Epilog

 

Sein Hals schmerzte, er hatte Schüttelfrost, und seine Nase lief ohne Unterlass. Um die Heizung schneller auf Touren zu bringen, drehte er den Motor im Leerlauf hoch. In seiner Gesäßtasche drückte ihn etwas, er zog es heraus – das Feuerzeug aus der Volkssternwarte. Er legte es auf das Armaturenbrett. Dann nahm er es wieder in die Hand, entzündete es und testete ein paar Mal, wie lange er die Hand über die Flamme halten konnte. Die Oberfläche des kleinen Metallgehäuses war fein gebürstet, aber er spürte mit der Fingerkuppe auch glatt polierte Stellen. Er schaltete die Leselampe an. Die glänzenden, polierten Bereiche waren die Konturen eines menschlichen Gesichtes – Jon Bon Jovi schmachtete ihn mit toupierter Löwenmähne und Schlafzimmerblick an. Existierten Menschen, die Bob Dylan und Bon Jovi mochten? Vielleicht hatte er Stadelbauer doch unterschätzt.

Als er eine Stunde zuvor ausgestiegen war, hatte er wohl den Innenspiegel berührt, die Halterung war verdreht, er sah seine Augenpartie im Spiegelbild, die Wunde an der Stirn, die vertrocknete Blutkruste, die sich bis zu seinem Kinn hinunterzog. Sein lädiertes Gesicht erinnerte ihn an das eines anderen Menschen, und er musste gar nicht lange überlegen. Es war die Fernsehdokumentation über den Kriegsfotografen, James Nachtweys Bürgerkriegsmotiv, der junge Afrikaner auf der zerstörten Straße, sein von Angst, Anspannung und Entbehrung gezeichneter Blick, der Abend vor dem Einsatz auf dem Knell-Gelände. Der Afrikaner hatte keinen Grund zur Sorge, was den Asteroiden anging, er würde den Einschlag kaum erleben. Rünz dagegen wäre Mitte 70, wenn alle Gegenmaßnahmen versagten und die kosmische Katastrophe zuschlug, ein Alter, das er nach der mittleren Lebenserwartung in westlichen Industrieländern vielleicht erreichen würde. Die Sorge um einen Gesteinsbrocken, der im Jahr 2036 auf die Erde stürzen würde, war letzten Endes ein Wohlstandsproblem.

Plötzlich, als hätte sein Gedächtnis das lose Ende in einem wirren Knäuel gefunden, spulte es mit atemberaubender Geschwindigkeit die Stunden des Mordtages ab, die Erinnerung traf ihn mit der Wucht einer Granate. Ein schweigsames Frühstück mit seiner Frau, seine Fahrt zum Baumarkt, die drei Russen in der Farbenabteilung, der schwer verletzte Italiener, der Beschuss aus dem Bunker, Charlis Auftritt, sein verzweifelter Angriff – die Vorführung im Zeitraffer endete abrupt mit seinem Sturz über die Schiene. Dann lief alles ganz langsam, wie in einer unwirklich gedehnten, hyperrealistischen und detailreichen Zeitlupe. Der Aufschlag auf den harten Beton, die Lähmung, der Blickkontakt mit Charli, unscharf durch seine lädierte Hornhaut, ihr verzweifelter Versuch, noch einige Worte herauszubringen. Sein gottergebenes Warten auf den tödlichen Schuss, der verzweifelte Versuch, sie zu verstehen, die letzte menschliche Botschaft, die er mit ins Jenseits nehmen konnte, die finalen Worte, nach denen ihr Vater ihn gefragt hatte. Sie hatte die verbleibenden Luftreste aus den blutgefüllten Lungenflügeln durch ihre Stimmbänder gepresst, und Rünz hatte ihre Worte mit ins Koma genommen – leise, aber klar, deutlich und unmissverständlich.

 

»Es ist in deinem Kopf, Karl …«