22
Das Innere des Hauses war kühl und spärlich ausgestattet: schimmernde, dunkle Holzfußböden, nackte Fenster, frische Blumen. Die Sitzmöbel waren mit weißem Leinenstoff überzogen, und das Studierzimmer, in das mich Nola führte, war von Büchern gesäumt. Sie entschuldigte sich, und ich hörte, wie ihre hohen Absätze — klick, klack — den Flur hinab klapperten.
Es ist nie eine gute Idee, mich allein in einem Raum zu lassen. Ich bin eine unheilbare Schnüfflerin, und ich fange automatisch an zu suchen. Da ich seit meinem fünften Lebensjahr von einer unverheirateten Tante großgezogen wurde, verbrachte ich als Kind viel Zeit bei ihren Freunden zu Hause, die zum größten Teil keine eigenen Kinder hatten. Mir wurde befohlen, ruhig zu sein und mich selbst zu beschäftigen, was ich in den ersten fünf Minuten mit Hilfe der jeweils neuen Ausgabe einer endlosen Serie von Malbüchern schaffte, die wir zu den Besuchen mitbrachten. Das Problem war, daß ich sehr schlecht im Einhalten der Ränder war und mir die Bilder immer blöd vorkamen — kleine Kinder, die mit Hunden herumtobten und Farmen besichtigten. Ich wollte keine Schweine oder Hühner ausmalen, also lernte ich das Durchsuchen. Auf diese Art entdeckte ich das versteckte Leben der Menschen, die Arzneien in den Medizinschränkchen, die Tuben mit Gel in den Nachttischschubladen, Bargeldreserven im hinteren Kleiderschrank, überraschende Sexanleitungen und Ehewerkzeuge zwischen Matratze und Sprungfedern. Natürlich konnte ich anschließend nie meine Tante nach diesen außergewöhnlich aussehenden Objekten befragen, die mir begegnet waren, da ich überhaupt nichts von ihnen wissen durfte. Fasziniert schlenderte ich dann in die Küche, wo sich die Erwachsenen zu jener Zeit zu versammeln schienen, um Highballs zu trinken und so schmerzhaft langweilige Dinge wie Politik und Sport zu diskutieren, und dann starrte ich Frauen namens Bernice und Mildred an, deren Ehemänner Stanley und Edgar hießen, und ich fragte mich, wer wohl was mit diesem langen Apparat mit der Batterie auf der einen Seite machte. Das war keine Taschenlampe. Soviel wußte ich. Frühzeitig erkannte ich den manchmal bemerkenswerten Unterschied zwischen dem öffentlichen Auftreten und den privaten Neigungen. Dies waren die Leute, vor denen zu fluchen meine Tante mir verboten hatte, unabhängig davon, wie wir zu Hause redeten. Einige der Begriffe, die sie immer benutzte, hätten vielleicht hier Anwendung finden können, doch ich wagte nicht, sie zu wiederholen. Der gesamte Erziehungsprozeß bedeutete für mich, die richtigen Wörter den Dingen zuzuordnen, die ich bereits kannte.
Das Studierzimmer der Frakers wies einen unerhörten Mangel an Verstecken auf. Keine Schubladen, keinen Sekretär, keine Sofatischchen mit Schränken darunter. Die beiden Sessel waren aus Chrom mit Lederstreifen. Der gläserne Kaffeetisch hatte schmale Chrombeine und stellte eine Karaffe mit Brandy und zwei Cognacschwenker auf einem Tablett zur Schau. Es gab nicht einmal einen Teppich, unter den man einen Blick hätte werfen können. Meine Güte, was waren das für Menschen? Ich war gezwungen, die Bücherregale abzugehen und zu versuchen, anhand der zur Verfügung stehenden Exemplare ihre Hobbys und Beschäftigungen zu erraten.
Die Menschen neigten nach wie vor mehr zu gebundenen Büchern, und ich konnte feststellen, daß Nola Interesse an Innenarchitektur, Feinschmeckerküche, Gärtnerei, Handarbeiten und Schönheitstips hatte. Was jedoch meine Aufmerksamkeit erregte, waren zwei Regale voller Bücher über Architektur. Was hatte das zu bedeuten? Sicher waren weder sie noch Dr. Fraker damit beauftragt, in großer Freiheit Gebäude zu entwerfen. Ich nahm eine übergroße Ausgabe mit dem Titel »Richtlinien der Architekturzeichnung« hervor und sah mir die Umschlagseiten an. Das eingeprägte Exlibris zeigte die Lithographie einer sitzenden Katze, die auf einen Fisch im Glas starrt. Darunter stand in maskuliner Handschrift der Name Dwight Costigan. Ein Erinnerungslämpchen leuchtete hinten in meinem Kopf auf. Das war doch der Architekt, der Glens Haus entworfen hatte. Ein geliehenes Buch? Ich sah in schneller Reihenfolge drei weitere Bände durch. Sie alle waren »aus der Bibliothek von« Dwight Costigan. Das war seltsam. Warum befanden sie sich hier?
Ich hörte Nola in meine Richtung klappern und stellte das Buch an seinen Platz zurück. Dann bewegte ich mich leise ans Fenster und verhielt mich, als hätte ich mir die Zeit mit der Aussicht vertrieben. Sie kam mit einem Lächeln ins Zimmer, das auftauchte und wieder verschwand, als habe es einen Wackelkontakt. »Tut mir leid, daß ich Sie warten lassen mußte. Setzen Sie sich doch.«
Ich hatte mir noch nicht besonders viele Gedanken darüber gemacht, wie ich nun vorgehen würde. Jedesmal, wenn ich eines dieser Schauspielstückchen vorher probe, bin ich geradezu brillant, und die anderen Personen sagen immer genau das, was ich hören will. In Wirklichkeit macht es dann keiner richtig, mich eingeschlossen, warum sich also im voraus den Kopf zerbrechen?
Ich setzte mich in einen dieser Chrom-Leder-Sessel und hoffte, ich würde mich nicht in einem der Streifen verfangen. Sie ließ sich auf dem Rand eines zweisitzigen, mit weißem Leinen bezogenen Sofas nieder und legte anmutig eine Hand auf die gläserne Fläche des Kaffeetischchens — eine Haltung, die Gelassenheit demonstriert hätte, wären da nicht die kleinen Schweißperlen an ihren Fingerspitzen gewesen. Mit einem kurzen Blick nahm ich ihr Bild in mir auf. Schlank, langbeinig, perfekte apfelgroße Brüste. Ihre Haare, in einem künstlichen Rotton, rahmten das Gesicht in einem Wirrwarr sanfter Locken. Blaue Augen, makellose Haut. Sie hatte dieses reine, zeitlose Aussehen, das man durch erstklassige kosmetische Chirurgie erhält, und der schwarze Overall, den sie trug, betonte ihren sinnlichen Körper, ohne vulgär oder derb zu erscheinen. Ihre Haltung war ernst und aufrichtig — und sie kam mir aufgesetzt vor.
»Womit kann ich Ihnen behilflich sein?« fragte sie.
Im Bruchteil einer Sekunde mußte ich ein Urteil fällen. Könnte Bobby Callahan sich wirklich mit so einer falschen Schlange eingelassen haben? O verdammt, wem wollte ich denn damit was vormachen? Natürlich!
Ich schenkte ihr ein Fünfzehn-Watt-Lächeln, das Kinn auf die Faust gestützt. »Tja, ich habe da ein kleines Problem, Nola. Darf ich Sie Nola nennen?«
»Sicher. Glen erwähnte, daß Sie Bobbys Tod untersuchen.«
»Genau. Eigentlich hat Bobby mich erst vor einer Woche engagiert, und deshalb habe ich das Gefühl, das ich ihm für sein Geld noch etwas schuldig bin.«
»Ach so. Ich dachte, daß vielleicht etwas daran nicht stimmen könnte und Sie deshalb Untersuchungen anstellen.«
»Das könnte sein. Ich weiß es noch nicht.«
»Aber ist das nicht die Aufgabe der Polizei?«
»Ich bin sicher, sie erfüllt sie auch. Ich führe eine... Hilfsuntersuchung durch, verstehen Sie, nur für den Fall, daß die Polizei auf der falschen Spur ist.«
»Nun, ich hoffe, jemand findet es heraus. Armer Junge. Es tut uns allen so leid für Glen. Haben Sie denn Erfolg?«
»Um die Wahrheit zu sagen, ja. Jemand hat mir die Hälfte der Geschichte erzählt, und ich muß jetzt nur noch den Rest herausfinden.«
»Das klingt ja, als kämen Sie gut voran.« Sie zögerte gekonnt. »Was für eine Geschichte?«
Ich vermute, daß sie nicht wirklich danach fragen wollte, doch die Natur dieses Gesprächs diktierte es. Sie gab vor, hilfsbereit zu sein, also mußte sie natürlich Interesse an einem Thema heucheln, das sie wahrscheinlich lieber ignoriert hätte.
Ich ließ einen Moment vergehen, während ich auf den Tisch starrte. Ich dachte, das verliehe der Lüge, die ich im Begriff war zu erzählen, einen Hauch mehr Glaubwürdigkeit. Mit einem vielsagenden Blick schaute ich sie wieder an. »Bobby hat mir gesagt, daß er in Sie verliebt war.«
»In mich?«
»Das hat er gesagt.«
Die Augen zwinkerten. Das Lächeln tauchte auf und verschwand. »Nun, das erstaunt mich. Ich meine, es ist sehr schmeichelhaft, und ich hielt ihn immer für einen süßen Jungen, aber wirklich!«
»Ich finde es nicht so erstaunlich.«
Ihr Lachen drückte eine wunderbare Mischung aus Unschuld und Ungläubigkeit aus. »Ach, um Himmels willen. Ich bin verheiratet. Und ich bin zwölf Jahre älter als er.«
Mist, sie war schlagfertig — blitzschnell hatte sie Jahre von ihrem Alter abgezogen, ohne einen Moment zu zögern, um sie an den Fingern abzuzählen oder so etwas. Ich bin im Subtrahieren nicht so schnell, also ist es wahrscheinlich besser für mich, keine Lügen über mein Alter zu verbreiten.
Ich lächelte ein wenig. Sie machte mich langsam wütend, und ich hörte mich mit einer sanften Grabesstimme sagen: »Das Alter spielt keine Rolle. Bobby ist jetzt tot. Er ist älter als Gott. Er ist so alt, wie man nur werden kann.«
Sie starrte mich an und zog offenbar die Möglichkeit in Betracht, daß ich verrückt sein könnte. »Sie müssen das nicht gleich übelnehmen. Ich kann nichts dazu, wenn Bobby Calla-han sich entschieden hatte, in mich verliebt zu sein. Dann hatte der Junge sich eben in mich verknallt. Was soll’s?«
»Also hatte der Junge eben ein Verhältnis mit Ihnen, Nola. Das soll’s. Sie steckten bis zum Flals in der Scheiße, und der Junge hat Ihnen herausgeholfen. Der Junge ist wegen Ihnen umgebracht worden, Sie Miststück. So, sollen wir jetzt aufhören, uns gegenseitig vollzuquatschen und zur Sache kommen, oder soll ich Lieutenant Dolan vom Morddezernat anrufen und ihn darum bitten, ein wenig mit Ihnen zu plaudern?«
»Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen«, schnauzte sie. Als sie aufstand, war ich bereits auf den Beinen und klammerte so schnell eine Hand um ihr zartes Handgelenk, daß sie nach Luft schnappte. Sie zog ein wenig, und ich ließ sie los, doch ich fühlte, wie ich vor Wut anschwoll wie ein Heißluftballon.
»Ich sag’s Ihnen noch einmal, Nola. Sie haben die Wahl. Entweder erzählen Sie mir, was los war, oder ich werde anfangen, mich auf Sie zu stürzen. Eigentlich könnte ich das ohnehin tun. Ich werde zur Gemeindeverwaltung laufen und sämtliche standesamtlichen Eintragungen und Zeitungsberichte und Polizeiakten durchgehen, bis ich ein paar Hintergrundinformationen über Sie habe. Und dann werde ich herausfinden, was Sie verheimlichen, und dann werde ich einen Weg finden, Ihnen die Sache dermaßen anzuhängen, daß Sie bereuen werden, die ganze Geschichte nicht gleich hier und jetzt ausgespuckt zu haben.«
In diesem Moment bekam ich den Stoß. Im hinteren Teil meines Hirns hörte ich ein Geräusch, wie wenn ein Fallschirm die Luft auffängt. Peng... er öffnete sich. Das war einer dieser außergewöhnlichen Momente, in denen sich die automatische Erinnerung einschaltet und eine Information herausspringt wie bei der Wertungstafel eines Preisrichters. Es muß am Adrenalin gelegen haben, das durch meinen Kopf gepumpt wurde, denn plötzlich wurden meiner Gedächtnisdatenbank ein paar Einzelheiten entrissen, die in perfekter Klarheit auf meinem geistigen Bildschirm erschienen... nicht alles, aber genug. »Warten Sie einen Moment. Ich weiß, wer Sie sind. Sie waren mit Dwight Costigan verheiratet. Ich wußte doch, daß ich Sie schon mal gesehen hatte. Ihr Foto war in allen Zeitungen.«
Die Farbe verschwand aus ihrem Gesicht. »Das hat damit nichts zu tun«, behauptete sie.
Ich lachte, vor allem über meine plötzliche Erinnerung. Gedankenblitze müssen irgendein kleines chemisches Element an sich haben, das solche schnellen Vorstöße bewirkt.
»Ach, hören Sie auf«, entgegnete ich. »Natürlich hat es etwas damit zu tun. Ich weiß zwar noch nicht was, aber es ist ein und dieselbe Geschichte, oder?«
Sie sank auf das Sofa zurück und tastete mit einer Hand nach dem Glastisch, um sich abzustützen. Sie atmete tief durch und versuchte, sich zu entspannen. »Sie täten gut daran, die ganze Sache fallenzulassen«, meinte sie dann, ohne mich anzusehen.
»Spinnen Sie?« fragte ich. »Hat Sie Ihr bißchen Verstand jetzt völlig verlassen? Bobby Callahan beauftragte mich, weil er glaubte, daß jemand ihn umzubringen versuchte, und er hatte recht. Jetzt ist er tot und hat keine Möglichkeit mehr, die Sache aufzuklären, aber ich habe sie, und wenn Sie glauben, daß ich vor diesem Arschloch kneife, dann kennen Sie mich schlecht.«
Sie schüttelte den Kopf. Alle ihre Schönheit war verschwunden, und was übrig war, schien fade. Sie sah jetzt aus wie jeder von uns im Neonlicht aussieht — müde, verbraucht. Ihre Stimme war leise. »Ich werde Ihnen sagen, soviel ich kann. Und dann bitte ich Sie darum, die Untersuchung aufzugeben. Das meine ich ernst. Zu Ihrem eigenen Besten. Ich hatte tatsächlich ein Verhältnis mit Bobby.« Sie hielt inne und suchte nach dem Weg, den sie einschlagen wollte. »Er war ein wunderbarer Mensch. Das war er wirklich. Ich war vernarrt in ihn. Er war so unkompliziert, und er hatte keine Vergangenheit. Er war einfach nur jung und kräftig, vital. Mein Gott. Er war dreiundzwanzig. Allein der Anblick seiner Haut. Er war wie ein —« Ihr Blick traf meinen, und verlegen brach sie ab. Ein Lächeln bildete sich und schwankte, diesmal aus irgendeinem Gefühl heraus, das ich nicht interpretieren konnte... Schmerz oder Zärtlichkeit vielleicht.
In der Hoffnung, die Stimmung nicht zu verderben, setzte ich mich vorsichtig nieder.
»Wenn man in seinem Alter ist«, fuhr sie fort, »glaubt man doch, daß sich alles regeln läßt. Man glaubt noch daran, daß man alles haben kann, was man will. Man glaubt, das Leben sei einfach und daß man nur ein oder zwei Kleinigkeiten verändern muß, damit alles anders wird. Ich habe ihm gesagt, daß es für mich nicht so sei, doch er hatte so einen ritterlichen Zug an sich. Süßer Narr.«
Sie schwieg für eine lange Zeit.
»>Süßer Narr< — warum?« fragte ich ruhig.
»Nun, weil er natürlich dafür sterben mußte. Ich kann Ihnen die Schuldgefühle nicht beschreiben, die ich hatte...« Ihre Stimme verlor sich, und sie wandte sich ab.
»Erzählen Sie mir den vorderen Teil. Was hatte Dwight damit zu tun? Er wurde doch erschossen, nicht?«
»Dwight war viel älter als ich. Fünfundvierzig, als wir heirateten. Ich war zweiundzwanzig. Es war eine gute Ehe... zumindest bis zu einem gewissen Punkt. Er betete mich an. Ich bewunderte ihn. Er hat Unglaubliches für diese Stadt getan.«
»Er hat Glens Haus entworfen, nicht wahr?«
»Nicht ganz. Sein Vater war ursprünglich der Architekt, als das Haus in den zwanziger Jahren erbaut wurde. Dwight führte die Restaurierungen durch«, korrigierte sie. »Ich glaube, ich brauche einen Drink. Möchten Sie auch einen?«
»Sicher, gern«, stimmte ich zu.
Sie griff nach der Brandykaraffe und nahm den schweren Glasstöpsel ab. Dann legte sie den Hals der Karaffe an den Rand eines Cognacschwenkers, aber ihre Hände zitterten so stark, daß ich befürchtete, sie könnte das Glas zerbrechen. Ich langte hinüber, nahm ihr die Flasche ab und goß ihr einen guten Schluck ein. Dann machte ich mir selbst einen, obwohl das um zehn Uhr morgens so ziemlich das letzte war, worauf ich Lust hatte. Flüchtig schwenkte sie ihr Glas, und wir tranken beide. Ich schluckte, und automatisch öffnete sich mein Mund, als sei ich gerade in einem Swimmingpool zur Wasseroberfläche aufgetaucht. Dies hier war eindeutig gutes Zeug, aber ich hatte eigentlich nicht vorgehabt, meine Zähne gleich für ein ganzes Jahr reinigen zu lassen. Ich beobachtete, wie sie sich beruhigte, indem sie ein- oder zweimal tief durchatmete.
Verzweifelt versuchte ich mir die Berichte in Erinnerung zu rufen, die ich über den Vorfall gelesen hatte, bei dem Costigan getötet wurde. Es mußte vor fünf oder sechs Jahren gewesen sein. Soweit ich mich erinnern konnte, war jemand eines Nachts in sein Haus in Montebello eingedrungen und hatte Dwight nach einem Kampf im Schlafzimmer erschossen. Ich war damals für einen Klienten in Houston, deshalb hatte ich die Ereignisse nicht so genau verfolgt, doch soviel ich wußte, lag die Sache noch immer als nicht aufgeklärter Mordfall bei den Akten.
»Was war geschehen?« fragte ich.
»Fragen Sie nicht, und mischen Sie sich nicht ein. Ich hatte Bobby angefleht, die Finger davon zu lassen, aber er wollte nicht hören, und das hat ihn sein Leben gekostet. Vergangenheit ist Vergangenheit. Es ist vorbei und erledigt, und ich bin die einzige, die jetzt dafür bezahlt. Vergessen Sie’s. Ich kümmere mich nicht mehr darum, und wenn Sie klug sind, tun Sie’s auch nicht.«
»Sie wissen doch, daß ich das nicht machen kann. Erzählen Sie mir, was weiter geschah.«
»Wozu? Es wird nichts mehr ändern.«
»Nola, ich werde es herausfinden, ob Sie es mir sagen oder nicht. Wenn Sie mir jetzt alles offen erzählen, muß ich vielleicht gar nicht mehr weitergehen. Vielleicht werde ich Sie verstehen und darin einwilligen, die ganze Sache fallenzulassen. Ich bin nicht unvernünftig, aber Sie müssen fair sein.«
Die Unschlüssigkeit stand ihr ins Gesicht geschrieben. »Oh, mein Gott«, stöhnte sie und senkte den Kopf einen Moment lang. Dann sah sie mich furchterfüllt an. »Wir sprechen hier über einen Wahnsinnigen. Jemand total Verrückten. Sie müssen schwören... Sie müssen versprechen, sich rauszuhalten.«
»Ich kann Ihnen kein solches Versprechen geben, und das wissen Sie. Erzählen Sie mir die Geschichte, und dann werden wir überlegen, was zu tun ist.«
»Ich habe nie jemandem außer Bobby davon erzählt, und Sie sehen ja, was ihm widerfuhr.«
»Was ist mit Sufi? Sie weiß Bescheid, oder?«
Erstaunt und für einen Moment bestürzt über die Erwähnung von Sufis Namen sah sie mich an, dann wandte sie den Blick ab. »Nein, gar nichts. Ich bin sicher, daß sie nicht weiß, was vor sich geht. Warum sollte sie?« Die Antwort war zu zögernd gekommen, um überzeugend zu wirken, doch ich beließ es für den Augenblick dabei. Hatte Sufi sie erpreßt?
»Nun, irgend jemand weiß es«, beharrte ich. »Nach meinen Schlußfolgerungen wurden Sie erpreßt, und Bobby hat das zu beenden versucht. Was ist das für ein Handel? Was hat die Person gegen Sie in der Hand? Worin besteht ihre Macht über Sie?«
Ich ließ sie das Schweigen ausdehnen und beobachtete dabei, wie sie mit ihrem Bedürfnis nach verbaler Erleichterung kämpfte.
Schließlich begann sie mit einer so leisen Stimme zu sprechen, daß ich gezwungen war, mich vorzubeugen, um sie verstehen zu können. »Wir waren fast fünfzehn Jahre lang verheiratet. Dwight nahm Medikamente gegen zu hohen Blutdruck, und die machten ihn impotent. Wir hatten ohnehin nie ein besonders ausgefülltes Geschlechtsleben geführt. Ich wurde unruhig und suchte mir einen... jemand anderen.«
»Einen Liebhaber.«
Sie nickte, die Augen geschlossen, als schmerze sie die Erinnerung. »Dwight überraschte uns eines Nachts im Bett. Er drehte durch. Er holte eine Waffe aus der Bibliothek und kehrte zurück, und dann kam es zum Kampf.«
Ich schnappte das Geräusch von Schritten auf, die den Flur herunter kamen. Gleichzeitig mit ihr sah ich zur Tür, und ihre Stimme wurde dringlich.
»Kein Sterbenswörtchen darüber. Bitte.«
»Nein, vertrauen Sie mir. Was ist der Rest der Geschichte?«
Sie zögerte. »Ich habe Dwight erschossen. Es war ein Unfall, aber jemand hat die Waffe mit meinen Fingerabdrücken darauf.«
»Und das war es, wonach Bobby gesucht hat?«
Sie nickte kaum wahrnehmbar.
»Aber wer hat sie? Ihr Exliebhaber?«
Nola legte einen Finger an die Lippen. Es klopfte an der Tür, und Dr. Fraker steckte den Kopf ins Zimmer, offenbar überrascht, mich dort sitzen zu sehen. »Oh, hallo Kinsey. Ist das Ihr Wagen, der in der Einfahrt steht? Ich wollte gerade wegfahren, und ich konnte mir einfach nicht vorstellen, wer hier sein könnte.«
»Ich bin vorbeigekommen, um mit Nola über Glen zu sprechen«, erklärte ich. »Ich glaube, es geht ihr nicht besonders gut, und da habe ich mir überlegt, wir könnten vielleicht Abmachungen treffen, um uns abwechselnd um sie zu kümmern, da Derek nicht mehr da ist.«
Bedauernd schüttelte er den Kopf. »Dr. Kleinert hat mir berichtet, daß sie ihn hinausgeworfen hat. Verdammt schade. Nicht, daß ich besonders viel für ihn übrig gehabt hätte, doch sie hat zur Zeit bereits genug Schwierigkeiten. Ich sehe es gar nicht gern, daß sie sich noch mehr aufbürdet.«
»Ich auch nicht«, stimmte ich zu. »Brauchen Sie mich, um meinen Wagen wegzusetzen?«
»Nein, das geht schon«, erwiderte er und sah zu Nola. »Ich habe zwar noch einige Arbeit im Krankenhaus, aber wahrscheinlich werde ich nicht allzu spät zurück sein. Haben wir Pläne fürs Abendessen?«
Sie lächelte liebenswürdig, obwohl sie sich erst räuspern mußte, bevor sie sprechen konnte. »Ich dachte, wir könnten hier essen, wenn du einverstanden bist.«
»Sicher, das ist prima. Gut. Dann werde ich euch beide mal eure kleinen Pläne aushecken lassen. War nett, Sie zu sehen, Kinsey.«
»Eigentlich waren wir gerade fertig«, sagte Nola und erhob sich.
»Oh, na schön«, meinte er. »Ich bringe Sie hinaus.«
Ich wußte, daß sie sein Erscheinen nur als Vorwand benutzte, um das Gespräch zu beenden, doch mir fiel im Moment keine Verzögerungstaktik ein, erst recht nicht, solange die beiden da standen und mich ansahen.
Wir verabschiedeten uns kurz voneinander. Dann hielt Dr. Fraker mir die Tür auf, und ich verließ das Zimmer. Als ich mich umschaute, sah ich, daß Nolas Gesichtsausdruck von Furcht durchdrungen war. Vermutlich wünschte sie jetzt, ihr Geheimnis für sich behalten zu haben. Es stand eine Menge für sie auf dem Spiel: Freiheit, Geld, Status, Ansehen. Sie war von jedem angreifbar, der wußte, was ich jetzt wußte. Ich fragte mich, wie verzweifelt sie an dem festhielt, was sie besaß, und was für eine Art von Bezahlung als Konsequenz daraus aus ihr herausgeholt worden war.