo gibt es einen Bauern, der an einem leidenden Pferd vorbeifahren und es seinem Schicksal überlassen könnte? Ohne auf Obermeiers Antwort zu warten, bremste er den Schlitten ab.

Sergej drückte den Sicherungsflügel seiner Maschinenpistole herunter. Zugleich schob er den Lauf der Waffe etwas höher. Nur zwei dachte er. Aber heute zwei und morgen zwei und übermorgen zwei … solange es auf der Welt Deutsche gibt … Er biß sich auf die Lippen, sein Zeigefinger legte sich um den Abzug.

»Sehen Sie nach«, sagte Obermeier.

Der Gefreite kletterte vom Schlitten und ging auf das Pferd zu – direkt in Sergejs Schußrichtung.

Nun kletterte auch Obermeier vom Bock. Er war mitten in der Bewegung, als das Panjepferd mit einem plötzlichen, wilden Satz aufsprang, als habe es die Witterung der fremden Männer erschreckt. Auch Sergej zuckte vor dem plötzlich aufjagenden Schatten zusammen, und zugleich schoß er.

»Deckung«, brüllte Obermeier und ließ sich in den Schnee neben dem Schlitten fallen. Der Gefreite blieb einen Augenblick ratlos stehen, warf sich dann nach vorn – und erhielt mitten im Sprung einen donnernden Schlag gegen die Stirn. Er warf die Arme empor, die Nacht war für den Bruchteil einer Sekunde rot und grell, dann schlug er der Länge nach in den Schnee, seine Hände scharrten sinnlos herum, und seine Füße trampelten auf den Boden, daß die Eisstückchen herumspritzten. Dann streckte sich sein Körper lang aus und blieb regungslos liegen.

Das Pferd galoppierte die Straße entlang. Mit fliegender Mähne, wirbelnden Beinen und weit vorgestrecktem Hals. Der Schaum stand ihm vor dem Maul.

Sergej kroch nach rückwärts, dann seitwärts, hinter einen Telegraphenmast und sah vorsichtig über den Schneehaufen gegen den Schlitten. Ein dünner Knall zerriß die dumpfe Stille, und neben seinem Kopf stäubte der Schnee auf. Der Gegner schoß. Er wechselte wiederum die Stellung; diesmal kroch er etwas weiter, und als er wieder über den Schnee sah, blieb alles still. Doch auch er konnte von hier aus den Gegner, der hinter dem Schlitten lag, nicht sehen. Alles blieb still und ruhig, der Schlitten stand, etwa 30 Meter weit von ihm entfernt, mitten auf der Straße, und davor lag die dunkle, ausgestreckte Gestalt des Toten.

Sergej wartete.

Er wird kommen, sagte er zu sich. Ich habe Geduld. Er wird kommen. Er ist ein Deutscher. Er will ein Held sein. Alle deutschen Helden sind ungeduldig, darum überleben sie gewöhnlich ihre Heldentaten nicht.

Er wartete – und er wußte nicht, daß Obermeier kein Held sein wollte, sondern nur ein Mensch in Uniform war, der genauso warten konnte wie Sergej. Warten, um zu töten.

Fast eine Stunde lagen sie sich stumm gegenüber.

Als die Nacht langsam, unmerklich einer fahlen Dämmerung wich, wußte Sergej, daß er sein Opfer nicht bekommen würde. Er konnte nicht länger warten. Bald schon mußten Deutsche die Straße entlangkommen, eine Patrouille vielleicht oder eine Nachschubkolonne. Wenn sie ihn hier erwischten, war er erledigt. Und bald schon würde es zu hell sein, um fliehen zu können. Der andere würde ihn sehen, bevor er zwischen den Büschen des nahen Waldes verschwand, ich habe einen getötet, sagte er sich, als er steifgefroren, zähneklappernd zurückkroch und gebückt hinter dem Schneewall neben der Straße vom Schlitten weglief. Es war einer, morgen werden es zwei sein, oder drei, oder vielleicht mehrere … Einer ist zu wenig …

Als er glaubte, weit genug zu sein, bog er nach rechts ab und lief über das freie Feld gegen den Wald. Zwischen den Büschen verschwand er, ein lautloser, verschwommener Schatten.

Obermeier sah ihn, aber er schoß nicht. Es war zu weit. Aber auch wenn Sergej näher gewesen wäre, so wäre Obermeier kaum imstande gewesen zu schießen: Er fror jämmerlich, sein Körper war steif, seine Hände und Füße gefühllos. Langsam, ächzend stand er auf, sah einige Augenblicke dem verschwundenen Gegner nach und begann dann wie verrückt um den Schlitten zu laufen. Es dauerte eine ganze Weile, bis in seinen Körper wieder Gefühl zurückkam. Als es in seinen Füßen und Händen scharf zu kribbeln begann, trug er den Toten zum Schlitten und bettete ihn auf den Rücksitz. Doch bevor er abfuhr, sah er noch einige Sekunden in die Weite des Landes, über die langsam ein neuer Wintertag anbrach. Dieses Land war unersättlich wie ein Riesenschwamm. In ihm hätte die ganze Menschheit Platz, dachte er, und auch dann wäre es nicht zu voll.

Es begann zu schneien. Lautlos, in kleinen kalten Flocken.

Der Schlitten fuhr an und entfernte sich immer schneller.

In Barssdowka empfing Stabsarzt Dr. Bergen den Oberleutnant. Etwas abseits stand Oberfeldwebel Krüll. Seit zwei Stunden hatten sie auf den Schlitten gewartet und sprachen bereits davon, daß sie einen Erkundungstrupp gegen Babinitschi schicken wollten. Nun standen sie wortlos neben dem Schlitten, als Obermeier mit steifgefrorenen Gliedern herunterkletterte.

»Tot?« fragte Stabsarzt Dr. Bergen und zeigte mit dem Kinn gegen den Gefreiten auf dem Rücksitz. Es war eine sinnlose Frage: Jedermann konnte sehen, daß der Mann tot war. So konnte nur ein Toter daliegen.

»Wer?« fragte Oberfeldwebel Krüll. In seiner Kehle saß ein dicker Kloß. Er fror, aber es war nicht nur die Kälte, die ihn zittern ließ.

»Gefreiter Lohmann. Lassen Sie ihn wegschaffen«, befahl Obermeier kurz.

»Kommen Sie, ein Schnaps wird Ihnen guttun«, sagte Stabsarzt Dr. Bergen.

Die beiden Offiziere gingen schweigend zu Dr. Bergens Unterkunft und ließen den Oberfeldwebel zurück, der wortlos, mit weitaufgerissenen Augen den Toten anstarrte.

Der Tod des Gefreiten Lohmann wurde zur Kenntnis genommen und beflucht – und trat sogleich zurück vor der Kunde, daß Oberleutnant Obermeier tatsächlich Post mitgebracht hatte.

Bis hinaus zu den Schanzkommandos drang diese Nachricht. Der mürrisch gewordene, schweigsame Wiedeck verwandelte sich in einen aufgeregten Jungen vor der Weihnachtsbescherung. Ruhelos lief er umher, verharrte plötzlich still, fragte immerzu, wie spät es sei, und fing erstmals nach langen Wochen von seiner Frau und den Kindern zu reden an.

»Erna hat todsicher geschrieben«, sagte er. »Ich möchte nur wissen, wie es dem Kleinen geht. Nimmt denn dieser Tag überhaupt kein Ende?«

Der ehemalige Oberst Bartlitz, der bei der Küche von einem Leichtverwundeten abgelöst worden war, saß still und nachdenklich in einer Ecke des halbfertigen Bunkers, schlürfte heißes Wasser, das sie Tee nannten und über einem Knüppelfeuer in den Kochgeschirren wärmten, und träumte vor sich hin. Was würde wohl Brigitte schreiben? Obwohl sie die Tochter eines Generals war, der im Ersten Weltkrieg fiel, war sie auch dann tapfer geblieben, als er wegen Befehlsverweigerung degradiert und in dieses Bataillon geschickt worden war. Einmal durfte sie ihn besuchen, als er noch in Untersuchungshaft war, und sagte über den Besuchstisch hinweg, sehr ruhig und besonnen: »Kopf hoch, Liebster! Denk an Napoleon … es wird nicht allzu lange dauern!« Es war ein Glück, daß der wachhabende Feldwebel nicht wußte, wer Napoleon war …

Als Bartlitz an diese kleine Szene zurückdachte, lächelte er kaum merklich. Brigitte hat ganz bestimmt geschrieben – und nicht nur einen einzigen Brief. Wenn kein Brief da war, dann mußte irgend etwas geschehen sein. Und wie so oft in den letzten Wochen und Monaten, fing er schweigend zu beten an: Gott, laß sie gesund bleiben, laß sie nicht umkommen bei den Luftangriffen, laß sie am Leben bleiben, laß mich zurückkommen zu ihr, laß mich sie finden, wenn ich zurückkomme …

Zusammengekauert, mit grauem, eingefallenem Gesicht, das Kochgeschirr in der leicht zitternden Hand, mit abwesenden Augen saß er da, trank und betete.

Im Hauptverbandsplatz Barssdowka hatte Oberfeldwebel Krüll die Post bereits gesichtet und einige Briefe aussortiert. Es waren Briefe an Schwanecke, Deutschmann, Kronenberg und an einige andere ›Lieblinge‹ des Oberfeldwebels. Vor allem der Brief an Deutschmann ärgerte ihn.

Auf dem Umschlag stand: Herrn Dr. Ernst Deutschmann – und das war es, was ihm gegen den Strich ging. So nahm er einen Rotstift, strich alles durch und schrieb mit klobigen Buchstaben hin: Schütze E. Deutschmann.

Dann nahm er die ganze Post, ging damit zu Obermeier, der in Dr. Bergens Zimmer saß und legte sie vor.

»Auch für Schwanecke ist was dabei«, sagte er. »Soll ihm der Brief wirklich ausgehändigt werden, Herr Oberleutnant? Ohne Kontrolle?«

Obermeier nickte. »Geben Sie mir den Brief. Ich werde ihn selbst aushändigen.«

»Und Schütze Deutschmann?«

»Warum fragen Sie? Haben Sie nicht gesehen, daß der Brief als dringliche Dienstsache eingestuft ist? Fragen Sie nicht so dumm, gehen Sie schon und verteilen Sie die Post, an die, die hier sind. Los, ab!«

Wütend verließ Krüll Dr. Bergens Unterkunft. Immer diese Ausnahmen, dachte er bitter. Dringliche Dienstsache, was hat dieser Viertelsoldat für dringliche Dienstsachen zu bekommen! Aber die halten zusammen! Die halten immer zusammen, auch wenn einer ein Offizier ist und der andere nur ein Schütze. Die halten zusammen, wenn dieser Scheißschütze so'n lausiges Abitur hat und noch mehr, wenn er 'n Doktor ist. Was heißt hier schon – Doktor!?

»Da, Herr Doktor!« sagte Krüll mit bissigem Spott, als er in der Lazarettbaracke Deutschmann fand. »Ein Brieflein aus der Heimat – dringliche Dienstsache für Herrn Doktor. Los – auffangen!« Er warf den Brief Deutschmann zu, aber er warf ihn absichtlich zu kurz.

Deutschmann sagte nichts. Er bückte sich wortlos, hob den Brief auf und steckte ihn in die Tasche.

Enttäuscht ging Krüll weg. Kein Rückgrat, diese Intellektuellen, dachte er grimmig, kein Mumm in den Knochen. Schwanecke hätte wenigstens: »Leck mich …« gesagt. Aber dieser Viertelsoldat! Zu vornehm, viel zu vornehm.

In seiner Kammer neben der Scheune setzte sich Deutschmann auf einen Hocker und wog den Brief in der Hand. Er dachte zunächst, er wäre von Julia, und ein heißes Schamgefühl und nahezu Angst vor dem Schreiben drückten ihm das Herz zusammen. Als er dann aber sah, daß nicht Julia, sondern Dr. Kukill geschrieben hatte, war er doch enttäuscht. Warum schrieb Julia nicht? War etwas geschehen? Vielleicht – Bombenangriff? Warum schrieb ihm dieser Dr. Kukill? Was wollte er jetzt auf einmal? War es etwa – wegen Julia? Aber das war doch unmöglich!

Langsam, zögernd riß er den Rand des Umschlages auf, faltete den Bogen auseinander und begann zu lesen.

Nach den ersten Sätzen wurde sein Gesicht hart, aber je weiter er las, um so mehr verfiel es, bis es gegen Ende zu das Aussehen eines Todkranken bekam. Mit übermenschlicher Energie zwang er sich, den Brief Satz für Satz, Wort für Wort zu Ende zu lesen. Und als er fertig war, glättete er den Bogen sorgfältig auf den Knien, faltete ihn langsam zusammen, steckte ihn zurück in den Umschlag und schob ihn in die Tasche. Dann saß er noch eine ganze Weile da: Zusammengesunken, unnatürlich ruhig, ein Mann, den eine schreckliche Wahrheit, die schlimmer war als der Tod, unter sich begraben hatte: ein Mann, der sich plötzlich entblößt und erbärmlich selbst sah, ein Mann, der sich sagen mußte, daß er um eines kurzen Abenteuers willen sein ganzes bisheriges Leben verraten und weggeworfen hatte. Und was noch schlimmer war: Ein Mann, der plötzlich erkennen mußte, daß ein Mensch für ihn das Höchste geopfert hatte, was es zu opfern geben konnte, während er selber nicht wert war, daß man ihn ansah. Und als wollte er seine Qualen noch vergrößern, wiederholte er in Gedanken immer wieder: Sie hat es getan, während ich sie verraten habe.

An diesem gleichen Morgen stand Karl Schwanecke vor Oberleutnant Obermeier.

Er stand sehr stramm da, die Hände an der Hosennaht, das Kinn heruntergezogen, das Kreuz hohl, die Brust heraus. Ein Mann wie aus einer Dienstvorschrift! So steht der deutsche Soldat still.

»Sie haben Post bekommen, Schwanecke.«

Über Schwaneckes Gesicht zog ein ungläubiges Staunen.

»Post, Herr Oberleutnant? Ich habe noch nie Post bekommen.«

»Doch.«

»Dann ist es sicher nichts Gutes, Herr Oberleutnant.«

»Wie kommen Sie darauf?«

»Wie kann ich schon etwas Gutes bekommen … ich meine … wenn ich einen Brief bekomme …« Er stockte, machte mit der Hand eine hilflose Gebärde und legte sie dann wieder an die Hosennaht.

»Was ist dann? Erwarten Sie etwas Unangenehmes?«

»Nein … das heißt … meine Mutter, in Hamburg, Herr Oberleutnant, verstehen Sie? Jeden Tag Luftangriffe … aber sie hat mir bis jetzt noch nie geschrieben, von ihr kann es nicht sein … Irgendwer wird mir geschrieben haben, daß sie, ich meine, die Mutter … schließlich ist sie ja meine Mutter, auch wenn … verstehen Sie?« Er hob wieder den Blick, sah in die erstaunten Augen des Oberleutnants und begann zu grinsen. Aber sein Lachen ließ ihn noch hilfloser und verwirrter erscheinen.

»Nein, das verstehen Sie nicht, Herr Oberleutnant«, sagte er. »Meine Mutter sagte immer zu mir: ›Ich habe keinen Sohn mehr. Du bist ein Lump, ein Verbrecher.‹ So ist das bei uns, Herr Oberleutnant. Man wächst auf wie eine Ratte – bis man abgeschossen wird wie eine Ratte. So ist das, Herr Oberleutnant.«

»Ihre Mutter hat Ihnen geschrieben«, sagte Obermeier mit trockener Kehle.

»Meine Mutter?« Schwanecke streckte die Hand vor und riß sie sogleich wieder zurück. »Mutter?« wiederholte er. Und jetzt sah Obermeier etwas, was er nie geglaubt hätte, wenn es ihm ein anderer erzählen würde: Über Schwaneckes hartes, verschlossenes Gesicht zog ein weiches, warmes Lächeln, und aus seinen sonst leblosen, zwei Glaskugeln ähnlichen Augen leuchtete mit einem Male kindliche Freude. »Stimmt das, Herr Oberleutnant? Nehmen Sie mich nicht auf den Arm …? Entschuldigen Sie, Herr Oberleutnant, aber …« Mit seiner schweren, klobigen Hand fuhr er sich schnell über das Gesicht, als wollte er irgend etwas Störendes wegwischen.

»Es stimmt. Hier«, sagte Obermeier und nahm den Brief vom Tisch hinter sich. Ein einfaches blaues Kuvert, darauf eine große, ungelenke Schrift. Schwanecke wischte sich die Hand an der Hose ab und streckte sie zögernd aus. »Na, los, nehmen Sie schon!« sagte Oberleutnant Obermeier. »Gehen Sie jetzt, und lesen Sie den Brief in Ruhe!«

Schwanecke ging hinüber zu der großen Scheune und setzte sich auf sein Bett. Kronenberg und Krüll, die ihn beobachteten, wie er den Brief sinnend in der Hand hielt, schlenderten näher.

»Briefchen von Liesl, Anni, Gretchen – oder von wem?« fragte Kronenberg.

»Von der Mutti!« grinste Krüll.

Schwanecke fuhr hoch. »Haut ab!«

»He, Sie – Sie haben immer noch nicht gelernt, wie Sie sich zu benehmen haben, wenn Sie mit einem Vorgesetzten sprechen!« sagte Krüll.

»Jawohl!« sagte Schwanecke leise und stand langsam auf. Krüll sah in seine Augen und entfernte sich wieder.

»Du auch!« sagte Schwanecke zu Kronenberg sehr ruhig und wartete, bis auch dieser ging. Dann setzte er sich wieder und riß den Umschlag mit dem Fingernagel langsam und behutsam auf.

Nach fünf Jahren der erste Brief! Sie hatte nicht geschrieben, als er in Untersuchungshaft saß, sie hatte ihn verleugnet, als er ins Zuchthaus kam, sie hatte geschwiegen, als die SS ihn aus dem Zuchthaus holte und in das KZ Buchenwald brachte. Sie hatte ihn vergessen, als er in den thüringischen Steinbrüchen schuftete, als er mit bloßen Händen zentnerschwere Steinbrocken schleppte und den harten Basalt mit der Spitzhacke aus dem Berg brach. Und sie hatte geschwiegen, als er nach Rußland kam zu diesem verfluchten Bataillon der Verlorenen.

Aber nun schrieb sie!

Man mochte zu der Mutter stehen, wie man wollte, man mochte sie tausendmal verflucht haben, daß sie einen zur Welt gebracht hatte – aber Mutter blieb sie doch. Und wenn so ein Brief kam, dann war alles vergessen, dann fühlte man sich wie ein kleiner Junge, der gerade von irgend jemandem verdroschen worden war und nun zu seiner Mutter ging, um zu hören, daß es gar nicht so schlimm sei. Und ihre Hand auf dem Kopf zu spüren und noch ein bißchen zu heulen, aber dann war es ja wirklich nicht mehr so schlimm, nicht mehr, wenn sie es sagte und wenn sie einem über das Haar strich.

»Soldat Karl Schwanecke«, stand auf dem Briefumschlag.

Soldat!

»Scheiße!« sagte Schwanecke laut. Aber es klang so, als hätte er gesagt: Mach dir nichts draus, Mutter, ich bin ein Soldat, das ist eine verfluchte Sache, aber die andern sind's auch, und das ist gar nicht so schlimm. Ich komm' schon durch. Soldat hin oder her – unwichtig! Hauptsache, du hast endlich geschrieben!

Der Brief lautete:

»Lieber Karl!

Am Donnerstag vor 14 Tagen haben uns die Terrorflieger ausgebombt, alles ist kaputt, das Haus und die Möbel und Deine Schwester Irene war drin als die Bombe fiel. Sie war nicht sofort tot und hatte große Schmerzen und man hörte sie schreien aber sie war schon tot als man sie ausgebuddelt hat. Es ist eine schreckliche Zeit womit haben wir das verdient??? Jetzt geben sie mir keine neue Wohnung weil alles so voll ist und die Leute auf dem Bahnhof schlafen müssen aber der Bahnhof ist auch kaputt. Und sie sagen ihr Sohn ist ein Volksschädling und Gewaltverbrecher, sie bekommen keine Wohnung und was soll ich machen? Ich verfluche den Tag wo ich dich geboren habe und wenn ich daran denke wie schwer du auf die Welt kamst!!! Jetzt lebe ich draußen in einer Bretterbude es ist sehr kalt und es gibt keine Kohle und immer die Flieger ach, wäre schon dieses verfluchte Leben vorbei! Alles wegen Dir! Für Irene habe ich keinen Sarg bekommen, weil sie Schwanecke heißt und das ist wie der Teufel! Aber mir ist das alles jetzt egal. Das Leben ist sowieso nichts mehr, ich möchte auch Ruhe haben, vielleicht werde ich es dann haben, wenn ich tot bin. Es grüßt dich Deine Mutter

Herta Schwanecke«

Schwanecke las den Brief langsam, ganz langsam, Wort für Wort. Und als er fertig war, begann er noch einmal von vorne, als wollte er die Zeilen auswendig lernen. Beim Lesen bewegten sich seine Lippen langsam wie bei einem ins Gebet versunkenen Mann, der aus dem Gebetbuch buchstabierte. Und je länger er ihn las, desto fahler wurde sein Gesicht, farblos, eingefallen, knochig, grau.

Als er endlich fertig war, aufsah und über den Brief hinweg ins Leere starrte, brannten seine Augen tief unter den buschigen Brauen.

»Mensch – was hat er denn jetzt?« fragte Kronenberg leise.

»Was schreibt denn die Mutti?« schrie Krüll vom anderen Ende der Scheune.

Schwanecke hörte es nicht. Ein Brief nach fünf langen Jahren. Was hatte sie geschrieben? Ausgebombt … und der Name Schwanecke ist wie ein Teufel … sie möchte lieber tot sein …

»Schweine!« schrie er plötzlich auf. Er sprang hoch, den Kopf in den Nacken geworfen, den Mund weit offen, als könnte er keine Luft bekommen. »Schweine!« brüllte er grell, nur das eine Wort immer wieder. Dann zerknüllte er den Brief, schleuderte ihn in die Dunkelheit des Raumes und stampfte wie ein Irrer auf. »Mutter!« schrie er jetzt. »Mutter … alle sind Schweine! Alle!«

Krüll und Kronenberg stürzten zu ihm hin. Sie erreichten das Bett, als Schwanecke begann, mit Händen und Füßen seine Liege zu zerstören, brüllend, um sich schlagend, mit erschreckend verzerrtem Gesicht und irrsinnigen Augen.

»Weg!« schrie er. »Weg von hier! Ich bringe euch um, ich bringe alle um, alle!«

Kronenberg und Krüll wechselten einen schnellen Blick. Der Fall war klar: Schwanecke hatte einen Koller. Sie warfen sich auf den Tobenden, aber es mußten noch drei kommen, bis sie ihn endlich überwältigten, ihn in das halbzerstörte Bett legen und festbinden konnten.

Stabsarzt Dr. Bergen, Dr. Hansen und Obermeier kamen in die Scheune gerannt.

Kronenberg klopfte sich die Hände ab, als hätte er einen Mehlsack getragen. Sein linkes Auge fing an, anzuschwellen. »Er schläft«, sagte er trocken. »War ein kleiner Schock für ihn. Vielleicht hat er in den Jahren das Lesen verlernt und ärgerte sich darüber.«

»Halten Sie Ihr dummes Mundwerk, Kronenberg!« schnauzte ihn Obermeier an. Er trat an das Bett heran und blickte auf das anschwellende, zerschlagene Gesicht Schwaneckes. »Ich nehme ihn mit nach Gorki – und Sie kommen auch mit, Krüll.«

»Aber meine Verwundung, Herr Oberleutnant …«, stotterte Krüll.

»Ich hab' mir sagen lassen, daß Ihr Hintern wieder gut ist. Im übrigen brauche ich nicht Ihr Gesäß, sondern Ihre Hände, und die sind, wie man sieht, wieder vollkommen in Ordnung. Oder haben Sie etwa mit dem Hintern auf Schwanecke eingeschlagen?«

»Nein, Herr Oberleutnant.«

»Also: Heute nacht um ein Uhr vor der Operationsbaracke.«

»Jawohl!«

»Und die Partisanen?« fragte Dr. Bergen.

»Machen Sie sich nichts draus, Herr Doktor, wir müssen zurück.«

Krüll schlich zu seinem Bett. Wieder an die Front, dachte er. Wieder zurück in diesen Dreck: Feindeinsicht, Feuerüberfälle, Partisanen. Mist.

Dr. Bergen gab Schwanecke eine Morphiumspritze.

»Wird er sich beruhigen?« fragte ihn Obermeier.

»Bis heute nacht schläft er. Ich hoffe, daß es dann vorbei ist.«

»Was war eigentlich los?« wandte sich Obermeier an Kronenberg.

»Der Brief …«

»Wo ist er?«

Kronenberg suchte den zerknüllten Brief und gab ihn dem Oberleutnant, der ihn glättete und las. Als er fertig war, faltete er ihn sorgfältig zusammen, steckte ihn in die Tasche und verließ schweigend den Raum.

»Was muß da bloß drinstehen, der war ja auch ganz belämmert?« sagte Kronenberg.

»Wer weiß. Es gibt Briefe, die man nie abschicken sollte«, sagte Dr. Hansen, bevor er ging.

Um ein Uhr nachts standen Krüll und Schwanecke vor der Operationsbaracke. Schwanecke lehnte, finster vor sich hinblickend, an der Wand. Als er aufgewacht war und sich auf das Bett gefesselt sah, lachte er zuerst lange und hysterisch. »Ich haue euch schon nicht ab, ihr Idioten!« sagte er dann, vom Lachen geschüttelt. »Wo soll ich denn hin in diesem Mistland?«

»Man kann's nie wissen, du hast einen ganz schönen Koller gekriegt, und man weiß ja, daß Leute mit Koller allerlei Dummheiten machen.« Kronenberg saß am Fußende und hielt hinter dem Rücken eine neue Spritze bereit, falls Schwanecke wieder zu toben beginnen würde. »Dich wird ja einmal doch die SS schnappen und aufhängen. Dabei hättest du als Überläufer beim Iwan die größte Chance.«

Krüll trat Kronenberg auf den Fuß und zu Schwanecke sagte er grob: »Dir schießen sie die Rippen einzeln 'raus, wenn du abhaust.« Nachdem selbst Stabsarzt Dr. Bergen, Krülls letzte Hoffnung, ihn k.v. geschrieben und damit bestätigt hatte, daß sein Schuß in den Hintern kein Hindernis wäre auf dem Weg zum Heldentum, hatte sich Krüll den Gegebenheiten schnell angepaßt. Dies wurde schon eine Viertelstunde nach der Untersuchung und endgültigen Entscheidung bekannt, als Krüll in der Lazarettscheune einen Leichtverletzten strammstehen ließ und ihn durch den Mittelgang hin und her jagte, weil er, wie er sagte, im warmen Bett verlernt hätte, anständig die Vorgesetzten zu grüßen. »Euch werde ich helfen«, schrie er durch die Lazarettscheune. »Ihr Simulanten wärmt euch hier den Bauch, während wir draußen im Schnee liegen und Eis kauen! Alle Lazarettrückkehrer werde ich in Zukunft selbst nachbehandeln!«

»Sauhund!«

Krüll fuhr herum. In den Betten lagen die Schwerverletzten. Auf den Pritschen und Strohsäcken lümmelten sich die Gehfähigen und grinsten.

»Wer war das?«

Aus der Dunkelheit im Hintergrund kam leise und klar: »Der Wind, der Wind, das himmlische Kind …«

Kronenberg kicherte. Aber mit den Sanitätern wollte es sich Krüll nicht mehr verderben. So schwieg er und ballte die Fäuste. »Es wird auch wieder eine andere Zeit kommen!« drohte er, und Kronenberg nickte heftig.

»Hoffentlich! Darauf warten wir ja alle …«

»Wie meinen Sie das?«

»Genauso, wie Sie gesagt haben, Herr Oberfeldwebel.«

So war der Abend vergangen. Doch in der Nacht, als sie vor der Baracke standen und froren, war Krüll stiller geworden, in sich gekehrt und sehr nachdenklich. Die Front kam wieder näher, er dachte an die Partisanen, durch deren Gebiet sie gleich fahren mußten, an das Grabensystem mit seinen Granatwerferüberfällen, den nächtlichen Feuerstößen, dem Artilleriefeuer. Und er dachte an die undefinierbare Drohung der nahen Zukunft, an die ungreifbare und doch überall gegenwärtige und immer eindringlicher werdende Ahnung einer nahenden Katastrophe.

Was es war, und woher er dieses Wissen oder diese Ahnung des Unheils hatte, wußte Krüll nicht. Es war zu ihm gekommen, genauso wie es zu den anderen gekommen war, leise, schleichend, eindringlich.

Als er so an der Hauswand stand und gegen das kalte Holz lehnte, kümmerte er sich nicht um Schwanecke, der neben ihm stand, und es wäre ihm wahrscheinlich auch gleichgültig gewesen, wenn nach und nach eine Kompanie Landser an ihm vorbeigegangen wäre, ohne ihn zu grüßen.

Schließlich kam Oberleutnant Obermeier. Unter der Fellmütze hatte er einen Schal um den Kopf gebunden und sah aus wie ein Zahnkranker, der seine geschwollene Backe schützte.

»Alles klar, Oberfeldwebel?«

»Jawohl, Herr Oberleutnant!«

»Wir nehmen auch Deutschmann mit. Er muß gleich kommen.«

»Was macht er denn noch?« fragte Schwanecke respektlos.

»Dr. Hansen muß ihm noch einiges Material zusammenpacken«, antwortete Obermeier, aber dann schien er sich plötzlich zu erinnern, wer es gefragt hatte und wie – wollte aufbrausen – und unterließ es. Schweigend und nachdenklich betrachtete er Schwanecke, der seinen Blick mit einer dumpfen Gleichgültigkeit erwiderte.

»Schwanecke …«

»Ich weiß, Herr Oberleutnant. Sie brauchen es gar nicht zu sagen: Bei Fluchtversuch wird sofort geschossen. Habe ich jetzt schon hundertmal gehört. Es hängt mir zum Hals heraus!«

»Vergessen Sie es nur nicht. Sie werden übermorgen nach Orscha überstellt.«

»Warum denn?«

»Sie wissen Bescheid.«

»Wenn's sein muß …«

Ein Schlitten mit zwei Panjepferdchen kam die Dorfstraße herunter und hielt vor der Scheune an. Ein Landser, vermummt wie ein Nordpolfahrer, unkenntlich wie ein Wesen von einem anderen Stern, hockte auf dem Bock. Er legte lässig die Hand an die Fellmütze, die er einem russischen Muschik abgenommen hatte und statt der Feldmütze trug. Jetzt kam von der Lazarettbaracke her auch Deutschmann, langsam, wie schlafwandlerisch, nach vorn gebeugt, mit stillen, leeren Augen.

Obermeier musterte ihn kurz und fragte sich heute schon zum zweitenmal, was diesem Mann geschehen war, daß er sich so verwandelt hatte. Deutschmann war ja nie laut und gesprächig gewesen, doch hatte er sich allem Anschein nach an die Uniform gewöhnt und auch an die Einheit, in der er dienen mußte. Von ihm ging eine stille, gelassene Ruhe aus, die Einsicht eines Mannes, der sich mit den Gegebenheiten abgefunden hatte. Seit heute morgen aber, als er, Obermeier, ihm den Brief aus Deutschland gegeben hatte, war es damit vorbei: Es schien, als wäre alles Leben von Deutschmann gewichen und als bewege sich hier ein lebender Toter nur noch unter dem Zwang äußerlicher Einflüsse, der wie ein Automat sprach und auf Fragen antwortete, ohne wirklich dabeizusein.

Krüll stieg als erster ein. Er zog Schwanecke hinter sich her und postierte sich neben ihm, so daß er jede seiner Bewegungen sehen konnte. Deutschmann beachtete er nicht.

Stabsarzt Dr. Bergen kam aus seiner Baracke gelaufen und rief Obermeier zu:

»Jetzt gerade rief Wernher an. Bei Witebsk ist der Russe auf einer Breite von über dreißig Kilometern durchgebrochen. Er nimmt an, daß der nächste Stoß hier bei uns erfolgen wird.« Er stockte und trat dann ganz nahe an Obermeier heran: »Wenn wir uns nicht mehr sehen sollten, nehmen Sie mit auf den Weg: Sie sind einer der letzten anständigen Kerle hier, und ich – ich …« Er wandte sich schroff ab und eilte durch den Schnee zurück in die Operationsbaracke. Obermeier sah hinter ihm her, schüttelte den Kopf, ging zum Schlitten und setzte sich neben Krüll.

»Abfahren!«

Krüll blickte ihn erschrocken an.

»Der Russe ist durchgebrochen?«

»Es scheint so.«

»Und jetzt – bei uns?«

»Wahrscheinlich.«

Krüll schluckte. »Was sollen wir nur machen, wenn es hier losgeht, Herr Oberleutnant? Wir haben doch nichts. Für die ganze Kompanie nur drei MGs, vier Maschinenpistolen, zehn Karabiner, fünf Pistolen. Das ist alles. Damit können wir den Russen doch nicht aufhalten!«

»Sie haben wieder einmal recht, Krüll.«

Schwanecke grinste breit. »Gleich stinkt's, Herr Oberleutnant. Rücken Sie ab – er scheißt in die Hosen …«

Aber Krüll beachtete ihn nicht. Mit weit offenen Augen sah er den Oberleutnant an. »Sie werden uns abknallen wie die Hasen«, sagte er, »wir können uns doch nicht so einfach abknallen lassen!«

»Warum eigentlich nicht?«

Obermeier rieb sich die klammen Hände. »Was glauben Sie denn, warum wir hier sind?«

Der Morgen graute, als der Pferdeschlitten in Gorki einfuhr und vor dem Kompaniegefechtsstand hielt. Jens Kentrop, der in Abwesenheit Obermeiers und Krülls die Kompaniegeschäfte führte, kam aus der Hütte gelaufen und machte Meldung. Die Unteroffiziere Peter Hefe und Hans Bortke waren mit den Schanzkolonnen draußen im Grabensystem und hatten mit dem in der vergangenen Nacht verlegten Feldtelefon durchgegeben, daß eine russische Patrouille hinter der deutschen HKL eine Arbeitskolonne beschossen habe. Da nur drei Karabiner und zwei Pistolen zur Verteidigung vorhanden waren, hatte die Kompanie schwere Verluste: sieben Tote und dreizehn Verwundete. Erst nachdem die Verstärkung mit einem MG und zwei Maschinenpistolen kam, zogen sich die Russen zurück und ließen drei Tote liegen.

Oberfeldwebel Krüll, der diese Meldung beim Aussteigen mitanhörte, hatte das Gefühl, die Welt würde über ihm einstürzen. Jetzt war es da, was er befürchtet hatte.

Obermeier schwieg. Er nickte Kentrop zu und ging mit gesenktem Kopf in die Hütte. Kentrop drehte sich zu Krüll um und sagte mißmutig:

»Es stinkt gewaltig. Und das ist nur der Anfang. Bei der 1. Kompanie hat es in dieser Nacht ganz fürchterlich gebumst.«

Deutschmann hatte diese Gespräche wie durch einen dicken Wattebausch vernommen. Er kümmerte sich nicht um die anderen. Mit abwesendem, starrem Blick, der in seine Augen gekommen war, nachdem er Dr. Kukills Brief gelesen hatte, setzte sich Deutschmann auf seine Pritsche in der winzigen Kammer, wo er schlief. Der verhängnisvolle Brief knisterte in seiner linken Brusttasche. Auf der ganzen Fahrt von Barssdowka nach Gorki hatte er kein Wort gesprochen, weder mit Obermeier, der ihn in Ruhe ließ, noch mit Krüll oder Schwanecke, die einige Male ein Gespräch beginnen wollten und immer wieder aufhörten, da er keine Antwort gab.

Julia ist tot. Das hatte er zwischen den Zeilen herausgelesen. Dr. Kukill hatte sie sterben sehen, sie hatte sich für ihn, Deutschmann, geopfert. Sie hatte beweisen wollen, daß er unschuldig war. Sie hatte an ihn geglaubt, an ihn und an seine Arbeit, sie hatte ihm vertraut – doch der Aktinstoff hatte auch bei ihr versagt. Was bedeutete es, daß Kukill ihn jetzt bat, Zusammensetzungen, Formeln, Versuchserfahrungen zu schicken, daß er schrieb, er glaube an die Möglichkeit eines Aktinstoffes, daß er beteuerte, er wolle ihn rehabilitieren? Das alles war nebensächlich, unwichtig gegen die Tatsache, daß Julia gestorben war, während er mit Tanja …

Es gab keinen Ausweg aus seiner Qual. Es gab keinen Ausweg vor den Selbstvorwürfen und der Selbstanprangerung. Und während er auf der Pritsche saß und vor sich hinstarrte, hatte er das Gefühl, er wäre schuld an Julias Tod, er allein. Niemand konnte ihm diese Schuld abnehmen, nie mehr würde er frei von ihr sein. Er nahm den Brief aus der Tasche und zerriß ihn in ganz kleine Teile, die er auf den Boden streute und mit den Stiefelsohlen in den Lehm rieb.

Oder – eine unsinnige Hoffnung regte sich in ihm – oder war Julia gar nicht gestorben? Kukill schrieb doch nur, daß sie sehr schwer krank sei, aber von ihrem Tod stand kein Wort in dem Brief. Vielleicht – vielleicht würde sie durchkommen, genauso wie er selbst durchgekommen war … vielleicht …

Unsinn!

Er wischte mit der Handfläche über sein Gesicht. Es war unsinnig, sich einer Hoffnung hinzugeben. Es gab keine mehr. Julia war tot.

Er zog seinen Mantel aus, legte ihn über die Pritsche, hielt mitten in der Bewegung inne und sah mit einem irren Blick um sich, als würde er etwas suchen. Es war irgend etwas, was er hatte tun wollen, es gab irgend etwas, was er erledigen mußte … nicht nur er war schuld an Julias Tod, nicht nur er … warum war er eigentlich hier? Warum mußte er hier sitzen in dieser elenden Kammer, verdreckt, verlaust … warum das alles? Wie kam es zu dem Abenteuer mit Tanja? Warum kam es dazu? Es war ein Abenteuer, es war ein Mittel, um zu vergessen, und das alles wäre nicht geschehen – wenn nicht dieser Mann gewesen wäre, der ihm geschrieben hatte: Dr. Kukill. Er war schuld. Wäre er nicht gewesen, so würde er, Deutschmann, immer noch in Berlin leben, arbeiten – zusammen mit Julia. Mit einer gesunden, schönen Julia, seiner Frau, seiner wunderbaren Frau, die nicht nur Ehefrau war, sondern eine Freundin, Mitarbeiterin …

Hastig, mit nervösen, fliegenden Händen riß er einen Pappkarton unter seinem Bett hervor, nahm einen Schreibblock und einen Bleistift heraus, legte den Block auf die Knie und begann zu schreiben:

»Dr. Kukill, ich habe Ihren Brief erhalten. Es dürfte Sie kaum interessieren, wie sehr mich Ihr wehleidiges Stottern angeekelt hat. Ich sage es Ihnen trotzdem. Ich sage es Ihnen vor allem, um endgültig klarzustellen, was ich glaubte, zwischen den Zeilen Ihres Briefes herauszulesen: Sie empfinden ein gewisses Gefühl der Schuld. Aber das ist zu wenig, Herr Dr. Kukill. Ich kann mir vorstellen, daß Sie sich darüber keine grauen Haare werden wachsen lassen; wie ich Sie kenne, liegt es Ihnen fern, sich je über das Leid Ihrer Mitmenschen, das Sie verursacht haben, Gedanken zu machen. Wenn ich könnte – und gebe Gott, daß es mir einmal möglich sein wird –, würde ich Ihnen jetzt und immer wieder ins Gesicht schlagen und so laut brüllen, daß Sie es hören müßten: Sie sind schuld! Sie sind schuld! Sie sind schuld, daß ich hier bin, Sie sind schuld, daß Julia tot ist, Sie sind schuld! Julia ist tot – und das haben Sie … das haben Sie … Sie sind schuld! Julia ist tot – tot!«

Er ließ den Bleistift kraftlos auf das Papier fallen. Mit trockenen, heißen Augen stierte er auf den Boden vor sich, lange Minuten, ohne sich zu rühren. Er dachte: Ich möchte weinen. Ich möchte es tun. Aber ich kann es nicht. Mein Gott, wenn ich ihn nur hier hätte! Wenn ich ihn nur hier hätte! Und er sah nicht auf, als die Tür aufging und jemand zu ihm in den kleinen Raum kam.

Es war Schwanecke.

»Was is'n eigentlich mit dir los?« fragte er, während er sich auf die Pritsche setzte und Deutschmann prüfend ansah.

»Nichts. Was machst du hier?« fragte Deutschmann.

»Ich suche Gesellschaft, Professor, verstehst du? Bevor sie mich köpfen …«

Deutschmann schwieg, und erst nach und nach drangen Schwaneckes Worte in sein Bewußtsein.

»Dich – was?« fragte er.

»Köpfen, habe ich gesagt, Professor. Eins, zwei, drei – der Kopf ist ab, und Schwanecke war einmal.«

»Du bist verrückt!«

»Ich nicht, aber die anderen. Die werden mir schon einen Strick drehen, darauf kannst du dich verlassen. Zuerst stecken sie mich hier 'rein ins Strafbataillon und sagen: Bewähre dich, mein Junge, wenn du genug Russen totmachst, biste wieder 'n feiner Maxe. Aber dann kam die blödsinnige Geschichte mit diesem Idioten …«

»Bevern?«

»Na klar.«

»Aber du hast ihn doch nicht umgelegt, und sie können dir ja gar nichts beweisen!«

»Vielleicht hab' ich ihn doch umgelegt …« Schwanecke grinste breit.

Deutschmann wich zurück. Erschrocken starrte er auf den Sitzenden, der ihn verschlagen blinzelnd von unten her anstarrte. »Du – du hast ihn …?«

»Ach wo, nichts habe ich. Aber die Sache ist so, verstehst du: Wenn sie einmal einen in der Mache haben, dann kommt er nicht davon. Der Verdacht genügt. Und mit so einem Verdacht ist es eine verdammte Sache. Paß gut auf: Der erste sagt – der war mit ihm allein im Graben. Der zweite sagt – der hätte ihn aber gut umlegen können. Und der dritte sagt – der hat ihn umgelegt! und der vierte sagt – klar, es gibt nichts anderes, das ist mal todsicher. Kein anderer konnte Bevern umlegen als Schwanecke! Und das kommt dann zu dem ganzen Re… Re… – na, wie heißt das schon?«

»Vorstrafenregister«, sagte Deutschmann.

»Genau. Und das ist bei mir nicht von Pappe, sage ich dir. Klar, daß nicht jedermann glaubt, ich hätte ihn wirklich umgebracht. Schade, daß ich es nicht getan habe …!«

»Vielleicht hast du es doch?«

»Ach wo. Jetzt geht's mir an den Kragen. Nix Bewährung! Ein Volksschädling! Fallbeil! Sssss – Rübe ab. Das deutsche Volk kann erleichtert aufatmen. Schwanecke ist nicht mehr. Verstehst du …«

»Das ist ja furchtbar«, sagte Deutschmann leise.

»Furchtbar? Ach wo. Wenn so viele Leute ins Gras beißen müssen … Und jetzt muß ich dir etwas sagen, was ich noch keinem Menschen gesagt habe: Vielleicht haben die sogar recht. Ich meine … verstehst du … ich meine, ich war wirklich ein Schwein. Ich kannte nichts. Hab' ich ein Mädchen gesehen – los, 'ran! Hab' ich einen Tresor gesehen – nischt wie knacken! Ich kann schon verstehen, daß die anderen genug haben von mir. Aber, verstehst du, jetzt hab' ich's ja eingesehen, ich glaube, vielleicht … man kann ja nie was versprechen … aber vielleicht könnte das anders werden … ich habe dich kennengelernt, Professor, und Wiedeck und Bartlitz, ihr seid alle in Ordnung, verdammt noch mal, ihr seid wirklich in Ordnung, ich glaube … sie müßten mir noch eine Chance geben … aber jetzt ist's aus. Verdammt noch mal, jetzt ist's aus …!«

Er legte den Kopf in die Hände und weinte.

Es war ungeheuerlich. Deutschmann hätte alles andere erwartet, als daß Schwanecke einmal weinen könnte. Er war unfähig, sich zu rühren, unfähig, ihm etwas zu sagen. Doch dann konnte er es nicht mehr länger ertragen. Er streckte die Hand langsam vor und legte sie auf die Schulter des Weinenden.

»Vielleicht – vielleicht ist es nicht so schlimm«, sagte er, »vielleicht …«

»Ach was!« sagte Schwanecke und sah auf. Seine Augen waren blutunterlaufen, flackernd, und vor seinem Blick wich Deutschmann zurück. »Da gibt's kein Vielleicht! Ich muß mir selbst helfen, das ist alles.«

»Wie meinst du das?«

»Wie ich das meine? Eine blödsinnige Frage! Ich werde abhauen!«

»Abhauen? Etwa – desertieren?«

»Na klar.«

Deutschmanns Gesicht war fahl. »Du bist ja verrückt! Wenn sie dich schnappen, stellt dich selbst Obermeier an die Wand, und wir müssen auf dich schießen!«

»Wer spricht da von schnappen? Sie werden mich nicht schnappen! Kein Mensch kann mich hier schnappen, wenn ich nicht will.«

»Wie willst du durch die HKL kommen?«

»Mensch, du vergißt, daß ich ein uralter Hase bin. Ich kenne alle Schliche, mir kann keiner was vormachen. Und ich sage dir noch etwas, halt dich fest!« Er stand langsam auf und sah Deutschmann gerade in die Augen. »Du warst immer ein anständiger Kerl, Professor. Du bist ein Doktor, Mensch, was machst du denn noch hier? Die Schweine haben dich zur Sau gemacht, warum hockst du noch hier? Wenn du willst, nehme ich dich mit. Ehrenwort!«

Deutschmann schüttelte den Kopf.

Schwaneckes Stimme wurde drängend: »Sei nicht dumm, Professor, wenn du mit mir gehst, kommst du durch. Das garantiere ich dir. Du nimmst deine Rote-Kreuz-Fahne mit und so 'ne Armbinde und gibst mir auch eine. Dann wird man auf beiden Seiten denken, wir suchen nach Verwundeten – und ab durch die Mitte!«

»Das kann ich nicht!«

»Warum nicht?«

»Es wäre eine Schweinerei. Ich meine, das mit dem Roten Kreuz …«

»Du bist vielleicht ein blöder Hund! Ich möcht' bloß wissen, was in deinem Kopf vorgeht. Die Sache ist doch sonnenklar. Der ganze Krieg ist eine Schweinerei. Und ich werde dir etwas sagen: Diese Rote-Kreuz-Fahne ist dazu da, um Menschen – du verstehst schon … ich meine, um Menschen durchzubringen. Sie wird auch uns durchbringen – warum soll das dann eine Schweinerei sein? Andererseits – wenn du hier bleibst, gehst du beim nächsten Angriff der Russen todsicher drauf. Womit willst du dich wehren? Wir werden wie Zielscheiben durch den Schnee hoppeln, und die werden ein Übungsschießen auf uns veranstalten, und ich garantiere dir, daß das bald kommt, ich spüre es in allen Knochen. Und du redest noch von Schweinerei, und vom Roten Kreuz und so. Bleibst du hier, kommst du um, kommst du mit, bleibst du am Leben – und das Rote Kreuz hat genau das getan, was es zu tun hat!«

»Und – die anderen?«

»Wer?«

»Ich meine die anderen, unsere Kameraden.«

»Was ist mit denen?«

»Was werden die machen?«

»Ich kann dir genau sagen, was die machen werden. Sie werden sagen: Verdammt noch mal, endlich zweie, die nicht auf den Kopf gefallen sind. Hoffentlich kommen sie durch, wir halten ihnen alle Daumen. Genau das werden sie sagen. Mensch, wach doch auf! Siehst du denn nicht, was hier gespielt wird? Wir werden abgeschlachtet wie eine Viehherde. Es wird nicht mehr lange dauern, und dann krepierst du auch. Kannst du denn das nicht begreifen? Da drüben haben wir eine Chance. Ich weiß, es ist kein Spaß, bei den Russen einen Gefangenen zu spielen, sie werden uns feste drannehmen, aber unsere Chance ist mindestens 50 : 50, daß wir durchkommen. Wenn du hierbleibst, hast du vielleicht eine Chance 1 : 100. Hier bist du der letzte Dreck, wenn du im Strafbataillon bist. Aber da drüben wird man vielleicht sagen: Das sind Märtyrer, die haben gegen Hitler gekämpft, es lebe hoch der Schwanecke, heil dem Deutschmann. Wollt ihr zu fressen haben, was wollt ihr saufen? Gib dir einen Stoß, komm mit!«

»Nein!«

»Mit der Armbinde und der Fahne kommen wir durch wie nichts!«

»Und die Minenfelder?«

»Du hast noch immer nicht kapiert, daß ich den Dreh 'raushabe. Ich rieche eine Mine auf 50 Meter! Und du willst ein Intellektueller sein? Ich weiß gar nicht, warum du dagegen bist. Ich muß weg. Ich kann mir keine Masche aussuchen, wie Hilfssani und so, mir hacken sie die Rübe ab; und ich wär' schön blöd, wenn ich warten würde.«

»Aber laß mich dabei aus dem Spiel!«

Schwanecke drehte sich um, trat an das winzige Fenster und sah hinaus auf die Dorfstraße. Krüll stand im hohen Schnee, den Mantelkragen emporgeklappt, und schrie auf einen Soldaten ein. Es war der schmächtige, halbverhungerte Professor, den man nur zu leichten Arbeiten innerhalb der Kompanie einsetzen konnte. Er hatte die Straße vom Schnee freigefegt und sich einige Augenblicke erschöpft auf den Stiel seines Drahtbesens gestützt. So traf ihn Oberfeldwebel Krüll an, als er einen Rundgang durch das Dorf machte. An ihm konnte er seine Wut vor der eigenen Angst auslassen. Während er ihn hin und her jagte, konnte er wenigstens eine Zeitlang vergessen, wo er war, und die Ahnungen niederdrücken, die ihn ruhelos herumhetzten und vor denen er nirgends sicher war.

»Sie akademischer Schlappschwanz!« brüllte er, »das Abitur machen, den Hintern auf den Universitätssitzen weichrutschen, große Fresse haben über dußlige Philosophen – das kann er, aber 'ne Straße fegen, da geht der Kerl in die Knie! Hopphopphopp, Herr Professor, dreimal um die Schreibstube herum, marsch, marsch!«

Der Professor nahm seinen Besen wie einen Speer in die Hand und rannte los. Keuchend, mit vorquellenden Augen, taumelnd, die linke Hand auf das Herz gepreßt. Krüll stand auf der Straße und kommandierte:

»Schneller! Schneller! Beine müssen fliegen! Kopf hoch! Mehr Haltung, Sie philosophischer Knülch. Denken Sie an Sokrates, das war doch einer von Ihrer Sorte. Denken Sie an Kant, nehmen Sie sich ein Beispiel an ihm, er schlief in einem Faß, in der frischen Luft! Hier haben Sie frische Luft! Noch eine Runde! Hopphopp!«

Der Professor taumelte, stolperte, warf den Stahlbesen weg, schlug mit den Armen um sich und fiel vornüber in den Schnee. Mit dem Gesicht auf dem Eis lag er mitten auf der Dorfstraße, ein lebloses Bündel Kleider, aus denen ein schmaler grauhaariger Kopf sah.

Krüll sah verblüfft auf den Liegenden und schüttelte den Kopf. »Na, so was«, sagte er, drehte sich herum und schrie: »Deutschmann! Deutschmann! Herkommen!«

Schwanecke drehte sich böse grinsend vom Fenster. »Geh 'raus«, sagte er. »Deine Freunde haben den Professor zur Sau gemacht. Geh nur, bald bist du dran!« Ohne Deutschmann weiter zu beachten, ging er an ihm vorbei. Deutschmann lief hinterher.

Krüll stand breitbeinig neben dem Ohnmächtigen. Als Deutschmann mit der Medizintasche in der Hand näher gelaufen kam, fragte er, jetzt doch ein bißchen nervös geworden: »Gibt's auch dafür eine Spritze?«

»Mal sehen.« Deutschmann kniete in den Schnee und drehte den Liegenden herum. Über die Stirn des Professors zog sich ein tiefer Schnitt. Das Blut gefror in der Kälte. Als Deutschmann die Lider des Ohnmächtigen hob, waren die Augen verdreht und glanzlos.

»Ist er etwa – verreckt?« fragte Krüll.

»Noch nicht. Herzkollaps.«

»Sprechen Sie deutsch mit mir!« Krüll tippte mit der Stiefelspitze in die Seite des Mannes, der bewußtlos auf dem Boden lag. »Was hat er?«

»Masern!« sagte Deutschmann wütend und kümmerte sich nicht mehr um den verdatterten Oberfeldwebel. Er sah sich hilfesuchend um und bemerkte Schwanecke, der an der Hauswand lehnte und ausdruckslos hinüberstarrte. »Komm her – hilf mir!« rief Deutschmann und packte den Ohnmächtigen unter den Armen.

Schwanecke schlenderte langsam näher. »Laß das«, sagte er, hob den Professor auf seine Arme und trug ihn hinüber zum Revier. Sie betteten den leblosen Körper auf einen Strohsack, Deutschmann knöpfte die Uniform auf und massierte die schmale Brust, aus der die Rippen ragten wie die Sprossen einer Leiter. Der Professor kam langsam zu sich, sein Mund öffnete und schloß sich, und kaum verständlich röchelte er: »Luft – Luft – Luft!« Doch dann wurde er wieder ohnmächtig.

»Wasser!« rief Deutschmann.

Schwanecke rannte in eine Ecke, füllte einen Kochgeschirrdeckel mit Wasser, kam zurück und begann die Brust des Professors zu massieren. Deutschmann klopfte mit der flachen Hand die Herzgegend ab.

»Gib ihm doch ein Herzmittel!« sagte Schwanecke.

»Ich habe nichts hier, nur Sympathol!«

»Dann gib's ihm doch!«

»Das hilft nicht.«

»Das ist doch wurscht. Vielleicht hilft's doch. Wir müssen den Kerl durchkriegen. Er ist in Ordnung. Krüll – dieses Schwein – dieses verfluchte Schwein!«

Deutschmann nahm aus einer Sanitätstasche ein kleines Fläschchen heraus und träufelte fünfzehn Tropfen auf einen Löffel. Schwanecke schob seinen dicken Zeigefinger zwischen die verkrampften Lippen des Ohnmächtigen und drückte den Mund auf. Vorsichtig schüttete Deutschmann die Tropfen hinein. Dann massierten sie wieder die Brust und die Herzgegend.

»Soll ich Schnaps besorgen?« fragte Schwanecke.

»Nein, das hat keinen Zweck.«

»Er muß durchkommen«, sagte Schwanecke wieder, »Krüll, dieses Schwein, dieses verfluchte Schwein! Wenn ich den einmal erwische …«

»Er wird durchkommen – jedenfalls scheint es mir so«, sagte Deutschmann schwitzend, als der Professor regelmäßiger zu atmen und leise zu stöhnen begann. Aber er war immer noch ohnmächtig.

»Na, kommst du nun mit oder nicht?« fragte Schwanecke.

Deutschmann schwieg.

»Willst du wirklich hier verrecken? So wie der da? Auch wenn er durchkommt, wird er irgendwann verrecken – spätestens dann, wenn ihn die Russen umlegen!«

»Halt den Mund!« sagte Deutschmann.

»Jaja, ist schon gut. Meinetwegen verrecke. Mir ist's gleich.«

Sie arbeiteten schweigend weiter. Als es den Anschein hatte, daß es nichts mehr zu tun gab, deckten sie den Professor mit zwei Decken zu. Dann setzten sie sich zu beiden Seiten des Schlafenden und stierten vor sich hin auf den Boden. Sie hatten sich nichts mehr zu sagen. Oder doch? Hatte Schwanecke am Ende doch recht, fragte sich Deutschmann. War es wirklich so, wie er sagte? Was hielt ihn noch hier zurück? Warum griff er nicht mit beiden Händen zu? Denn es war eine Chance durchzukommen, während hier?

Als Obermeier plötzlich eintrat, erhoben sie sich nicht. Sie bemerkten ihn erst, als er am Bett stand.

»Krüll?« fragte der Oberleutnant.

Deutschmann nickte. »Irgend etwas muß er ja tun.«

Wortlos, mit einem bleichen, böse-verbissenen Gesicht verließ Obermeier das Revier.

In der darauffolgenden Nacht tobte Krüll wie ein wildgewordener Stier im Dorf herum – und dann wieder schlich er bedrückt durch die Straße von Haus zu Haus, aus einer Unterkunft in die andere. Oberleutnant Obermeier hatte ihm wegen des Professors eine fürchterliche Zigarre verpaßt. Aber die Zigarre allein wäre nicht so schlimm gewesen: In seiner langjährigen militärischen Laufbahn hatte er gelernt, die Maßregelungen der Vorgesetzten gleichgültig von sich abzuschütteln wie ein nasser Hund das Wasser. Doch weitaus unangenehmer war die Tatsache, daß ihm Obermeier befohlen hatte, wieder hinaus in die Gräben zu gehen, um die Arbeit dort zu beaufsichtigen und vor allem die fertiggestellten Grabenstücke auszumessen.

»Sie haben sich ja zu einem Fachmann im Messen entwickelt, Oberfeldwebel«, hatte Obermeier zu ihm gesagt. »Oder stimmt es nicht?« Krüll hatte die Hacken zusammengeschlagen und heiser bestätigt:

»Jawohl, Herr Oberleutnant.«

Und dieses stumpfsinnige Jawohl tat ihm innerlich so weh, daß er aus einer Stimmung in die andere fiel, aus wütendem Toben in verbissenes, ahnungsvolles Schweigen.