18

Als ich mich wieder sicher in meinem Appartement befand, holte ich die Kreditkartenquittung hervor, die ich aus Lilas Schuhkarton entfernt hatte. Sie trug als Datum den 25. Mai und eine Geschäftsadresse in Las Cruces. Der Aufdruck auf der Kreditkarte besagte »Delia Sims«. In der Spalte »Telefonnummer« hatte jemand zuvorkommend eine Telefonnummer eingetragen. Ich holte mein Telefonbuch und suchte die Vorwahl von Las Cruces. Fünf-null-fünf. Ich nahm den Hörer auf und wählte die Nummer. Als ich es am anderen Ende klingeln hörte, fragte ich mich, was ich eigentlich sagen sollte.

»Hallo?« Eine Männerstimme mittleren Alters, kein Akzent.

»Oh, hallo«, sagte ich sanft. »Ob ich wohl mit Delia Sims sprechen könnte?«

Ein Moment Schweigen. »Warten Sie.«

Eine Hand wurde über die Sprechmuschel gelegt, und ich hörte eine gedämpfte Unterhaltung im Hintergrund.

Offenbar wurde der Hörer von jemandem übernommen, denn eine andere Stimme fragte: »Sie wünschen?«

Dieses Mal war sie weiblich und vom Alter her nicht einzuordnen.

»Delia?« fragte ich zurück.

»Wer ist da bitte?« Die Stimme klang alarmiert, als sei dies ein obszöner Anruf.

»Oh, Entschuldigung«, meinte ich. »Hier spricht Lucy Stansbury. Das bist aber nicht du, oder, Delia? Es klingt nicht wie deine Stimme.«

»Hier spricht eine Freundin von Delia. Sie ist im Moment nicht da. Kann ich etwas für Sie tun?«

»Tja, das hoffe ich.« Meine Gedanken überschlugen sich. »Es ist nämlich so, daß ich aus Kalifornien anrufe. Ich habe Delia kürzlich kennengelernt, und sie hat ein paar Sachen auf dem Rücksitz meines Wagens vergessen. Mir fiel keine andere Möglichkeit ein, sie zu erreichen, als es mit dieser Telefonnummer zu versuchen, die auf einer Kreditkartenquittung für einen Einkauf in Las Cruces stand. Ist sie noch in Kalifornien oder schon wieder zu Hause?«

»Einen Moment.«

Erneut eine Hand über der Muschel und das Summen eines Gesprächs im Hintergrund. Die Frau kam wieder ans Telefon.

»Vielleicht geben Sie mir einfach Ihren Namen und Ihre Telefonnummer, dann werde ich ihr ausrichten, sie möchte Sie zurückrufen.«

»Ach ja, das ist prima«, stimmte ich zu. Ich nannte ihr noch mal meinen Namen und buchstabierte ihn umständlich. Dann erfand ich eine Telefonnummer mit der Vorwahl von Los Angeles. »Soll ich ihr das Zeug denn jetzt zurückschicken oder soll ich es erst mal hierbehalten? Ich will nur nicht, daß sie nicht weiß, wo es abgeblieben ist.«

»Was genau hat sie denn vergessen?«

»Nun, das meiste sind Kleidungsstücke. Ein Sommerkleid, von dem ich weiß, daß sie es mag, aber das wird wohl nicht so wichtig sein. Und ich habe diesen Ring von ihr, den mit dem eckig geschliffenen Smaragd und den kleinen Diamanten«, erklärte ich, indem ich den Ring beschrieb, den ich Lila an jenem ersten Nachmittag in Henrys Garten hatte tragen sehen. »Erwarten Sie sie bald zurück?«

Fast ohne Zögern kam die kühle Erwiderung der Frau: »Wer spricht dort?«

Ich legte auf. Soviel also zu dem Versuch, die Leute von Las Cruces zu verarschen. Ich konnte mir immer noch nicht vorstellen, was sie im Schilde führte, aber auf jeden Fall gefiel mir der Gedanke an diese Grundstücksspekulation nicht, die sie Henry vorgeschlagen hatte. Er war so verknallt, daß sie ihn wahrscheinlich zu allem Möglichen überreden konnte. Außerdem ging sie sehr zielstrebig vor, deshalb sollte ich besser einige Antworten herausfinden, bevor sie ihn mit Haut und Haaren verspeist hatte. Ich langte nach einem Stapel leerer Karteikarten in meiner oberen Schreibtischschublade. Als einen Moment später das Telefon klingelte, zuckte ich zusammen. Mist, hatte denn jemand so schnell eine Fangschaltung arrangiert? Sicher nicht.

Vorsichtig hob ich den Hörer auf und lauschte nach dem blassen Geräusch einer Ferngesprächsverbindung. Es gab keines.

»Hallo?«

»Miss Millhone?« Männlich. Die Stimme klang vertraut, obwohl ich im Moment nicht ausmachen konnte, wer es war. Dröhnende Musik im Hintergrund zwang ihn zu brüllen, und auch mir blieb nichts anderes übrig.

»Am Apparat.«

»Hier ist Gus«, schrie er, »Bobbys Freund vom Rollschuhverleih.«

»Äch, Sie sind’s. Hallo. Schön, daß Sie anrufen. Ich hoffe, Sie haben ein paar Informationen für mich. Ich könnte wirklich Hilfe gebrauchen.«

»Nun, ich habe über Bobby nachgedacht und glaube jetzt, daß ich ihm das schuldig bin. Ich hätte schon heute nachmittag reden sollen.«

»Machen Sie sich darüber keine Sorgen. Ich danke Ihnen, daß Sie sich überhaupt noch mal melden. Sollen wir uns treffen oder einfach am Telefon darüber reden?«

»Mir ist beides recht. Etwas möchte ich noch erwähnen — ich weiß nicht, ob Ihnen das eine Hilfe ist oder nicht — , aber Bobby hat mir so ein Adreßbuch gegeben, in das Sie vielleicht mal einen Blick werfen könnten. Hat er jemals darüber gesprochen?«

»Aber natürlich. Ich habe auf der Suche nach diesem Ding die ganze Stadt auf den Kopf gestellt«, lachte ich. »Wo sind Sie?«

Er gab mir eine Adresse in der Granizo, und ich sagte, daß ich gleich da sei. Dann legte ich auf und schnappte mir Handtasche und Autoschlüssel.

Die Gegend, in der Gus wohnte, war spärlich beleuchtet. Die Vorgärten waren nichts als Schmutzflecken, die gelegentlich mit Palmen verziert waren. An den Bordsteinen parkten Autos — gespachtelte und neu lackierte Kleinwagen mit abgefahrenen Reifen und bedenklichen Beulen. Da paßte mein VW genau hin. Ungefähr jedes dritte Grundstück protzte mit einem nagelneuen Maschendrahtzaun, errichtet, um Gott weiß was für Bestien einzusperren. Als ich an einem Haus vorbeiging, hörte ich, wie etwas häßlich und bissig Klingendes bis zum Ende seiner Würgekette vorschoß und heiser winselte, als es nicht ganz an mich herankam. Ich beschleunigte meinen Schritt.

Gus wohnte in einem winzigen Holzhäuschen, das in einem U-förmigen, von Einfamilienhäusern umgebenen Hof lag. Ich ging durch einen verzierten Eingang, über den sich in Regenbogenform die schmiedeeiserne Hausnummer wölbte. Zusammen gab es dort acht Wohneinheiten, drei auf jeder Seite des Mittelwegs und zwei an seinem Ende. Alle waren cremefarben und sahen sogar im Dunkeln rußverschmiert aus. Ich erkannte das Haus von Gus an der Musik, die dort herausdröhnte und sich genauso anhörte wie die am Telefon. Aus der Nähe klang sie nicht annähernd so gut. Als Eingangsvorhang hatte er ein Bettlaken über eine Gardinenstange geschlungen, und den Türknauf bildete eine leere Holzspule auf einem Nagel. Ich mußte auf eine kurze Pause zwischen zwei Stücken warten, bis ich an den Türrahmen klopfen konnte. Die Musik donnerte wieder los, aber er hatte offenbar mein Klopfen gehört.

»Jaaa«, rief er. Dann öffnete er die Tür und hielt den Vorhang zurück. Ich trat in das Zimmer, erschlagen von Hitze, lautem Rock und dem strengen Geruch nach Katzenklo.

»Kannst du diesen Mist leiser drehen?« brüllte ich.

Er nickte, ging zur Stereoanlage und stellte sie ab. »Tut mir leid«, meinte er verlegen. »Setzen Sie sich.«

Seine Wohnung war ungefähr halb so groß wie meine, aber mit doppelt so vielen Möbeln vollgestopft. Ein französisches Bett, eine große Kommode, die mit Pekanholz imitierender Plastikfolie überzogen war, zwei Polstersessel mit zerschlissenen Seiten, ein Radiator, eines dieser Anbaumöbel in der Größe einer Fernsehtruhe, ein Abwaschbecken, ein Herd und ein Kühlschrank. Das Badezimmer war vom Hauptzimmer abgeteilt durch Stoffbahnen, die von einer Art Wäscheleine herabhingen. Die beiden Lampen im Zimmer waren mit roten Frotteehandtüchern verdeckt, die ihre Zweihundertfünfzig-Watt-Glühbirnen zu einem rosigen Schein dämpften. Beide Sessel waren mit Katzen belegt, die er im selben Moment wie ich wahrzunehmen schien.

Er packte sie sich auf den Arm, als wären sie alte Lumpen, und ich setzte mich auf den freigewordenen Platz. Sobald er die Katzen aufs Bett geworfen hatte, machten sie sich auf den Weg zurück zu ihren ursprünglichen Plätzen. Eine von ihnen knetete meinen Schoß, als handele es sich um Brotteig, und rollte sich dann zusammen, als sie mit ihrer Arbeit zufrieden war. Eine andere drängte sich neben mich, und eine dritte ließ sich auf der Sessellehne nieder. Sie schienen einander zu beäugen, um herauszufinden, wer von ihnen den besten Fang gemacht hatte. Alle wirkten ausgewachsen und entstammten wahrscheinlich demselben Wurf, denn alle trugen dicke Schildpattfelle zur Schau und hatten Köpfe von der Größe eines Softballs. Zwei weitere erwachsene Katzen lagen zusammengerollt in dem anderen Sessel, eine braune und eine schwarze, die wie vertauschte Socken ineinander verknäult waren. Eine sechste Katze kam unter dem Bett hervor und blieb stehen, abwechselnd beide Hinterpfoten streckend. Gus beobachtete diese Katzenbewegungen mit einem schüchternen Lächeln und einem vor Stolz geröteten Gesicht.

»Sind sie nicht großartig?« freute er sich. »Ich bekomme einfach nie zuviel von diesen kleinen Scheißerchen. Nachts stapeln sie sich auf meinem Bett wie eine Decke. Eine schläft immer auf dem Kopfkissen, die Pfoten in meinen Haaren. Ich kann jederzeit ihre kleinen Köpfe küssen, wenn ich will.« Er schnappte sich eine und schaukelte sie wie ein Baby, eine Entwürdigung, die die Katze mit überraschender Passivität ertrug.

»Wie viele hast du?«

»Im Moment sechs, aber Luci Baines und Lynda Bird sind schwanger. Ich weiß nicht, was ich da machen soll.«

»Vielleicht könntest du sie sterilisieren lassen«, schlug ich vor.

»Ja, wenn dieser Wurf geboren ist, sollte ich es wohl machen lassen. Obwohl ich wirklich gut darin bin, die kleinen Kätzchen unterzubringen, und sie sind immer so süß.«

Beinahe hätte ich hinzugefügt, daß sie ja auch so gut rochen, aber ich hatte nicht den Mut zu Sarkasmus, wo er doch so eindeutig vernarrt in diese Brut war. Da saß er nun, sah aus wie der Entwurf eines Polizeizeichners, der einen Sexkiller darstellt, und machte sich mit seiner Kollektion gezähmter Pelze lächerlich.

»Ich denke, ich hätte schon früher über all das reden sollen«, sagte er jetzt. »Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist.« Er ging zum Bücherregal und wühlte das Chaos darauf durch. Er förderte ein spielkartengroßes Adreßbuch zutage, das er mir reichte.

Ich nahm es und blätterte es durch. »Was ist daran besonders? Hat Bobby dich darüber aufgeklärt?«

»Nein. Er sagte mir, ich sollte es aufbewahren, und meinte, es sei wichtig, aber er erklärte nichts. Ich nahm einfach an, es müsse sich um eine Liste oder einen Code handeln, irgendeine Information, über die er verfügte, aber ich weiß nicht, was für eine.«

»Wann hat er es dir gegeben?«

»Ich kann mich nicht genau erinnern. Es war einige Zeit vor dem Unfall. Er kam eines Tages vorbei, gab es mir und fragte, ob ich es einfach für ihn aufbewahren könnte, also sagte ich, klar. Ich hatte es total vergessen, bis Sie es erwähnten.«

Ich sah kurz unter B nach. Dort war kein Blackman aufgeführt, aber ich fand den Namen dann auf die hintere Umschlagseite geschrieben, mit einer siebenstelligen Ziffer daneben. Es war keine Vorwahlnummer angegeben, also handelte es sich wahrscheinlich um eine Nummer des hiesigen Ortsnetzes. Allerdings schien sie nicht mit der Nummer von S. Blackman übereinzustimmen, die ich im Telefonbuch gefunden hatte.

»Was hat er damals im einzelnen gesagt?« fragte ich. Ich wußte, daß ich mich wiederholte, aber ich hoffte weiterhin, einen Hinweis auf Bobbys Pläne hervorzukitzeln.

»Eigentlich nichts. Er wollte nur, daß ich es für ihn aufbewahre. Ihnen hat er es auch nicht gesagt, hm?«

Ich schüttelte den Kopf. »Er konnte sich nicht erinnern. Er wußte noch, daß es wichtig gewesen war, aber er hatte keine Ahnung, warum. Hast du jemals den Namen Blackman gehört? S. Blackman? Sonst irgendeinen Blackman?«

»Nee.« Die Katze wand sich, und er ließ sie runter.

»Ich hörte, daß Bobby sich in jemanden verliebt hatte. Ich frage mich, ob das diese S. Blackman sein könnte.«

»Wenn es der Fall war, so hat er es mir nicht gesagt. Er hat sich allerdings ein paarmal mit einer Frau unten am Strand getroffen. Genau auf dem Parkplatz am Rollschuhverleih.«

»Vor dem Unfall oder danach?«

»Vorher. Er saß in seinem Porsche und wartete, und dann kam sie angefahren, und sie unterhielten sich.«

»Er hat sie dir nie vorgestellt oder erwähnt, wer sie war?«

»Ich weiß, wie sie ausgesehen hat, aber ich kenne ihren Namen nicht. Ich sah einmal, wie sie in den Coffeeshop gingen, und sie war etwas merkwürdig gebaut, verstehen Sie? So’n bißchen verorgelt. Ich konnte das gar nicht verstehen. Bobby war ein gutaussehender Typ, und er war immer mit diesen echt scharfen Mädels zusammen gewesen, aber sie war ein häßliches Entlein.«

»Blonde wuschelige Haare? Ungefähr fünfundvierzig?«

»Ich hab sie nie aus der Nähe gesehen, deshalb kann ich ihr Alter nicht einschätzen. Aber das mit den Haaren kommt wohl hin. Sie fährt diesen Mercedes, den ich ab und zu hier sehe. Außen dunkelgrün, innen beige. Sieht aus wie ein fünfundfünfziger oder fünfundsechziger, aber er ist sehr gut in Schuß.«

Ich sah das Adreßbuch noch einmal durch. Sufis Name und Telefonnummer waren unter D eingetragen.

Hatte er mit ihr eine Affäre gehabt? Es schien so unwahrscheinlich. Bobby war dreiundzwanzig Jahre alt gewesen und, wie Gus bemerkt hatte, ein gutaussehender Typ. Carrie St. Cloud hatte eine Erpressungsgeschichte erwähnt, doch wenn Sufi von jemandem erpreßt worden war, warum hätte sie sich hilfesuchend an ihn wenden sollen? Es war mit Sicherheit nicht so gewesen, daß sie ihn erpreßt hatte. Was immer es war, ich hatte immerhin eine Spur, und dafür war ich dankbar. Ich steckte das Buch in die Hosentasche und sah auf. Gus beobachtete mich amüsiert.

»Mensch, Sie hätten Ihr Gesicht sehen sollen. Ich konnte förmlich Zusehen, wie die alten Räder sich drehten«, lachte er.

»Es passiert etwas, und das gefällt mir«, erwiderte ich. »Hör zu, du warst mir eine große Hilfe. Ich weiß zwar noch nicht, was das zu bedeuten hat, aber glaube mir, ich werde es herausfinden.«

»Hoffentlich. Es tut mir nur leid, daß ich nichts davon gesagt habe, als Sie mich fragten. Wenn ich noch irgend etwas für Sie tun kann, lassen Sie es mich wissen.«

»Danke«, nickte ich. Dann schob ich die Katze von meinem Schoß, stand auf und gab ihm die Hand.

Ich ging zu meinem Wagen. Unterwegs klopfte ich meine Jeans ab und zog mir ein Katzenhaar aus dem Mund. Es war jetzt zehn Uhr abends, und ich hätte nach Hause fahren sollen, doch ich fühlte mich aufgedreht. Die Episode bei Moza und das plötzliche Auftauchen von Bobbys Adreßbuch wirkten stimulierend auf mich. Ich wollte mit Sufi sprechen. Vielleicht sollte ich bei ihr vorbeifahren. Wenn sie noch wach war, könnten wir einen kleinen Plausch halten. Sie hatte einmal versucht, mich von dieser Untersuchung abzulenken, und ich fragte mich jetzt, was das wohl zu bedeuten hatte.