26

Es war etwa eineinhalb Stunden vor Einbruch der Dunkelheit, als ich am alten Gebäude des Kreiskrankenhauses ankam. Angesichts der vielen freien Parkplätze war es offensichtlich, daß die meisten Büros bereits geschlossen und die Angestellten Feierabend hatten. Kelly hatte mir erzählt, daß es hinter dem Gebäude noch einen zweiten Parkplatz für die Bediensteten der Nachtschicht gab. Ich hatte nicht vor, so weit entfernt zu parken. Ich stellte mich auf einen Platz so nahe am Eingang wie möglich, wobei ich mit Interesse ein Fahrrad bemerkte, das links neben mir an einen Ständer gekettet war. Es war ein altes, zerbeultes Schwinn-Rad mit breiten Reifen und einem nachgemachten Nummernschild, das mit Draht am hinteren Rahmen befestigt war und auf dem »Alfie« stand. Kelly hatte mir gesagt, daß das Gebäude normalerweise ab sieben geschlossen sei, daß ich jedoch klingeln könne und Alfie mich dann per Knopfdruck reinlassen würde.

Ich schnappte mir die Taschenlampe und den Bund mit den Nachschlüsseln, dann zog ich mir kurzentschlossen noch ein Sweatshirt über. Mir fiel nämlich ein, daß das Innere des Gebäudes recht kühl gewesen war, und daß es nach Sonnenuntergang bestimmt noch kälter sein würde. Schließlich schloß ich den Wagen ab und ging auf den Eingang zu.

Vor der doppelten Eingangstür blieb ich stehen und drückte auf den Klingelknopf zu meiner Rechten. Einen Augenblick später summte es, das Schloß wurde freigegeben, und ich ging hinein. Die Eingangshalle wurde bereits von Schatten durchzogen, und sie erinnerte mich vage an einen verlassenen Bahnhof in einem futuristischen Film. Sie hatte dasselbe Flair klassischer Eleganz an sich: eingelassene Fußböden aus Marmor, hohe Decken und wunderschöne Holzarbeiten aus eingefaßter Eiche. Das spärliche übriggebliebene Inventar stammte wahrscheinlich noch aus den zwanziger Jahren, als das Gebäude errichtet worden war.

Ich durchquerte die Eingangshalle und blickte im Vorübergehen auf den Stummen Portier an der Wand. Fast unterbewußt fiel mir ein Name ins Auge. Ich blieb stehen und sah noch einmal hin. Leo Kleinert hatte hier draußen also auch eine Praxis; das war mir bisher nicht klar gewesen. War Bobby zu seinen wöchentlichen psychiatrischen Sitzungen jedesmal so weit rausgefahren? Das kam mir ein wenig abwegig vor. Ich stieg die Treppe hinunter, wobei meine Schuhe bei jedem Schritt über die Steinstufen kratzten. Wie bereits zuvor spürte ich den Temperaturrückgang, der an ein Hinabtauchen in die tieferen Wasserschichten eines Sees erinnerte. Hier unten war es schon düsterer; immerhin war die Glastür zur Leichenhalle erleuchtet, ein helles Rechteck in der allgemeinen Dunkelheit des Flures. Ich sah auf die Uhr. Es war noch nicht einmal Viertel nach sieben.

Der Höflichkeit halber klopfte ich erst an die Glasscheibe, ehe ich es mit der Tür probierte. Die Tür war unverschlossen. Ich öffnete sie und spähte in den Saal.

»Hallo?«

Offenbar war niemand da, aber so war es mir bereits ergangen, als Dr. Fraker mit mir hier gewesen war. Vielleicht war Alfie im Kühlraum, wo die Leichen aufbewahrt wurden.

»Haalloo!«

Keine Reaktion. Er hatte mir die Tür aufgedrückt, also mußte er hier irgendwo sein.

Ich schloß die Tür hinter mir. Das Neonlicht war furchtbar hell und erzeugte die Illusion von Sonnenstrahlen im Winter. Links von mir befand sich eine Tür. Ich ging hin und klopfte, bevor ich sie öffnete und dahinter ein leeres Büro mit einer dunkelbraunen Kunstledercouch vorfand. Vielleicht machte der Typ, der nachts die Totenwache schob, hier drin sein Nickerchen, wenn sonst nichts los war. Ansonsten waren da nur ein Schreibtisch und ein Drehstuhl. Das Fenster wurde von außen durch verzierte schmiedeeiserne Gitterstäbe geschützt, das Tageslicht durch eine Ansammlung buschiger Sträucher am Eindringen gehindert. Ich machte die Tür wieder zu, ging zurück zu dem Kühlraum für die Leichen und warf einen kurzen Blick hinein.

Kein Alfie weit und breit. Innen schimmerte das Licht beständig. Die Anwesenden waren auf blaue Fiberglashegen gebettet, versunken in ewigem, regungslosem Schlaf. Einige von ihnen waren in Laken gehüllt, andere in Plastikfolien, Hals und Gelenke mit Streifen verbunden, die wie Kreppband aussahen. Die Szene erinnerte mich irgendwie an den Mittagsschlaf im Ferienlager.

Ich ging wieder in den Hauptsaal zurück, setzte mich erst einmal hin und starrte auf den Obduktionstisch. Meine übliche Vorgehensweise wäre gewesen, in jedem Schrank, jeder Schublade und jedem Behälter herumzustöbern, aber hier wäre mir das wie eine Respektlosigkeit vorgekommen. Vielleicht hatte ich auch einfach nur Angst, auf irgend etwas Groteskes zu stoßen: auf Tabletts voller Gebisse oder einen Steinkrug, randvoll mit kullernden Augäpfeln. Ich habe keine Ahnung, was ich mir alles vorstellte. Unruhig bewegte ich mich hin und her. Ich hatte den Eindruck, Zeit zu vergeuden. Dann ging ich zur Tür und sah auf den Flur, meinen Kopf leicht schief gelegt, um besser hören zu können. Stille.

»Alfie?« rief ich. Ich strengte mein Gehör noch mal an, zuckte die Achseln- und machte die Tür wieder zu. Mir kam die Idee, daß ich, da ich nun schon mal hier war, zumindest überprüfen könnte, ob die Nummer, die Bobby aufgeschrieben hatte, mit der Nummer auf Franklins Zehanhänger übereinstimmte. Schaden könnte es jedenfalls nicht. Ich holte das Adreßbuch aus meiner Handtasche und schlug die Rückseite mit der mit Bleistift geschriebenen Eintragung auf. Noch einmal betrat ich den Kühlraum, ging von Leiche zu Leiche und verglich die Schilder mit den Identifikationsnummern. Ich kam mir fast vor wie bei einer Haushaltsauflösung, bloß daß die Preise nicht heruntergesetzt waren.

Bei der dritten Leiche stimmten die Zahlen überein. Kelly hatte also recht gehabt. Bobby hatte den Bindestrich so gesetzt, daß die aus sieben Ziffern bestehende Zahl wie eine Telefonnummer aussah. Ich sah auf die Leiche, oder auf das, was ich von ihr erkennen konnte. Die Plastikfolie, in die Franklin eingewickelt war, war zwar durchsichtig, doch ein wenig vergilbt, als hätte sich Nikotin abgesetzt. Durch die Folie konnte ich erkennen, daß es sich um einen mittelgroßen Schwarzen mittleren Alters handelte, mit schlanker Figur und einem Gesicht aus Stein. Was hatte diese Leiche nur für eine Bedeutung? Mich überkam ein Gefühl der Angst. Mir fiel ein, daß Alfie sicherlich bald auftauchen würde, und ich wollte nun wirklich nicht beim Herumschnüffeln in diesem Raum ertappt werden. Ich ging also wieder zu meinem Stuhl zurück.

Beim Hinausgehen hatte ich das Gefühl, ich verließe ein klimatisiertes Theater. Im Vergleich zum Kühlraum herrschte im Obduktionssaal eine geradezu milde Temperatur. Mir juckte es in den Fingern, herumzuschnüffeln. Ich konnte nichts dagegen machen. Es irritierte mich, daß niemand da war, um mir weiterzuhelfen. Außerdem machte mich diese Stille nervös. Dies war nun wirklich kein amüsanter Ort. Normalerweise treibe ich mich ja auch nicht in Leichenschauhäusern herum, daher wurde ich immer angespannter.

Nur zur Nervenberuhigung spähte ich in eine Schublade, um den Inhalt auf die von mir heraufbeschworenen Gruselbilder hin zu untersuchen. Sie enthielt nur Notizblöcke, Bestellformulare und anderen Papierkram. Ein wenig beruhigt, probierte ich es mit dem nächsten Schubfach: kleine Glasfläschchen mit unterschiedlichen Arzneien, deren Bezeichnungen mir nichts sagten. Ich fühlte mich allmählich sicherer und durchsuchte sie eine nach der anderen. Alles schien mit dem Gewerbe des Leichenöffners in Zusammenhang zu stehen. Angesichts der Örtlichkeit war das nicht sehr überraschend, allerdings auch nicht sehr aufschlußreich.

Ich richtete mich auf und schaute mich im Raum um. Wo befanden sich eigentlich die Akten? Führt denn hier unten niemand Buch? Irgendwer hatte doch erwähnt, daß hier draußen medizinische Berichte aufbewahrt wurden, aber wo? In diesem Stockwerk? Oder in einer der oberen Etagen? Der Gedanke, allein durch das leere Gebäude zu schleichen, gefiel mir nicht besonders. Ich hatte mir Alfie Leadbretter an meiner Seite vorgestellt, der mich darauf hinwies, wo ich Zutritt hatte und wo ich anfangen sollte. Ich hatte mich sogar schon gesehen, wie ich ihm einen Zwanzigdollarschein zuschob, falls das seine Hilfsbereitschaft förderte.

Ich sah auf meine Armbanduhr. Jetzt war ich bereits seit fünfundvierzig Minuten hier und wollte langsam Resultate sehen. Ich schnappte mir meine Handtasche und ging in den Flur hinaus, wo ich mich in beide Richtungen umsah. Es wurde allmählich dunkler hier unten, obwohl ich durch ein Fenster am Ende des Ganges erkennen konnte, daß es draußen noch hell war. Ich entdeckte schließlich einen Lichtschalter, schaltete die Lampen ein und ging langsam den Korridor entlang, wobei ich las, was auf den kleinen weißen Schildern stand, die über jeder Tür angebracht waren. Die Röntgenlabors befanden sich direkt neben der Leichenhalle. Dahinter waren Labors für Nuklearmedizin und Räume der Beschäftigten. Ich fragte mich, ob Sufi Daniels die Möglichkeit gehabt hatte, hier herauszufahren.

In meinem Hinterkopf begann etwas zu rotieren. Ich mußte an den Pappkarton mit Bobbys Sachen denken. Was war alles darin gewesen? Medizinische Schriften, Bürozubehör und zwei Röntgenanleitungen. Wozu hatte er die eigentlich gebraucht? Er war noch nicht einmal Medizinstudent gewesen, und ich konnte mir nicht vorstellen, wozu er Gebrauchsanleitungen für eine Anlage benötigte, die er in den kommenden Jahren wohl kaum benutzt hätte, wenn überhaupt jemals. Er hatte für Radiologie kein besonderes Interesse gezeigt.

Ich stieg die Treppe hinauf. Es konnte nicht schaden, sich das Zeug noch mal anzusehen. Als ich am Vordereingang ankam, zog ich das Sweatshirt aus und schob es in den Türspalt. Ich hätte die Tür problemlos aufdrücken können, aber ich wollte vermeiden, daß das Schloß laut hinter mir zuschnappte, wenn ich hinausging. Ich ging zum Wagen, schloß ihn auf und holte den Karton vom Rücksitz. Ich nahm die beiden Bücher über Radiologie heraus und blätterte sie flüchtig durch. Es handelte sich um Gebrauchsanleitungen für ganz bestimmte Geräte, mit Informationen über deren verschiedene Anzeigen, Skalen und Schalter und einer ganzen Menge abgehobenem Geschwätz über Bestrahlungsdosen, rad-Einheiten und Röntgenstrahlen. Am oberen Rand einer Seite befand sich eine mit Bleistift geschriebene Zahl, fast wie beiläufiges Gekritzel, mit lauter Schnörkeln drumherum. Wieder Franklins Nummer. Der Anblick der mir inzwischen wohlvertrauten siebenziffrigen Zahl war mir unheimlich, ähnlich wie Bobbys Stimme auf meinem Anrufbeantworter, nachdem er bereits fünf Tage tot war.

Ich klemmte mir die beiden Bücher unter den Arm, schloß den Wagen wieder ab, ließ aber die Kiste auf dem Fahrersitz stehen. Gemächlich ging ich wieder auf das Gebäude zu. Ich machte die Tür auf und zog mir das Sweatshirt über. In der ersten Etage angekommen, verschaffte ich mir einen groben Überblick. Ich hatte immer wieder die fixe Idee, nach dem Hausarchiv suchen zu müssen; daß die Tatwaffe irgendwo in eine Kiste mit Akten gestopft und mit alten Tabellen zugedeckt worden war. Das Krankenhaus hier war ein funktionierender Betrieb gewesen, und es mußte auch irgendwo ein Archiv geben. Wo sollten die alten Berichte sonst aufbewahrt werden? Wenn ich mich recht erinnerte, war es im St. Terry so, daß das Krankenhausarchiv recht zentral gelegen war, damit Ärzte und anderes autorisiertes Personal leichten Zugriff hatten.

Nicht viele Büros in diesem Stockwerk schienen belegt zu sein. Ich drehte wahllos an ein paar Türgriffen. Die meisten waren abgeschlossen. Am Ende des Flures bog ich um die Ecke, und siehe da, da stand es, »Krankenhausarchiv«, ein verwaschener Schriftzug, der einmal über ein Paar Doppeltüren gepinselt worden war. Jetzt erst konnte ich erkennen, daß eine ganze Reihe der ehemaligen Stationen ähnlich gekennzeichnet waren: große Buchstaben mit übertriebenen Schnörkeln wie eine Proklamation der spanischen Konquistadoren.

In der Erwartung, mit meinen Dietrichen herumexperimentieren zu müssen, drehte ich am Türknauf. Doch mit einem leisen Quietschen, das von einem Erfinder von Spezialeffekten hätte stammen können, ging sie auf. Verblassendes Tageslicht fiel in den Raum, eine Leere gähnte mir entgegen, eine Öde, in der es nichts mehr gab. Keine Aktenschränke, kein Mobiliar, keine Einrichtungsgegenstände. Auf dem Boden verstreut lagen eine zerknüllte Zigarettenschachtel, einzelne Regalbretter und ein paar krumme Nägel. Diese Abteilung war im wahrsten Sinne des Wortes demontiert worden, und Gott allein wußte, wo die alten Unterlagen gelandet waren. Vielleicht befanden sie sich irgendwo in einem der leerstehenden Häuser weiter oben, aber ich hatte absolut keine Lust, auf eigene Faust dort hinaufzugehen. Ich hatte Jonah nun mal versprochen, keine Dummheiten zu machen, und deshalb versuchte ich, ein braves Mädchen zu sein. Außerdem wurmte mich etwas anderes.

Ich ging wieder zur Treppe zurück und stieg die Stufen hinab. Was murmelte die leise Stimme in meinem Hinterkopf? Sie klang, als käme sie aus einem Radio, das im Nebenraum stand. Ich konnte nur hin und wieder einige Brocken verstehen.

Im Keller angekommen, ging ich zum Büro der Röntgenabteilung und versuchte die Tür zu öffnen. Abgeschlossen. Ich holte meinen Dietrich heraus und spielte eine Weile damit. Es handelte sich um eines dieser »einbruchsicheren« Schlösser, die zwar geknackt werden können, aber eine saumäßige Anstrengung erfordern. Doch schließlich wollte ich wissen, was es da drinnen gab, also arbeitete ich geduldig weiter. Dazu nahm ich einen Satz sogenannter Kufendietriche mit willkürlich angeordneten Ritzen auf der Oberseite; die Unterseite war jeweils zu einem Oval geschliffen. Die zugrundeliegende Idee ist, daß mit Hilfe ständiger Schaukelbewegungen und der unterschiedlichen Einschnittiefen an irgendeinem Punkt alle Arretierstifte durch Zufall gleichzeitig angehoben werden und das Schloß freigeben.

Wie beim Verstecken ist der einzige Weg zum Erfolg ein völliges Vertiefen in die Aufgabe. Ungefähr zwanzig Minuten lang stand ich da, führte den Dietrich sorgfältig ein, bewegte ihn hin und her und schob ihn mit leichtem Druck ein Stück vor, sobald sich etwas bewegt hatte. Zu guter Letzt gab das Mistding nach, und mir entfuhr ein kleiner Ausruf des Entzückens. »Hach, endlich. Mensch, toll.« Das sind genau die Dinge, die mir bei meinem Job Spaß machen. Zwar auch ungesetzlich, aber wer sollte mich schon verpfeifen?

Ich schlich mich also in das Büro und schaltete die Deckenbeleuchtung ein. Es sah aus wie ein ganz gewöhnlicher Büroraum: Schreibmaschinen, Telefone, Aktenschränke, Pflanzen auf den Schreibtischen und Bilder an den Wänden. Es gab auch einen kleinen Empfangsbereich, wo wahrscheinlich Patienten so lange Platz nehmen konnten, bis sie zur Röntgenaufnahme aufgerufen wurden. Ich spazierte durch einige der hinteren Räume und stellte mir das Verfahren bei Röntgenaufnahmen der Lunge und Mammographien vor. Ich stand vor den Geräten und schlug eine der Gebrauchsanleitungen auf, die ich aus dem Wagen geholt hatte.

Ich verglich die Schaubilder mit den verschiedenen Anzeigen und Schaltern an den Röntgengeräten selbst. Mehr oder weniger ähnelten sie sich. Es gab vielleicht Abweichungen bei Baujahr, Ausführung oder Modell des jeweiligen Gerätes. Einige von ihnen sahen aus wie Material aus einem Science-fiction-Film: gewaltige Raketenspitzen an Schwenkarmen. Ich stand da, die aufgeschlagene Bedienungsanleitung auf den Armen, die Seiten an die Brust gedrückt, während ich den Tisch und die Bleischürze anstarrte, die wie der Sabberlatz eines Riesen aussah. Ich dachte darüber nach, wie man vor zwei Monaten meinen linken Arm geröntgt hatte, direkt nachdem ich angeschossen worden war.

Es war nicht so, als sei ich urplötzlich auf jenen Gedanken gekommen. Er formte sich eher um mich herum wie Feenstaub, der nach und nach Gestalt annimmt. Bobby war doch immer allein hier draußen gewesen, genau wie ich jetzt. Und das jeden Abend, auf der Suche nach der Waffe, auf der sich Nolas Fingerabdrücke befanden. Er hatte gewußt, wer sie versteckt hatte, also mußte er sich eine Theorie über das Versteck zurechtgelegt haben. Ich mußte also annehmen, daß er die Tatwaffe gefunden hatte und deshalb umgebracht worden war. Vielleicht hatte er sie sogar in Sicherheit gebracht, aber das nahm ich eigentlich nicht an. Ich war von der Vermutung ausgegangen, daß sie noch immer irgendwo hier draußen versteckt war, und das schien mir nach wie vor durchaus plausibel. Immerhin hatte er sich einige Notizen gemacht; er hatte die Identifikationsnummer einer Leiche in sein kleines rotes Buch gekritzelt, ebenso auf ein paar Seiten eines Buches über Radiologie, das er sich besorgt hatte.

Die Gedanken, die mir durch den Kopf schossen, bildeten langsam einen Zusammenhang. Vielleicht sollte man eine Röntgenaufnahme von der Leiche machen, sagte ich zu mir selbst. Vielleicht hatte Bobby das getan, und vielleicht war das der Grund gewesen, warum er die Bleistifteintragungen in sein Röntgenbuch gemacht hatte. Vielleicht befindet sich die Waffe in der Leiche. Ich dachte noch kurz darüber nach, konnte jedoch nicht einsehen, warum ich es nicht einfach versuchen sollte. Das Schlimmste, was passieren konnte (abgesehen davon, erwischt zu werden), war, daß ich meine Zeit vergeudete und als kolossaler Trottel dastand. Das wäre ja nicht das erste Mal.

Ich ließ die Handtasche und die Bücher auf einem der Röntgentische liegen und ging nach nebenan in den Leichensaal. Im Kühlraum erblickte ich eine Liege an der Wand zu meiner Rechten. Inzwischen war ich auf Fernsteuerung geschaltet, ich tat einfach das, wovon ich wußte, daß es getan werden mußte. Es gab noch immer keine Spur von Alfie Leadbetter, niemand würde mir also helfen können. Vielleicht lag ich ja falsch, also war es um so besser, daß niemand wußte, was ich vorhatte. Das Gebäude wirkte menschenleer, und es war noch recht früh. Selbst wenn ich mich mit der Röntgenapparatur äußerst ungeschickt anstellte, konnte ich dem Toten keinen Schaden zufügen.

Ich rollte die Transportliege zu der Trage aus Fiberglas, auf der die Leiche lag. Ich tat einfach so, als sei ich eine Bedienstete des Leichenschauhauses. Ich tat so, als sei ich eine Röntgenexpertin oder Krankenschwester, eine durch und durch professionelle Person, die eine Aufgabe zu erledigen hatte.

»Ich will dich ja nicht stören, Frank«, meinte ich, »aber ich brauch’ dich im Nebenraum für ein paar Tests. Du siehst nämlich nicht sehr gesund aus.«

Zögernd faßte ich die Leiche an, indem ich jeweils eine Hand unter den Nacken und die Kniegelenke legte und kräftig zog, um sie von ihrem Ruheplatz auf das Rollbett zu hieven. Zu meiner Überraschung war sie sehr leicht und grausig kalt, ähnlich der Temperatur eines Paketes roher Hühnerbrust, das gerade aus der Tiefkühltruhe kommt. Du meine Güte, dachte ich, wieso muß ich mich ausgerechnet jetzt mit solchen Küchenvisionen rumschlagen? So würde das mit dem Kochenlernen nie etwas werden.

Es bedurfte einer unglaublichen Manövrierarbeit, um die Transportliege quer durch den Leichensaal in den Flur hinaus zubekommen und sie dann durch den Empfangsbereich der Röntgenabteilung und schließlich in eines der hinteren Röntgenzimmer zu schieben. Ich plazierte die Liege mit der Leiche parallel zum Röntgentisch und schob die Leiche auf den vorgesehenen Platz. Versuchsweise hob und senkte ich den Röntgenkopf ein paarmal und führte ihn dann in einer an der Decke befestigten Schiene, bis er sich genau über Franklins Bauch befand. Jetzt mußte ich nur noch herausbekommen, in welcher Entfernung vom Körper er sich befinden mußte. Derweil fiel mir ein, daß ich, da ich ein paar Aufnahmen machen wollte, mich besser auf die Suche nach irgendeiner Art von Film machen sollte.

Ich sah die vier Schränke im Raum durch und fand überhaupt nichts. Dann ging ich im Zimmer herum. An einer Stelle war ein an der Wand befestigter, schmaler Hängeschrank, der aussah wie ein Sicherungskasten mit Flügeltüren. An einer Seite klebte ein Streifen Kreppapier, auf dem mit Filzschrift geschrieben belichtet stand. Auf einem anderen Streifen stand unbelichtet. Diese Tür öffnete ich dann auch. Dahinter waren Filmkassetten verschiedener Größe wie Tablette übereinandergestapelt. Eine davon nahm ich heraus.

Dann ging ich zum Tisch und vertiefte mich in den Entwurf der Apparatur. Dummerweise entdeckte ich oberhalb des Tisches keinerlei Schlitz, in den ich die Kassette hätte einschieben können, fand jedoch eine Art Schublade am Tisch selbst, und zwar genau unterhalb der gepolsterten Seite. Ich zog sie heraus und legte die Kassette ein. Ich hoffte, daß meine Vermutung darüber, welche Seite nach oben mußte, stimmte. Mir erschien es jedenfalls richtig. Wer weiß, vielleicht könnte ich auf diese Art eine völlig neue Karriere beginnen.

Ich beschloß, daß Franklin keinen Schutz benötigte, deshalb schnappte ich mir die von Kopf bis Fuß reichende Bleischürze und legte sie mir an, wobei ich mir vorkam wie der Torwart bei einem Hockeyspiel. Ich hatte in der Tat noch nie einen Röntgenspezialisten mit einem solchen Ding herumlaufen sehen, aber es gab mir ein Gefühl der Sicherheit. Ich führte den Röntgenkopf über Franklins Bauch, in einer Höhe von etwa einem knappen Meter, und begab mich hinter die Schutzwand in einer Ecke des Raumes.

Ich nahm mir noch einmal das Buch vor und blätterte so lange darin, bis ich die Schaubilder fand, die zutreffend schienen. Zahlreiche Meßgeräte mit kleinen, pfeilförmigen Zeigern waren bereit, in das grüne Feld auszuschlagen, oder in das gelbe oder das rote, sobald man einen Schalter betätigt hatte. Rechts war ein Hebel, auf dem »Stromzufuhr« stand und den ich auf »Ein« schaltete. Nichts geschah. Das war mir ein Rätsel. Ich schaltete wieder auf »Aus« und prüfte die Wand links von mir. Dort befanden sich zwei Unterbrecherkästen mit großen Schaltern, die ich beide betätigte. Das Geräusch von surrend erzeugter Elektrizität erklang. Dann schaltete ich den Stromzufuhrschalter wieder auf »Ein«. Das Gerät ging an. Und ich mußte grinsen. Das lief ja großartig.

Ich studierte die Instrumententafel vor mir. Da war einerseits ein Kurzzeitmesser, der offensichtlich auf einer Skala von einer Sekunde bis sechs Sekunden eingestellt werden konnte. Und ein Anzeiger für Kilovolt. Auf einem anderen stand »Milliampere«. Herrje, es standen drei Reihen grün erleuchteter Felder zur Auswahl. Ich begann, indem ich alle Zeiger auf Mittelwerte stellte, in der Absicht, ein Meßgerät zur Kontrolle zu benutzen und die anderen beiden nach einer Art Rotationsprinzip nachzustellen. Zwischendurch wollte ich dann das Resultat auf dem fertigen Film prüfen, um zu sehen, wie das Bild geworden war.

Ich spähte um die Schutzwand herum. »Okay, Frank, jetzt tief einatmen und Luft anhalten.«

Nun, immerhin machte er das »Luft anhalten« richtig.

Ich drückte auf den Knopf an dem Griff und vernahm ein kurzes »Bsst«. Mit aller Vorsicht kam ich hinter der Wand hervor, als könnten noch Röntgenstrahlen durch den Raum schwirren. Ich ging zum Tisch und holte die Kassette heraus. Was jetzt? Es mußte ja so etwas wie ein Verfahren zur Entwicklung des Films geben, allerdings schien man das nicht in diesem Raum zu machen. Ich ließ das Gerät eingeschaltet, nahm die Kassette und sah mir die nebenan liegenden Räume an.

Zwei Türen weiter entdeckte ich etwas, das mir passend erschien. An der Wand hing ein Ablaufdiagramm, auf dem das Verfahren zur Entwicklung von Röntgenplatten schrittweise aufgeführt war. Wenn ich diesen Fall gelöst hatte, konnte ich hier bestimmt eine neue Karriere starten.

Wieder mußte der Strom eingeschaltet werden. Anschließend arbeitete ich in dem schwachroten Schein der Dunkelkammerlampen, wobei ich, immer ein Auge auf die Anleitung werfend, mit dem Entwickeln des Films begann. Zunächst füllte ich einen an der Wand befestigten Behälter vorschriftsmäßig mit Wasser. Dann drehte ich die Kassette um, löste die Rückwand und holte den Film heraus, den ich dann vorsichtig in die Entwicklerschale bugsierte. Ohne einen Ton von sich zu geben, verschwand er in dem Gerät.

Verflixt, wo war er denn nun hin? Ich konnte in dem ganzen Zimmer nämlich nichts entdecken, das aussah, als würde es einen entwickelten Film ausspucken. Ich fühlte mich wie ein junger Hund, der lernt, was es heißt, wenn der Ball unters Sofa rollt. Ich verließ den Raum und ging in den nächsten. Darin befand sich das hintere Ende des automatischen Entwicklers, das aussah wie ein großer Fotokopierer mit einem Schlitz. Ich wartete ab. Eineinhalb Minuten später glitt ein Stück fertig entwickelten Films heraus. Ich sah es mir an. Pechschwarz. Mist! Was hatte ich bloß falsch gemacht? Wieso war der Film überbelichtet, wo ich doch so behutsam vorgegangen war? Ich starrte den Entwickler an. Der Deckel war einen Spaltbreit geöffnet. Ich spähte hinein. Probehalber gab ich ihm einen Stoß. Mit einem Klicken fiel er zu. Vielleicht würde es jetzt klappen.

Ich ging wieder in den anderen Raum zurück, holte eine zweite Kassette und fing mit der ganzen Prozedur noch mal von vorn an. Zwei Durchgänge später entdeckte ich schließlich, was ich gesucht hatte. Die Gesamtqualität des Bildes ließ zwar zu wünschen übrig, das Motiv selbst war jedoch eindeutig erkennbar. Im Zentrum von Franklins Magen zeichnete sich die massive weiße Silhouette einer Handfeuerwaffe ab. Sie sah aus wie eine großkalibrige Automatik und war im Winkel plaziert, wahrscheinlich damit sie zwischen Knochenbau und inneren Organen Platz fand. Dieser Anblick hatte etwas Entmutigendes. Ich rollte die Röntgenaufnahme zusammen und wickelte ein Gummiband um sie herum. Es wurde Zeit, von hier zu verschwinden.

In aller Eile schaltete ich die Geräte ab und hob Franklin wieder auf die fahrbare Trage, um ihn zurück in den Leichensaal zu schieben. Dann schaltete ich die Lampen aus und schloß das Büro hinter mir ab.

Ich steuerte die Liege durch den Flur in die Leichenhalle zurück. Als ich gerade dabei war, Franklin auf seine frühere Ruhestätte zu heben, stach mir etwas ins Auge. Ich sah zu der nächstliegenden Reihe von Tragen hinüber. Die Hand eines Mannes ruhte ungefähr auf Augenhöhe zu mir, und etwas daran stimmte nicht. Die Leichen, die ich gesehen hatte, waren alle totenbleich gewesen, fleischfarben wie Puppenhaut, gummiartig und unecht. Diese Hand erschien mir zu rosafarben. Jetzt sah ich auch, daß die Leiche selbst nur locker mit einer Plastikplane bedeckt war. War sie überhaupt vorher schon dagewesen? Ich ging näher heran und streckte zögernd meine Hand aus. Ich glaube, ich gab dieses leicht summende Geräusch von mir, das man macht, wenn man nahe daran ist, zu schreien, sich aber noch nicht gehenlassen kann.

Zaghaft hob ich die Plastikfolie am Gesicht an. Männlich, weiß, Mitte Zwanzig. Ein Puls war nicht mehr fühlbar, was wahrscheinlich mit der Strangulationswunde zu tun hatte, die um seinen Hals herumführte. So fest war zugezogen worden, daß die Wunde fast vollständig im Fleischwulst verschwunden und die Zunge herausgequollen war. Die Leiche war zwar kühl, aber nicht kalt. Ich hielt den Atem an und dachte schon, mein Herz würde auch aufhören zu schlagen. Ich war mir ziemlich sicher, daß ich soeben die Bekanntschaft des kürzlich verstorbenen Alfie Leadbetter gemacht hatte. In diesem Augenblick machte ich mir weniger Gedanken darüber, wer ihn umgebracht haben könnte, als vielmehr, wer den Türöffner betätigt hatte, um mich reinzulassen. Ich glaubte nicht, daß es Alf gewesen war. Plötzlich kam mir der Verdacht, daß ich die ganze Zeit über in Begleitung eines Mörders durch das menschenleere Gebäude gegangen war. Zweifellos war er immer noch hier und wartete ab, um zu sehen, was ich vorhatte, wartete ab, um mir dasselbe anzutun, was er dem unglücklichen Angestellten des Leichenschauhauses, der ihm in die Quere gekommen war, angetan hatte. So schnell ich konnte, verließ ich den Saal. Mein Herz klopfte wie verrückt und schickte Wellen der Angst durch meine elektrisierten Knochen. Die Leichenhalle war zwar beruhigend hell, doch totenstill.

Im Geiste suchte ich bereits nach einem Fluchtweg und überlegte, welche Möglichkeiten ich hatte. Die Fenster hier unten waren von außen mit Gitterstäben gesichert, die zu eng waren, um sich durchzuquetschen. Die Außentüren waren aus dickem Glas, das mit Drähten durchzogen war. Vielleicht könnte ich da hindurchkommen, vielleicht aber auch nicht. Jedenfalls würde ich mich gewiß nicht dagegen werfen können, ohne Aufmerksamkeit auf mich zu lenken. Also mußte ich es mit der Treppe versuchen, um durch dieselben Doppeltüren zu verschwinden, durch die ich anfangs gekommen war, obwohl mir in diesem Augenblick allein schon der Gedanke, in den Flur hinauszugehen, unerträglich vorkam.

Irgendwo über mir wurde eine Tür zugeschlagen, und ich fuhr auf. Ich hörte, wie jemand zweifellos pfeifend die Treppe herunterkam. Vielleicht jemand vom Wachdienst? Oder jemand, der nach Feierabend noch einmal zurückgekommen war? Ich konnte mich nirgendwo verstecken. Wie angewachsen starrte ich auf die Tür, als die Schritte näherkamen. Jemand blieb im Korridor stehen und sang die ersten Takte von »So-meone to watch over me«. Der Türknauf drehte sich und Dr. Fraker kam herein. Verwirrt sah er auf, als er mich erblickte.

»Oh, hallo! Ich hatte gar nicht damit gerechnet, Sie hier anzutreffen«, meinte er. »Ich dachte, Sie hätten sich auf den Weg gemacht, um mit Kelly zu reden.«

Ich atmete tief aus und fand meine Stimme wieder. »Das hab ich bereits getan. Vor einer Weile schon.«

»Jesses, was ist denn los mit Ihnen? Sie sind ja weiß wie ein Gespenst?«

Ich schüttelte den Kopf. »Ich war gerade auf dem Weg nach draußen, als ich eine Tür schlagen hörte. Sie haben mir eine Heidenangst eingejagt.« Mitten im Satz brach meine Stimme, als sei ich gerade in die Pubertät gekommen.

»Tut mir leid. Ich wollte Sie nicht erschrecken.« Er trug seine grüne OP-Kleidung. Ich sah zu, wie er zum Schrank ging und eine Schublade öffnete, aus der er Geräte herausnahm. Der Schublade darunter entnahm er eine Phiole und eine Einwegspritze.

»Hören Sie, Doktor, es gibt da ein Problem«, begann ich.

»Ach, tatsächlich? Was denn für eins?« Dr. Fraker drehte sich um und lächelte mich an, als mir ein Satz von Nola durch den Kopf schoß. »Wir haben es mit einem Geistesgestörten zu tun, jemand, der völlig verrückt ist«, hatte sie mir leise gesagt. Dr. Frakers Blick lag auf mir, während er die Spritze aufzog. Endlich fiel der Groschen. Sie hatte die Ehe ja gar nicht führen wollen; sie hatte herausgewollt. In seiner Naivität hatte Bobby Callahan geglaubt, er könne ihr dabei behilflich sein.

Man konnte es an seinem Gesicht und den trägen Bewegungen ablesen: Dieser Mann hatte vor, mich umzubringen. Nach den Hilfsmitteln zu urteilen, die er sich zusammengesucht hatte, hatte er nun alles, was er dazu brauchte — einen aufgeräumten Arbeitstisch mit Abfluß, Sägen, Skalpellen und einem Abfalleimer direkt darunter. Außerdem kannte er sich mit Anatomie aus und wußte, wo die Sehnen und Bänder lagen. Ich stellte mir den Flügel eines Truthahns vor, wie man ihn zurückbiegen mußte, um mit der Klinge richtig ans Gelenk zu kommen.

Gewöhnlich weine ich, wenn ich Angst habe, und auch jetzt spürte ich Tränen aufkommen. Doch nicht vor Kummer, sondern vor Grauen. Da hatte ich schon so viele Lügen im Leben verbreitet, doch gerade in diesem Augenblick fiel mir keine einzige ein. In meinem Kopf herrschte völlige Leere. Ich stand einfach da, mit dem Röntgenbild in der Hand, und die Wahrheit, dessen bin ich mir sicher, stand mir ins Gesicht geschrieben. Meine einzige Hoffnung war, etwas zu unternehmen, bevor er es tun konnte, und zwar doppelt so schnell wie er.

Ich sprang auf die Tür zu und fingerte an dem Griff herum. Dann riß ich sie auf und rannte in Richtung Stufen, von denen ich erst zwei, dann drei auf einmal nahm. Dabei sah ich mich um und stöhnte vor schierer Furcht. Er kam gerade zur Tür heraus, die Spritze locker in der Hand. Was mir am meisten Angst einjagte, waren seine langsamen Bewegungen, als habe er alle Zeit der Welt. Er hatte an der Stelle des Liedtextes wieder eingesetzt, an der er zuvor abgebrochen hatte. Er sang eine etwas unmelodische Version, die der von Gershwin keineswegs gerecht wurde.

»Like a little lamb wbo’s lost in the wood... I know I could always be good...to one who’ll watch over me...« (Wie ein kleines Lamm, das sich im Wald verlaufen hat... weiß ich, daß ich immer gut sein werde... zu jemandem, der auf mich achtgibt...)

Schließlich erreichte ich den Treppenabsatz. Was konnte er wissen, was ich nicht wußte? Warum hielt er seine gemächlichen Bewegungen für angemessen, während ich im Fluge auf den Eingang zuschoß? Ich senkte eine Schulter und warf mich gegen die Doppeltüren, doch keine von beiden gab nach. Ich rammte sie noch einmal. Da der Eingang jetzt versperrt war, bildete er eine kleine Sackgasse. Wenn ich ihm Zeit ließ, den Flur zu erreichen, gab es keinen Fluchtweg mehr für mich. Ich kam im gleichen Moment in der Halle an, in dem er die oberste Stufe erreichte.

Kratz, kratz. Während er weitersang, konnte ich das Kratzen seiner Schritte auf den Fliesen hören.

»Althougb he may not be the man some girls think of as handsome, to my heart he’ll carry the key...« (Und ist er auch kein Mann, auf den die Frauen fliegen, besitzt er doch den Schlüssel zu meinem Herzen...)

Er nahm sich noch immer Zeit. Ich wollte schreien, aber wozu? Das Gebäude war menschenleer. Es war gut verschlossen. Und dunkel, bis auf das Dämmerlicht, das vom Parkplatz hereinschien. Ich brauchte unbedingt eine Waffe. Dr. Fraker hatte immerhin seine kleine Spritze, gefüllt mit was weiß ich was für einem Zeug. Zudem war er auch noch ein kräftig gebauter Typ, und wenn er mich erst mal erwischt hätte, würde es ziemlich schlecht um mich stehen.

Ich hastete den Flur zum früheren Krankenhausarchiv hinunter und stieß mit voller Kraft die Tür auf. Dann schnappte ich mir eine Dachlatte, fast noch im Lauf, und rannte wieder auf den Flur hinaus, mit Ziel auf das Flurende. Da mußte ein Treppenhaus sein. Da mußte es doch einfach Fenster zum Einschlagen geben, irgendeine Möglichkeit, hier rauszukommen.

Von dem Mann, der hinter mir her war und nicht mal die Melodie halten konnte, hörte ich nur... »Won’t you tell him please to put on some speed, follow my lead, oh how I need someone to watch over me...« (So sagt ihm doch, er möge sich eilen, meiner Spur folgen, oh, wie sehr ich jemanden brauche, um auf mich achtzugeben...)

Ich erreichte endlich das Treppenhaus, hastete nach oben und fing im Laufen an, mir meine Situation vor Augen zu führen. Unter den derzeitigen Umständen konnte er mich durchs ganze Gebäude jagen. Mir ginge bald die Puste aus, und ihm würde nicht mal der Schweiß auf die Stirn treten. Diese Form von Verfolgung war nicht besonders klug. Schließlich kam ich am Treppenabsatz an und griff nach der Türklinke. Abgeschlossen. Es gab nur noch ein weiteres Stockwerk. War ich ihm in die Falle gegangen oder in die Enge getrieben worden? In jedem Falle hatte ich den Eindruck, daß er am Drücker war, daß er dies alles von vornherein geplant hatte.

Er betrat gerade das Treppenhaus unterhalb von mir, als ich wieder zu den Stufen rannte, um in den dritten Stock hinaufzuhasten. Die Dachlatte hielt ich noch immer fest in meiner schweißnassen Hand. Mir gefiel die ganze Sache nicht. Die Tür im dritten Stock flog bei der ersten Berührung auf, und ich betrat den dunklen Flur. Ich flüchtete zur rechten Seite, wobei ich mich zwang, mein Tempo zu reduzieren. Vom Treppensteigen war ich völlig außer Atem und schweißgebadet. Ich erwäg-te kurz, mir ein Versteck zu suchen, doch es gab zu wenig Auswahl. Zwar gingen etliche Zimmer zu beiden Seiten ab, ich hegte jedoch die Befürchtung, dort in die Enge getrieben zu werden. Er hätte dann nur noch jeden Raum abzusuchen brauchen, bis er mich sehr bald gefunden hätte. Außerdem hasse ich es, mich zu verstecken. Das macht mich wieder zu einer Sechsjährigen, und davon habe ich die Schnauze voll. Ich wollte mit beiden Beinen fest auf dem Boden stehen, mich bewegen und reagieren können, statt mich in einer Ecke zu verkriechen, die Hände vor dem Gesicht, in der Hoffnung, Gott möge mich unsichtbar machen.

Ich bog noch mal rechts um die Ecke. Hinter mir hörte ich, wie die Tür zum dritten Stock zugeschlagen wurde. Plötzlich entdeckte ich in der Mitte des Flurs auf der rechten Seite einen Fahrstuhl. Ich sprintete hin und drückte, als ich ihn erreicht hatte, mit der ganzen Handfläche auf den »Ab«-Knopf.

Dr. Fraker hatte gerade ein neues Lied angestimmt, diesmal pfiff er die ersten Töne von »I don’t stand a ghost of a chance with you« (Du läßt mir nicht die kleinste Hoffnung auf dich). War dieser Typ krank oder was?

Ich drückte noch einmal auf den Knopf und lauschte innigst dem leisen Surren des Aufzugskabels auf der anderen Seite der Tür. Ich sah nach rechts. Er kam auf mich zu, die grüne OP-Kleidung zeichnete sich im schattenhaften Flur als blasser Schimmer ab. Ich hörte, wie der Mechanismus anhielt. Er schien jetzt schneller zu gehen, war aber immer noch etwa zwanzig Meter von mir entfernt. Da gingen die Fahrstuhltüren auf. Oh, Mann!

Ich machte einen Schritt nach vorn und bemerkte im selben Moment, daß da nichts war außer einem klaffenden Schacht und einem kalten Luftzug, der von unten heraufwehte. Ich konnte mich im letzten Augenblick noch festhalten, um nicht in dieses pechschwarze Loch zu fallen. Ein unterdrückter Schrei entfuhr mir, als ich mich am Türrahmen festklammerte, aber noch einen Moment lang über dem Abgrund schwebte, bevor es mir gelang, mich wieder aufzurichten. Dann stolperte ich nach hinten in Sicherheit, hatte allerdings meine gute Position verloren. Ich ging zu Boden, die Dachlatte flog mir aus der Hand und rutschte weg. Ich schnellte vor und kroch auf Händen und Füßen über den Boden, um an das Ding zu kommen.

Inzwischen war er bis zu mir herangekommen. Er packte mich an den Haaren und zog mich im gleichen Augenblick hoch, in dem ich die Latte zu fassen kriegte. Ich holte aus und versetzte ihm damit einen Hieb. Ich traf ihn zwar, doch war der Winkel nicht gut gewählt gewesen, so daß keine Kraft hinter dem Schlag steckte. Da spürte ich, wie die Nadel in meinen linken Oberschenkel eindrang. Wir stießen beide gleichzeitig einen Schrei aus. Meiner war eher ein schrilles Kreischen, das von Schmerz und Überraschung zeugte, sein dumpfes Grunzen zeigte an, daß er die Wirkung des Schlages registriert hatte. Ich hatte einen Vorsprung von einem Bruchteil einer Sekunde und nutzte den Augenblick, um ihm seitlich einen Tritt zu versetzen, der ihn am Schienbein traf. Nicht gut getroffen, zu tief. Die Kunst der Selbstverteidigung lehrt einen, daß es gar keinen Zweck hat, seinem Angreifer einfach nur Schmerzen zuzufügen. Das reizt ihn nur um so mehr. Wenn ich ihn nicht außer Gefecht setzen konnte, hatte ich keine Chance.

Daraufhin packte er mich von hinten. Ich stieß meinen linken Ellenbogen zurück, verfehlte ihn aber wieder leicht. Ich stieß ihn und trat immer wieder vor sein Schienbein, bis er keuchend zurückwich. Dann verpaßte ich ihm mit der Dachlatte einen Schlag auf die Schulter und rannte los, den Flur entlang. Irgendwann stolperte ich kurz, blieb jedoch auf den Beinen und lief weiter. Ich hatte das Gefühl, in ein Loch getreten zu sein, und etwas verspätet wurde mir klar, daß das Zeug, das er mir injiziert hatte, Wirkung zeigte. Mein linkes Bein fühlte sich wacklig, die Kniescheibe locker an, und beide Füße wurden langsam taub. Dieselbe Angst, die zuvor das Adrenalin durch meinen Körper gejagt hatte, schickte jetzt irgendein Gift auf den Weg. Es war wie bei einem Schlangenbiß. Es heißt, man soll nicht rennen.

Unterdessen drehte ich mich um. Er hielt sich die Schulter und begann gerade, sich wieder langsam in meine Richtung aufzumachen. Er schien keine Befürchtungen zu haben, daß ich abhauen könnte, also mußte ich annehmen, daß er die Tür zum Treppenhaus blockiert hatte, als er heraufgekommen war. Entweder das, oder er hatte die Gewißheit, daß das Zeug, das er mir verpaßt hatte, mich sehr bald umhauen würde. Ich verlor allmählich das Gefühl in den Gliedern und spürte kaum noch meinen eigenen Griff um die Dachlatte. Ein Kälteschauer drang mir über die Haut durch Mark und Bein, als hätte man mich einem Schnell-Gefrierverfahren ausgesetzt, um mich Gott weiß wohin zu verfrachten. Mit aller Kraft kämpfte ich dagegen an, aber die Dunkelheit war gallertartig geworden, und ich fühlte mich zunehmend lahmer. Die Zeit verstrich auch immer langsamer, während meine körperlichen Abwehrmechanismen gegen die Droge kämpften. Mein Verstand arbeitete zwar noch, doch fühlte ich mich durch merkwürdige Empfindungen zunehmend abgelenkt.

Ach ja, und dann noch all diese unangenehmen Einzelheiten, die mit einem Mal Sinn ergaben, als spielte mir meine rechte Gehirnhälfte einen Streich. Blitzartig wurde mir alles klar, wie ein Brodeln ging es durch meine Adern, daß Fraker derjenige gewesen war, der Kitty die Drogen beschafft hatte, wahrscheinlich im Austausch für Informationen über Bobbys Fortschritte bei der Suche nach der Tatwaffe. Ihr Vorrat in der Schublade des Nachttischchens war eine Finte gewesen. Er hatte sich an jenem Abend im Haus aufgehalten. Vielleicht war er der Ansicht gewesen, daß es an der Zeit war, sie aus dem Verkehr zu ziehen, damit sie nicht noch aufgrund von Schuldgefühlen Bobby gegenüber ihre Lügen zugab.

Die Entfernung zur Ecke des Flures schien sich immer mehr auszudehnen. Ich rannte doch schon eine Ewigkeit lang. Die Übermittlung der simplen Befehle, die ich meinen Gliedern noch erteilen konnte, dauerte zu lange. Mein Feedback-System, das die Reaktionen meldet, entglitt meiner Kontrolle. Rannte ich eigentlich wirklich? Kam ich überhaupt von der Stelle? Die Geräusche um mich herum klangen immer gedehnter, das Echo meiner eigenen Schritte ertönte mit zeitlicher Verzögerung. Ich hatte das Gefühl, als spränge ich einen Korridor hinunter, dessen Boden beschaffen war wie ein Trampolin. Gedankenblitz Nummer zwei. Fraker hatte den Autopsiebericht manipuliert. Es war gar kein Anfall gewesen. Er hatte die Bremsleitungen durchtrennt. Schade, daß ich nicht schon früher darauf gekommen war. Mein Gott, was war ich doch für ein Trottel.

Immer langsamer werdend, kam ich an dem Flurknick an und spürte, wie mein Körper in sich zusammensackte. Als ich um die Ecke gebogen war, mußte ich eine Pause einlegen. Ich lehnte mich gegen die Wand und schnappte nach Luft. Ich mußte einen klaren Kopf behalten. Und aufrecht stehen bleiben. Ich mußte die Arme anheben, wenn es noch ging. Die Zeit zog sich wie Karamel in langen, klebrigen Fäden, die man nicht mehr abbekommt.

Er sang jetzt wieder und servierte mir ein paar gar nicht so schlechte Oldies aus seiner persönlichen Hitparade. Er war jetzt bei »Accentuate the positive... eliminate the negative« (Betone das Positive, beseitige das Negative) angekommen... die Vokale klangen gedehnt wie bei einem Schallplattenapparat, den man bei laufender Platte abgestellt hatte.

Selbst die Stimme in meinem Hirn klang inzwischen hohl und weit entfernt.

Duck dich, Kinsey, sagte sie.

Ich dachte, ich könnte mich vielleicht ducken, aber ich konnte nicht mehr ausmachen, wo meine Beine waren oder die Hüfte oder der größte Teil des Rückgrats. Meine Arme fühlten sich schwer- an, und ich fragte mich, ob meine Ellbogen eigentlich angewinkelt waren.

Schlag ihn zu Brei, sagte meine innere Stimme, und ich glaubte, ohne daß ich es hätte beschwören können, daß ich die Dachlatte in Position brachte, und zwar mit angewinkeltem Arm, wie es mir meine Tante vor sehr langer Zeit mal beigebracht hatte.

Der Tag verwandelte sich in Nacht, das Leben in Tod.

Frakers Stimme leierte das Lied. »Acceeennntuate the pooosssitive, eeeellliiiiminaaate the neeegatiiiive...«

Als er um die Ecke bog, holte ich zum Schlag aus und zielte mit der Latte genau auf sein Gesicht. Ich beobachtete, wie das Holz seinen Weg durch Zeit und Raum antrat, ähnlich einer Reihe von Zeitrafferaufnahmen, hell vor dunkel, und ich sah, wie die Entfernung sich verringerte. Dann spürte ich, wie es mit einem lieblich klatschenden Geräusch sein Ziel erreichte.

Es klang wie bei einem Volltreffer im Baseballstadion: Das Tosen der Menschenmenge in den Ohren, ging ich zu Boden.