At the end of the reporting period (DOY 027) Rosetta was at 377.6 million km from the Earth (2.52 AU; one-way signal travel time was 21m 00s). The distance to the Sun was 259.5 million km (1.72 AU). (…)

 

Rünz gab sich keine Mühe, das folgende Telemetrie-Kauderwelsch des Reports zu verstehen.

»Mhmmmm«, brummte Stadelbauer und erinnerte den Kommissar an die Paartherapeutin.

»Da ist nicht viel passiert in dieser Phase. Drei New-Norcia-Passagen, die für Datentransfers genutzt wurden. Nichts Spektakuläres, kleinere Updates und Funktionstests nach drei Wochen Tiefschlaf. Keine Unregelmäßigkeiten, Flug nach Plan, Entfernung zweieinhalb astronomische Einheiten, 21 Minuten Signallaufzeit.«

Er wechselte zur Webseite der DLR, die online eine kleine, interaktive Animation der Rosetta-Mission zur Verfügung stellte. Rünz konnte dank Stadelbauers astronomischem Einführungskurs auf dem Ludwigsturm die Bahnen von Erde, Mars und Jupiter identifizieren. Sie bildeten annähernd konzentrische Kreise um das Zentralgestirn und wurden von einer Ellipse gekreuzt, deren Aphel jenseits der Jupiterbahn lag und die am Perihel tief ins innere Sonnensystem hineinreichte. Wahrscheinlich Rosettas Ziel, der Komet Tschurjumow-Gerasimenko.

»Was ist mit den beiden hier, fragte Rünz und deutete auf zwei Objekte zwischen Mars- und Jupiterbahn, die er nicht identifizieren konnte.

»Sagten Sie nicht, zwischen den inneren und den äußeren Planeten gäbe es nur Asteroiden

»Gut aufgepasst! Steins und Lutetia, zwei Asteroiden des Hauptgürtels, Rosetta wird beide auf dem Weg zum Kometen besuchen, im August 2008 und im September 2009. Die liegen sozusagen auf dem Weg

Stadelbauer startete die Animation, und ein faszinierendes Mobile kam auf dem Bildschirm in Gang, die Objekte bewegten sich auf ihren Bahnen um die Sonne, je näher sie dem Zentralgestirn waren, umso schneller. In einem kleinen Datumsfeld lief die aktuelle Missionszeit mit. Das stilisierte Symbol der Rosetta-Sonde löste sich im März 2004 von der Erde, eilte ihr auf einer leicht elliptischen Bahn um die Sonne voraus, um sich nach einem kompletten Umlauf vom Heimatplaneten wieder einfangen und beschleunigen zu lassen. Mit frischem Schwung entfernte sich die Sonde von der Erde, kreuzte die Marsbahn, verlor wieder an Geschwindigkeit, beschrieb einen Bogen Richtung Zentrum, holte den roten Planeten ein und ließ sich kurz hintereinander von Erde und Mars noch einmal beschleunigen, bis sie genug Energie hatte, um sich weit draußen im Asteroidengürtel auf die Fährte des Kometen zu setzen und mit ihm zur Sonne zu reisen. Eine fast klassisch anmutende Komposition, in der Accelerando und Ritardando, Annäherung und Entfernung, einander ablösten – ein virtuelles Weltraumballett als ›Pas de trois‹, in dem sich zwei Tänzer die Ballerina gegenseitig zuwarfen. Rünz schmunzelte. All das war die perfekte grafische Metapher für eine verwickelte Dreiecksbeziehung, eine Frau, hin- und hergerissen zwischen zwei Männern, die sich mal dem einen, mal dem anderen zuwendet, sich von ihnen mitreißen lässt und wieder löst, um letztendlich einem Dritten in die Arme zu fallen, dem Lonesome rider, einem schillernden, geheimnisvollen Fremden aus den unbekannten Weiten des Alls, dem rätselhaften Helden mit seinem leuchtenden Umhang, der sie auf seinem Pferd mitnimmt und mit ihr in die Sonne reitet.

Rünz beschloss, seiner Paartherapeutin den Link zu der DLR-Webseite zu mailen. Damit würde er sicher bei ihr punkten, und sie würde ihn in den Stunden weniger hart rannehmen.

»Warum schickt die ESA die Sonde nicht direkt zum Kometen, warum diese seltsame Ballettvorführung um Erde und Mars

»Swing-by nennt sich die Technik. Höhere Mathematik, da sitzt ein Team von ziemlich ausgebufften Missionsanalytikern im ESOC, die solche Flugbahnen ausknobeln. Und die Leute im Flight Dynamics Room achten während des Fluges drauf, dass die Sonde auf Kurs bleibt und nicht an irgendeiner Kreuzung falsch abbiegt. Mit den heutigen Raketentriebwerken und -treibstoffen bringen Sie ein Raumfahrzeug von der Größe Rosettas vielleicht noch zum Mars oder zur Venus. Wenn Sie mit so einer Nutzlast über die Jupiterbahn hinaus wollen, müssen Sie sich den Schwung woanders holen. Die Sonde fliegt ins Schwerefeld eines Planeten unseres Sonnensystems, der sie beschleunigt wie ein Hammerwerfer die Kugel und sie wieder ins All hinausschleudert, zum nächsten Hammerwerfer. Für Rosetta bedeutet das drei Vorbeiflüge an der Erde und einen am Mars

Stadelbauer startete die Animation noch einmal und drückte den Stoppbutton, als im Datumsfeld der 16. Januar 2006 erschien. Die Sonde hatte den ersten Earth Flyby hinter sich und bewegte sich zum ersten Mal jenseits des inneren Planetensystems, vielleicht eine halbe astronomische Einheit außerhalb der Marsbahn. Der Hobbyastronom schüttelte nachdenklich den Kopf.

»Das ergibt keinen Sinn, er hätte sich keine langweiligere Missionsphase aussuchen können. Der Mars Flyby steht noch bevor, die Besuche bei den Asteroiden Steins und Lutetia ebenso, und die Daten vom ersten Vorbeiflug an der Erde zeigen doch nichts, was nicht vorher schon Dutzende anderer Erdbeobachtungssatelliten fotografiert haben. Wenn Sie mich fragen, er hat nicht den Downlink, sondern den Uplink benutzt. Er hat Daten hochgeschickt, vielleicht die Software eines der Instrumente an Bord modifiziert, irgendeine Manipulation, als Vorbereitung auf eine spätere Missionsphase

Rünz fühlte sich schwach und unterzuckert, er dachte an das ranzige Snickers in seinem Rollcontainer, aber er widerstand der Versuchung. Stadelbauer schaute nachdenklich aus dem Fenster in die Winternacht.

»Aber warum hat er damit gewartet, bis Rosetta so weit draußen ist

 

 

* * *

 

 

»Herr Rünz, was meinen Sie, wie ist das für Ihre Frau, wenn Sie ihr sagen, dass Sie auf gar keinen Fall eine Katze haben wollen

Er war in Gedanken noch beim Rosetta-Ballett und hatte alle Mühe, sich zu konzentrieren.

»Warum fragen Sie sie nicht, das muss sie doch viel besser wissen

»Weil ich Sie dazu bewegen möchte, sich in dieser Frage in Ihre Frau hineinzuversetzen

»Hmm, tjaaaaa …«

Er dehnte das ›tja‹ bis zur Schmerzgrenze, um Zeit zu gewinnen.

»Ich denke, es kränkt meine Frau. Dabei mache ich mir doch nur Sorgen um unsere Ehe. Eine Katze passt einfach nicht in unsere Beziehung, sie würde irgendwie zwischen uns stehen

Eine geniale Volte. Er hatte die beiden mit ihren eigenen Waffen geschlagen.

»Hm«, sagte die Therapeutin. Sie benutzte das knappe, brummige Das-ist-nicht-das-was-ich-hören-wollte-Hm. »Könnten Sie sich vorstellen, dass diese Katze auch symbolische Bedeutung hat, vielleicht für etwas ganz anderes stehen könnte, etwas kleines, lebendiges, eine Bedrohung für Ihre Partnerschaft?«

»Sie meinen …«

Die Therapeutin riss ihre Scheinwerfer auf und strahlte ihn aufmunternd an, die Lotusblüte am Revers ihres Kostüms leuchtete wie nach einem dampfend frischen Schuss Guano-Dünger.

»Ja?«

»Sie meinen vielleicht …«

»Ja genau, sprechen Sie es doch einfach aus

Sie faltete die Hände vor dem Mund, als stünde die gemeinsame Arbeit vor dem entscheidenden Durchbruch, seine Frau legte ihm mit tränennassen Augen die Hand auf den Unterarm.

»… einen Hund?«

 

 

* * *

 

»Möchten Sie vielleicht Kaffee, Saft oder Mineralwasser

»Nein danke«, antwortete sie.

Rünz schaute Sigrid Baumann an, und sie schaute ihn an, gut eine Minute lang. Sie musste wohl oder übel in Vorleistung treten, wenn sie etwas von ihm erfahren wollte.

»Wir haben Rossis Tod zum Anlass genommen, die Vorgänge, die zu seiner Entlassung führten, noch mal genau zu rekonstruieren, und sind in diesem Zusammenhang zu einer Neubewertung seiner Fehlleistungen gekommen. Seine Nachlässigkeiten damals waren wahrscheinlich nicht seinen persönlichen Problemen zuzurechnen. Sie dienten möglicherweise zur Tarnung anderer Aktivitäten

»Geht’s noch konkreter

»Er hat Industriespionage betrieben – zumindest deuten einige Indizien darauf hin

Rünz lachte auf und schlug mit der flachen Hand auf die Tischplatte.

»Industriespionage? Welche Geheimnisse haben Sie denn schon, die man auf dem Schwarzmarkt versilbern könnte? Alles, was Sie machen, kostet doch Geld – oder gibt’s auf dem Kometen, den Ihr Satellit besucht, vielleicht Ölquellen

Sie schaute ihn völlig emotionslos an. Mit dem Vorwurf, Steuergelder zu verschwenden, setzte sie sich ganz sicher nicht zum ersten Mal auseinander.

»Sie denken, wir sind ein paar Spinner, die als Kinder zu viel Jules Verne gelesen haben und denen die Regierungen aus purer Geltungssucht sündhaft teure Spielzeuge schenken, stimmt’s

»Hätte ich nicht besser formulieren können

Sie beugte sich etwas nach vorn.

»Nicht alles jenseits Ihrer übersichtlichen kleinen Welt hier ist überflüssig, Herr Rünz

»Sie haben ja recht, ohne Raumfahrt hätten wir schließlich keine Teflonpfanne. Menschen würden ihre Partner mit angebranntem Essen vergraulen, nach dem Candle-Light-Dinner kein Sex, keine Fortpflanzung – und der Letzte macht das Licht aus

»Vielleicht ist es noch nicht bis zu Ihnen hier vorgedrungen, aber Raumfahrt bedeutet Business. Ein Wirtschaftsfaktor. Ein Katalysator für neue Technologien. Wissen Sie, wie viele Unternehmen hier in der Region mittel- oder unmittelbar von der Kooperation mit dem ESOC profitieren? Was meinen Sie, warum Ihr Arbeitgeber, das Land Hessen, zusammen mit uns und der Stadt Darmstadt hier gerade ein Gründerzentrum für das Galileo-Satellitennavigationssystem aufbaut? Über 1000 Arbeitsplätze allein in der Region, neue Dienstleistungen und Produkte, Milliardenumsätze …«

»Und da kommt so ein durchgeknallter dicker Italiener und wandert durch Ihr Sicherheitssystem wie das heiße Messer durch die Butter. Nicht gerade die beste PR für einen Technologie-Katalysator. Und der denkbar schlechteste Zeitpunkt, wenn ich an die Finanzierungskrise für Galileo denke.«

»Wir haben seit Rossis Aktivitäten unser gesamtes Sicherheitsmanagement optimiert, so etwas könnte überhaupt nicht mehr passieren

»Eben, er ist tot. Erzählen Sie mir mehr von Ihren Indizien

Baumann zögerte, sie starrte aus dem Fenster und schien zu überlegen, wie viel sie preisgeben konnte.

»Die meisten Missionen, an denen wir arbeiten, sind komplette Neuentwicklungen, was Hard- und Software angeht. Wir betreten mit unseren Aufgaben technisches Neuland, und die Ergebnisse sind nicht nur für die Raumfahrt interessant. Die ESA unterhält ein eigenes Technology Transfer Programme Office für die Akquisition neuer Ideen, die für uns interessant sind, und die Vermarktung der Innovationen, die wir selbst entwickeln. Wir haben ein europaweites Netzwerk von Technologie-Brokern aufgebaut, die sich um den schnellen Innovationstransfer kümmern, über 200 Produkte konnten wir so schon vermarkten. Rosetta ist ein hochgradig autonom operierendes System, da stecken Systemlösungen drin, die am Markt Millionen von Euro wert sind. Und Rossi hatte Zugriff auf einen Großteil dieser Informationen

Rünz wurde ungeduldig.

»Also, wie sehen Ihre Indizien aus, welche Informationen wollte er an wen verkaufen

»Er hat sich Kopien von einem komplexen und aufwändigen Echtzeit-Simulationsprogramm auf private Datenträger gezogen, zusammen mit umfangreichen Dokumentationen über die eigens entwickelte Hardware. Einen Satelliten mit einem so hohen Grad an Autonomie hatten wir noch nie entwickelt, entsprechend hoch waren die Anforderungen an eine perfekte Simulationsumgebung. Wir haben das zusammen mit einem externen Dienstleister entwickelt. Solche Techniken können in der automatisierten industriellen Produktion Einspareffekte in Milliardenhöhe bringen. An wen er das verkaufen wollte? Ich glaube, es gibt weltweit keinen großen Industrie- oder Rüstungskonzern, der kein Interesse gehabt hätte

Sie machte eine kurze Pause.

»Und deswegen bitten wir Sie um Zugriff auf alle digitalen Daten, die Sie bislang während Ihrer Ermittlungen gefunden haben. Und natürlich um schnellstmögliche Information bei zukünftigen Funden.«

Rünz schob schweigend seine Unterlippe vor und machte ein gelangweiltes Gesicht.

»Klingt alles nach ziemlich hoher krimineller Energie, wenn Sie mich fragen. Sie haben damals doch sicher meine Kollegen vom Betrugsdezernat kontaktiert

»Das ESOC-Gelände ist exterritoriales Gebiet, das sollten Sie als Kriminalist wissen. Die Zuständigkeit der deutschen Strafverfolgungsbehörden endet an unserer Eingangspforte. Unser Direktor entschied sich gegen eine Einbeziehung der deutschen Polizei, wir haben eine interne Untersuchung eingeleitet

»Scheint nicht besonders schwierig zu sein, Ihre Firmengeheimnisse rauszuschmuggeln

»Sie verstehen nicht. Wir haben hier in Darmstadt die besten Köpfe aus ganz Europa, Luft- und Raumfahrttechniker, Physiker, Astronomen, Programmierer, Nachrichtentechniker. Das sind kreative Menschen, die können wir nicht an die Kette legen, die brauchen einen gewissen Spielraum, um ihre Qualitäten zu entfalten. Das ESOC ist nicht Fort Knox

Rünz wartete ein paar Sekunden.

»Warum wurde der Start verschoben

»Geht es etwas präziser? Von welcher Mission sprechen Sie

»Sie wissen, wovon ich spreche. Der Start der Rosetta-Mission war für den 13. Januar 2003 von Kourou aus geplant. Am 15. Januar geben ESA und Arianespace auf einer Pressekonferenz in Paris bekannt, dass der Start verschoben wird. Letztendlich startet die Mission dann im März 2004. Warum?«

»Wenn Sie Presseerklärungen lesen können, warum lesen Sie sie dann nicht bis zum Ende? Die Startverschiebung hatte nichts mit der Sonde zu tun, alle Systeme liefen einwandfrei. Arianespace hatte Probleme mit der Trägerrakete, im Dezember 2002 musste eine Ariane 5 ESC-A in der Startphase gesprengt werden, es gab Probleme mit dem neuen Vulcain-2-Triebwerk. Arianespace konnte die einwandfreie Funktion des Haupttriebwerks für den folgenden Januar nicht gewährleisten. Rosetta war die bis dato teuerste und aufwändigste Mission der ESA, wir durften kein Risiko eingehen. Um den Komet Wirtanen noch zu erreichen, hätten wir spätestens im Herbst 2003 starten müssen, mit einem zusätzlichen Flyby an der Venus, aber die drohenden Temperaturschwankungen dort schienen uns zu gefährlich. Also forderte das ESA-Hauptquartier unsere Missionsanalytiker hier in Darmstadt auf, alternative Ziele für einen Start innerhalb der folgenden zwei Jahre auszuarbeiten. Von fünf Optionen schieden vier aus technischen Gründen aus. Am Ende blieb uns Tschurjumov-Gerasimenko, mit einem Jahr Startverschiebung

»So weit noch einmal die offizielle Version, vielen Dank.«

Rünz lehnte sich entspannt zurück und lächelte sie an.

»Ist das nicht wunderschön, wenn man sich mal richtig viel Zeit nimmt für eine Unterhaltung

»Hören Sie, ich habe weder Zeit noch Muße …«

»Dann erzählen Sie mir doch etwas über Philae und seinen Anker. Eine nette kleine Harpune, wenn Sie mich fragen. Sieht ganz schön gefährlich aus, das Ding, das richtige Weihnachtsgeschenk für einen Klingonen, finden Sie nicht

Er zog das Foto der Kometenharpune aus seinen Unterlagen und schob es ihr über den Schreibtisch. Zum ersten Mal seit Beginn ihres Gespräches schien etwas Bewegung in ihr Pokerface zu kommen.

»Sieht so aus, als hätten Sie irgendwo in Ihrer großartigen Space-Community eine undichte Stelle.

Wissen Sie, was ich an diesen ganzen Weltraumgeschichten so faszinierend finde? Die Vorstellung, da oben lebten noch ein paar Tausend andere Zivilisationen. Und die Möglichkeit, wir könnten eines Tages Kontakt mit ihnen aufnehmen. Ich liebe dieses ganze Science-Fiction-Zeug. Ich hätte gute Lust, noch auf Ihre Branche umzuschulen. Müsste doch eigentlich das Arbeitsamt finanzieren

Baumann starrte ihn einen Augenblick an.

»Hat Ihnen schon mal jemand etwas erzählt, was Sie lieber nicht gewusst hätten, fragte sie.

Rünz dachte an das Verhältnis seiner Frau mit dem Schattenparker aus ihrer Pilatesgruppe. Er spürte, dass sich in ihm etwas zusammenbraute, aber er hielt sich im Zaum.

 Er hatte alle Trümpfe ausgespielt, aber sie wusste nicht, dass er nichts mehr auf der Hand hatte. Wenn sie sich jetzt dumm stellte, kam er keinen Schritt weiter. Sie nahm sich einige Sekunden Auszeit und schaute aus dem Fenster. Er schob noch einen Köder nach.

»Hat Ihnen schon mal jemand erzählt, dass Rossi im Januar 2006 in Australien war? Kurztrip nach New Norcia, Wellness-Wochenende bei den Benediktinern.«

Sie starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an, dann stand sie wortlos auf und ging. Sie wusste vielleicht viel, aber nicht alles.

 

Rünz ließ ihr eine Minute Vorsprung. Als er aus dem Präsidium stürmte, fuhr sie gerade vom Parkplatz. Er hechtete zu seinem Passat und musste an der Ausfahrt einige Dutzend Berufspendler passieren lassen, bevor er ihr Richtung Innenstadt folgen konnte. Sie bog nach Westen ab, nach einigen waghalsigen Überholmanövern auf der Landskronstraße waren nur noch zwei Fahrzeuge zwischen ihnen. Er folgte ihr bis ins Europaviertel, es sah ganz danach aus, als würde sie zum ESOC zurückkehren. Enttäuscht setzte er zur Wende an, dann sah er überrascht, wie sie einige Hundert Meter vor dem Operations Center rechts Richtung Europaplatz einlenkte. Um ihr nicht direkt vor die Füße zu fahren, umkreiste er den Block entgegen dem Uhrzeigersinn und konnte gerade noch sehen, wie sie den Eingang eines der neuen Bürogebäude passierte. Er brachte sich mit seinem Wagen in eine günstige Warteposition, studierte die Firmenschilder vor dem Gebäudekomplex und rief Wedel an. Als sein Assistent abhob, hörte er Gelächter im Hintergrund.

»Hören Sie mal einen Moment auf, mit Bunter über mich zu lästern. Setzen Sie sich an Ihren Bildschirm  und erzählen Sie mir etwas über die ORION, die sitzen hier am Europaplatz. Ich warte

Wedel nahm sich fünf Minuten Zeit und klackerte auf seiner Tastatur, Rünz behielt den Eingang im Auge.

»ORION Consult, ein globaler Anbieter für Raumfahrt-, Verteidigungs- und Sicherheitstechnologien. Börsennotiertes Unternehmen, internationaler Consultant für Sicherheits- und Simulationstechnologien, Risiko- und Projektmanagement. 400 Mitarbeiter in Deutschland, erwirtschaften mit weltweit 800 Leuten über 120 Millionen Euro Jahresumsatz. Das Hauptquartier ist in Gravesend, 30 Kilometer östlich von London. Die arbeiten seit über 25 Jahren eng mit dem ESOC zusammen, sind auch international gut im Geschäft. Alcatel Space, Alenia Spazio, DLR, Galileo Industries, NASA, EUMETSAT, EADS Astrium, Bundeswehr, Royal Air Force, NATO, Lockheed Martin, KraussMaffei – alles, was Rang und Namen hat, steht bei denen auf der Kundenliste

»Stellen Sie mir über den Laden mal ein paar Informationen zusammen, ich will vor allem wissen, was die für das ESOC alles gemacht haben

Rünz beendete die Verbindung und spielte mit dem Blinkerhebel. Die Idee mit der Industriespionage klang eigentlich recht vernünftig. Er war pleite gewesen, und je nach Marktwert der von ihm auf dem Schwarzmarkt angebotenen Informationen war auch sein gewaltsamer Tod plausibel – vielleicht wollte ein Käufer verhindern, dass ein Wettbewerber in den Genuss der gleichen Daten kommt. Aber seine Telefonkontakte passten nicht dazu. Keine Großkonzerne, keine Rüstungsindustrie. Er machte sich auf den Weg nach Hause. Kulturabend.

 

 

* * *

 

 

Auf halber Höhe zwischen erstem und zweitem Obergeschoss des Landesmuseums kam ihm seine Frau entgegen.

»Bist du schon durch hier oben, fragte sie.

»Da oben ist nur Sperrmüll, die bauen gerade um

»Jetzt schon? Glaube ich nicht. Der Umbau soll doch erst in ein paar Monaten losgehen

Sie ging an ihm vorbei die Steinstufen hoch.

»Kannst mir schon glauben, da steht nur Gerümpel

Murrend drehte er um und stieg seiner Frau hinterher. Sie stand oben in der kleinen Halle, studierte konzentriert eine alte Matratze, deren Ende von einem Stahlband senkrecht nach oben gebogen wurde – ihm bereitete schon der Anblick Rückenschmerzen. Weil der Raum sonst keine visuelle Ablenkung bot, betrachtete er seine Gattin. Frauen mit Stil hatten beim Konsum zeitgenössischer abstrakter Kunst in Museen und Ausstellungen immer die gleiche Körperhaltung. Der rechte Unterarm quer unter der Brust als Stütze für den linken Ellenbogen, die Kinnspitze auf Daumen und Zeigefinger der linken Hand gestützt, um der schweren Interpretationsarbeit im Köpfchen ein statisches Fundament zu geben, das rechte Bein etwas vorgelagert, den Pumps mit erigierter Fußspitze auf den Absatz gestellt. Sehr kultiviert. Wie sie so dastand, erinnerte sie ihn an eine Szene aus einer Fernsehdokumentation, die er vor ein paar Wochen gesehen hatte, aber er konnte weder Datum noch Inhalt genau rekonstruieren.

»Glaubst du mir jetzt? Alles Plunder. Komm, lass uns was essen gehen

»Wenn man dir die Schriftrollen von Qumran gäbe, würdest du dir damit wahrscheinlich den Hintern abwischen. Das hier ist der Block Beuys. Warst du mit meinem Bruder damals eigentlich nur in der ›Goldenen Krone‹

»Nein, ab und an auch im ›Hippo‹. Schau mal, da hat doch tatsächlich einer auf den Teppichboden gepinkelt

Rünz zeigte auf einen gelben Strich, der von einem Arrangement rotlackierter Holzbohlen in der Raummitte wegführte zu zwei verrosteten Stahlskulpturen, unter deren Schweißnähten das erstarrte Schmelzgut dicke Krusten gebildet hatte. Er folgte der Farbspur bis zum Nebenraum, dort sah er hüfthohe Stapel dicker Filzmatten, rund ein mal zwei Meter groß, abgedeckt mit zentimeterstarken Kupferplatten. Frühe Erinnerungen tauchten auf, mehr Stimmungen als Bilder, das Wohnzimmer seiner Eltern, der Schwarz-Weiß-Fernseher, Reportagen über einen Mann mit Hut und ärmelloser Arbeitsweste inmitten seltsamer Skulpturen und Sammlungen von Alltagsgegenständen, Andy Warhol mit seiner Sonnenbrille und den wasserstoffblonden Haaren.

Er legte die Hand auf eine der Kupferplatten. Sofort fing er sich den Anpfiff eines Wärters ein, der sich heimtückisch hinter der Tür versteckt hatte. Rünz kalkulierte, fünf Platten, jede hatte ein Volumen von ca. 0,02 Kubikmetern, das machte bei einer Dichte von rund neun Tonnen pro Kubikmeter rund 180 Kilogramm pro Platte, insgesamt also etwa 900 Kilogramm. Bei einem geschätzten Weltmarktpreis von 1600 Euro pro Tonne stand er ohne Zweifel vor der wertvollsten Installation im Block Beuys, wenn man auf die Preise der verarbeiteten Rohmaterialien abhob. Aber der Wert von Kunstwerken errechnete sich nicht aus Rohstoffpreisen, sondern aus Bedeutungszuschreibungen – eine Sprache, die Rünz nie gelernt hatte. Er drehte sich um, sah eine alte Holzkommode in einem Glaskasten. Klappen und Schubkästen standen offen, alles war vollgestopft mit Plunder – Bestecke, Phiolen mit Chemikalien, Haushaltsgegenstände, alte Zeitungen, leere Getränkepackungen, Schokoladenreste. Die Farben waren vergilbt, über allem lag ein graubrauner Schleier. All die Installationen und Arrangements von Alltagsobjekten hatte im Laufe von 30 Jahren eine Patina geadelt, die sie gegen grundsätzliche Zweifel an ihrem künstlerischen Wert zuverlässig immunisierte.

Rünz dachte an Rossi und die ARECIBO-Nachricht. Vielleicht waren der Italiener und all die anderen SETI-Forscher auf dem falschen Weg, wenn sie nach Signalen Ausschau hielten, in denen mathematische oder naturwissenschaftliche Botschaften verschlüsselt waren. Vielleicht suchten die Außerirdischen die Verständigung nicht über Ratio und Logik, sondern über Emotion und Interpretation – also Kunst. Womöglich schickten sie binär kodierte, abstrakte Installationen, Gemälde – oder Musik! Und wie reagierten umgekehrt fremde Lebensformen, wenn sie zum ersten Mal eine Fuge aus Bachs Wohltemperiertem Klavier hörten? Welche Bedeutung würden sie nach der Exposition des Themas all den raffinierten Engführungen, Spiegelungen, Augmentationen und Diminutionen beimessen? Rünz spürte das dringende Bedürfnis, seine Idee mit dem Hobbyastronomen zu diskutieren.

Als sie später nach Hause kamen, steckte ein unfrankierter Umschlag von Stadelbauer im Briefkasten. Rünz machte es sich auf der Couch bequem, öffnete ihn und nahm ein Taschenbuch heraus.

 

Die Stimme des Herrn

von Stanislav Lem

 

Lem war polnischer Science-Fiction-Autor, so viel wusste Rünz, aber er hatte dem Genre mit all seinen pubertären Effekthaschereien nie etwas abgewinnen können. Schon der Titel deutete auf ein ermüdendes Fantasyspektakel hin. Anfangs lustlos querlesend blätterte Rünz die ersten Seiten durch – und merkte bald, dass seine Vorurteile nicht bestätigt wurden. Er vergaß seine Chuck-Norris-DVD und verbrachte die halbe Nacht mit dem Buch. Im Kern drehte sich der Plot um die Entschlüsselung einer intelligent modulierten Neutrinostrahlung aus dem All, die durch Zufall im Datenmüll eines Detektors entdeckt worden war. Der Autor hatte Struktur und Organisation des fiktiven US-amerikanischen Forscherteams deutlich angelehnt an Oppenheimers Manhattan-Projekt in den 40er-Jahren, den Kreißsaal der Atombombe. Das eigentlich Faszinierende an dem Roman aber war die kompromisslose Art, mit der Lem das Scheitern der Entschlüsselungsversuche präzise und logisch durchdeklinierte. Je hartnäckiger sich das Signal der Entzifferung entzog, umso bedeutender und übermächtiger wurde es als Projektionsfläche für die Ideale und Sehnsüchte der beteiligten Wissenschaftler. Dabei hatte der Pole keinerlei Konzessionen an das mutmaßliche Bildungsniveau einer möglichst breiten potenziellen Leserschaft gemacht, eine Strategie, die ihm heute kein Verlagslektorat mehr hätte durchgehen lassen. Seine Geschichte basierte auf einem breiten, fachübergreifenden naturwissenschaftlichen Fundament – Rünz musste zum Verständnis aus seiner Erinnerung alle Reste naturwissenschaftlicher Grundbildung zusammensuchen, die ihm von seiner gymnasialen Ausbildung noch irgendwie präsent waren. Er war fasziniert und hatte plötzlich eine Ahnung von der beruflichen Leidenschaft, die all die Mitarbeiter von ESOC, NASA und den anderen Weltraumagenturen bei ihrer Arbeit umtrieb. Wenn Stadelbauer so weitermachte, hatte er bald ein neues Vereinsmitglied. Sein Account Management war über jeden Zweifel erhaben – und sein Zielkunde hieß Karl Rünz.

 

 

* * *

 

 

Noch eine halbe Stunde bis zum Mittagessen mit Hoven und dem Staatssekretär. Wedel hatte ihm den E-Mail-Eingang mit PDF-Dateien gefüllt, die er von den Internetseiten der ORION Consult heruntergeladen hatte. Quartals- und Jahresberichte für die Investoren, Kundenlisten, Referenzprojekte, den Corporate Governance Codex, Organigramme der gesellschaftsrechtlichen Struktur. Die Arbeitsfelder des Unternehmens hatten kryptische Bezeichnungen wie ›Capability Acquisition‹, ›Human Performance Improvement‹ und ›Technology Support Services‹. Ein Laden ganz nach Hovens Geschmack, vielleicht konnte Rünz seinen Vorgesetzten überreden, sich dort zu bewerben.

Den gesamten Mailanhang speicherte er auf seiner Festplatte und startete auf gut Glück einen Textsuchlauf mit dem Begriff ›Rosetta‹. Das Ergebnis: ein gutes Dutzend Pressemitteilungen und Fachbeiträge. Die ORION Consult schien europäischer Marktführer zu sein, was Simulationssoftware für Weltraummissionen anging. Sie programmierten im Auftrag des ESOC oder der NASA komplette digitale Repräsentationen von Satelliten, mit denen die Bodenmannschaften trainieren und alle Eventualitäten und Notfälle durchspielen konnten. Für die ESA-Missionen Mars Express und Rosetta, die beide auf der gleichen technischen Plattform entstanden, hatte ORION ein Simulationspaket entwickelt und implementiert, mit großem Erfolg, wenn man der Marketingabteilung des Unternehmens glauben mochte. Aber wem mochte man noch glauben?

 

 

* * *

 

 

Wenn in Frankfurt irgendein neuer Gastro-Trend die Banker in ihren Mittagspausen aus den Bürotürmen lockte, dann kam das Phänomen stets mit höchstens zehn oder 15 Jahren Verspätung auch in Darmstadt an – allerdings in einer auf Datterichniveau heruntergebrochenen Spar- und Discountversion. Wahrscheinlich würde irgendwann in den nächsten Jahren ein bauernschlauer Heiner im Souterrain seines Reihenhauses in der Heimstättensiedlung eine jemenitische Teestube eröffnen, in der gestresste T-Systems-Programmierer Kath-Blätter kauten.

Das neue Sushi-Restaurant in der Rheinstraße war allerdings nicht nur weit jenseits von Hovens Niveau, die Inneneinrichtung verursachte selbst Rünz, den Geschmacks- und Stilfragen selten beschäftigten, ästhetisches Magengrummeln. Sperrholzplatten mit billigstem Holzdekor, die Kanten lieblos mit Holzleisten zugenagelt, ein paar Reispapierfenster, Karikaturen japanischer Stilelemente. Eine Toilettenanlage in der New Yorker U-Bahn konnte kaum ungemütlicher sein. Warum hatte er Rünz und den Staatssekretär nicht standesgemäß in den Orangeriegarten eingeladen? Der Kommissar starrte minutenlang auf das Trichinen- und Nematodendefilée, ein endloser Strom von rohen Fischstückchen, Muscheln, Krabben, gerösteter Fischhaut und Tintenfischringen, in kleinen Schälchen auf einem Förderband, wie die Landungsboote der Amerikaner am Omaha Beach, präpariert für den vernichtenden Schlag auf das menschliche Verdauungssystem. Dann hatte er die Lösung. Hoven hielt diesen Laden für authentisch. Er war wahrscheinlich all der gestylten Frankfurter Sushi-Bars überdrüssig, in denen von der Speisekarte bis zur Klospülung jedes Detail von subtilen Anspielungen auf japanische Ess- und Lebenskultur geprägt war, Läden, die japanischer waren als Japan, ersonnen und entworfen von polyglotten jungen Innenarchitekten mit verwuschelten Haaren und Brillen im 16:9-Format. Aber das hier, das erschien Hoven wohl in all seiner Schäbigkeit echt.

Den Ministerialbeamten schien das Interieur nicht zu interessieren, er hatte das All-you-can-eat-Menü zu 8,90 Euro geordert und lud sich den Inhalt einer Schale nach der anderen auf den Teller. In den feisten Wangen des Pyknikers arbeiteten mächtige Kaumuskeln, er machte alles in allem den Eindruck eines Mannes, der einige Evolutionsstufen übersprungen hatte. Wenn er zufällig auf eine Meeresfrucht traf, mit der er nicht recht umzugehen wusste, schob er sie zur Seite. So hatte er bald einen hübschen Dekorkranz verschmähter Muschel- und Krabbentiere am Tellerrand.

»Ihr Chef hat mir von Ihrem Fall erzählt, der tote ESOC-Mitarbeiter. Tut mir leid wegen Ihrer Kollegin

»Ach ja?«

Wurden laufende Ermittlungen jetzt mit dem Wirtschaftsministerium besprochen? Hoven schaltete sich ein.

»Das Land Hessen und die Stadt Darmstadt sind äußerst interessiert an allen Aktivitäten rund um das ESOC. Die Stadt versteht sich als Hotspot im Bereich Research & Development und supported konsequent die Companies in dieser Line of Business. Darmstadt ist hervorragend aufgestellt im Wettbewerb um Unternehmen, die Cutting-Edge Technologies entwickeln

Der Mann ausWiesbaden versuchte mit vollem Mund zu sprechen.

»Nehmen Fie fum Beifpiel daf neue Galileo Gründerfentrum. Daf Land Heffen – Ihr Arbeitbeber – fteckt fuwammen mit ber European Fpafe Awenfy 1,1 Millionen Euro in diewew Projekf. Da hängen über fauwend Hightef-Jobf im ganfn Rhein-Main-Gebiet dran. Daf Ding wird ein Inka-, ein Inkobu-, ein Inku-«

»Ein Inkubator«, half Hoven. »Ein Technologie-Inkubator. Die EU verspricht sich einen Added Value von über 100 Milliarden Euro von Galileo, bei vier Milliarden Euro Kosten. Das nenne ich einen Return on Investment. Und die Rhein-Main-Region will sich ein ordentliches Stück vom Kuchen abschneiden

»Die Platte hat mir Sigrid Baumann vom ESOC schon vorgespielt, ist bei mir ganz oben in den Charts«, sagte Rünz. »Tut gut, auch mit Ihnen mal drüber zu reden

»Was ich meine ist, und da sind wir mit der Landesregierung und dem Magistrat ganz und gar committed – lassen Sie es mich mal bildlich erläutern. Wenn verschiedene Wege nach Rom führen, dann muss man ja nicht unbedingt den nehmen, auf dem man die meisten Passanten mit Dreck bespritzt

»Aber nach Rom wollen wir schon kommen, oder, beharrte Rünz.

Der Staatssekretär nutzte den leeren Mund, um vor dem nächsten Bissen ein Statement abzugeben. Seine Mundpartie glänzte, er zeigte auf Rünz, um seiner Meinung Nachdruck zu verleihen, von seiner Fingerspitze tropfte Saft auf die Theke.

»Und das gilt gerade jetzt, das ganze Projekt steckt in der Krise, und für Darmstadt steht einiges auf dem Spiel

Rünz angelte sich ein Schälchen Reis von der Fischautobahn.

»Kritische Phase? Bei der Eröffnung des ›Centrums für Satellitennavigation‹ war doch noch alles eitel Sonnenschein. Unser Ministerpräsident hat gegrinst wie ein Froschkönig, der von Kate Moss wachgeküsst wird

»Kritische Phase ist vielleicht etwas übertrieben«, wiegelte Hoven ab und tupfte sich kultiviert die Mundwinkel mit seiner Serviette. »Wie bei allen Projekten dieser Größenordnung muss das Scheduling ständig upgedatet, das Budget an die aktuelle Entwicklung adaptiert werden. Außerdem existiert verstärkter Abstimmungsbedarf im Betreiberkonsortium. Alles im grünen Bereich.«

»Sie meinen, die Kosten laufen aus dem Ruder, die rechte Hand weiß nicht, was die linke tut, und die Zeitpläne sind Makulatur

Hoven legte sein Besteck zur Seite, faltete die Hände auf der Theke, legte den Kopf etwas schief und schaute Rünz tadelnd an wie der Dorfschullehrer den Klassenkasper.

»Herr Rünz, die Message ist – und da geht der Herr Staatssekretär völlig d’accord mit mir –, wir sind alle erwachsene Menschen und tragen Verantwortung für unser Tun, und das gilt auch für die weitreichenderen Folgen unseres Handelns. Ich fordere Sie einfach nur auf, den Blick über den Tellerrand zu richten

An Regionen jenseits des Tellerrandes schien der Mann aus dem Ministerium wenig interessiert. Er hatte Hovens kleinen Appell genutzt, um sich die Backentaschen vollzuschaufeln wie ein Hamster vor dem Winterschlaf.

»Voll d’accord, ganf genau!«

 

 

* * *

 

 

Rünz gab dem verstaubten Besäumschlitten der Formatkreissäge einen leichten Schubs, das Aluminiumprofil bewegte sich auf der Rollenführung lautlos und sanft bis zum Anschlag. Die Altendorf hatte weder ein schwenkbares Sägeblatt noch ein Vorritzaggregat, aber sie hatte in über 30 Einsatzjahren nichts an Präzision und Zuverlässigkeit eingebüßt. Was nicht dran ist, kann nicht kaputtgehen. Sein Vater hatte sich den großen technischen Innovationen im Schreinerhandwerk stets verwehrt, die Arbeit am Zeichenbrett der CAD-Konstruktion am Bildschirm vorgezogen, computergesteuerte CNC-Maschinen waren ihm zuwider gewesen. Rünz ging durch den Maschinenraum zur riesigen Furnierpresse, die ihn als Kind am meisten fasziniert hatte. Im Alter von acht Jahren hatte er mit ihrer Hilfe im Rahmen eines kleinen Jugend-forscht-Projektes nachgewiesen, dass man den Körper einer Feldmaus auf über einen Quadratmeter Fläche verteilen konnte, wenn man ihn zwischen zwei großen Metallplatten ausreichend großem Druck aussetzte. Das Gehäuse der Hydraulikpumpe war geöffnet, sein Vater hatte wohl Wartungsarbeiten durchgeführt, kurz vor seinem Verkehrsunfall.

Irgendwann würde Rünz entscheiden müssen, ob er die Werkstatt vermietete oder verkaufte. Der Maschinenpark war nicht auf dem neuesten Stand, aber gut in Schuss, Abricht- und Dickenhobel, Tischfräse, Furnierpresse und Kreissäge würden vielleicht 15 000 bis 20 000 Euro abwerfen, die Handmaschinen und -werkzeuge noch mal 3000 bis 4000. Im Holzlager schlummerten noch einige Preziosen, hochwertige Sägefurniere von ostindischem Palisander, Riftbretter von Schweizer Birnbaum und Walnuss. Wenn er die letzten Überreste seiner Vergangenheit über eBay entsorgte, würde es vielleicht für einen Lexus SC reichen, und er konnte auf dem Parkplatz des Präsidiums Hoven eine lange Nase machen.

Durch die Schwingtür betrat er den Bankraum, in dem er die meisten Nachmittage seiner Schulzeit verbracht hatte. Seine kleine Junior-Hobelbank stand immer noch an ihrem Platz, übersäht mit unzähligen Leim- und Farbklecksen und den Spuren unsachgemäß benutzter Stemmeisen und Sägeblätter. Er öffnete die Kipplade. Alles war an seinem Platz – die alten Stechbeitel, die Klingen vom hundertfachen Nachschärfen stark verkürzt, Schrupp- und Putzhobel, Raubank, Klüpfel, Fein- und Gestellsäge. Der Altgeselle Friedrich hatte ihn hier eingewiesen in die Geheimnisse der klassischen Holzverbindungen, Schwalbenschwanz- und Fingerzinken, Schlitz und Zapfen, Überblattung und Gratnut. Mit Wehmut dachte er zurück an die ersten handwerklichen Erfolge, den Stolz und die tiefe Befriedigung, als er mit Werkzeug und Material so selbstverständlich und präzise umgehen konnte wie ein junger Orchestermusiker mit seinem Instrument. Rünz nahm eine Feinsäge aus der Lade und prüfte Schärfe und Schränkung der Zähne zwischen Daumen und Zeigefinger. Der alte Friedrich hatte Kinder gemocht.

Warum sollte er sich etwas vormachen. Er war nicht gekommen, um den Verkauf der Werkstatt vorzubereiten, die laufenden Kosten für das kleine Anwesen waren nicht der Rede wert, er stand also nicht unter Zeitdruck. Es ging um etwas anderes. Die Diagnose hatte ihn wie nichts zuvor mit seiner Vergänglichkeit konfrontiert. Jetzt hatte er das Bedürfnis, seinem Leben rückwirkend irgendeinen Sinn zu geben, einen roten Faden zu finden, der dieser Dauerbaustelle seiner Existenz eine tiefere Bedeutung verlieh. Der Tod war schon sinnlos, als Abschluss eines sinnlosen Lebens war er schlicht inakzeptabel.

 

 

* * *

 

 

Menschen in solchen Stimmungslagen hatten grundsätzlich zwei Optionen – die Couch eines Analytikers oder den Barhocker an einer Theke. In friedlicher Eintracht saß Rünz mit Brecker schweigend im ›Godot‹ in der Bessunger Straße. Er hatte seinem Schwager den Businessplan für seine Recharger-Vermarktung verhagelt, Brecker hatte mit der NYPD-Nummer auf dem Parkhausdeck zurückgeschlagen – quid pro quo. Die 15 Striche auf den Rändern ihrer Bierfilze hatte der Wirt so akkurat aufgemalt wie die Genfer Uhrmacher die Minutenstriche auf Hovens Patrimoni. Sie hatten leidenschaftlich diskutiert über die Neuentwicklungen auf dem Markt der Handfeuerwaffen, dann, wie eine lästige Pflicht, deren beider längst überdrüssig waren, hatten sie die körperlichen Attribute der weiblichen Neuzugänge im Präsidium durchgesprochen. Um die Konversation nicht vollends einschlafen zu lassen, begann Rünz, seinem Schwager die geostrategische Weltlage auseinanderzusetzen. Er spannte, seinem Alkoholpegel entsprechend, einen weiten Bogen vom Sinn und Unsinn des dreigliedrigen deutschen Schulsystems über die Nachteile makrobiotischer Frühstückscerealien bis zur aktuellen Zinspolitik der US-Notenbanken. Ohne jede Rücksicht auf den Kontext baute er einige von Hovens Lieblingsanglizismen in sein Referat ein, er platzierte sie einfach da, wo sie sich einigermaßen harmonisch in die Satzmelodie einfügten.

Die Mühe nutzte nichts, Breckers Aufmerksamkeit wurde zusehends von zwei Damen absorbiert, die seit einigen Minuten neben ihnen auf ihren Barhockern saßen und Cocktails tranken. Rünz spähte hinüber, ohne seinen Vortrag zu unterbrechen – beste Freundinnen, Mitte 40, beide in sandfarbenen Woll-Cardigans, die sie lasziv von der Schulter rutschen ließen, breiten Lackleder-Gürteln und schwarzen Slimpants. So stellte sich Rünz die typische ›Brigitte Woman‹-Abonnentin vor. Wahrscheinlich benutzten sie die ›Dove pro-age‹-Pflegeserie, ihre Kinder waren aus dem Gröbsten raus, ihre Ehemänner vögelten ihre Sekretärinnen, und sie wollten jetzt noch mal so richtig was erleben. Die beiden schickten ohne Unterlass Sprecht-uns-jetzt-bitte-nicht-an-denn-das-haben-wir-ja-nun-überhaupt-nicht-nötig-Blicke zu den beiden Polizisten. Brecker begann zu schnaufen und scharrte mit dem Fuß auf dem Boden wie ein spanischer Kampfstier, den die Picadores mit ihren Lanzen in Stimmung gebracht hatten. Rünz ahnte Unheil, seine Analyse kam ins Stocken, er musste sich zusammenreißen, um wenigstens ein halbwegs plausibles Fazit zusammenzubringen, faselte etwas von der Rettung des Universums durch moderate Steuersenkungen für gemeinschaftlich veranlagte nichteheliche Lebensgemeinschaften. Dann drehte er sich etwas weg von seinem Schwager und begann, konzentriert seinen Bierfilz zu studieren. Was immer auch geschehen mochte in den nächsten Minuten, er beschloss, einfach nicht involviert zu sein.

Brecker stand auf und schwankte auf die Frauen zu, der Wirt stellte voll der Vorfreude die Musik etwas leiser, Rünz vertiefte sich in seinen Bierfilz, als hätte er eine alte Schatzkarte in der Hand. Die Weibchen suchten ihre Begeisterung über Breckers Annäherung mit gleichgültigen Gesichtsausdrücken zu kaschieren, strichen sich kokett ihre Haare hinter die Öhrchen und warfen sich ins Hohlkreuz, dem paarungswilligen Männchen ihre vom Nachwuchs schlaff gesaugten Milchdrüsen zur Stimulanz darzubieten. Brecker stellte sich zwischen die Damen, legte beiden je eine seiner bratpfannengroßen Pratzen auf die Schulter und zog sie an seine Heldenbrust.

»NA IHR BEIDEN SÜSSEN, IHR HABT EURE BESTEN JAHRE ABER AUCH SCHON HINTER EUCH, ODER

Rünz hörte eine unendlich lange Sekunde lang gar nichts, dann klatschte es zweimal kurz hintereinander, und er hörte, wie seinem Schwager zwei Caipirinhas von Ohrläppchen, Kinn- und Nasenspitze heruntertropften. »AAAARGHHH«, grunzte Brecker und leckte sich mit seiner Ochsenzunge Cachaça und Limettensaft von der Mundpartie. Die Banderillas steckten tief im Nacken des Stiers, er kam in Fahrt.

»Superlecker, Mädels. Jetzt mal abgesehen vom Alter, ihr beiden, wie ist das eigentlich als Frau, wenn man nicht ganz so attraktiv ist? Ich stell mir das ziemlich deprimierend vor

Rünz studierte inzwischen konzentriert die Speisekarte, er hatte mit alldem ja so was von überhaupt nichts zu tun. Das Nächste, was er hörte, war ein helles, heiseres ›Hoooooo‹. Er schaute aus den Augenwinkeln hinüber, eine der Damen hatte ihre Hand in Breckers Schritt zur Faust geballt, und welche kostbaren kleinen Organe sie dort nach Belieben zusammenpresste, war unschwer zu erahnen. Schon vom Zuschauen blieb Rünz die Luft weg. Breckers nasser, gedunsener Kopf schien fast zu platzen, er stand regungslos schweigend mit schreckgeweiteten Augen und atmete schnell und flach. Sie hatte ihn mit einer Hand völlig unter Kontrolle, er hätte Ballett getanzt, wenn sie darauf bestanden hätte.

»Ist das Ihr Haustier, fragte sie.

Rünz brauchte einen Moment, um zu verstehen – sie hatte tatsächlich ihn angesprochen, einen völlig Unbeteiligten!

»Ist mir zugelaufen«, sagte er. »Der will nur spielen

 

 

* * *

Es schneite. Rünz hatte Hovens Flexibilisierungsangebot dankbar angenommen und spontan einen Tag Heimarbeit angemeldet, um seinen Rausch auszuschlafen. Warum wollte der Chef ihn unbedingt am Abend doch noch mal im Präsidium sehen?

Die Chauffeure auf dem Parkplatz lehnten mit Schals und Handschuhen an den Kotflügeln der gepanzerten Limousinen, rauchten und machten sich über die Marotten der Entscheidungsträger lustig, die sie Tag für Tag durch die Republik fuhren. Zwei aktuelle S-Klasse-Modelle, zwei 7er BMWs und der Phaeton eines Funktionärs mit intellektuellem Anspruch, alle Schutzklasse B6/B7, mit zentimeterdicken Scheiben, Spezialbereifung und diskret verarbeiteter Panzerung, die nur der Fachmann auf den ersten Blick erkannte.

Hovens Stimme hatte am Telefon die gewohnte Souveränität gefehlt, er hatte angespannt und nervös gewirkt, Rünz fast angefleht, sofort ins Präsidium zu kommen. Brecker empfing ihn schon am Eingang.

»Hör zu, Karl, ich …«

»Wo sitzt die Truppe, unterbrach ihn Rünz.

»Mit Hoven im großen Besprechungsraum. Aber wir müssen unbedingt vorher …«

»Wer sind die ganzen VIPs mit den Stretchlimos

Rünz war in Kampfstimmung. Er legte eine forsche Gangart durch die Flure ein, Brecker hastete hinter ihm her und kam kaum zu Wort.

»Keine Ahnung, irgendwelche hohen Tiere, Wiesbaden, Karlsruhe, Pullach. Hör zu, wir müssen unbedingt …«

»Was glotzt ihr alle so?, fauchte Rünz die Kollegen an, die in den Türrahmen standen und das seltsame Paar anstarrten, Don Quijote und Sancho Panza auf dem Weg zu den Windmühlen. Noch wenige Meter bis zur Tür.

»Ich muss dir vorher etwas sagen, es geht um Yvonne. Warst du gestern Abend noch bei ihr, hechelte Brecker.

»Ja, warum? Sie hat die Tarife erhöht. Bahn, Post, Telekom – alle erhöhen mal die Tarife. Willst du mich anpumpen? Lass einfach die Extras weg

»Hör auf und bleib doch mal einen Moment stehen, sie ist …«

Weiter kam Brecker nicht, Rünz stand schon im Besprechungsraum und zog die Tür hinter sich zu.

 

Die spanische Inquisition. Drei Männer und zwei Frauen saßen im Halbrund um einen leeren Stuhl herum, der für den Delinquenten reserviert war. Rünz spekulierte einen Augenblick, ob Hoven eine Art Personal-TÜV eingeführt hatte, um die Mitarbeiter des gehobenen und höheren Polizeivollzugsdienstes regelmäßig auf ihre Diensttauglichkeit zu testen. Er grüßte in die Runde, überblickte dabei schnell die Gesichter, konnte außer Hoven und der zuständigen Staatsanwältin Simone Behrens keinen Bekannten entdecken. Alle machten den Eindruck von Menschen, die gewohnt waren, dass Subalterne ihre Anweisungen befolgten.

Hoven stellte ihm die Runde vor, fummelte dabei nervös an seinem Montblanc-Stift. Rünz vergaß die Namen sofort wieder, merkte sich nur die Positionen – Abteilung Innere Sicherheit der Generalbundesanwaltschaft, Abteilung Materieller Geheimschutz des Militärischen Abschirmdienstes, der Leiter irgendeiner Forschungsgesellschaft in Bad Godesberg, Direktorin Operative Aufklärung des Bundesnachrichtendienstes, Ermittlungsrichter des Bundesgerichtshofes. Und die stellvertretende Generalbundesanwältin. Die Einzige, die Rünz nicht zur Begrüßung zunickte. Sie studierte konzentriert ihre Unterlagen, bis Hoven mit seiner Vorstellungsrunde durch war. Dann musterte sie Rünz über den oberen Rand ihrer Lesebrille hinweg. Sie war um die 60, hatte glatte, schulterlange graue Haare und einen leuchtend roten Lippenstift aufgetragen. Rünz konnte sie sich gut als Domina in einer Seniorenresidenz vorstellen. Er senkte den Kopf ein wenig und imitierte ihren Blick, aber sie schien immun gegen derlei kleine Späße.

»Herr Rünz, ich nehme an, ich muss ihnen keine Nachhilfestunde über das Evokationsrecht der Generalbundesanwaltschaft halten. Die Tötungsdelikte an Charlotte de Tailly, Tommaso Rossi und Yvonne Kleinert gelten mit sofortiger Wirkung als gekorene Staatsschutzdelikte im Sinne des § 120 Abs. 2 Gerichtsverfassungsgesetz. Die Leitung der Ermittlungsverfahren wird gebündelt und obliegt ab jetzt Herrn Klöber vom Bundesgerichtshof

Rünz brach der Schweiß aus, er hatte Mühe, sich zu kontrollieren. Warum Yvonne? Er war am Vorabend ihr letzter Kunde gewesen. Hatte er Spuren hinterlassen? Hatte sie irgendwo eine Telefonkladde mit seiner Nummer? Wenn ja, dann hatte sie Brecker und ihm Pseudonyme gegeben, ›der Stier‹ und ›der Grantler‹ oder so, aber die Nummern würden sie verraten. Habichs Team würde in ihrer Wohnung Fingerabdrücke und genetische Spuren von 50 oder 60 Männern finden, aber niemand würde Rünz um eine Vergleichsprobe bitten, wenn keine Anhaltspunkte für eine Verbindung vorlagen. Und Brecker würde den Mund halten, sie waren schließlich Buddys. Mit etwas Glück wurde sein kleines Geheimnis nicht gelüftet. Wer hatte sie umgebracht? Und warum interessierte sich die Generalbundesanwaltschaft für einen Mord an einer Prostituierten? Welche Verbindung stellten sie zu den Morden an Rossi und Charli her? Der einzige Link war er. Er versuchte, seinen Besuch bei ihr genau zu rekonstruieren. Sie war guter Laune gewesen, keine Anzeichen von Angst oder innerer Unruhe. Sie hatte die Tür ihrer Praxis hinter ihm abgeschlossen, er hatte das Haus verlassen und war in sein Auto gestiegen. Beim Ausparken hatte er mehrmals vor- und zurücksetzen müssen, weil ihn irgendein Idiot zugeparkt hatte mit einem schwarzen, kantigen G-Klasse-Merce…

Hoven intervenierte, bevor er aufspringen konnte.

»Nur zu Ihrer Information, Herr Rünz – Ihre Frau steht seit zwei Stunden unter Polizeischutz

Die verdammte Telefonkladde. Und Stadelbauer? Getreu seiner Aufschiebe-Doktrin hatte Rünz noch keinerlei Aufzeichnungen oder Protokolle über Kontakte mit dem Hobbyastronomen angefertigt. Wenn er jetzt um Schutz für ihn bat, versiegte seine letzte Informationsquelle. Herr Klöber unterbrach seinen Gedankengang. Der Mann vom Bundesgerichtshof sah so aus, wie er hieß, ein untersetzter kleiner Wadenbeißer mit Fistelstimme und einem spießigen Schnauzer, der die alte OP-Narbe einer Hasenscharte kaschierte.

»Herr Rünz, im Sinne einer sofortigen Aufnahme der Ermittlungstätigkeit durch den Bundesgerichtshof ist es zwingend erforderlich, uns sämtliche Dokumente, Ermittlungsakten, Protokolle, Aufnahmen und Untersuchungsergebnisse zur Verfügung zu stellen, die Sie im Rahmen Ihrer Fallbearbeitung gesammelt haben. Damit wir uns verstehen, ich spreche von den Originalen, nicht von Kopien. Könnten Sie das bitte heute noch für uns in die Wege leiten

Ein als Bitte verkleideter Befehl. Rünz brummelte und grunzte. Der Mann von der Forschungsgesellschaft hatte bislang kein Wort gesagt und schien nicht die Absicht zu haben, sein Schweigen zu brechen. Er gab Klöber lediglich ein Handzeichen, wie um ihn an etwas zu erinnern. Klöber apportierte.

»Diese Aufforderung erstreckt sich auch und insbesondere auf jegliche Form digitaler Daten, die Sie im Lauf Ihrer bisherigen Ermittlungen sichergestellt haben. Des Weiteren erwarte ich eine vollständige und umfassende Aufstellung aller Personen, Dienststellen und Institutionen, die Zugang zu diesen Daten hatten oder sie per Mail oder auf Datenträgern erhalten oder Ihnen zugesendet haben

Rünz starrte den Wissenschaftler an, eine hagere Bohnenstange mit völlig kahlem Schädel und walserschen, buschigen Augenbrauen. Der Mann schaute wieder mit routiniertem Altherrengestus aus dem Fenster, aber irgendetwas an dieser Zurschaustellung überlegener Seniorität stimmte nicht. Dieser Mann versuchte, eine innere Unruhe zu verbergen, und Rünz hätte jeden Betrag darauf gewettet, dass es dabei um professionelle Begeisterung ging, um unstillbare Neugier auf irgendetwas, das mit diesen Daten zusammenhing.

Er nahm sich zusammen und ließ sich von der Runde Instruktionen geben für die Details der Fallübergabe. Reumütig und schüchtern saß er da, wie ein Pennäler vor dem Schuldirektorat. Aber tief im Herzen des geknechteten südhessischen Polizeihauptkommissars glomm sie, die Glut des Widerstandes, wie ein kleines ewiges Feuer. Er würde es ihnen allen noch zeigen.

 

 

* * *

 

 

Nicht bei Vereinskollegen, nicht bei engen Freunden oder Verwandten, nicht in Darmstadt. Klare telefonische Anweisungen, und wenn Stadelbauer sich daran hielt und ein paar Tage untertauchte, dann war er erst mal aus dem Schussfeld. Den IT-Nerd konnte er nicht erreichen, und mit seiner Frau würde er später sprechen. Prioritäten setzen. Alles zu seiner Zeit. Wedel stand in Rünz’ Büro und schaute ihn mit den neugierigen Augen eines Kindes an.

»Ihre Frau hat schon dreimal angerufen, sie hat die Kollegen vor ihrem Haus bemerkt

Rünz reagierte nicht.

»Was wollten die von Ihnen, Chef

Rünz musste sich etwas Zeit verschaffen, eine Pause zum Nachdenken.

»Bei Bad Godesberg muss es irgendeine Forschungsgesellschaft geben, FGAM oder so ähnlich, keine Ahnung, wo das liegt und was das ist, googeln Sie das bitte mal nach

Wedel verschwand im Nebenzimmer und klackerte ein paar Sekunden auf seiner Tastatur.

»FGAN heißt der Verein, Forschungsgesellschaft für angewandte Naturwissenschaften. Die machen Grundlagenforschung mit Schwerpunkt auf wehrtechnisch relevanten Themen, oft in Kooperation mit Hochschulen, Industrie und anderen Forschungseinrichtungen. Eigentlich sind das drei Institute unter einem Dach. Wachtberg ist korrekt, liegt südlich von Bonn, da arbeiten sie an Hochfrequenzphysik, Radartechnik und Informationssystemen. Und in Ettlingen gibt es noch ein Institut für Optronik und Mustererkennung. Der ganze Laden soll in Zukunft in die Fraunhofer-Gesellschaft integriert werden. Fraunhofer – sitzen die nicht auch hier in Darmstadt? Wie hieß denn der Kerl

»Keine Ahnung, Bormann oder so ähnlich.«

»Dr. rer. nat. Ralf Bormann, ist der stellvertretende Vorsitzende des Vereins, was wollte der denn von Ihnen

»Gar nichts, hat einfach nur schweigend dagesessen und sich angehört, wie die mir meinen Fall wegnehmen. Ist scharf auf Rossis Daten

Ein paar Sekunden hörte Rünz nur Klackern aus dem Nebenraum, dann fing Wedel fast unhörbar an zu murmeln, wie in ein Selbstgespräch versunken.

»Was ist los mit Ihnen, haben die Lilien einen neuen Trainer

»Die kooperieren mit der ESA. Außerdem forschen die an einem deutschen Satellitenaufklärungssystem, SAR-Lupe heißt das Ding. Wussten Sie, dass wir uns so was leisten

Rünz reagierte nicht auf die Frage. Wedel kam aus dem Nebenzimmer und fand seinen Vorgesetzten abwesend aus dem Fenster starrend.

»Sind wir noch im Spiel, Chef

»Warum fragen Sie

»Bunter ist im Moment in der Kasinostraße und spricht mit einem Gebrauchtwagenhändler. Die Kollegen von den Eigentumsdelikten sind in der Fahndungsliste auf Stavenkow gestoßen. Der Russe hat vor ein paar Tagen bei dem Autohändler eine Probefahrt mit einem alten G-Klasse-Mercedes angetreten. Schwarz, langer Radstand, verchromter Kuhfänger. Er hat das Auto nicht zurückgebracht

 

 

* * *

 

 

Viermal drückte er vergeblich den Klingelknopf, dann ließ er den Finger einfach drauf, bis sein Schwager öffnete. Brecker hatte einen hochroten glänzenden Schädel, sein feister Leib steckte in einem royalblauen Satin-Morgenmantel, auf dem in burgundroter Fraktur-Typo seine Initialen eingestickt waren. Sir Klaus vom zweiten Revier.

»Verdammt, was willst du um die Uhrzeit noch hier, du solltest mal zu Hause vorbeischauen. Karin sagt, ihr habt sie unter Polizeischutz gestellt und keiner würde ihr was erklären

Brecker senkte die Stimme.

»Hat das was mit dem Mord an …«

Hinter ihm kam Schannin aus dem Schlafzimmer, in ein Handtuch gewickelt, baute sich im Flur auf und steckte sich eine Marlboro an. Sie wirkte unbefriedigt.

»Ich brauche eine von deinen Stupsnasen. Eine mit ordentlich bums«, sagte Rünz und zwinkerte Schannin zu.

»Willst du jetzt noch auf den Schießstand, oder was

»Nein, ein kleiner Einsatz, nichts Besonderes.«

»Ach, und was ist das für ein kleiner Einsatz, für den deine Dienstwaffe nicht ausreicht? Von deiner Ruger mal ganz zu schweigen

»Hör zu, ich kann unmöglich ins Präsidium, und meine Waffen sind in der Wohnung. Wenn ich jetzt nach Hause fahre und meine Ruger oder meinen LadySmith hole, muss ich deine Schwester mit fadenscheinigen Erklärungen zutexten, dafür fehlt mir im Moment die innere Ruhe. Meine Work-Life-Balance ist am Arsch, verstehst du, was ich meine? Kann ich jetzt reinkommen

Rünz folgte Brecker durch den Flur, Schannin starrte ihn regungslos an, rauchte und ließ Kaugummiblasen knallen. Brecker fummelte am Doppelbartschloss seines Waffentresors herum, er schien noch ziemlich erhitzt und erregt.

»Du wirst das kleine Löchlein doch finden? Wieder einsatzfähig untenrum – oder hast du bleibende Schäden von deinem kleinen Flirt im ›Godot‹

»Halt bloß den Mund. Wenn du mit einer meiner Kurzwaffen Scheiße baust und ich meinen Waffenschein los bin, dann hast du einen Feind in der Familie. Was waren das für hohe Tiere im Präsidium, was haben die dir erzählt? Wirst du befördert

»Ja, mit einem Arschtritt. Jetzt piens hier nicht rum, was hast du im Angebot

»Ich kann dir die Walther Desert Eagle Mark XIX in 357er Magnum anbieten, da kriegen die meisten vom Hinschauen schon den nötigen Respekt. Wenn du es lieber klassisch magst, dann empfehle ich dir diesen Singel Action Army Colt. Du könntest dir von der Reiterstaffel ein Pferd leihen und stilecht wie General Custer am Little Bighorn …«

»Was ist das da unten für ein Kasten

Rünz zeigte auf einen signalgelben kleinen Hartschalenkoffer mit der Aufschrift ›Emergency Survival Tool‹.

»Vergiss den, ein brandneuer Überlebenskoffer von Smith & Wesson, falls mir beim Campingurlaub am Neckar mal ein Kodiak ins Vorzelt läuft

»Genau das, was ich brauche. Mach den doch mal auf

Widerwillig zog Brecker die Box aus dem Stahlschrank, stellte sie auf den Küchentisch und öffnete den Deckel. Zwei Thermoschutzfolien, Signalspiegel, Faltsäge, Trillerpfeife, Kompass, Messer, Sturmfeuerzeug – Survival-Kitsch im Hartschaumblock, rund um einen unglaublich mächtigen kurzläufigen Revolver mit Kunststoffgriffschalen in Kofferfarbe.

»Heilige Muttergottes, dagegen wirkt ja meine Ruger wie ein Reizgassprüher. Hast du das Ding schon getestet

Rünz nahm die Waffe aus dem Koffer.

»Noch keine Zeit. 2000 Gramm Stainless Steel von Smith & Wesson in 500er Magnum, fünfschüssig, double-action, 2¾-Zoll-Lauf. Damit kannst du Schiffe versenken oder Bäume fällen

»Wie sieht’s mit Munition aus

»Munition? Das Ding verschießt Granaten

Brecker ging zum Waffenschrank und kam mit einer Handvoll fingerdicker Patronen wieder – die 454er Casull, mit denen Rünz seine Ruger fütterte, nahmen sich daneben aus wie Luftgewehrkugeln. Er klappte die Trommel heraus, lud die Patronenlager und legte probeweise an.

»Hast du ein Holster

»Sonderanfertigung, ist noch in Arbeit

Rünz steckte die Waffe in die Außentasche seiner Winterjacke, das Gewicht zog ihm fast den Stoff von den Schultern. Wortlos drehte er sich um und ging Richtung Ausgang, Brecker stapfte aufgeregt hinter ihm her.

»Langsam, Karl, das ist nicht irgendein Spielzeug, da müssen sich selbst Großkaliber-Profis langsam rantasten. Was da vorn rauskommt, ist kein Mündungsfeuer, das ist ein Flammenwerfer! Der Rückstoß kann dir dein Handgelenk zerbröseln! Außerdem musst du dir nicht nur Gedanken über dein Ziel machen, sondern auch über alles, was dahinter steht …«

»Klaus ist gleich wieder einsatzfähig«, unterbrach Rünz und zwinkerte Schannin zu, die immer noch im Flur stand, rauchte und Kaugummiblasen platzen ließ. Dann war er im Treppenhaus.

»Wann sehe ich mein Baby wieder, rief Brecker ihm hinterher. Die Tür gegenüber öffnete sich einen Spalt, seine alte Nachbarin starrte ihn an.

»Alles in Ordnung, Herr Brecker? Soll ich die Polizei rufen

 

 

* * *

 

 

›hife stenwate‹

 

Stadelbauer hatte nicht gerade die üblichen SMS-Abkürzungen verwendet, aber wahrscheinlich hatte er beim Tippen andere Sorgen. Der Idiot hatte sich in der Sternwarte einquartiert. Genauso gut hätte er sich ein T-Shirt mit einem Fadenkreuz und der Aufschrift ›Ziel‹ anziehen können. Das Schneetreiben wurde immer dichter, Rünz überquerte die Straßenbahngleise und brachte seinen Passat mit Schwung hoch bis zur Heinrich-Delp-Straße. Die Sichtweite betrug kaum fünf oder sechs Meter, wenn er aufblendete, verwandelten sich die Myriaden von Flocken vor den Scheinwerfern in eine undurchdringliche weiße Wand. Mehrmals musste er aussteigen und die Schilder lesen, bis er die schmale Stichstraße zum Seminar Marienhöhe hinauf gefunden hatte. An der Steigung, die hinter dem Internat zur Ludwigshöhe hochführte, drehten die Vorderräder seines Passats ohne Grip durch, er kam keinen Meter weiter. Winterreifen waren eine praktische Sache, wenn sie nicht in der Garage lagen. Er stieß rückwärts auf den Parkstreifen, nahm sich seine kleine MagLite aus dem Handschuhfach und stieg aus.

 

Die eigentlich eindrucksvolle Verwandlung, die eine Großstadt durch eine geschlossene Schneedecke erfuhr, war keine optische, sondern eine akustische. Der Schnee machte die Stadt leise, absorbierte das gewohnte urbane Hintergrundrauschen. Rünz ging einige Schritte durch die Stille. Der letzte halbe Kilometer führte in Serpentinen die Anhöhe hinauf. Vor der ersten Kurve blieb er stehen und lauschte. Von der Höhe näherte sich ein hochfrequentes, gequältes Fauchen, Rünz tippte auf einen viel zu hochgedrehten, hubraumstarken Turbodiesel. Mehrmals wendete er den Kopf, um das Fahrzeug zu orten – vergeblich. Der Lärm schwoll an, er machte einige Schritte weg von der Straße, um nicht überfahren zu werden. Die Elektronik eines Automatikgetriebes schien mit den sinnlosen Gasbefehlen des Fahrers nicht klarzukommen und jagte wild durch die Gangstufen. Der Lautstärke nach zu urteilen musste das Fahrzeug noch 50 oder 60 Meter entfernt sein, die Schneeflocken um ihn herum wurden langsam in ein fahlgelbes Licht getaucht. Das Fahrwerk ächzte rhythmisch, als müsste es große Bodenwellen überwinden. Welche Bodenwellen? Rünz starrte auf die schmale Straße, und als ihm bewusst wurde, dass der Fahrer nicht die reguläre Serpentinenstrecke, sondern die Downhill-Route der Mountainbiker mit den künstlich aufgeschütteten Sprungschanzen nahm, war es fast zu spät. Die mächtige, kantige Front des G-Klasse-Mercedes erschien wie ein Raubtier mit glühenden Augen im Sprung. Rünz warf sich zur Seite, der chromglitzernde Kuhfänger vor dem Kühlergrill erwischte seine Füße, warf seine Beine zur Seite, ließ ihn auf der glatten Schneedecke einige Pirouetten drehen, bevor er auf dem Bauch liegen blieb. Der schwere Revolver war aus seiner Manteltasche in den Neuschnee gerutscht. Das Motorengeräusch ebbte ab, der Fahrer hatte sich offensichtlich mit beiden Füßen auf die Bremse gestellt – bevor das ABS eingreifen konnte, stand der Wagen quer und schlitterte weit die Straße hinunter. Als er zum Stehen kam, konnte Rünz nur noch die roten Rücklichter erkennen. Autotüren öffneten sich, Menschen stiegen aus. Er tastete hektisch mit klammen Fingern nach Breckers Bärentöter. Dann hörte er Schritte, Stiefel, die im Schnee knirschten, jemand näherte sich von unten. Wie ein Frettchen krabbelte Rünz umher und suchte nach dem Revolver, der Besucher kam näher, blieb zwei oder drei Meter vor ihm stehen, nur eine Silhouette gegen die roten Rücklichter des Geländewagens. Dann ein hohles metallisches Schleifen – ein Schalldämpfer, der auf den Lauf einer Automatikwaffe geschraubt wurde? Er keuchte, fand schließlich die Magnum, das eiskalte Metall schmerzte auf der Haut. Er entsicherte.

»Hallo, können Sie mir helfen? Ich glaube, es hat meine Beine erwischt. Sie waren ganz schön schnell unterwegs

Keine Reaktion. Wieder Metall auf Metall, direkt über ihm, der Verschlussschlitten, das Klacken einer Patrone, die über die Rampe ins Lager geschoben wird. Rünz hatte in über 20 Berufsjahren nie von Angesicht zu Angesicht auf einen Menschen geschossen, er hatte sich oft gefragt, ob er zu lange zögern würde, ob ihm in der entscheidenden Sekunde die Tötungshemmung einen Strich durch die Rechnung machen würde. Jetzt war es so weit, und er hatte ganz andere Sorgen. Mit seinem steifgefrorenen Zeigefinger musste er über sechs Kilogramm Abzugswiderstand überwinden, und für einen Schuss mit dem größten Revolverkaliber der Welt hatte er auf seinem Hintern sitzend ohne Rückenstütze und klammen Händen eine denkbar ungünstige Ausgangsposition. Er legte auf den Schatten an, nutzte die Linke als Stützhand unter den Griffschalen und zog mit dem Mut der Verzweiflung durch. Was dann passierte, übertraf all seine Befürchtungen – er fühlte sich, als hätte er die Karronade eines alten englischen Dreimasters aus der Hand abgefeuert. Eine meterlange Feuerfontäne brach aus dem kurzen Lauf heraus, für den Bruchteil einer Sekunde war der Wald um die beiden Kontrahenten herum taghell erleuchtet, im Schein der abbrennenden Pulverrückstände konnte er das verdutzte Gesicht des Angreifers sehen. Der Rückstoß war jenseits aller Vorstellungskraft, die Waffe schlug hoch, flog ihm fast aus der Hand, die Kimme traf seine Stirn, er wurde nach hinten auf die Fahrbahn geschleudert. Der Mündungsknall legte sein Gehör lahm, ein irrsinniges Pfeifen sprengte ihm fast den Schädel. Er roch verbranntes Fleisch und Haare. Auf dem Rücken liegend war er ein oder zwei Minuten bewegungsunfähig dem unerträglichen Dauerton in seinem Kopf ausgeliefert, dann ließ der Tinnitus etwas nach, er hörte seinen Gegner röcheln. Der Angreifer greinte wie ein Baby und torkelte bergab Richtung Auto. Seine Kameraden kamen ihm entgegen, stützten ihn und halfen ihm in den Wagen. Der Motor wurde angelassen, langsam rollte der Mercedes die Straße hinunter. Er hatte ihn nicht getroffen, das hatte er noch im Schein des Mündungsfeuers erkannt. Aber Breckers Bärentöter hatte ihm schwere Verbrennungen, einen Schock und ein verheerendes Knalltrauma bereitet. Er würde gute medizinische Betreuung brauchen, um zu überleben.

 

Der Kommissar blies den Schnee aus Nase und Mund und unterzog seine Füße einem Tastbefund. Sie befanden sich beide noch an den Enden seiner Beine, damit waren die Mindestanforderungen für weitere Testreihen erfüllt. Er setzte sich auf, seine Fersen hielten einer leichten Probebelastung stand, also wagte er aufzustehen. Die Schmerzen waren erträglich, seine Winterstiefel hatten einen Teil der Aufprallenergie absorbiert, vielleicht hatte er sich nur ein paar Bänder gedehnt. Sein rechtes Auge war verklebt, warme Flüssigkeit lief ihm von oben in den Mundwinkel. Er tastete seine Stirn ab, die Kimme des Revolvers hatte ihm eine Platzwunde beigefügt. Mit einer Handvoll Schnee versuchte er, die Blutung zu stillen und den heißen Lauf der Smith & Wesson zu kühlen. Dann stand er auf, steckte die Handartillerie wieder in die Jackentasche und ging langsam die Serpentinen hinauf, immer darauf bedacht, nicht umzuknicken. Er hatte nach wie vor Ohrensausen, die Funktion seiner Gleichgewichtsorgane war beeinträchtigt. Nach zehn Minuten stand er keuchend auf der Anhöhe, ausgezehrt und erschöpft wie Shakleton bei der Ankunft auf Elephant Island.

In den offenen Eingang der Sternwarte wehten dicke Flocken, der Betonboden war mit einem zentimeterdicken weißen Fell belegt. Die Lichtschalter funktionierten nicht. Er versuchte, sich den komplizierten Grundriss des Gebäudes in Erinnerung zu rufen, und arbeitete sich dem Lichtkegel seiner MagLite folgend im Erdgeschoss vor. Rünz kannte die Folgen von hemmungslosem Vandalismus, was er hier sah, war etwas anderes. Hier war das Chaos Resultat einer Suche, die die Zerstörung billigend in Kauf nahm. Aufgebrochene Türen, umgekippte Regale, ausgeleerte Schubkästen auf dem Boden, zerrissene Aktenordner und Fachliteratur. An drei Arbeitsplätzen standen Computer, deren Gehäuse demontiert waren. Rünz durchleuchtete die Innereien – Motherboards, Grafikkarten, Diskettenlaufwerke, CD-ROM- und DVD-Laufwerke, alles war vorhanden, soweit Rünz das mit seinen kümmerlichen Hardwarekenntnissen beurteilen konnte. Aber die Festplatten fehlten. In dem ganzen Durcheinander konnte er keinen einzigen physikalischen Datenspeicher finden, weder CDs noch DVDs, Disketten oder USB-Sticks. Er schlich zurück zur Treppe und stieg leise ins Obergeschoss. Überall Spuren schneenasser Schuhe, hier hatten mindestens vier oder fünf Menschen gewütet. Die blaue Stahltür, die zur Beobachtungsplattform führte, war abgeschlossen, die Falzbedeckung an mehreren Stellen aufgebogen, jemand hatte vergeblich versucht, sich mit einem Brecheisen Zugang zu verschaffen. Rünz wollte schon wieder umkehren, als er sich an Stadelbauers Exklusivführung durch die Sternwarte erinnerte. Er versuchte, den Kabelträger an der Decke zu erreichen, aber er war einen ganzen Kopf kleiner als der Astronom. In dem Chaos fand er einen kleinen Schemel, stellte ihn sich zurecht und fand schließlich den Schlüssel unter den Stromstrippen. Er schloss auf, öffnete die Tür einen Spalt und leuchtete hi-nein. Er sah dicke weiße Wattebäusche, die im Schein seiner Lampe durch das offene Dach gravitätisch herabschwebten und die ganze Plattform mit Zuckerguss zudeckten. Die Teleskope hatten weiße Mützen, der Boden, die Arbeitstische, das gesamte technische Gerät war mit einer zwei Zentimeter dicken Schneeschicht bedeckt. Das Dach musste seit 15 oder 20 Minuten offen stehen. Rünz leuchtete den gesamten Boden ab, fand aber keine Fußspuren. Seine MagLite wurde plötzlich warm und erlosch nach ein paar Sekunden, wahrscheinlich war Feuchtigkeit in das Gehäuse eingedrungen und hatte die Batterien kurzgeschlossen. Auf gut Glück stöberte er auf den Arbeitsplatten und in den Schubladen, vielleicht rauchte das eine oder andere Vereinsmitglied und hatte irgendwo Streichhölzer deponiert. Er fand ein Metallfeuerzeug mit Klappdeckel, im Schein der Flamme entdeckte er den offenen Sicherungskasten und legte die Wippschalter um, im Treppenhaus ging das Licht an. Auf der anderen Raumseite war der Hebel, der das Schiebedach in Bewegung setzte. Seine Aktivitäten entsprachen nicht gerade einer vorschriftsmäßigen Spurensicherung, aber ihm tat es leid um die teure Ausrüstung der Hobbyastronomen. Er aktivierte den Elektromotor und die Dachmechanik setzte sich unter der Schneelast knarzend langsam in Bewegung. Dann ging er wieder hinunter, aus dem Ausgang und entgegen dem Uhrzeigersinn um das Gebäude herum. Wenn Stadelbauer sich zu seinem Schutz vor den Eindringlingen auf der Beobachtungsplattform eingeschlossen hatte, wenn er die Brecheisen am Türrahmen hatte knirschen hören, dann war ihm nur noch ein Fluchtweg geblieben – er hatte das Dach geöffnet, die Sicherungen ausgeschaltet und sich für einen kühnen Sprung über die Brüstung entschieden.

Rünz fand seine Spuren auf der Rückseite des Gebäudes unterhalb der Plattform. Der Sturz hatte den Astronomen offensichtlich von den Füßen gerissen, die Abdrücke im Schnee waren noch erkennbar, er war wohl der Länge nach hingeschlagen und dann wieder aufgestanden. Rünz folgte den Fußspuren bis zur Ostseite der Sternwarte, dann blieb er ratlos stehen. Die Spuren endeten an einem Treppenabgang, auf den ersten Blick der externe Zugang zum Keller der Sternwarte. Aber die alten Stufen waren eingefasst in ein Portal aus halbmeterdickem, bemoostem und angewittertem Beton – das Bauwerk musste Jahrzehnte älter sein als das Observatorium darüber. Unten an der kleinen Eingangsluke fand er ein geöffnetes Vorhängeschloss im Schnee. Die Metallklappe quietschte in den Scharnieren, als er sie aufzog. Der flackernde Lichtschein des Feuerzeuges wurde im Innern von einer spiegelglatten Oberfläche reflektiert, er konnte keine Details erkennen. Mit einiger Mühe zwängte er seinen Körper durch die Öffnung und stand in einer kalten und feuchten Kammer mit quadratischem Grundriss von vielleicht fünf mal fünf Metern. Eindringendes Regen- oder Grundwasser hatte eine große Lache gebildet, die den ganzen Boden bedeckte. Er leuchtete die Wände ab und fand auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes eine durchbrochene Ziegelmauer, die ursprünglich einen alten Durchgang verschlossen hatte. Gut eingefetteten Boots mit dicken Gummisohlen würden ein paar Tropfen Wasser nichts anhaben. Quer durch den Raum wollte er gehen, machte einen Schritt nach vorn, verlagerte seinen Schwerpunkt – aber sein Fuß fand unter der Wasseroberfläche keinen Halt. Er sank tiefer und tiefer, hatte sich schon viel zu weit nach vorn gebeugt, um das Bein noch einmal zurückzuziehen, und mitten in der Bewegung wurde ihm bewusst, dass er nicht vor einer Pfütze, sondern vor einem randvoll gefüllten Becken mit unbekannter Tiefe stand. Instinktiv zog er das zweite Bein nach, um nicht der Länge nach in den Pool zu fallen. Mit Mühe blieb er in der Vertikalen und stand schließlich mit erhobenen Armen bis zur Hüfte in eiskaltem Wasser.

»Scheiße!!!«

Hinter dem Mauerdurchbruch raschelte es.

»Herr Rünz? Sind Sie das?

 

 

* * *

 

 

»Warum haben Sie nicht gleich unten an der Heidelberger Straße ein Hinweisschild aufgestellt? Damit hätten Sie den Jungs die Anfahrt erleichtert

Stadelbauer reagierte nicht.

»Haben Sie einen von denen gesehen, haben Sie gehört, wie sie sich unterhalten haben

Schweigen.

Rünz stand auf der Beobachtungsplattform, eine Gummimatte unter den Füßen, und versuchte, seine Hosenbeine über einem Eimer auszuwringen. Der nasse Baumwollstoff seiner langen Feinrippunterhosen klebte faltig an seinen dürren Stelzen wie die Haut einer alten Fleischwurst. Der Tinnitus hatte nachgelassen, aber die Stirnwunde bereitete ihm starke Kopfschmerzen. Er hoffte jedenfalls, dass die Wunde die Ursache war. Wenigstens hatte der kalte Schnee die Blutung gestillt. Stadelbauer war nicht ansprechbar. Wie ein Besessener versuchte er, die Teleskope und Geräte mit Klopapier vom schmelzenden Schnee zu befreien. Irgendwo hatte er einen Föhn aufgetrieben, mit dem er die elektronischen Innereien zu trocknen versuchte. Er hatte einen Schock und brauchte etwas, worauf er sich konzentrieren konnte.

»Was ist das für eine alte Anlage hier neben der Sternwarte

»Ein alter Wehrmachtsbunker. Bis Kriegsende war hier oben die Luftwaffe mit einem Nachtjägerleitstand stationiert. Den vorderen Teil, in dem Sie gebadet haben, nutzt heute die Feuerwehr als Löschwasserreservoir

Jetzt nicht mehr, dachte Rünz und kippte einen guten halben Liter Wasser aus seinen Stiefeln in den Eimer.

»Hören Sie«, sagte Rünz, »Sie müssen sich in Zukunft genau an meine Anweisungen halten, das ist wichtig, es geht um Ihre Sicherheit

»Oh, danke, Herr Rünz. Bei Ihnen fühle ich mich so sicher wie ein Baby bei Michael Jackson

Pausenlos murmelte Stadelbauer vor sich hin, die immer gleichen unverständlichen Fachtermini.

»Was wispern Sie da andauernd

Der Astronom schreckte auf, er schien langsam wieder in die Wirklichkeit zurückzufinden.

»Das Signal, wir haben es entschlüsselt, zum größten Teil jedenfalls. Es ist eine Art Kino, elementares 3D-Kino, gleichzeitig eine Warnung, so etwas wie ein Notfallvideo …«

»Eine Warnung vor wem oder was?«

»Im Prinzip besteht das ganze Datenpaket auf den RFID-Chips aus drei Teilen. Teil eins ist die Arecibo-Message, die kennen Sie schon. Der zweite Teil ist das eigentliche Signal, Werner, mein Freund vom IGD, arbeitet mit ein paar Kollegen seit Tagen dran, er sagt, er steht kurz vor der Lösung. Ich wollte gerade aufbrechen zu ihm, als die Typen unten reinkamen. Um Teil drei habe ich mich gekümmert, nur eine Handvoll Bits, zehn Zahlen, eine Art Impressum für das eigentliche Signal, stammt mit Sicherheit auch von Rossi – warten Sie mal, ich zeige es Ihnen …«

Stadelbauer wühlte in einem Haufen tropfnasser Notizblätter auf einer der Arbeitsplatten. Er fand die Seite, die er suchte, und klatschte sie an den Metalldeckel des Sicherungskastens. Rünz versuchte, das Gekritzel aus zerlaufener Tinte zu entziffern.

000010010111

1420,4058

2,8612

2,7296

2,9928

0,0460

1,375

4

306

8

Rünz starrte ratlos frierend auf die Zahlen.

»Fangen wir mit der ersten Zeile an. In Washington D. C. sitzt das CCSDS, das Consultative Committee for Space Data Systems, eine internationale Organisation, die koordinieren den globalen Datenverkehr mit Raumfahrzeugen, definieren Kommunikationsprotokolle, damit nichts durcheinanderläuft. Diese Organisation vergibt seit 20 Jahren eine Spacecraft Identification, kurz SCID, an jedes Raumfahrzeug, das die Erdatmosphäre verlässt. Die ganzen Nummern dienen der Identifikation im Datenverkehr und werden vom Goddard Space Flight Center in Maryland zentral verwaltet. Die Nuller-Einser Kombination in der ersten Zeile ist sozusagen das amtliche Kennzeichen, das Nummernschild der Rosetta-Sonde. Können Sie alles im Internet checken

Rünz schnappte sich den Föhn und versuchte, seine Hose zu trocknen.

»Die 1420 mit den vier Nachkommastellen ist sozusagen die magische Zahl aller SETI-Fans, die Wasserstofflinie. Elektromagnetische Strahlung mit einer Frequenz von 1420 Megahertz und 21 Zentimetern Wellenlänge. Die meisten SETI-Forscher gehen davon aus, dass interstellare Komunikation nur über elektromagnetische Strahlung und nur über diesen Kanal funktioniert

»Warum genau diese Frequenz? Und warum nicht modulierte Neutrinoströme, fragte Rünz. Endlich konnte er mal richtig mitreden.

Stadelbauer schaute ihn einen Moment verdutzt an.

»Ah, Sie haben Lems Roman gelesen. Ja, Sie haben recht, aber die lassen wir jetzt mal außen vor, das ist Science Fiction. Also – warum die Wasserstofflinie? Wenn Außerirdische uns ein Signal sendeten, welche Frequenz würden sie verwenden? Sie müssten eine wählen, die von den Atmosphären belebter Planeten nicht zu stark absorbiert wird – und die haben eine ganz bestimmte Zusammensetzung: Ozon, Sauerstoff, Stickstoff und Kohlendioxid. Wenn man das ganze elektromagnetische Spektrum von harter Gammastrahlung bis zu langwelliger Radiostrahlung betrachtet, öffnet unsere Atmosphäre zwei Frequenzfenster, eins für das sichtbare Licht und eins für die Radiostrahlung ab einem Millimeter Wellenlänge. Aber innerhalb dieser Frequenzfenster müssten sie sich irgendwie bemerkbar machen, sonst geht ihr Signal im kosmischen Hintergrundrauschen verloren. Kein Radioteleskop der Welt kann alle diese Wellenlängen gleichzeitig abscannen. Sie müssen ihr Signal auf irgendeine, im ganzen Universum charakteristische Frequenz draufpacken

»Und das ist die Wasserstofflinie

»So ist es. Genau auf dieser Frequenz hat die kosmische Hintergrundstrahlung einen deutlichen Peak, sie wird vom freien Wasserstoff im interstellaren Raum emittiert. Jeder, der sich im Universum bemerkbar machen will, ist gut beraten, seine Rauchzeichen in diesem Frequenzbereich abzuschicken

Rünz gab die Föhnaktion auf und steckte bibbernd seine Beine in den klammen Stoff.

»Was ist mit den restlichen Zahlen

»Astronomische Bahndaten, große Halbachse, Perihel und Aphel einer elliptischen Umlaufbahn, Exzentrizität, Bahnneigung, siderische Umlaufzeit, mittlere Bahngeschwindigkeit.«

»Die Bahndaten der Rosetta-Sonde?«

Stadelbauer machte einen Schritt auf ihn zu und starrte ihn an, er hatte den irren Blick eines Paranoiden.

»Rosetta war der Empfänger, das hier sind die Bahndaten des Senders

Stadelbauer schien zu erwarten, dass Rünz ergriffen vor ihm niederkniete wie ein Täufling vor dem heiligen Johannes.

»Und?«

»Ida. Ein Asteroid im Hauptgürtel, gut 50 Kilometer lang.«

»Und das ist diese außerirdische Warnboje, von der Sie sprachen

»Ja, ich meine nein, zuerst dachte ich das. Aber Ida ist relativ gut erforscht, 1993 hat eine Raumsonde ziemlich detaillierte Aufnahmen von diesem Brocken gemacht, nichts Ungewöhnliches dran – unregelmäßig geformt, helle, silikatreiche Oberfläche, mit Regolith-Staub bedeckte Einschlagkrater – alles völlig unauffällig. Aber Ida hat einen kleinen Begleiter, einen Mond, wenn Sie so wollen

»Ein Asteroid mit einem Mond??«

»Dactyl. Das Signal kommt von Dactyl, da verwette ich meine Großmutter drauf. Dactyl ist ein 1,4 Kilometer großer Bonsai-Mond von Ida, es gibt nur eine ziemlich unscharfe Aufnahme davon, war eine Sensation damals, niemand hatte erwartet, bei einem Objekt wie Ida so einen kleinen Satelliten im Schlepptau zu finden!«

»Jetzt hören Sie mir auf mit diesem Science-Fiction-Zeug. Ein kleiner Brocken im Asteroidengürtel funkt uns eine Warnmeldung zu, das ist doch absurd

Stadelbauer schnappte sich eine Klopapierrolle und hielt sie Rünz drohend unter die Nase.

»Sie verstehen nicht, alles passt jetzt zusammen! Erinnern Sie sich an Rossis Ausflug nach Australien, im Januar 2006? Ich habe Tage gebraucht, um zu verstehen, warum ihm ausgerechnet dieser Zeitpunkt der Mission so wichtig war

Mit der Rolle am ausgestreckten Arm simulierte Stadelbauer den Flug des Satelliten.

»Rosetta holt sich Schwung beim ersten Earth Flyby, kreuzt die Marsbahn und fliegt zum ersten Mal in die Ausläufer des Asteroidengürtels

Er wischte das Papier mit der Zahlenkolonne vom Schaltkasten, kramte nach einem Stift, fand schließlich einen Schraubenzieher und ritzte eine Skizze in den Metalldeckel.

»Das ist die Stellung der inneren Planeten des Sonnensystems am 16. Januar 2006. Hier sind wir, Venus und Merkur ungefähr in unterer und oberer Konjunktion zur Erde, Mars und Rosetta querab dazu

Er ritzte eine Gerade über den ganzen Metallkasten, die die Sonne mit dem Satelliten verband, und setzte jenseits der Rosetta-Bahn einen weiteren Punkt auf die Linie.

»Und hier ist Ida. Zu keinem Zeitpunkt des ganzen zehnjährigen Fluges wird Rosetta diesem Asteroiden wieder so nahe kommen. Verstehen Sie jetzt? Ich hatte mich geirrt, den Uplink hat er gar nicht benutzt, er hat keine Daten hochgeschickt. Als Abhörmikrofon hat er Rosetta benutzt, wie ein verwanztes Telefon. Er wollte von Beginn an nichts anderes, als Ida und seinen kleinen Trabanten abhören. Seine Arbeit in Turin, die Entwicklung der High Gain Antenna und des Deep Space Transponders – er hatte von Anfang an kein anderes Ziel, es war der Masterplan seines Lebens. Irgendwann, vor vielen Jahren, muss er bei seinen Recherchen auf einen Hinweis gestoßen sein, eine Spur, die ihn zu diesen beiden Asteroiden führte

»Aber das passt nicht zusammen, die Route, die Rosetta jetzt fliegt, war doch Plan B. Der Start wurde um über ein Jahr verschoben, ein anderes Ziel anvisiert, eine neue Bahn berechnet

Stadelbauer raufte sich verzweifelt die Haare.

»Das fehlende Puzzlestück, genau. Der ursprünglich geplante Flug zum Kometen Wirtanen hätte ihn nicht nahe genug an diesen Asteroiden herangeführt. Er konnte doch nach so viel Vorarbeit nicht auf den Zufall vertrauen, auf einen technischen Defekt, der ein Alternativszenario notwendig machte

»Vielleicht hat er dem Zufall etwas nachgeholfen, mit einer Harpune

 

 

* * *

 

 

»Was geht hier eigentlich ab, wollt ihr mich verarschen

»Jetzt zeig uns doch erst mal, was ihr rausgefunden habt

»Ich will zuerst wissen, was hier gespielt wird. Für wen arbeitet ihr eigentlich

»Das sind ganz normale Ermittlungen in einem ganz normalen Mordfall, das Opfer war ein Freund von mir. Wo ist das Problem

»Wo das Problem ist? Vor einer Woche schickt ihr mir ein paar DVDs mit Daten, die dein ›Kommissar‹ hier angeblich auf zwei Dutzend RFID-Chips gefunden hat. Ich arbeite mit ein paar Freunden dran, wir finden einige sehr interessante Sachen raus, und vorgestern steht hier plötzlich eine Delegation vom ESOC, zusammen mit unserem CEO und so einem kleinen Giftzwerg vom Bundesgerichtshof. Die drücken uns ein paar Datenträger in die Hand und stellen mal eben unser ganzes Forschungsprogramm auf den Kopf, sagen was von oberster Priorität, wir sollen alle anderen Projekte zurückstellen und uns ausschließlich um das hier kümmern. Und das Ganze ist natürlich strictly confidential. Und jetzt rat’ mal, was der Unterschied ist zwischen beiden Files? Es gibt keinen. Diese hohen Tiere beauftragen uns mit der Analyse von Daten und wissen nicht, dass ihnen so ein südhessischer Schimanski-Klon ein paar Tage zuvorgekommen ist. Ich will dir mal was sagen, dein Freund hier ist auf einem Philip-Marlowe-Trip, der macht Privatermittlungen, von denen seine Vorgesetzten keine Ahnung haben

Rünz hatte Stadelbauers Diskussion mit dem IT-Nerd schweigend verfolgt. Sie standen im Foyer des Instituts für Graphische Datenverarbeitung in der Rundeturmstraße. Er starrte die ganze Zeit auf ein Oberlicht, direkt hinter dem Fenster sah er im Freien die Reste einer alten Natursteinmauer, angestrahlt von Scheinwerfern wie die denkmalgeschützten Fragmente einer mittelalterlichen Festung. Erinnerungen aus seiner Kindheit blitzten auf, an die abweisende, schmutzige Fassade des alten Stadtgefängnisses, in dem bis in die 70er-Jahre Untersuchungshäftlinge eingesessen hatten. Erinnerungen an Erzählungen seines Vaters, über Kolonnen bewachter Gefangener, die in der Innenstadt die Straßen kehren mussten.

»Sie denken doch sicher auch manchmal schneller als Ihr Chef, oder, sagte Rünz. »Glauben Sie mir, ich stehe in engem Kontakt mit Herrn Klöber vom BGH, wir ziehen an einem Strang. Aber wenn die Dinge drunter und drüber gehen, dann kann es schon mal passieren, dass die Rechte nicht weiß, was die Linke tut, und Arbeiten doppelt erledigt werden. Wichtig ist doch, was hinten rauskommt

Werner schaute ihn misstrauisch an. Rünz’ Auftritt, seine nassen, dreckigen Kleider und der Blutschorf in seinem Gesicht, waren nicht geeignet, seine Vorbehalte zu entkräften.

»Der einfachste Weg ist – Sie zeigen uns Ihre Ergebnisse, ich unterrichte Klöber, und Sie haben den Giftzwerg nicht mehr im Haus. Aber ich kann verstehen, wenn Ihnen der formelle Weg sicherer erscheint, das Ganze läuft schließlich top secret

Rünz zog sein Handy aus der Manteltasche.

»Vielleicht rufe ich ihn besser an, in anderthalb Stunden kann er sicher hier sein, wenn er sich direkt ins Auto setzt Er fing an, in seiner Nummernliste zu blättern und hielt sich das Gerät ans Ohr. »Gott, hoffentlich kriegt dieser kleine Choleriker nicht wieder einen von seinen Anfällen …«

»Warten Sie«, sagte Werner.

 

Der Nerd redete ununterbrochen, während er die beiden durch das Treppenhaus des Neubaus führte.

»Das Wichtigste erst mal vorneweg. Stark komprimiert ist das ganze Paket, auf acht Gigabyte, mit einem ganz primitiven Algorithmus. Wenn man das auspackt, werden daraus mehrere Terabyte! Und warum lässt sich das so einfach so stark komprimieren? Weil der Code extrem monoton aufgebaut ist. Da kommen ein paar Hunderttausend Nullen, dann mal ein paar Tausend Einsen, dann wieder 200 000 Nullen. Und alles in annähernd redundanten Sequenzen, die nur geringfügig voneinander abweichen. Zum Teil wiederholt sich alles, als hätte man einige Zeit lang eine Nachricht mitgeschnitten, die in einer Endlosschleife gesendet wird.«

Er stieß eine Schwingtür auf, und was Rünz sah, hätte Hoven wahrscheinlich einen Exzellenz-Cluster genannt – gut zwei Dutzend junge Menschen aller Nationalitäten, wie Broker in einem Frankfurter Bankenturm an Arbeitsplätzen mit jeweils zwei oder drei riesigen Displays vor den Augen. Sie tippten, diskutierten spanisch, englisch, deutsch, führten Videokonferenzen mit weiteren jungen Menschen, die an irgendwelchen Orten rund um den Erdball in ähnlichen Räumen vor ähnlichen Displays saßen. Die Deckenbeleuchtung war ausgeschaltet, das fahle Licht der Monitore gab den IT-Experten eine ungesunde, blassblaue Gesichtsfarbe, aber keiner zeigte Müdigkeitserscheinungen, alle wirkten hochkonzentriert und hellwach. Werner machte eine kurze Vorstellungsrunde.

»Jens Bohner von unserer IGD-Niederlassung in Rostock, Kim Shima von der CAMTech in Singapur, Sofia und Marisa Silva, beide vom Centro de Computação Gráfica in Portugal, Pete Jenkins kommt von der IMEDIA Academy in Rhode Island, dann haben wir Helen Bancroft von den Media Laboratories in Nebraska und Javier Jimenéz vom VICOMTech in San Sebastián. Der Kleine drüben mit der Datenbrille ist Ken Cheong vom Institute for Graphic Interfaces in Seoul. Wir haben im Moment weltweit noch rund 30 Leute in den Instituten des INI-GraphicsNet dazugeschaltet, hier laufen alle Fäden zusammen

Werner ließ sich an einem unbesetzten Arbeitsplatz in den Bürostuhl fallen.

»Zum Glück mussten wir nicht bei Null anfangen. Vor ein paar Jahren haben wir schon mal ein animiertes 3D-Modell des Sonnensystems gebaut, ein virtuelles Planetarium, auf dem Programmkern konnten wir aufbauen. Ken, are you all set

»Won’t take long, just a few minutes«, rief der Koreaner.

»Haben Ihre Auftraggeber von der ESA die Ergebnisse schon gesehen

»Den ESOC-Leuten kam es nur auf den Komprimierungs-Algorithmus an. Das hier mit dem virtuellen Planetarium ist ein Spaß, den wir uns gönnen

Er wurde einen Moment ernst.

»Die dürfen auf keinen Fall rauskriegen, dass wir noch mit diesen Daten herumspielen, sonst machen sie uns einen Kopf kürzer

Seine Gewissensbisse schienen sich schnell wieder zu verflüchtigen.

»Genial an diesem Signal ist das, was es nicht ist – keine Schrift, keine codierten mathematischen Symbole oder Funktionen – also auch keine aufwändige Entschlüsselung. Es ist intergalaktisches Fernsehen! Zeilenweise aufgebaute Bilder, rund 100 000 Bits pro Zeile und 100 000 Zeilen pro Bild, jeweils abgeschlossen mit Pi, binär codiert auf 20 Nachkommastellen, dem Signal für den Zeilenwechsel. Kosmisches HDTV. Und am Ende der letzten Zeile, wenn das erste Bild komplett aufgebaut ist, die elf. Beim nächsten Bild die 23, dann die 29, dann die 37 und die 41 – Primzahlen! Jeder Bildwechsel wird durch eine Primzahl markiert

Werner redete und gab gleichzeitig in irrwitzigem Tempo Programmzeilen in seine Tastatur ein, er war definitiv multitaskingfähig. Stadelbauer schien vor Begeisterung zu dampfen, Rünz verstand überhaupt nichts und fühlte sich wie das letzte Exemplar einer aussterbenden Rasse.

»Warum fängt es nicht mit der kleinsten Primzahl an und verwendet dann die ganze Reihe – zwei, drei, fünf, sieben …«, fragte Stadelbauer.

Der Nerd hörte auf zu tippen und drehte sich zu den beiden um.

»Gut aufgepasst, mein Lieber. Jetzt kommt der Kracher. Nach gut 10 000 Bildern taucht auf einmal die zwei auf, nach gut 20 000 die drei, und so geht das weiter, immer im gleichen Abstand. Auch Primzahlen. Aber was ist das Besondere dran? Ich musste mir das aufschreiben, um drauf zu kommen

Werner nahm sich einen Edding und schrieb eine Zahlenreihe direkt auf die Tischplatte.

»Verdammt, die Mersenne-Zahlen, rief Stadelbauer.

»Bingo! Das Signal schließt jeweils ein Paket von Bildern mit einer Mersenne-Primzahl ab. Und das Verrückte ist – innerhalb eines Bildpaketes ändert sich die Abfolge der Bits von Bild zu Bild kontinuierlich und stetig, aber zwischen dem letzten Bild eines Paketes und dem ersten des nächsten hast du einen richtigen Sprung

»Ein Perspektivwechsel.«

»So ist es! Eine Darstellung bewegter Objekte in einem dreidimensionalen kartesischen Koordinatensystem. Jeweils ein Bildpaket beschreibt die xy-, die zx- und die zy-Ebene. Fertig ist der ›Weiße Hai, Teil 3D‹.«

»Stört es Sie, wenn ich hier einfach ein bisschen herumstehe, fragte Rünz. Er fühlte sich allmählich etwas gekränkt, wie ein Vierjähriger, dessen Eltern über den verbleibenden Verlustvorabzug bei der Steuererklärung diskutierten. Vielleicht sollte er schnell nach Hause fahren und sich einige Waffenzeitschriften zum Schmökern holen.

»Wie viele Mersenne-Zahlen stecken da drin

Der Nerd lehnte sich entspannt zurück und grinste.

»Vergiss es, Jörg, ich habe auf meinem Nachtschränkchen schon ein Plätzchen für die Fields-Medaille freigemacht. Über 10 000.«

Stadelbauer ließ die Kinnlade herunterfallen, setzte sich auf einen Stuhl und schwieg. Rünz gab sich keine Mühe, den beiden zu folgen, die Grenzen seines mathematischen Horizontes waren mit Dreisatz, Pythagoras und Bruchrechnung abgesteckt. Am anderen Ende des Raumes nahm Ken Cheong seine Datenbrille ab, hob den Arm und zeigte mit dem Daumen nach oben.

»O.k, sagte Werner. »Geht schon mal in den Cave, da funktioniert die Immersion besser als hier am Bildschirm. Ich bleibe am Terminal

Stadelbauer führte Rünz zu einem gläsernen Kubus mit über drei Metern Kantenlänge, die Flächen aus halbtransparentem Milchglas, auf jede der fünf sichtbaren Seiten war ein Projektor gerichtet. Der Kommissar hatte ein Déjà-vu, die ganze Anordnung erinnerte ihn an einen Traum, der mit seinem letzten Fall zu tun hatte, dem toten britischen Kampfpiloten, aber er hatte keine Zeit, darüber nachzudenken. Der Astronom zog eine Seite des Würfels auf wie ein großes Tor, dann betraten beide die Box. Nacheinander glommen die Lichter der Beamer auf und tauchten die Flächen in ein milchig-fahles Licht. Selbst der Boden, auf dem sie standen, leuchtete, irgendwo in der Unterkonstruktion musste ein sechster Projektor versteckt sein. Die Kanten des Kubus verschmolzen vollständig mit den Flächen, Rünz fühlte sich wie in einer gigantischen Dotterblase – eigentlich fehlten nur die beruhigenden mütterlichen Herztöne für die perfekte Regressionshilfe.

»Achtung, jetzt geht’s los, rief Werner. »Sind keine Texturen auf die Objekte gemappt, habe nur eine virtuelle Lichtquelle im Zentrum positioniert, also nicht enttäuscht sein

Schlagartig wurde es dunkel. Rünz dachte zunächst, die Beamer wären ausgeschaltet, dann sah er 15 oder 20 kleine helle Punkte, die sich langsam ungefähr in Augenhöhe waagerecht um ihn herum bewegten, manche schneller, manche langsamer, so dass einer den anderen überholte. Nachdem sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, nahm er immer mehr mikroskopische Lichtpunkte wahr, ein Strom Tausender Glühwürmchen, der die beiden Betrachter wie eine rotierende Scheibe umgab. Einer der Punkte schien langsamer zu werden und gleichzeitig allmählich an Größe zu gewinnen, verwandelte sich in eine Kugel, wie der Vollmond in eine Licht- und eine Schattenseite geteilt. Die Illusion war perfekt, das Objekt steuerte mit exponentiell wachsender Geschwindigkeit in einer lang gekrümmten Kurve auf die beiden Beobachter zu – Rünz warf sich in letzter Sekunde zu Boden, die Hände über dem Kopf, gottergeben auf eine heftige Kollision wartend. Der Kubus wurde für eine Zehntelsekunde geräuschlos in gleißendes Licht getaucht, dann verließ das Objekt auf der gegenüberliegenden Seite die Überlebenden und schrumpfte auf seiner Bahn schnell wieder zu einem Punkt im Lichtermeer. Die Leute an den Terminals draußen gackerten wie Hühner.

»Wohl keine Computerspiele im Präsidium, Herr Rünz?«

»Das war Jupiter«, sagte Stadelbauer ungerührt.

»Wir stehen genau in der Ekliptik, auf der Jupiterbahn«, rief er dem Nerd zu. »So können wir nichts erkennen. Kannst du die Perspektive wechseln

»Ist die Erde eine Scheibe? Kommt sofort

Rünz hörte ihn auf der Tastatur klackern. Bevor Jupiter einen neuen Angriff starten konnte, drehte der komplette Teilchenstrom aus der Waagerechten heraus, die beiden Betrachter wurden wie mit einem Raketenantrieb aus der Bahnebene herausgeschossen, bis Stadelbauer Stopp rief. Die konzentrischen Kreisbahnen und Ellipsen, die die Objekte um ihr gemeinsames Zentrum drehten, waren jetzt auf einer Seite des Glaskubus in der Draufsicht erkennbar. Wie ein galaktischer Strudel schwebten unzählige von Objekten um die zentrale Lichtquelle, die äußeren im Bereich des Kuipergürtels so langsam, dass ihre Bewegung kaum wahrnehmbar war, die inneren rotierten so schnell wie Roulettekugeln. Die Größen- und Entfernungsverhältnisse stimmten nicht, alles schien generalisiert und für die optische Darstellung optimiert, wie die Darstellungen in astronomischen Schulatlanten, die Erde war im Vergleich mit den anderen Planeten überdimensioniert, Venus, Jupiter und Saturn noch als Kreisflächen erkennbar, Merkur, Mars und Pluto hoben sich als Punkte optisch kaum von den Tausenden Zwergplaneten, Asteroiden und Kometen ab, die wie strassbesetzte glitzernde Ringe zwischen Erde und Jupiter und außerhalb der Neptunbahn die Sonne umkreisten. Die Darstellung war so plastisch, Rünz widerstand mit Mühe der Versuchung, die Hand auszustrecken und nach dem Sternenstaub zu greifen. Bis zur Neptunbahn machte das System einen recht aufgeräumten Eindruck, aber der Kuipergürtel wirkte, als hätte der Schöpfer am siebten Tag etwas zu früh Feierabend gemacht. Myriaden winziger Lichter bildeten eine Leuchtscheibe, in der Pluto überhaupt nicht mehr zu identifizieren war, und mitunter schoss irgendein Objekt aus dem Gürtel auf einer stark elliptischen Bahn mitten ins innere Sonnensystem, verendete entweder auf dem großen Staubsauger Jupiter oder kreuzte die Bahnen von Mars, Erde und Merkur, um nach einer Intensivbräunung auf der Sonnenbank wieder in den eiskalten und dunklen Tiefen des Kuipergürtels zu verschwinden – die Kometen. Stadelbauer war sprachlos, er starrte die Szenerie an, als hätte er LSD genommen.

»Das ist unglaublich, in diesem System sind alle Near Earth Objects, nein, natürlich nicht alle, wahrscheinlich die NEOs ab einer bestimmten Größe, vielleicht 200 Meter Durchmesser aufwärts

»Aber wann spielt dieser Film, ist das Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft, fragte Rünz.

»Noch mal von vorn, das Ganze! Ich brauche einen Laptop mit Internetanschluss«, rief Stadelbauer.

»Kommt sofort, mein Gebieter

Ein Spalt öffnete sich, teilte den Asteroidengürtel und zwischen Sonne und Jupiter ragte Werners Hand mit einem kleinen Notebook in den Kubus.

»Ist schon online

Stadelbauer nahm das Gerät, legte es auf den Boden, klappte den Deckel auf und suchte im Web nach astronomischen Tabellen und Bahnberechnungsprogrammen. Dann ließ er Werner die Darstellung immer wieder auf den Anfang zurücksetzen, die Perspektive ändern und mit verschiedenen Geschwindigkeiten wieder abspielen. Er stoppte mit seiner Armbanduhr die Sekunden, bis bestimmte Planetenstellungen erreicht waren. Nach einigen Minuten war er am Ziel.

»Sehen Sie sich das an

Stadelbauer trat zur Projektionswand.

»Die Darstellung läuft jetzt so schnell, dass eine Sekunde ungefähr einem Jahr entspricht. Achten Sie auf Jupiter und Saturn. Sie stehen innerhalb eines Jahres zu drei Zeitpunkten in großer Konjunktion – ein extrem seltenes Ereignis, die Astronomen nennen es die größte Konjunktion. Und 40 Sekunden später – das gleiche noch mal! Zwei größte Konjunktionen im Abstand von nur 40 Jahren, das hat es in den letzten 2000 Jahren nur ein einziges Mal gegeben, in den Jahren 1940/41 und 1980/81. Wenn wir vom ersten Ereignis bis zum Start zurückrechnen, dann startet der Film im Jahr 1901. Werner, frier das Ganze bei 7,5 Sekunden nach Start ein

Beide traten nahe an das tischtennisballgroße Erdsymbol heran, ihre Köpfe berührten sich fast, die Animation startete von vorn. Aus dem Asteroidengürtel löste sich ein Lichtpunkt, näherte sich auf einer stark elliptischen Bahn der Erde und verschmolz mit ihr in dem Moment, als Werner die Vorführung erneut einfror.

»Was war das für ein Objekt, fragte Rünz.

»Der Tunguska-Asteroid. Er hat am 30. Juni 1908 in Sibirien 2000 Quadratkilometer Taiga verwüstet

Als der Film wieder anlief, zählte Rünz im Stillen die Sekunden mit – 90 – 100 – 110 – dieser Film schien nicht nur einen Blick in die Vergangenheit zu gewähren. Gut zwei Minuten nach dem Start passierte es wieder, ein Lichtpunkt aus der Wolke jenseits der Marsbahn beschrieb einen weiten Bogen ins System der inneren Planeten und verschmolz mit der Erde. Stadelbauer starrte auf die Szenerie und klackerte dann minutenlang wie paralysiert auf der Tastatur des Notebooks herum. Irgendwann setzte er sich müde auf den Boden des Würfels und lehnte mit dem Rücken an einer der Glaswände.

»Irgendwas stimmt da nicht. Ich habe einen Abgleich mit der Near Earth Object Database der NASA gemacht – die Bahndaten, der Zeitpunkt – das Objekt muss Apophis sein, ein Planetoid des Aten-Typs

»Und? Was ist los mit diesem Apophis, fällt er uns tatsächlich irgendwann morgens in die Müslischale

»Ja, ich meine nein, ich weiß es nicht, das ist es ja. Dem Signal zufolge kollidiert er Anfang 2029 mit der Erde, aber das stimmt nicht mit den Berechnungen der NASA überein! Apophis wurde im Juni 2004 vom Kitt-Peak-Observatorium in Arizona entdeckt – ein Erdbahnkreuzer mit 250 Metern Durchmesser. Das erste und bisher einzige Objekt, dem die Stufe vier auf der Torinoskala zugeordnet wurde. Die frühen überschlägigen Berechnungen ergaben alarmierende Annäherungen an die Erde, in den Jahren 2029 und 2036. Für den 13. April 2029 wurde zunächst eine Einschlagwahrscheinlichkeit von 2,5 Prozent kalkuliert, aber die NASA hat das inzwischen nach unten korrigiert. Die Chance für einen Treffer in 2036 liegt sogar nur bei 1:30 000

»Na also, sieht so aus, als wollte der Regisseur dieser kleinen Doku einfach etwas Panik verbreiten. Die Kartoffel fliegt vorbei und wir salutieren. Und was soll ein 250-Meter-Früchtchen schon groß anrichten

»Wenn es einschlägt? Vielleicht einen Megatsunami, der ein oder zwei Milliarden Menschen tötet

Stadelbauer schüttelte nachdenklich den Kopf. Rünz schaute ihn an wie der Ratsuchende die Pythia an den Hängen des Parnass.

»Die Bahndaten stimmen einfach nicht überein, es muss da irgendeinen Einfluss geben, den die NASA nicht berücksichtigt hat

 

Rünz verließ den Projektionswürfel, Werner und seine Kollegen starrten ihn schweigend an. Er machte ein paar Schritte zum Fenster und spähte hinaus. Die kühn und futuristisch geschnittenen Fassadenflächen des neuen Kongresszentrums ragten wie die Struktur eines gestrandeten außerirdischen Raumschiffes aus der mediokren Architekturlandschaft der Darmstädter Innenstadt. Zu gut war ihm in Erinnerung, wie sie sich im Kollegium vor Jahren über den ambitionierten Titel ›Wissenschaftsstadt Darmstadt‹ lustig gemacht hatten. Das Lachen war ihm vergangen. Diese Stadt veränderte sich, schneller als ihm lieb war. Das Ziel der Reise hieß Zukunft, und er fühlte sich abgehängt.

Er nahm Bewegungen auf dem Vorplatz wahr. Fünf Menschen, Frauen und Männer, schauten in den Nachthimmel, als würden sie den Wetterbericht für den folgenden Tag ausarbeiten. Etwas Auffälligeres als BKA-Beamte, die versuchten, unauffällig zu agieren, war kaum vorstellbar. Es war an der Zeit, nach dem Hinterausgang zu fragen.

 

 

* * *

 

 

Die Feuchte aus seiner Kleidung schlug sich an den Scheiben nieder, immer wieder musste er sich mit dem Ärmel seiner Jacke die Sicht freiwischen. Im Schritttempo fuhr er den Seitersweg hoch. Trotz voll aufgedrehter Heizung fröstelte er. Immerhin hatte das Schneetreiben etwas nachgelassen. Auf Höhe der kleinen Schrebergartensiedlung stellte er den Passat ab und stieg aus. Die Nachtkälte verwandelte seine Hosenbeine innerhalb von Sekunden in zwei steife Röhren, in denen er mit seinen ramponierten Knöcheln stakste wie ein Kriegsveteran mit Prothesen.

Es war nicht einfach, die richtige Hausnummer zu finden – die Bungalows in dieser Premiumlage stellten architektonisches Understatement zur Schau, ihre solventen Bewohner boten die Sicherheitstechnik, mit der sie sich vor Übergriffen der Unterschicht  schützten, nicht auf dem Präsentierteller dar. Keine Namen, keine Hausnummern, diskret montierte Videokameras, die die formale Strenge der Fassadengliederungen nicht störten. In zehn oder 20 Jahren würde hier wahrscheinlich Darmstadts erste Gated Community entstehen.

Rünz fluchte, als er vor dem Haus stand, eine in schwarz patiniertes Zinkblech gehüllte, zur Straßenseite fast fensterlose Skulptur auf einem schmalen Betonsockel, mit dem für Gewerbebauten typischen Sheddach. Vielleicht hatte ihm die Sicherheitsbeamtin am Eingangsportal des ESOC-Geländes die falsche Adresse gegeben, und das nach all der Mühe, die er sich gegeben hatte, um sie weichzuklopfen. Er hatte mit improvisierter hessischer Mundart von den abgehobenen Sesselfurzern in der Chefetage des Präsidiums gesprochen und tatsächlich so etwas wie kumpelhafte Solidarität zwischen ihm und ihr herstellen können, schließlich arbeiteten sie beide für die Sicherheitsbranche. Sie schien dankbar für etwas Ablenkung, war ins Plaudern gekommen, hatte von den Eigenarten und Spleens der Mitarbeiter des ESOC erzählt. Aus ihren Äußerungen konnte er schließen, dass in Darmstadt für den nächsten Tag eine kurzfristig organisierte Sondersitzung von ESA mit Entscheidungsträgern und Wissenschaftlern aus ganz Europa angesetzt war, und Sigrid Baumann hatte am Vorabend zu einem privaten Empfang geladen.

Rünz ging ein paar Schritte weiter zur Ostseite des Gebäudes, wo eine schaufenstergroße Glasscheibe einen Blick ins Innere freigab. Und dann sah er sie inmitten einer Gruppe leger gekleideter Männer und Frauen aller Altersgruppen, in den Händen Gläser mit Orangensaft und Mineralwasser, angeregt diskutierend. Keine Partystimmung, eher der entspannte wissenschaftliche Diskurs am Rande einer Antrittsvorlesung.

 

 

* * *

 

 

Sie hatte von fünf Minuten gesprochen, jetzt wartete er schon fast eine halbe Stunde. Die Hosenbeine tauten langsam, der nasse, kalte Stoff klebte ihm an den Beinen. Rünz schaute sich um. Sigrid Baumanns Innenarchitekt litt entweder unter einer dissoziativen Persönlichkeitsstörung, oder er vertrat eine Art fundamentalistischen Eklektizismus, was letzten Endes auf das Gleiche hinauslief. Die Gebäudehülle, Foyer und Arbeitsbereich entsprachen einer zeitgemäßen, transparenten und intelligenten Zweckarchitektur; der Teil, in dem Rünz saß, war eine Zeitreise zu einem britischen Upperclass-Club des frühen 19. Jahrhunderts. Regency-Möbel aus dunklem Mahagoni und Palisander mit den Gebrauchsspuren zweier Jahrhunderte, mit aufwendigen Fadenintarsien und Beschlägen aus gegossenem Messing und feuervergoldeter Bronze, Löwenmasken als Griffe und Tatzenfüße, Stühle und Tische mit Säbelbeinen, Wandmalereien, marmorne Hermen mit antiken Köpfen. Kalter Zigarrenrauch und die muffigen Ausdünstungen der ledernen Folianten in den Bücherregalen juckten ihn in der Nase, er nieste. Die Minuten verstrichen, ihm wurde langweilig. Schließlich stand er auf, schlenderte an den Regalen entlang und studierte die Bücherrücken. Die Geburtshelfer der modernen Teilchenphysik waren lückenlos repräsentiert mit Originalausgaben, Faksimiles, alten Vorlesungsskripten und gebundenen Sammlungen wissenschaftlicher Zeitungen aus den 20er- und 30er-Jahren – neben Einsteins Arbeiten standen Niels Bohrs Forschungen über die Atomstruktur, Erwin Schrödingers Wellenfunktion zur Beschreibung von Quantensystemen und Werner Heisenbergs Arbeiten zu Unschärferelation und Quantenfeldtheorie. Zwischen all den Antiquarien fiel ihm ein modern anmutendes Werk in brauner Taschenbuchbindung auf. Der Band war fest eingezwängt zwischen den mächtigen wissenschaftlichen Werken, er musste mit aller Kraft daran ziehen.

 

How to Survive in Space

by Madeleine Schäfer

 

Er setzte sich. Die Autorin war offensichtlich eine langjährige Mitarbeiterin des ESOC und seiner Vorgängerorganisationen, sie hatte akribisch Anekdoten, Fakten, Zitate und Bilder zusammengetragen, mit denen sie die Geschichte der europäischen Raumfahrtaktivitäten in Darmstadt chronologisch erzählte – vom 1963 mit drei Mitarbeitern gegründeten European Space Data Center ESDAC im Deutschen Rechenzentrum in der Rheinstraße bis zum Start der Cassini/Huygens-Mission 1997. Die Fotos im Mittelteil gaben einen Eindruck vom Improvisationstalent und Gründergeist der ersten Generation europäischer Weltraumforscher und ihren weltweiten Arbeitsplätzen – selbst auf den Falklandinseln unterhielt die ESA in den 70er-Jahren eine kleine Empfangsstation. Eine Aufnahme aus dem Jahr 1973 zeigte die Betriebsmannschaft des Außenpostens – ein einziger Mann – beim Füttern einer Gruppe von Pinguinen, und wenn Rünz nicht schon gesessen hätte, dann wären ihm spätestens in diesem Moment die Beine weggeknickt. Die massige Gestalt, das runde Gesicht mit dem fliehenden Kinn und die spitzbübische kleine Himmelfahrtsnase – er las die Bildunterschrift:

 

Giuliano Rossi holding a staff meeting on the Falklands

 

Etwas knarzte hinter ihm, er fuhr herum. Einige Meter von ihm entfernt sah er von hinten die hochgezogene Lehne eines ledernen Clubsessels, direkt vor einem Panoramafenster mit freiem Blick auf das Oberfeld. Es hatte aufgehört zu schneien, die weiße Decke reflektierte das Mondlicht und tauchte die nächtliche Landschaft in ein fahles Dämmerlicht.

Aus dem Kopfteil des Sessels standen einige Faserbüschel der Polsterung senkrecht heraus wie eine erstarrte Rauchfahne, so als hätten ein paar Mäuse das Leder aufgebissen und die Wattierung für den Nestbau herausgezogen. Rünz starrte gebannt auf die Fasern. Sie bewegten sich leicht, aber er spürte keinerlei Luftzug im Raum.

 

»’at sie …, ’at sie noch etwas gesagt

Der Haarschopf, der französische Akzent, Rünz brauchte einige Sekunden, bis er das Puzzle aus den Versatzstücken seiner Erinnerung zusammengelegt hatte. Er saß mit Charlis Vater in einem Raum.

Gab es irgendjemanden, den er hier weniger erwartet hätte? Vielleicht den Papst. Er wurde unruhig, geriet in Rechtfertigungszwang, ohne dass der Alte ihm einen Vorwurf gemacht hatte. Hätte er ihren Tod irgendwie verhindern können? Er wusste nicht, was sie ihm erzählt hatten, suchte nach den passenden Worten, um dem Alten die Todesumstände seiner Tochter möglichst schonend beizubringen. Wie war die offizielle Formulierung, mit der das Militär Angehörige unterrichtete? Schnell und schmerzlos gefallen auf dem Feld der Ehre beim mutigen Einsatz für Gott und Vaterland.

»Es ging zu schnell, die Kugel hat ihre Aorta zerrissen, sie hat sofort das Bewusst…« Rünz stockte. Er war nicht sicher, ob diese technischen Details dem Alten wirklich guttaten, außerdem entsprach es nicht ganz der Wahrheit.

»Isch ’abe ihr gesagt, sie soll machen diese Programm«, murmelte der Alte. Rünz musste sich konzentrieren, um ihn zu verstehen.

»Isch ’abe gesagt zu ihr, du musst ’aben pratique intérnationale

»Wir, wir haben sie alle sehr gemocht im Präsidium. Es tut mir sehr leid für Sie

Der Franzose machte keinerlei Anstalten aufzustehen, um das Gespräch von Angesicht zu Angesicht fortzuführen.

»Sie sind ’ier, weil Sie wollen finden die Mörder von Charlotte, ’err Runz

»Na ja, eigentlich ist das nicht mehr meine Aufgabe, offiziell jedenfalls

»Und Sie sind ’ier officielle oder nischt officielle …

Rünz schwieg.

»Sie sind die letzte Mensch, die meine Tochter gese’en ’at vor ihre Tod. Und jetzt, Sie wollen finden ihre Mörder. Wer kann das besser verste’en als isch

Rünz’ Nase fing an zu laufen, da der Alte ihn nicht sah, wischte er sie einfach mit dem Ärmel seiner Jacke ab. Der festgebackene Schnee in den Profilsohlen seiner Stiefel schmolz langsam, um seine Füße herum bildete sich eine schmutzige Pfütze auf dem Parkett.

»Warum sind Sie hier

»Isch wurde eingeladen. Von Frau Baumann und die Dirécteur Général von ESOC. Isch kam wie Sie, wollte finden die Mörder von meine Tochter. Aber jetzt isch bin nischt mehr so sischer …«

»Sie sind nicht mehr sicher, ob Sie die Mörder …«

 

»Er ist sich nicht mehr sicher, ob es nicht etwas viel Wichtigeres gibt

Rünz fuhr herum, er hatte nichts gehört. Möglich, dass Summers seit den ersten Sekunden des Gespräches hinter ihm stand.

»Zum Beispiel das Leben seiner 16 Enkel. Und deren Kinder und Enkel. Entschuldigen Sie meine Verspätung, Gerry Summers, ich bin Director of Operations and Infrastructure der European Space Agency hier in Darmstadt. Sie haben eine Verletzung an der Stirn, benötigen Sie einen Arzt

Rünz schüttelte den Kopf, Summers setzte sich zu ihm.

»Ich hatte einige längere Telefonate, unter anderem mit Ihrem Vorgesetzten Hoven und einem ziemlich unsympathischen Richter des Bundesgerichtshofes. Die Herren waren nicht begeistert von meinem Vorschlag, Sie einzuweihen. Wir von der ESA waren in diesem Punkt übrigens von Anfang an anderer Meinung. Offensichtlich haben Ihre Vorgesetzten Sie unterschätzt, was die Schnelligkeit und den Erfolg Ihrer Ermittlungen angeht – und Ihren Widerstand gegen Anordnungen von oben. Sie hatten die naive Vorstellung, Sie würden einfach ein paar Tage ins Leere laufen und dann die Akte schließen

Summers souveräne Ausstrahlung, der Duft seines Rasierwassers, seine tiefe, sonore Stimme lullten Rünz ein, er fühlte sich entspannt, sicher und friedlich wie der kleine Karl in der Schreinerei, während der Mittagspause, beim Altgesellen Friedrich auf dem Schoß.

»Der Bundesgrenzschutz – so viel darf ich Ihnen ausrichten – hat vor einer halben Stunde auf dem Frankfurter Flughafen drei russische Staatsbürger festgesetzt. Die Männer wollten mit gefälschten Diplomatenpässen für einen Linienflug nach Moskau einchecken, einer der drei hatte schwere Brandverletzungen am Kopf, sie wollten angeblich eine Moskauer Spezialklinik aufsuchen, aber das Flugpersonal hielt ihn nicht für transportfähig und alarmierte den Sicherheitsdienst.«

Charlis Vater grunzte befriedigt.

»Wer, fragte Rünz. »Und warum?«

»Ein paar korrupte Mitarbeiter des russischen Inlandsgeheimdienstes, ein bestechlicher Techniker in der Botschaft in Berlin – der FSB hat das Netzwerk schon ausgehoben und Auslieferungsanträge gestellt. Tommaso war ein Mensch mit überirdischen Leidenschaften und Talenten und sehr irdischen Sorgen – Schulden. Er wollte mit seinen Talenten seine Probleme lösen, Informationen verkaufen, aber er war nicht sehr wählerisch bei der Auswahl seiner Kontakte

»Also doch Industriespionage?«

Summers schwieg.

»Das Signal …«, sagte Rünz

»Ob es echt ist? Glauben Sie mir, an den ESA-Standorten in Nordwijk, Villafranca, Frascati, Paris und Darmstadt haben sich in den letzten Tagen einige sehr intelligente Menschen die Köpfe heiß diskutiert über diese Frage. Und morgen werden diese Menschen hier im Europaviertel zusammenkommen und weiterdiskutieren. Einige Experten halten das Signal für eine Fälschung, und sie haben ein paar stichhaltige Argumente. Was den Anhängern dieser Fraktion Bauchschmerzen bereitet, sind …«

»… die Mersenne-Primzahlen.«

Summers war verblüfft.

»Richtig. Wer hat Ihnen das gesagt? Dann wissen Sie auch von Apophis

»Ich hatte zwei außergewöhnlich fähige Hilfskräfte. Was ist mit Ihnen, halten Sie es für echt

»Wir müssen zwei Fragen klären. Die erste: Bietet das Signal eine zuverlässige Prognose über die Bewegungen der Planeten und NEOs unseres Sonnensystems in den nächsten 50 Jahren? Wenn ja, dann wird im Mai 2018 ein Objekt aus dem Asteroidengürtel Apophis extrem nahe kommen und eine minimale Bahnänderung verursachen, die alle aktuellen Berechnungen der NASA über die Einschlagwahrscheinlichkeit über den Haufen wirft. Apophis wird dann auf der Erde einschlagen, irgendwo auf einer gedachten Linie, die von Mittelamerika über den Nordpazifik bis nach Sibirien reicht – wenn wir nichts dagegen unternehmen

»Etwas dagegen unternehmen?? Was können Sie schon tun, außer zuschauen …«

Summers schmunzelte.

»Da irren Sie sich, verheerende Asteroideneinschläge sind die einzigen globalen Naturkatastrophen, die wir mit unseren heutigen technischen Mitteln verhindern können – wenn wir die Objekte früh genug identifizieren! Je früher wir vor dem Einschlag eingreifen, umso leichter ist es. Eine minimale Beeinflussung der Trajektorie reicht aus, um den Asteroiden an der Erde vorbeizulotsen. Ein kleiner Impaktor, oder ein Ionentriebwerk, das dem Objekt über einige Wochen einen kleinen Impuls in die richtige Richtung gibt, all das ist möglich. Kennen Sie Don Quijote

Rünz lächelte gequält.

»Nein, ich meine nicht Ihre Rolle in diesem Mordfall, sondern das gleichnamige ESA-Projekt. Bedrohungen durch NEOs treffen uns nicht ganz unvorbereitet. Wir arbeiten seit ein paar Jahren an den Planungen für eine Mission zur Ablenkung eines Asteroiden durch einen Impaktor. Keine reale Bedrohung, ein Testlauf sozusagen. Vielleicht kommt für Don Quijote der Ernstfall schneller als erwartet …« 

»Und die zweite Frage?«

»Wenn das Signal echt ist, wer ist dann der Autor

Rünz kicherte.

»Wissen Sie, ein Hobbyastronom von der Volkssternwarte hat mich bei den Ermittlungen unterstützt. Er hat diese fixe Idee, Rossi hätte das Signal mit Ihrer Rosetta-Sonde aufgefangen, von irgendeinem Objekt im Asteroidengürtel, Ida oder Dactyl. Eine außerirdische Warnboje sozusagen, die uns vor Meteoriteneinschlägen schützen soll. Er wollte mir weismachen, Rossi wäre eigens nach Australien geflogen, um an dieser Riesenantenne in New Norcia die Daten abzufangen

Rünz erzählte es, als handelte es sich um ein völlig absurdes Hirngespinst, und er hoffte inständig, Summers würde ihm zustimmen, mit ihm darüber lachen, ihn endlich aus diesem lächerlichen Albtraum herausreißen. Aber der ESOC-Chef reagierte nicht.

»Was war mit dem Delay? Was war mit der Harpune

»Ein Zwischenfall bei der Bestückung mit den Treibsätzen. Einer der kleinen Sprengkörper entzündete sich kurz vor dem Einbau, Rossis Kollege wurde dabei leicht verletzt. An der Trägerrakete und dem Satelliten gab es keine Beschädigungen, die eine Startverschiebung notwendig gemacht hätten, aber wenige Stunden später mussten wir wegen der Probleme an den Triebwerken die Startvorbereitungen abbrechen. Wenn Sie mich jetzt fragen, ob Rossi bei diesem Zwischenfall die Finger im Spiel hatte – ich weiß es nicht, wir werden es auch nicht mehr rekonstruieren können

Rünz starrte sprachlos auf die Lache vor seinen Füßen. Es gärte in ihm, er war all der Geheimniskrämerei so überdrüssig. Er hatte Lust, alles herauszuschreien, Tageszeitungen und Fernsehsender anzurufen, den Menschen die ganze Geschichte um die Ohren zu hauen, als könnte er damit Charlis Tod wiedergutmachen. Er vermisste sie.

Summers schien seine Gedanken zu erraten.

»Tun Sie das besser nicht, es wäre Ihr sozialer Suizid. Wissen Sie, wie viele Menschen täglich versuchen, solche Geschichten zu verbreiten? Sie wären in bester Gesellschaft – Leute, die glauben, dass die CIA J. F. Kennedy ermordet hat, dass die NASA die Mondlandungen inszeniert hat, das AIDS-Virus vom Pentagon entwickelt wurde, die NSA hinter 9/11 steckt und in der Area 51 seit den 50er-Jahren ein Außerirdischer in einer Tiefkühltruhe versteckt wird. Sparen Sie sich diese Demütigung in der Öffentlichkeit. Und wenn die Entscheidungsträger es für notwendig halten, werden sie nicht zögern, Sie in der Öffentlichkeit als unzurechnungsfähig darzustellen. Mit ärztlichem Attest.«

Summers tippte sich symbolisch mit dem Zeigefinger an die Schläfe. Sie kannten die Diagnose.

»Was ist mit dieser Arecibo-Message

»Wenn Sie mich fragen – Rossi hat sie als verkaufsfördernde Verpackung benutzt. Seine ersten Versuche, das Signal bei Geheimdiensten zu vermarkten, scheiterten. Die Geschichte dahinter war zu unglaubwürdig, die Datenstruktur zu unspektakulär. Also hat er als Amuse-Bouche die Arecibo-Message aus dem Internet heruntergeladen und drangehängt und prompt Interessenten gefunden. Leider die falschen.«

»Ich kann das alles nicht glauben. Ein einzelner Ihrer Mitarbeiter benutzt Ihren Satelliten als Abhörmikrofon und umgeht all diese Sicherheitsschranken und Zugangscodes, ohne erwischt zu werden

»Normalerweise natürlich nicht. Aber er hat die ganze Operation strategisch vorbereitet, Passwörter ausgespäht, an den Simulationsmodulen trainiert, Batchprogramme geschrieben, mit denen er Arbeitsschritte automatisieren konnte, die normalerweise von verschiedenen Mitarbeitern simultan abgearbeitet wurden. Er hat unter falschem Namen mit den Crews unseres Deep Space Networks in Spanien und Australien Kontakt aufgenommen, Sie selbst haben ja seinen Ausflug nach New Norcia aufgedeckt. Er war ein verdammt heller Kopf, ein Genie auf seinem Gebiet, und die technische Infrastruktur an Bord der Sonde war ja für den Empfang vorhanden, er hatte sie in Italien mit entwickelt

Bei Summers schien eine Spur Begeisterung für Rossis Hazardeurstück mitzuschwingen, letztendlich war er aus ähnlichem Holz geschnitzt.

»Was wird jetzt passieren, ich meine, wenn die Botschaft stimmt, fragte Rünz.

»Wenn Sie eine Katastrophe mit globalen Ausmaßen exakt vorausdatieren können, sollten Sie mit der Veröffentlichung warten, bis Sie einige handfeste Gegenmaßnahmen entwickelt haben. Sonst findet die Katastrophe schon vorher statt. Für die Kommunikation mit außerirdischen intelligenten Lebensformen gelten ähnliche Vorsichtsmaßnahmen – denken Sie nur an die verheerenden sozialen Folgen, die der Erstkontakt isolierter Eingeborenenvölker mit der Außenwelt oft hat. Es wird also vorerst wahrscheinlich nichts passieren, was für eine große Schlagzeile auf einer Titelseite taugen würde. Änderungen in den mittel- und langfristigen strategischen Planungen der Weltraumagenturen, Umschichtungen in den Budgets, Projekte werden gestrichen oder zurückgefahren, andere rutschen in der Prioritätenliste nach oben, zum Beispiel die NEO-Programme und unbemannte Erkundungsflüge durch den Asteroidengürtel. Strategien zur Asteroidenabwehr kommen ganz oben auf die To-do-Liste. Die Radioteleskope werden weltweit ihre Beobachtungsprogramme umstellen, außerdem wird es mehrere Missionen zu Ida geben, deklariert als reine Grundlagenforschung …«

 

Der Ledersessel auf der anderen Seite des Raumes knarzte erneut, Charlis Vater erhob sich mühsam und kam auf die beiden zu. Nichts war geblieben von seiner Vitalität bei ihrer ersten Begegnung im Präsidium, er war ein gebrochener Mann und schlurfte mit hängenden Schultern über das Parkett. Er kam näher, immer näher, stützte sich auf Rünz’ Stuhllehne, beugte sich herunter, bis sein Mund direkt am Ohr des Kommissars war.

 

»’at sie wirklisch nischts mehr gesagt, Monsieur

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