Er stand schweigend mit verschränkten Armen daneben und versuchte, eine Chuck-Norris-ich-weiß-dass-wir-ihn-erwischen-werden-Entschlossenheit auszustrahlen.

Habich unterzog die Säume einer genauen Sichtprüfung, bevor sie sie aufschnitt und das mehrfach aufgewickelte Gewebe auseinanderrollte und abklopfte. Auf dem Untersuchungstisch sammelten sich Flusen, Fadenstücke und vertrocknete Waschmittelrückstände. Sie arbeitete sich systematisch von der Kapuze über die Ärmel nach unten vor, kontrollierte zwischendurch immer wieder mit der Lichtlupe die Ernte auf der Tischplatte. Zum Schluss nahm sie sich das H&M-Markenschild im Rückenteil vor und stutzte.

»Sieht aus, als hätte das mal jemand sorgfältig rausgetrennt und wieder von Hand eingenäht. War aber ein ziemlich untalentierter Perfektionist dran, zwei Stiche pro Millimeter, aber völlig unregelmäßig, das ist nicht die gleichmäßige Arbeit einer Industriemaschine

Sie brauchte Minuten, um mit einem Skalpell die Naht auf einer Seite aufzutrennen, ohne das Baumwollgewebe zu zerstören. Dann führte sie vorsichtig eine Pinzette in den offenen Schlitz ein – und zog ein Kondom heraus.

»Als Notreserve für einen Quickie zu gut versteckt, wenn Sie mich fragen«, lachte Habich.

Rünz fragte sie nicht, er starrte auf das Präservativ. Ein straff zugezogener Knoten bildete aus der Spitze des Gummis ein fingerhutgroßes Reservoir. Bartmann hatte keine Drogenrückstände in Rossis Körper gefunden, also hatte er gedealt. Endlich eine irdische Spur.

»Dann wollen wir mal sehen, auf welche Produkte sich unser italienischer Pharmareferent spezialisiert hat

Habich schnitt mit ihrem Skalpell die Spitze des Gumminippels ab und schüttete den Inhalt auf den Leuchttisch. Sie waren beide perplex – Dutzende winziger, glitzernder schwarzer Kristalle rieselten wie Schlumpfkonfetti auf die Glasplatte.

»Was zum Teufel ist das, fragte Rünz.

Mit der Pinzette sammelte sie einige Plättchen auf einem Blatt Papier und hielt sie unter die Leuchtlupe.

»Jedenfalls kein getrockneter Fliegendreck. Die Dinger sind exakt quadratisch, weniger als ein Millimeter Kantenlänge

Sie bog die Ecken des Blattes hoch, sodass sich eine kleine Tasche bildete, und ging damit zum Stereomikroskop. Rünz folgte ihr. Die Anlage glich einem Hightech-Bohrständer, die gesamte Mikroskopiereinheit hing an einer massiven Profilsäule und konnte über drei Bewegungsachsen mit einem kabellosen Controlpanel gesteuert werden. Habich ließ die Partikel vom Papier auf einen gläsernen Objektträger rutschen. Rünz verfolgte am Monitor, wie die Kriminaltechnikerin eines der glänzend schwarzen Plättchen fokussierte. Mit geringer Vergrößerungsstufe konnte er nichts als einen breiten, rechteckigen Rahmen auf einer Grundplatte ausmachen. Je näher Habich heranzoomte, umso mehr löste sich dieser Rahmen in eine komplexere Struktur auf – einzelne, eng aneinanderliegende Linienstränge. Der komplette Aufbau war erst zu erkennen, als das Objekt das Bildschirmformat ausfüllte. Eine winzige Leiterbahn aus Kupfer führte auf einem kaum halbmillimetergroßen rechteckigen Grundriss in konzentrischen Windungen von außen nach innen und war in der Mitte mit einem zentralen Miniaturschaltkreis verbunden.

»Ein Computerchip, fragte Rünz.

Habich lehnte sich zurück und legte die Füße neben dem Mikroskop auf den Tisch.

»So was Ähnliches. Ein RFID-Transponder. Die Leiterbahn hier außen ist die Antenne. Das eigentliche Herzstück ist dieser Chip, ein Datenspeicher, der über die Antenne berührungslos beschrieben und ausgelesen werden kann

»Wozu benutzt man diese Dinger

»Logistik, automatische Kontrolle von Warenströmen, elektronische Kennzeichnung von Produkten in Supermärkten und Kaufhäusern, Teilekennzeichnung bei der Automobilindustrie, Patientenbetten in Krankenhäusern, Zutrittskontrollen, kontaktlose Chipkarten, Markierung von Nutztieren – suchen Sie sich aus, was Sie wollen. Sie können heute kaum noch irgendein Produkt kaufen, an dem nicht irgendwo so ein Transponder dranhängt. Die Dinger werden aufgeklebt und eingenäht, normalerweise bekommen Sie die nie zu Gesicht. Man kann die sogar in Glaskapseln eingießen und Milchkühen unter die Haut pflanzen

Rünz blies enttäuscht die Backen auf.

»Welche Datenmengen kann man auf die Dinger draufpacken

»Die Technik ist erst seit ein paar Jahren auf dem Markt, bislang haben 128 Bit für die meisten Zwecke ausgereicht. Aber das hier …«, sie klopfte mit dem Stift auf den Bildschirm, »… ist allerneueste Generation. Die Transponder, die ich bis jetzt gesehen habe, hatten eine Fläche von mindestens einem Quadratzentimeter, den hier bringen Sie ja in einer Zahnfüllung unter. Die werden wir uns mal genauer anschauen. Werde morgen versuchen, die Daten auszulesen. Aber für heute ist Feierabend

Sie schaute auf die Uhr. Noch vor einigen Wochen hätte solch eine Entdeckung sie begeistert und veranlasst, nächtelang durchzuarbeiten – im Moment schien sie andere Prioritäten zu haben. Ihr Hormongeysir fing an zu spucken. Carpe noctis.

 

 

* * *

Gerade rechtzeitig für die Sitzung bei der Paartherapeutin kam er eine Stunde später aus Wiesbaden zurück. Euphorisiert von dem kleinen Fahndungserfolg, den er letztendlich der Unterstützung seiner Frau zu verdanken hatte, erwog er kurz, von seinem Traum mit den Mittermaier-Neureuther-Dämonen zu erzählen. Sicher gab es da einiges zu deuteln im Hinblick auf unerfüllte sexuelle Fantasien und Kontrollängste, aber die Therapeutin steuerte in eine andere Richtung.

»Was mögen Sie an Ihrer Frau, Herr Rünz. Warum haben Sie sie geheiratet

Rünz zögerte. Er schaute seiner Frau skeptisch in die Augen und kramte in seinem karg möblierten Gefühlshaushalt nach einer Form der Liebeserklärung, die ihm zumindest einen Rest männlicher Selbstachtung bewahrte.

»Ich finde dich einfach unheimlich – ähm – …«, ein Begriff bildete sich in seinem Sprachzentrum und fiel auf dem Weg zum Mund durch alle Zensurinstanzen, die das Großhirn eines zivilisierten Erwachsenen bereitstellte, wie eine dünne Nürnberger Bratwurst durch die Metallstäbe eines Grillrostes.

»… einfach praktisch!«

 

 

* * *

 

 

Nach der missratenen Therapiestunde war die Übergabe ihres Geburtstagsgeschenkes eine eher formelle und unterkühlte Angelegenheit gewesen, sie hatte es ihm überreicht wie eine Postbeamtin ein Paket am Schalter. Mit ihren unvorhersehbaren Empfindlichkeiten ging sie ihm zwar oft auf die Nerven, aber eins musste Rünz seiner Frau lassen – sie wusste, wie sie ihm eine Freude bereiten konnte. 540 Minuten ›Walker, Texas Ranger‹ auf DVD, mit reichlich Bonusmaterial, das war nicht zu übertreffen. Die Serie bot das, was Rünz in diesen unübersichtlichen Zeiten am nötigsten brauchte – die Reduktion von Komplexität. Sowohl die Plots als auch die Figuren waren völlig frei von verstörender Ambivalenz. Bei Walker waren die Bösen definitiv abgrundtief böse und die Guten alle Mutter Teresa. Chuck Norris chargierte als ultrakonservativer Hartdurchgreifer, der Todesurteile schon mal vorab auf der Straße vollstreckte, um das Justizsystem nicht über Gebühr zu belasten. Um sich von Ku-Klux-Klan-Rassisten klar abzugrenzen, stellte ihm das Script stets einen afroamerikanischen Deputy zur Seite, ein politisch korrekter Vegetarier, der unter seinem Stetson immer etwas dümmlich dreinschaute.

Rünz gönnte sich zwei Folgen und entschied, die weiteren wie einen guten Rotwein auf die nächsten Tage zu verteilen. Seine Frau hatte dem Geburtstagspäckchen noch ein Buch beigelegt, er zog es aus dem Geschenkpapier und las den Titel.

 

Jürg Willi

Die Zweierbeziehung

 

Jürg Willi war, so schloss er aus einigen unfreiwillig mitgehörten Telefonaten mit ihrer besten Freundin, so etwas wie ein Spiritus Rector und Reich-Ranicki der heterosexuellen Partnerschaft, dem eine stattliche Fangemeinde Deutungshoheit über die komplexen Gefühlsverstrickungen urbaner Paarbeziehungen in westlichen Wohlstandsgesellschaften zuschrieb. Als ob jenseits des fortpflanzungs- und baufinanzierungstechnischen Zweckbündnisses in der Partnerschaft zwischen Mann und Frau irgendein tieferer Sinn existierte. Rünz hielt es in solchen Fragen eher mit Oscar Wilde – es gab keine Wahrheit hinter dem äußeren Schein. Er versuchte, das Buch wieder einigermaßen glatt in das angerissene Geschenkpapier einzuwickeln, und legte es in seine Aktentasche. In knapp vier Wochen hatte sein Schwager Geburtstag.

Dann legte er sich schlafen. Schon nach wenigen Minuten sprang sein Traumkino an, er lag in einer Untersuchungsapparatur, die einem Weltraumsatelliten ähnelte, seine Arme waren links und rechts wie bei einer Kreuzigung auf den Solarpanels festgeschnallt. Von der Seite schwebte ein Astronaut im Raumanzug herbei und nahm den Helm ab. Es war der schöne junge Mediziner, er schüttelte sich den Sternenstaub aus seinem güldenen Haar. Dann sagte er vier Worte.

 

›Ihr Tumor ist bösartig.‹

 

Subjekt – Prädikat – Objekt. Einfach, klar und geradeaus.

 

Schweißgebadet schreckte er auf. Er tastete nach seiner Armbanduhr auf dem Nachttisch, es war eine Stunde nach Mitternacht. Er hatte Kopfschmerzen. Seit der Diagnose hatte jede körperliche Beschwerde eine existenzielle Konnotation, harmloses Seitenstechen konnte eine Panikattacke auslösen. Zudem lähmte der Schlaf, der Bruder des Todes, alle Verdrängungsmechanismen, die ihm über den Tag halfen. Es würde dauern, bis er wieder einschlafen konnte, also stand er auf, zog sich seine Hose an und schlurfte ziellos in der Wohnung herum. Er strandete in der Kammer, ein kleiner Raum mit reichlich Dachschräge, einem seit Jahren unbenutzten Gästebett und überflüssigem Gerümpel von der Sorte, das man ein oder zwei Jahrzehnte aufbewahrte, bevor man es auf den Sperrmüll brachte. Zum ersten Mal, seit sie hier wohnten, wurde ihm bewusst, dass er sich hier eigentlich in einem Kinderzimmer befand, wenn man sich den ursprünglichen Sinn des Grundrisses vergegenwärtigte. Rünz schluckte. Letztlich war seine Kotzangst der ausschlaggebende Grund für ihre Kinderlosigkeit, er hätte niemals einen so virilen Infektionsherd wie ein Kleinkind um sich herum dulden können. Seine Neurose verlangte ihm einen der höchsten Preise ab, die man im Leben zahlen konnte – den Verzicht auf Fortpflanzung. Tränen stiegen ihm in die Augen. Die Diagnose hatte ihn abrupt mit seiner Vergänglichkeit konfrontiert, und wie nie zuvor in seinem Leben erfüllte ihn mit Macht die Sehnsucht, sich mit einem kleinen Menschen zu verewigen.

Er musste sich irgendwie ablenken. Mitten im Raum stand der Karton mit dem Teleskop. Stadelbauer hatte es ihm einige Tage zuvor vorbeigebracht, als unbefristete Leihgabe. Rünz hatte ihn nicht darum gebeten, der Astronom versuchte offensichtlich, ihn für die ganze Sternengeschichte zu begeistern, vielleicht wollte er ein neues Vereinsmitglied akquirieren. Was die Aggressivität seiner Mitgliederwerbung anging, konnten sich die Scientologen eine dicke Scheibe von ihm abschneiden. Der Astronom hatte das Gerät vor einigen Jahren ausgemustert, aber versichert, es sei für den Einstieg genau das Richtige. Fast eine Stunde hatte er Rünz am Telefon die Vor- und Nachteile der verschiedenen Bauweisen erläutert, über physikalische Funktionsprinzipien von Refraktoren und Reflektoren referiert, Newton-Spiegel mit Schmidt-Cassegrain-Systemen verglichen, azimuthale Montierungen den parallaktischen gegenübergestellt. Rünz schaltete das Deckenlicht an, öffnete den Karton und nahm die Einzelteile heraus. In einer zerfledderten Kladde fand er eine ausführliche Anleitung, die er sich auf dem Boden bereitlegte. Ein stabiles dreibeiniges Stativ bildete das Fundament der ganzen Anlage, er zog die Stützen so weit wie möglich auseinander, dann setzte er behutsam die Montierung auf den Stativkopf und schraubte die Gegengewichte auf die Gewindestange. Jetzt stiegen die Anforderungen, er wurde aufgefordert, an der Montierung die geografische Breite einzustellen. Er schlich in sein Arbeitszimmer, startete den Computer und fand den korrekten Wert für Darmstadt im Internet. Der Rest war wieder handwerkliche Arbeit, die ihm kaum weniger Vergnügen bereitete als der Zusammenbau seines Revolvers nach einer Intensivreinigung. Er schob die Prismenschiene in die Montierung, befestigte die massiven Schellen und legte den schweren Teleskoptubus vorsichtig hinein. Dann zog er die Klemmschrauben leicht an, so konnte er das Teleskop durch Hin- und Herschieben noch ausbalancieren. Immer wieder war Feinmotorik gefragt – er montierte das Sucherfernrohr, ein zierliches Linsenteleskop, als kleiner Bruder huckepack auf dem Spiegelteleskop befestigt. Nachdem er die Okulareinheit justiert hatte, die wie ein kleiner Abzweig aus einem Wasserrohr orthogonal aus dem Hauptzylinder herausragte, trat er einen Schritt zurück und betrachtete stolz sein Werk. Stadelbauers trockene Ausführungen gewannen erst jetzt vor dem praktischen Beispiel an Kontur. Das Funktionsprinzip war denkbar einfach: Ein weit entferntes Objekt schickte annähernd parallele Lichtstrahlen, die die Öffnung des Teleskops ungebrochen durchquerten und vom großen Hohlspiegel am rückwärtigen Ende gebündelt Richtung Öffnung zurückgeworfen wurden. Ein kleiner Spiegel mitten im vorderen Teil des Teleskops, um 45 Grad geneigt, lenkte das Sternenabbild senkrecht zur Blickrichtung des Teleskops aus dem Tubus heraus in das Okular, an dem der Beobachter stand. Der Vorteil dieser Konstruktion war offensichtlich – trotz kurzer Bauweise konnte eine große Brennweite realisiert werden, der große Durchmesser des Hohlspiegels ermöglichte zudem hohe Lichtstärken. Ein intelligentes, kompaktes und zweckmäßiges Gerät, dessen Form sich bedingungslos seiner Funktion unterwarf. Gab es etwas Ästhetischeres als Wissenschaft und Technik?

Mit gelösten Klemmungen und Justage der Gegengewichte versuchte er, den Tubus probeweise auszurichten. Rünz war hellwach und konzentriert, seine Kopfschmerzen nahm er kaum noch war. An Schlaf war jetzt nicht mehr zu denken. Er war hungrig auf sein ganz persönliches ›First Light‹, den mit großer Spannung erwarteten ersten Lichtstrahl, der durch sein neues Sternenfernrohr fiel. Den Flügel des Dachfensters weit aufgeschwenkt stand er in der offenen Luke und spähte in den winterlichen Nachthimmel. Er hatte Glück, der Mond stand an einer günstigen Position im ersten Viertel der zunehmenden Halbmondphase. Schon mit bloßem Auge war zu erahnen, wie das Licht im Dämmerungsstreifen das Kraterrelief der Oberfläche des Erdtrabanten herauspräparierte. Er fröstelte, die klare Nachtluft fiel durch das offene Fenster wie eine kalte Dusche in das Zimmer. Aus einem der deponierten Kleidersäcke nahm er sich eine ausrangierte Winterjacke. Dann stellte er das Teleskop in die parallaktische Grundposition, löste die Klemmungen und brachte den Tubus in verschiedene Positionen, um ein Gefühl für den Umgang mit den beiden Bewegungsachsen zu entwickeln. Durch das Sucherfernrohr spähend richtete er den Tubus schließlich auf den Mond aus. Die gleißende Mondoberfläche blendete ihn beim ersten Sichtversuch. Er fand im Karton eine Schachtel mit einem kleinen, planparallel geschliffenen und gedämpften Glas – ein Filter, den er in das Okular einschrauben konnte. Mit einer Mondkarte aus der Pappkiste legte er los. Schon der erste Blick überwältigte ihn – die Dämmerungszone lief schräg über die riesige Ebene des Mare Imbrium, südlich davon ließ das horizontal einfallende Licht den aufgeworfenen Rand des Kopernikus-Kraters grell aufleuchten. Auflösung und Detailreichtum waren unglaublich groß, Rünz hätte sich nicht über eine Sichtung des Golfballes gewundert, den Alan Shepard bei der Apollo-14-Mission auf dem Fra-Mauro-Hochland geschlagen hatte.

Der Kommissar hatte Feuer gefangen, er wollte Objekte weit jenseits des Sonnensystems und der Heimatgalaxie ins Visier nehmen. Er griff in den Karton und nahm das elektronische Steuerungsmodul und die Antriebseinheit heraus. Stadelbauer hatte ihm empfohlen, zum Einstieg alle Positionierungen manuell vorzunehmen, um ein Grundverständnis für die Geometrie des nächtlichen Sternenhimmels zu entwickeln. Aber Geduld gehörte nicht zu Rünz’ Stärken. Er fixierte die Geräte an der Montierung und sorgte für Stromversorgung. Nach wenigen Minuten war die kompakte Computereinheit initialisiert, ein elektronischer Detektor scannte das Himmelszelt ab, verglich die Aufnahme mit den gespeicherten Sternenkarten, und präzise kleine Servomotoren richteten leise surrend das Teleskop aus. In der Kladde fand er eine abgegriffene, kreisrunde Sternenkarte, ein kompliziertes System drehbarer Skalen und Zeiger auf einem Abbild des Himmelsgewölbes. Fast eine Stunde brütete er über der Karte, bis er das Zusammenspiel von Stundenwinkel, astronomischer und bürgerlicher Dämmerung, mittlerer Ortszeit und Rektaszension intellektuell durchdrungen hatte, die Objekte des winterlichen Sternenhimmels identifizieren und das Teleskop entsprechend programmieren konnte.

Dann vergaß er Raum und Zeit bei seiner Entdeckungstour durch Kugelsternhaufen, Gasnebel, Sonnen und Spiralgalaxien des winterlichen Südhimmels – Orion, der Himmelsstürmer, Aldebaran und Beteigeuze, beide rötlich schimmernd, der gleißende Sirius, Castor und Pollux, die Köpfe der Zwillinge und die Plejaden. Gegen sechs Uhr morgens überstrahlte die erste Morgendämmerung das Sternenlicht, er schloss das Fenster und setzte sich auf den Boden, frierend, erschöpft, müde und berauscht von seinen Entdeckungen. Zum ersten Mal in seinem Leben hatte er eine leise Ahnung von der schier atemberaubenden Größe des Universums bekommen. Demut erfasste ihn und die Erkenntnis, die jeden durchdrang, der sich in seinem Leben einmal ernsthaft mit Astronomie beschäftigte – dort draußen existierte Leben, es hatte schon vor Jahrmillionen existiert und würde noch in Millionen von Jahren existieren. Der Kontakt war – wie Stadelbauer gesagt hatte – letztendlich keine Frage des Glaubens, sondern eine der Statistik und der Wahrscheinlichkeit. Die Vorstellung, ein atomarer Partikel in einer annähernd unendlich großen Welt zu sein, versöhnte ihn ein wenig mit seiner Vergänglichkeit. Für dieses ergreifende Emotionsamalgam, so musste er sich eingestehen, gab es nur eine Bezeichnung – Spiritualität.

Er ging ins Bad und schüttete sich Wasser ins Gesicht. Wenn das so weiterging, würde er noch sonntags in die Kirche gehen und seiner Frau Liebeserklärungen machen. Irgendwie musste er wieder zu Verstand kommen.

 

Kaum eine Stunde Schlaf blieb ihm, dann summte der Wecker. Er wachte auf, allein im Bett, seine Frau war schon unterwegs. Nur noch ein paar Minuten dösen, dagegen war nichts einzuwenden.

Als er Brecker schlaftrunken die Wohnungstür öffnete, war es 16 Uhr.

»Zieh dich an. Dein Kollege schickt mich, dieses Nordlicht. Er sagt, du hättest heute Abend einen Termin beim ESOC

 

 

* * *

 

 

»Doggy Style, rief Brecker.

Rünz schreckte auf, er war auf dem Beifahrersitz direkt nach dem Einsteigen wieder eingenickt. Brecker hatte ›Planet Radio‹ eingestellt, Meat Loaf sang zu symphonischem Bombastrock.

»Was ist los? Was erzählst du da

»Analverkehr, was sonst!«

»Nicht jetzt Klaus, fahr mich bitte erst mal zum ESOC

»Hör doch mal zu, was der Fleischklops da singt! ›I would do anything for love, but I just won’t do that.‹ Sie will einen Doggy Style, und er weigert sich. Er sagt zu ihr, du kannst alles von mir haben, Baby, aber das nicht

»Mein Gott, vielleicht will sie ganz einfach einen neuen Pelzmantel oder einen Sportwagen von ihm

»Und warum macht die Riesenfrikadelle dann so einen Aufstand? Der zahlt diesen Kleckerkram doch aus der Portokasse

»Ach, und wenn er einer von diesen PETA-Freaks ist, die Amok laufen, wenn sie fachgerecht tranchierte Robbenbabys sehen? So ein Öko-Attac-Bono-Charity-Gutmenschen-Weltrettungs-Celebrity, der einen Hybrid-Prius von Toyota fährt und Gorillababys in Afrika adoptiert?«

Brecker wirkte nachdenklich.

»Daran habe ich noch gar nicht gedacht …«

»Frag mich, dann musst du nicht denken. Wie läuft’s denn mit Schannin, alles harmonisch

Brecker zog die Mundwinkel nach unten.

»Na ja, nicht so ganz einfach manchmal.«

Rünz rappelte sich in seinem Sitz auf und streckte sich wie eine rollige Katze. Er war es seinem besten Freund schuldig, einige der frisch erworbenen Kenntnisse aus der Paartherapie weiterzugeben.

»Was läuft denn falsch, habt ihr Kommunikationsprobleme

»Komu-was? Junge, ich hab’ nur mittlere Reife, vergiss das bitte nicht

»Schon gut, erzähl schon

»Vor ein paar Tagen zum Beispiel steht sie bei mir in der Küche, schaut aus dem Fenster und sagt, dass sie Durst hat. Und ein halber Meter neben ihr steht eine Flasche Wasser auf dem Tisch! Ich sag’ zu ihr: ›Na trink doch einen Schluck.‹ Da war sie gleich eingeschnappt. Hat gesagt, sie würde mir was über ihre Bedürfnisse mitteilen, und ich würde ihr einen meiner blöden praktischen Tipps geben, so wie einem Hund, dem man seinen Napf rüberschiebt. Ich sag zu ihr: ›He langsam, du hast gesagt, du hast Durst, und hier steht die Flasche, da liegt’s doch wohl nahe, dass du dir einen Schluck gönnst.‹ Da hat sie gleich die ganze Breitseite gegeben, von wegen Gefühle und Befindlichkeiten mitteilen und Einfühlungsvermögen und dieser ganze Mist. Mann, ich kann dir sagen …«

Rünz schüttelte tadelnd den Kopf, ganz Frauenversteher.

»So subtile Gefühlsäußerungen hätte ich deiner Schannin gar nicht zugetraut, hat die Sozialpädagogik studiert? Aber egal, Klaus – du musst noch sehr viel über Frauen lernen. Was dir fehlt, ist ›Emotionale Intelligenz‹. Pass mal auf, ich erklär’s dir. Wenn deine Flamme dir sagt, dass sie Durst hat, dann sagst du zu ihr: ›Liebling, das Gefühl kenne ich sehr gut. Auch ich hatte einmal starken Durst, ich weiß, was das bedeutet. Die Kehle ist ausgetrocknet, die Lippen werden spröde und rissig, die Zunge schwillt an, die Augen jucken unerträglich, alle Gedanken drehen sich nur noch um eins: Wasser! Wasser!! Der Körper wird müde und schlaff, jede Bewegung kostet große Anstrengung – mein Gott, dir muss es wirklich schlecht gehen. Ich weiß nicht, ob es dir hilft, aber ich bin froh, dass du mich an deinem Durst teilhaben lässt – mir die Chance gibst, dieses Gefühl gemeinsam mit dir zu erleben. Ich fühle mich dir sehr nahe im Moment – ja gerade jetzt spüre ich, wie auch ich ein wenig durstig werde …‹, und dann nimmst du sie einfach in den Arm. Sie wird dich lieben

Brecker starrte sekundenlang seinen Schwager an, ohne auf den Verkehr zu achten.

»Pass auf, schrie Rünz.

Mit einer Vollbremsung brachte Brecker das Auto knapp vor der grünen Ampel am Mozartturm zum Stehen, um ein Haar hätte er die Abfahrt zum Europaviertel verpasst. Ein kantiger schwarzer Mercedes Allradler hätte ihnen mit seinem verchromten Kuhfänger fast das Heck zermalmt.

»Verdammt Karl, du bist wirklich ziemlich hart auf den Kopf gefallen. Bist du sicher, dass du schon arbeiten kannst

Rünz ignorierte die Bemerkung.

»Frauen wollen keine Probleme lösen, Klaus, sie wollen über Probleme reden

Brecker schwieg. In dem übersichtlich verdrahteten Schaltkasten zwischen seinen Ohren schien die archaische Form eines Denkprozesses in Gang zu kommen.

 

 

* * *

 

 

Der Raum hatte eine völlig veränderte Wirkung, seit Rünz sich hier mit Sigrid Baumann getroffen hatte. Die Vorhänge zum Kontrollzentrum waren verschwunden, die transparente Glasfront vermittelte den Eindruck, mitten in der Kommandozentrale zu sitzen. Die großen Displays über den Steuerungsterminals zeigten kurze animierte Sequenzen, Simulationen der Startphasen der Galileo-Testsatelliten Giove-A und -B in Baikonur. Die Eröffnung des Galileo-Gründerzentrums hatte einen ansehnlichen Presseauflauf verursacht. Rünz stand hinten an der Wand, die vorderen Reihen hatten die Kameraleute vom Hessischen Rundfunk mit ihren Kollegen vom Mainzer Lerchenberg in Beschlag genommen, dahinter drängten sich Journalisten der überregionalen Zeitungen und Fotografen der großen Nachrichtenagenturen.

Der Ministerpräsident versuchte, einen professionellen Eindruck zu vermitteln, so als hätte er eben noch am Joystick gesessen und einen 100-Millionen-Euro-Satelliten durch die Saturnringe manövriert. Der Landesvater war, wie die restlichen 150 Prozent der bundesdeutschen Politiker, Jurist und hatte keine Ahnung vom Thema, aber er war Profi genug, um sich einigermaßen sicher aus der Affäre zu ziehen. Und wenn er Begriffe wie ›Anschubfinanzierung‹, ›Plattformkonzept‹, ›Masters-Wettbewerb‹ und ›Space Incubator‹ verwendete, dann stand er sichtlich euphorisiert in der vordersten Linie der Innovationsfront. ESA-Direktor Gerry Summers saß mit etwas zerknautschtem Gesicht daneben – er schien insgeheim zu beten, dass der Politiker nicht auf die Teflonpfanne zu sprechen kam. Nachdem der Landesherr sein Selbstdarstellungsprogramm durchhatte, ergriff Summers das Wort, ein erfreulich uneitler und sachorientierter Vortrag über die Herausforderungen und Chancen des neuen Satellitennavigationssystems. Rünz bewunderte Menschen wie ihn, die ihr Leben einer faszinierenden Tätigkeit widmeten und nicht ständig an der existenziellen Unsicherheit knabberten, die ihm der Schöpfer als Wegzehrung mitgegeben hatte.

Wenn man den beiden Glauben schenken mochte, dann würde Darmstadt in wenigen Jahren zum Los Alamos der Satellitennavigation werden. Das neue Gründerzentrum hatte prominente Träger – Land Hessen, Stadt Darmstadt, T-Systems, Technische Universität, aber auch Unternehmen wie ORION und die INI GraphicsNet Stiftung, von denen Rünz nie zuvor gehört hatte. Im Kern schien es um ein europäisches Konkurrenzmodell zum US-amerikanischen Navigationssystem GPS zu gehen, und die Initiatoren schienen sich erhebliche ökonomische Impulse von der ganzen Sache zu versprechen. Drei Milliarden Euro Investitionen, 100 Milliarden Wertschöpfung, 100 000 zukunftsorientierte Arbeitsplätze, davon über 1000 in Hessen – die Ziele waren hoch gesteckt. Und mit dem schneidigen Kürzel ›CESAH‹ für ›Centrum für Satellitennavigation Hessen‹ konnte eigentlich nichts mehr schiefgehen.

Nachdem Summers die Rahmendaten des neuen Gründerzentrums dargelegt hatte, stellten einige Jungunternehmer ihre ersten Pilotprojekte für das neue Navigationssystem vor. Ihre Produkte hatten smarte, lautmalerische Namen wie ›G-Wale‹, ›Floater‹, ›Satelles‹ und ›4d-Miner‹ und versprachen kleine Revolutionen in den Bereichen Hochwasservorhersage, Touristenorientierung und mobile Datenerfassung. Die Begeisterungsfähigkeit intelligenter junger Menschen für alle Themen rund um Informationstechnologien und Telekommunikation rührte Rünz. Von all den Bits und Bytes schien eine geheimnisvolle Heilsversprechung auszugehen, die Aussicht, Trostlosigkeit und Elend des irdischen Daseins zu überwinden, wenn man nur alles und jeden breitbandig genug miteinander verband.

 

Die Plaudereien im Anschluss an die Vorträge sparte sich der Kommissar. Auf dem Weg zum Ausgang blätterte er in dem Handout für die Pressevertreter. Brecker war schon in Sichtweite, er wartete vor dem ESOC-Gelände im Streifenwagen. Rünz schlenderte provozierend entspannt – wann hatte er schon mal einen Chauffeur zur Verfügung? Sigrid Baumann fing ihn ab, bevor er am Auto war. Er hatte sie bei dem Empfang überhaupt nicht bemerkt.

»Wie hat es Ihnen gefallen, fragte sie.

»Na ja, ich hatte mir etwas mehr Event-Atmo versprochen, vielleicht im Star-Wars-Stil«, fantasierte Rünz. »Koch hätte im Yoda-Kostüm sicher eine gute Figur gemacht, und Ihr Chef Summers hätte ihm als Obi-Wan Kenobi mit dem Leuchtschwert eins auf den Froschmund geben können

»Haben Sie neue Erkenntnisse über den Mord an Rossi? Gibt es etwas, das wir wissen müssten

»Gibt es denn etwas, das wir wissen müssten

»Rossi hatte Zugriff auf extrem sensible Informationen und Daten, wenn da was in die falschen Hände gerät – wir sprechen hier über Investitionen von mehreren Millionen Euro

»Und ich spreche über die Aufklärung eines Mordfalles. Ich kenne nicht Ihre Vorstellungen von polizeilicher Ermittlungsarbeit, aber im Allgemeinen verteilen wir keine Informationen, wir sammeln sie. Machen Sie sich also keine Sorgen über Daten in falschen Händen

Rünz nahm in lässiger VIP-Manier auf Breckers Rücksitz Platz und teilte ihm nach Gutsherrenart das Fahrtziel mit.

»Zum Präsidium bitte, ich habe es eilig

Brecker starrte ihn durch den Innenspiegel an, als hätte sein Schwager den Verstand verloren. Rünz ließ das Fenster herunter, um sich von der Wissenschaftlerin zu verabschieden.

»Kommen Sie doch morgen mal im Präsidium vorbei, ich kann vielleicht ein paar Minuten für Sie frei machen …«

Er sah im Rückspiegel, wie sie dem Streifenwagen hinterherschaute. Das Leben war herrlich.

 

 

* * *

 

 

»Wie konnte der das Kennzeichen erkennen, da war doch der Zaun dazwischen, fragte Bunter.

»Der Fahrer des Fluchtfahrzeuges hat heftig zurückgesetzt und den Bretterzaun touchiert, ein paar der Latten haben sich gelöst und sind durch die Gegend geflogen«, sagte Rünz. »Der Penner konnte aus dem Bunkereingang heraus genau durch das Loch spähen. Ein silberner Golf, Hamburger Kennzeichen, dann HA. Der Alte hat sich die Kombi HH-HA gemerkt, wegen des Wortspiels – HAHAHA, die lustigen Hamburger. An die Zahlen kann er sich nicht erinnern. Haben Sie was rausbekommen

»Das kann man wohl sagen. Eine Überwachungskamera hat die drei Typen vom Baumarkt noch mal auf dem Parkplatz erwischt. Entfernung und Perspektive waren ziemlich ungünstig für eine Entzifferung des Kennzeichens – am Ende jedenfalls eine vierstellige Nummer, die mit einer Sieben beginnt. Wenn es dasselbe Fahrzeug war, Hamburger Kennung, Unterscheidungszeichen beginnt mit H, dann eine vierstellige Zahl mit der Sieben am Anfang …«

»Mietwagen, fragte Rünz.

»So ist es. Diese Kombination wird bundesweit exklusiv von Europcar verwendet. Die haben uns die Daten von über 300 silbernen Golf-V-Modellen geliefert, die in dem Zeitraum vermietet waren. Wir haben nach Kunden mit osteuropäischen Staatsangehörigkeiten gefiltert und einen hübschen Treffer gelandet. Wir wissen nicht nur, wer den Wagen gemietet hat, wir kennen auch die Fahrtroute. Die Jungs wollten es ganz schlau anstellen, die haben das Navigationsgerät in ihrem Leihwagen zwar nicht benutzt, aber auch nicht ausgeschaltet. Die Head Unit hält auch im Standby-Betrieb Kontakt mit dem GPS-System und der Zentrale des Systemanbieters. Wir haben die komplette Tour und noch etwas mehr, aber fangen wir besser ganz vorn an

Bunter kraulte sich aufgekratzt sein Bartgestrüpp. An seinem Holzfällerhemd standen in Nabelhöhe zwei Knöpfe offen, sein weißer, behaarter Bauch quoll heraus wie das Brät aus einer geplatzten Grillwurst. Wenn ein Mann die Dinge tat, die ein Mann tun musste, dann konnte er sich nicht auch noch um eine ansprechende Verpackung seines Leibes kümmern.

»Die drei passieren am 19. Januar um 11.40 Uhr Zoll und Einreisekontrollen am Flughafen Berlin-Tegel mit gültigen Visa. Sie müssen mit einer Boeing 737-300 der russischen Transaero gekommen sein, die Maschine ist zweieinhalb Stunden vorher vom Flughafen Domodedovo südlich von Moskau gestartet und hatte keinen Zwischenstopp. Fliegen ausschließlich mit Handgepäck, um 12.10 Uhr mietet einer der Gruppe an der Europcar-Niederlassung am Terminal A1 einen VW Golf, als Rückgabetermin wird Montag, der 22. Januar vereinbart. Der Wagen passiert um 12.30 Uhr die Schranke des Parkhauses. Von den Videokameras dort existieren keine Aufzeichnungen mehr, wir können also nur vermuten, dass sie gemeinsam losgefahren sind

»Identität, fragte Rünz.

»Europcar hat uns die Ausweis- und Visumkopie des Mannes geliefert, der den Golf gemietet hat. Jurij Stavenkow, offiziell Handelsvertreter des IPOC International Growth Fund, ein russisches Telekommunikationskonglomerat mit Hauptsitz auf den Bermudas und weltweiten Tarnfirmen, die haben in einem Kölner Industriegebiet eine Briefkasten-Niederlassung. Der deutschen Botschaft in Moskau lag eine Einladung dieser Kölner Scheinfirma an Stavenkow und zwei weitere Männer vor, auf dieser Grundlage wurden die Visa ausgestellt – wir haben also drei Namen und drei Gesichter.«

Das Kassenkino vom Baumarkt hatte keine hohe Qualität, aber die Übereinstimmung war offensichtlich.

»Und jetzt wird’s spannend, die Fahrtroute …«

Bunter startete Google Maps und zoomte auf die Hauptstadt.

»Das Auto fährt zwei Kilometer vom Flughafen nach Osten, dann nach Südosten durch Wedding, passiert das Oranienburger Tor, auf der Friedrichstraße über die Spree, überquert ›Unter den Linden‹ und biegt hier links in die Behrenstraße ein. Dort parken sie für 30 Minuten

»Vielleicht haben die da einfach an einer Dönerbude ein Häppchen zu sich genommen. Die hatten einfach keinen Bock mehr auf Borschtsch«, nuschelte Wedel lustlos. Seit dem Debakel des SV 98 wurde er nur noch für Anwesenheit bezahlt. Abstieg in die Oberliga – eine Demütigung. Ob er sich jemals fangen würde? Er kaute an einem ›Powerbar Performance‹-Energieriegel.

»Da habe ich einen anderen Vorschlag

Bunter zoomte auf einen Block direkt südlich der Achse ›Unter den Linden‹.

»Die roten Dächer hier, das ist der russische Block. Hier das Hauptgebäude direkt an der Allee ist die russische Botschaft, daneben das Handelsbüro. Und auf der Südseite, wo unsere Freunde Pause gemacht haben, ist die Konsularabteilung. Der BGS überwacht den ganzen Block mit Videokameras, weil er Bedenken hat wegen tschetschenischer Terroristen. Der Konsularabteilung an der Behrenstraße widmen sich zwei Kameras, die westliche deckt den Haupteingang und einen Teil des Parkstreifens davor ab. Und jetzt gibt’s eine hübsche kleine Kinovorführung, Regie und ausführender Produzent: Bundesgrenzschutz der Bundesrepublik Deutschland, 19. Januar 2006, 12.52 Uhr

Bunter startete eine mpeg-Datei. Das grobkörnige Schwarz-Weiß-Bild eines breiten Bürgersteiges erschien. Von links fuhr ein dunkelgrauer Golf V ins Blickfeld und setzte rückwärts in eine Parklücke. Die Fahrertür ging auf, ein vielleicht 30‑jähriger Mann mit schwarzem Lederblouson stieg aus, drehte sich noch einmal um und sprach durch das offene Autofenster mit einem oder mehreren Mitfahrern. Dann schaute er kurz in die Überwachungskamera, ging über den Bürgersteig zum Eingang der Konsularabteilung, drückte den Summer, wartete einige Sekunden und wurde eingelassen.

»Jetzt aufpassen auf den Wagen«, sagte Bunter.

Die Karosse schwankte leicht, offenbar rutschte jemand von der Beifahrerseite auf den Fahrersitz.

»Die nächsten 20 Minuten passiert nichts, ich spule vor

Als Bunter den Film wieder in normaler Geschwindigkeit abspielte, ging die Kofferraumklappe auf. Jemand hatte sich von der nicht einsehbaren Beifahrerseite aus dem Wagen genähert und lud mit Schwung irgendeinen Kasten über die Laderaumkante, der nur für den Bruchteil einer Sekunde zu sehen war. Bunter klickte fünf oder sechs Einzelbilder zurück. Die Bewegungsunschärfe verbarg alle Details, aber Rünz wusste, dass in Aluminiumkoffern dieses Formats weder Schminkutensilien noch Perserkatzen transportiert wurden.

»Die Dragunov«, murmelte er.

»Richtig, sagte Bunter. »Die benutzen das Konsulat als Waffendepot für ihre Sondereinsätze. Danach bewegte sich der Golf über A9, A4 und A5 Richtung Südwesten zum Rhein-Main-Gebiet, Fahrtzeit insgesamt neuneinhalb Stunden, einschließlich zweistündigem Aufenthalt an der Raststätte Herleshausen

Er wechselte auf den digitalen Stadtplan Darmstadts.

»Von 22.10 Uhr bis 8.30 Uhr steht der Golf auf dem Messplatz, keine Ahnung, wo die Insassen die Nacht verbracht haben. Um kurz vor neun bewegen sie sich zum Baumarkt und kaufen ein, da müssen Sie sie getroffen haben. Die Experten vom Anbieter des Navigationssystems konnten sogar die Abstecher zum Knell-Gelände und zum Hundertwasserhaus exakt rekonstruieren

»Sind sie sofort zurück nach Berlin gefahren

»Überhaupt nicht. Sie haben den Wagen noch am gleichen Tag an der Europcar-Niederlassung in der Otto-Röhm-Straße zurückgegeben. Bei der Abnahme fiel dem Angestellten ein Lackschaden am hinteren Stoßfänger auf, Stavenkow hat die Eigenbeteiligung für die Vollkaskoversicherung sofort anstandslos bar bezahlt. Der Europcar-Mitarbeiter hat alle drei eindeutig anhand der Fotos identifiziert

»Können wir mit dem Fahrzeug noch was anfangen

»Ist inzwischen an sechs weitere Leute vermietet worden, danach jedes Mal eine komplette Grundreinigung – Spurensicherung können wir vergessen

»Also sind sie von Frankfurt aus zurückgeflogen

Bunter machte eine dramatische Pause.

»Wir haben bis heute keine Ausreisebestätigung des BGS. Wenn sie das Land wieder verlassen haben, dann nicht auf legalem Weg. Wenn nicht – ihre Visa sind noch vier Wochen gültig

»Hotels, Pensionen?«

»Keine Meldung, jedenfalls nicht unter ihren offiziellen Namen.«

»Sie sind noch in Deutschland«, murmelte Rünz.

»Vielleicht in Darmstadt«, schmatzte Wedel abwesend.

Wo er recht hatte, hatte er recht. Rünz schaute auf die Uhr, es war Zeit aufzubrechen. Der Kulturabend mit seiner Frau. Auch diesen würde er überstehen.

 

 

* * *

 

 

Bisweilen kamen schwerste Heimsuchungen über die Menschheit – Aids, Tsunamis, Tokio Hotel und Reinhold Beckmann. Aber jenseits dieser Geißeln existierte eine Dimension des Grauens, die H. P. Lovecraft im Cthulhu-Mythos als das ›namenlose Böse‹ bezeichnet hatte. Wie nur war seine Frau auf Michael Flatley gekommen? Boten sowohl irischer Steptanz als auch keltische Musik für sich allein schon inferiore Zumutungen, so ergab eine Mischung beider, potenziert durch synchrone Darbietung einer knappen Hundertschaft an Tänzern, einen Anschlag auf vitale Lebensfunktionen. Riverdance, das war der Versuch, bei möglichst statischem Oberkörper möglichst aufgekratzte Spasmen mit den unteren Extremitäten vorzuführen. Flatley presste den immergleichen Steppstuss alle paar Jahre in einen neuen hirnrissigen Showrahmen, den er dann ›Lord of the Dance‹, ›Feet of Flames‹ oder ›Celtic Tiger‹ nannte und der so originelle Themen wie den Kampf des Guten gegen das Böse abhandelte. Er legte sich mit seiner Mannschaft furchtbar ins Zeug, mit nacktem Oberkörper, Stirnband und schwarzer Lederhose sah er aus wie eine BSE-kranke Hybridzüchtung aus Stammzellen von Fred Astaire und John Rambo. Hätten die Amerikaner statt Agent Orange diesen steppenden Faun gegen die Vietcong eingesetzt – Oliver Stone verkaufte heute wohl Donuts.

Rünz stand in einer enthemmten Masse von Mittelschichtfrauen in den Dreißigern, deren Gesichter vor Begeisterung glühten. Sie alle schienen bereit und willig, sich dem Zeremonienmeister nach der heiligen Messe backstage hinzugeben. Rünz erwog kurz, sich die Kleider vom Leib zu reißen und seinen Schiesser Feinripp auf die Bühne zu schleudern. Nach der letzten Nummer des offiziellen Programms klatschte er demonstrativ nicht um Zugabe – es nützte nichts.

Auf der Rückfahrt versuchte er, seine Frau mit Kommunikationsverweigerung zu bestrafen, bekam aber gleich ein Gespräch aufgedrängt.

»Du kennst doch Klaus’ neue Freundin

»Hm«, brummelte er.

»Die Janine meine ich

»Hm«, brummelte er. Strafe musste sein.

»Die hat doch eine Katzenpension

»Was du nicht sagst

»Seit ein paar Wochen hat sie so eine totaaal süße kleine Siamesin, die Besitzerin hat sie einfach nicht mehr abgeholt

»Einschläfern.«

»Ich dachte, du wärst gegen die Todesstrafe

»Nicht die Besitzerin, ich meine die Katze

Von Weiterstadt bis zur Abfahrt Darmstadt Mitte schmollte seine Frau. Rünz’ Laune stieg wieder, Flatley verschwand langsam wie ein steppender Geist hinter einer Nebelwand.

»Blümchen heißt sie, ist total verschmust«, sagte sie schließlich.

Blümchen. Das war nun wirklich unterste Psychoschublade. Gib dem armen Opfer einen Namen, der böse Täter wird es als lebendiges Individuum wahrnehmen, verschonen und in sein Herz schließen.

»Wollen wir uns Blümchen am Wochenende nicht mal anschauen, fragte sie.

Sehr gut, immer wieder den Namen des Opfers wiederholen.

»Klar, können wir machen«, sagte Rünz. »Ich schau mir ganz gerne mal Vierbeiner im Tierheim an. Ich mag einfach das Gefühl, da wieder rauszugehen und die kleinen Kackmaschinen einfach dazulassen

Sie stellte die diplomatischen Beziehungen ein, zog ihre Divisionen an der Grenze zusammen und erklärte den Krieg.

»ICH WILL EINE KATZE.«

Rünz legte eine Vollbremsung hin und kam auf dem Standstreifen der Rheinstraße zum Stehen.

»Weißt du, was das bedeutet? Ein Katzenklo! In unserer Wohnung! Da können wir ja gleich Campingurlaub auf der Kläranlage machen

Sie schwieg eine Minute, dann presste sie die Lippen zusammen, ihr Brustkorb begann zu beben. Die höchste Eskalationsstufe war erreicht, sie setzte die furchtbarste Vergeltungswaffe ein, die Frauen in heterosexuellen Partnerschaften zur Verfügung stand – die Träne.

Eine fast ausweglose Situation, aber wie J. F. Kennedy in der Kubakrise wuchs Rünz in dieser Stunde größter Gefahr mit einer genialen diplomatischen Initiative über sich hinaus.

»Na ja, vielleicht könnte ich mich ja mit dem Gedanken anfreunden. Unter einer Bedingung.«

»Was für eine Bedingung, schniefte sie.

»Blümchen gefällt mir nicht. Ich darf einen neuen Namen aussuchen

Sie zögerte einen Moment, der schnelle Triumph schien ihr unheimlich.

»Und woran hast du da so gedacht

»An MUSCHI.«

Zehn Sekunden Stille.

»Das ist nicht dein Ernst

»Warum nicht, ist doch ein ganz normaler Katzenname

»Also ›Muschi‹ ist definitiv kein ganz normaler Katzenname

»Ach und warum nicht? In Bessungen hieß früher jede zweite Katze Muschi. Und nostalgische Namen sind doch schwer angesagt. Die jungen Eltern nennen ihre Kinder heute doch auch Anna, Maria, Friedrich und Maximilian. Warum also keine Katze, die Muschi heißt

»Du weißt genau, warum das nicht geht

»Erklär’s mir

»Weil dieser Name im Laufe der Zeit eine Bedeutungsänderung erfahren hat

»Bedeutungsänderung hin oder her, entweder sie heißt Muschi oder wir haben keine Katze

Den Rest der Fahrt setzten beide schweigend fort. Rünz war stolz auf sich. Eigentlich war es genau so gelaufen, wie es die Paartherapeutin immer angeregt hatte. Beide hatten ihre konträren Interessen artikuliert, einander zugehört, dann hatte einer von beiden einen solide austarierten Kompromissvorschlag ausgebreitet. Endlich machten sie Fortschritte mit der Beziehungsarbeit.

 

 

* * *

 

 

Rossi beim Vibrationstest des Philae-Landers, Rossi beim Systemtest in der Klimakammer, Rossi bei der Montage der Primärstruktur der Sonde in Finnland und bei den dynamischen Belastungstests in Turin. Auf einer Aufnahme stand er vor den riesigen Solarpanels der Sonde, auf einer anderen im holländischen Noordwijk vor dem Kontrollpult des Large-Space-Simulators, in dem die Komponenten Kälte und Vakuum ausgesetzt wurden. Dann wieder auf einem Gruppenfoto vom Dezember 1998, entstanden im Rahmen eines kompletten Design Reviews des gesamten Systems durch eine unabhängige Expertengruppe. Er fiel auf jedem der Bilder sofort durch seinen massigen Körper auf, sein rundes Gesicht mit dem fliehenden Kinn und der kleinen, eher femininen Stupsnase.

Rünz lag im Wohnzimmer auf der Couch und ging die Bildmappe im Schnellgang durch, die ideale Ablenkung von dem Frankfurter Riverdance-Albtraum des Vorabends. Das Material stammte von einem Vortrag, den Rossi in der Volkssternwarte gehalten hatte. Stadelbauer hatte ihm die Unterlagen im Präsidium hinterlegt, sie enthielten Privataufnahmen aus Rossis Archiv und detaillierteres Hintergrundmaterial als die Pressemappen, mit denen die PR-Abteilung des ESOC die Öffentlichkeit informierte. Rünz hielt eine komplette Chronologie der Rosetta-Mission in den Händen.

Rossis Überpräsenz auf den Fotos, die einen Zeitraum vom Ende der 80er-Jahre bis zum Start der Sonde im Jahr 2004 dokumentierten, hatte zum Teil skurrile Züge. Kein anderes Mitglied des Teams war so oft abgebildet wie er, und das bei einem hochgradig arbeitsteilig organisierten Eine-Milliarde-Euro-Projekt, an dem sicher Tausende von Menschen arbeiteten, die Zulieferer, Subunternehmer und externen Dienstleister eingerechnet. Er wirkte wie die überbesorgte Nanny der Raumsonde. Rünz musste schallend lachen über Aufnahmen, die den Italiener bei der Arbeit in Reinlufträumen zeigten, seinen massigen Körper eingezwängt in Schutzanzüge, die ihn umschlossen wie ein Latex-Dress aus dem SM-Shop.

In der Woche vom 12. bis zum 16. November 2001 hatten zwölf Tieflader die komplette, in Turin montierte Sonde in klimatisierten Überdruckcontainern quer durch den Kontinent zum European Space Research and Technology Centre nach Noordwijk gebracht. Hier machte der Satellit noch einmal alle Prüfungen durch, die die Einzelkomponenten schon hinter sich hatten – Vibrationstests, Vakuumkammer, Kühlschrank, Akustikkammer für die extreme Lärmbelastung beim Start –, und zwischendurch unzählige Integritätsprüfungen und Systemchecks. Und immer mit dabei: der dicke Italiener. Das letzte Foto von Rossi auf dem alten Kontinent stammte vom 13. September 2002. Er stand auf einem Vorfeld des Flughafens Schiphol an der Laderampe einer gigantischen Antonov 124, deren weit geöffnete Bugklappe die ESA-Container mit der Sonde schluckte wie ein Walhai einen Planktonschwarm. Damit war die europäische Kindheit und Jugend der Sonde abgeschlossen, Rünz erwartete nicht, Rossi noch einmal auf den Bildserien über die Startvorbereitungen auf dem Kourou Spaceport in Französisch-Guayana zu sehen. Die letzten Seiten der Mappe ging er mit dem Daumenkino durch und wurde dann doch noch einmal fündig. 12. Januar 2003, wenige Stunden vor dem geplanten Start. Ein PR-Foto aus der Mediathek des Schweizer Unternehmens Contraves Space, die für die Ariane-V-Raketen schützende Nutzlastverkleidungen entwickelte, gegen thermische, akustische und aerodynamische Einflüsse in der Startphase. Rossi stand im Bâtiment d’Assemblage Final auf einem Stahlgerüst in 50 Metern Höhe an der Spitze der Rakete, sein Kopf steckte in einer kreisrunden Wartungsluke, in den Händen eine kleine Fernsteuerung. Anderthalb Meter unter ihm ragten die Füße eines zweiten Mitarbeiters aus einem weiteren Bullauge, dieser Techniker lag offensichtlich auf einer steuerbaren Spezialliege und erledigte im Inneren der Raketenspitze letzte Startvorbereitungen. Rossi konnte ihn mit seinen Joysticks so behutsam in die filigrane Technik einführen wie der Proktologe das Endoskop in den Enddarm. Rünz las die Bildunterschrift:

 

›Technicians Arming Harpoon‹*

 

Ein klarer Fall für das Internet-Wörterbuch Englisch-Deutsch. ›To arm‹ – armieren, laden, aufrüsten, ausrüsten, scharf machen. ›Harpoon‹ – die Harpune. ›Techniker beim Scharfmachen der Harpune‹. Grandios. Das klang in diesem Kontext ungefähr so plausibel wie ›Techniker bestreichen die Sonnensegel mit Margarine‹. Rünz mochte sich ein Leben ohne Internet gar nicht mehr vorstellen. Jemand klopfte an die Wohnungstür.

 

 

* * *

 

 

»Hören Sie, das geht nicht, meine Frau ist nicht da. Ich weiß nicht, was Sie mit ihr ausgemacht haben, aber …«

»Es geht doch nur um ein paar Minuten, Ihre Frau hat das ganz sicher nicht vergessen und wird jeden Moment kommen

Rünz fragte sich, was für eine Sorte Termin das wohl sein mochte, zu dem seine Nachbarin ihren Balg auf keinen Fall mitnehmen konnte.

»Außerdem kennen Sie doch meinen kleinen Oskar«, sie streichelte dem kleinen Oskar über den Kopf, »… und du kennst den Herrn Rünz, nicht wahr, mein Liebling

Oskar schwieg.

Rünz suchte verzweifelt nach einem Ausstiegsszenario. Wäre er nur einfach liegen geblieben! Seine Frau würde sicher bald nach Hause kommen, wenn sie es mit ihr vereinbart hatte. Aber aus der Paartherapie wusste der Kommissar, wie sich Minuten zuweilen dehnen konnten.

»Also gut, komm rein«, knurrte er.

Die Nachbarin gab Oskar einen Kuss, schob ihn über die Schwelle, bedankte und verabschiedete sich. Rünz schloss die Tür hinter ihr, darauf bedacht, ausreichend Sicherheitsabstand zu dem kleinen Infektionsherd zu halten.

»Am besten bleibst du da erst mal stehen

Oskar blieb stehen. Er trug einen karierten Flanellpyjama, die viel zu großen Filzpantoffeln seiner Mutter und unter dem Arm eine riesige, zerrupfte Stoffschildkröte.

Rünz suchte hektisch nach dem Telefon und wählte die Mobilnummer seiner Frau – Mailbox. Er sprach ihr einen wütenden Kommentar drauf, legte das Gerät beiseite und schaute den Kleinen an. War er nicht etwas blass um die Nase?

»Ist dir …«, Rünz zögerte, als könnte es wahr werden, weil er es aussprach, »… schlecht? Musst du aufs Klo

Oskar schwieg und schüttelte den Kopf.

Rünz hatte wenig Erfahrung mit Kindern, er schätzte sein Alter auf irgendwo zwischen zwei und sechs, jedenfalls war der Kleine mit einiger Sicherheit schon abgestillt, davon konnte er ausgehen. Oskar schien sich dem Anschein nach in einer stabilen seelischen Verfassung zu befinden, aber bei Kindern konnte die Stimmung schnell umschlagen.

»Willst du etwas trinken oder essen

Oskar schüttelte den Kopf.

»Ist auch besser so, sonst musst du noch aufs Klo«, sagte Rünz zustimmend.

Eine Weile standen beide schweigend im Flur, der Erwachsene dachte nach, das Kind schaute ihm dabei zu. Dann hatte Rünz die rettende Idee. Oskar hatte keinen Durst, musste nicht auf die Toilette, schien psychisch ausgeglichen – er würde ihn einfach hier stehen lassen und in sein Arbeitszimmer gehen, seine Frau würde sich dann später um den Kleinen kümmern. Diese Strategie hatte außerdem den Vorteil, dass Oskar das Mobiliar nicht durch Körperkontakt kontaminierte. Rünz improvisierte ein Lächeln, indem er seine Mundwinkel Richtung Ohrläppchen zog.

»Also Oskar, die Karin wird gleich kommen. Ich geh’ mal ein bisschen arbeiten, wenn du was brauchst, dann rufst du einfach, ja? Und am besten nichts anfassen!«

Er wollte sich gerade umwenden, als der Kleine sein Schweigen brach.

»Mama hat gesagt, du bist Polizist

 

* * *

Der nächste Morgen begann mit dem Aufräumen des Mail-Einganges. Die Spamfilter des Netzwerks schützten die Briefkästen der Mitarbeiter des Präsidiums gewöhnlich zuverlässig, aber hin und wieder schlüpfte die eine oder andere Werbebotschaft durch, Gewinnbenachrichtigungen, Angebote für Homeshopping, Verbraucherkredite, Viagra, Haarverpflanzung – und immer wieder zuverlässige und kostspielige Methoden für Penisverlängerungen. Keine andere menschliche Schwäche schien so lukrativ zu sein wie die Urangst des Mannes, nicht hinreichend ausgestattet zu sein.

Er ging die Spamliste durch, löschte eine Mail nach der anderen und blieb bei einem eher ungewöhnlichen Header hängen. Ein ›Gandalf‹ wollte ihm etwas erzählen über

 

Die wahre Natur des Italieners …

 

Er wurde neugierig. Was sollte er kaufen – Italopornos? Oder war das ein Brandbrief ostdeutscher Neonazis, die Pizzerien und italienische Eiscafés als Stachel im deutschen Volkskörper empfanden? Er öffnete die Mail, ein Dreizeiler ohne Anhang, nichts weiter.

 

… findest Du da, wo Isis das Herz Osiris’ fand.

Er warf den Anker ins Fleisch des Feindes.

Frag sie nach dem delay.

 

Rünz seufzte. Hier wollte ihm wohl jemand einen Hinweis geben, hatte aber zu viel ›Harry Potter‹ und ›Herr der Ringe‹ gelesen. Wenn es irgendetwas gab, das Nordic Walking an Dämlichkeit Konkurrenz machen konnte, dann war es das ganze Mystery- und Fantasy-Gewese um Sakrilege, Illuminaten, Heilige Grale, Ringe, Pentagramme, verschlüsselte Zeichen und Zauberwesen aus Mittelerde. Rünz leitete die Mail an Wedel weiter. Vielleicht würde ihn die Recherche nach dem Absender von seinem SV-98-Trauma ablenken. Dann kam Brecker, und beide lasen konzentriert Hovens aktuellen Blogbeitrag.

»Was zum Teufel meint er damit, fragte Brecker nachdenklich.

»Keinen Schimmer, lass uns das noch mal genau durchgehen

Rünz las den Thread noch einmal Zeile für Zeile vor, die Worte sorgfältig und übertrieben deutlich aussprechend, als wäre Brecker ein Patient in seiner Logopädie-Praxis.

 

Von: Sven Hoven

 

Outsourcing und Public Private Partnerships höhlen das Monopol der Polizei auf die Gewährleistung öffentlicher Sicherheit und Ordnung zunehmend aus, unsere Services und Key Competences müssen sich Angebot und Nachfrage auf dem Sicherheitsmarkt stellen. Diese Entwicklung hat den Bundesinnenminister und die Innenminister der Länder veranlasst, einen Branding Process zu initialisieren, der die Marke ›Polizei‹ unverwechselbar und dominant im Security-Markt positioniert. Eine nachhaltige Neudefinition der Corporate Identity erfordert einen proaktiven Bottom-up Approach, der die Ideen und Visionen der Mitarbeiter emergetisch zusammenführt. Helfen Sie mit, den ›Freund und Helfer‹ zeitgemäß zu modernisieren. Senden Sie uns Ihre Idee für die neue Tagline der hessischen Polizei.

 

:-((           :-(           :- |            :-)           :-))

 

»Was soll das mit dieser ›Tagline‹

»Ist neudeutsch, so eine Art Leitmotto, zum Beispiel ›Krombacher – Eine Perle der Natur‹

Beide schauten einige Minuten versonnen aus dem Fenster, dann ließen sie ihren Assoziationen freien Lauf, stimulierten sich gegenseitig mit ihren Einfällen und brannten ein veritables Feuerwerk an Kreativität ab. Rünz hackte die Einfälle ohne Zensurschere in die Tastatur. Nach dem Schaffensrausch lehnten sich beide entspannt zurück, Rünz klickte auf ›submit comment‹. Brecker brach auf zum Außendienst, Rünz schmökerte noch eine Stunde in den aktuellen Ausgaben von ›Visier‹ und ›Caliber‹ – es war wichtig, fachlich auf dem Laufenden zu bleiben. Dann entschied er sich für eine Zwischenmahlzeit in der Kantine.

 

 

* * *

 

Ein genialer Einfall. Warum war er nicht schon früher drauf gekommen? Er schnitt sein Hähnchen am Brustfleisch ein, zog das neue kleine Digitalthermometer aus dem Ärmel seines Jacketts und führte die Spitze in die Fleischtasche ein. Die Anzeige auf dem Display raste hoch, der Anstieg verlangsamte sich, näherte sich asymptotisch einem Wert von 75 Grad Celsius. Die Zubereitungs- und Bereitstellungszeit einbezogen war eine Kerntemperatur von mindestens 60 Grad Celsius für einen Zeitraum von über einer halben Stunde wahrscheinlich das sichere Todesurteil für Salmonella Enterica und Typhi. Wedel beobachtete ihn sprachlos.

»Haben Sie was rausbekommen wegen dieser kryptischen Mail

Wedel strich sich selbstgefällig durch die gegelten Haare. Er hatte sich zum Trost für einen hohen dreistelligen Betrag  eine Belstaff-Lederjacke im Aviator-Style gekauft, die schon fabrikneu so used ausschaute, als hätte sie ein Obdachloser in Kalkutta in den Altkleider-Container geworfen.

»Allerdings! Der Mailserver, von dem aus die Post ins Web geschickt wurde, ist über die IP-Adresse identifiziert. Das Ding steht im Max-Planck-Institut für extraterrestrische Physik in Garching. Die haben da insgesamt über 300 PCs stehen, die Systemadministratorin konnte nicht zurückverfolgen, von welchem Rechner das ausging, weil der Autor seinen privaten E-Mail-Account benutzt hat. Sie konnte die Quelle aber auf den Ingenieurbereich Mechanik eingrenzen, hat mir versichert, zu den Computern dort hätten nur feste Mitarbeiter Zutritt, ein Besucher oder Externer könnte unmöglich seinen Mailverkehr dort abwickeln. 28 Leute sind das. Sollen wir die Kollegen in Bayern kontaktieren

»Noch nicht. Was ist mit diesen seltsamen Namen, Isis und Osiris

»Ägyptische Mythologie, Chef. Isis war die Göttin der Liebe, Osiris ihr Bruder und gleichzeitig ihr Mann. Um Inzest und so haben die sich damals noch einen Scheißdreck gekümmert. Die beiden hatten noch einen Bruder, Seth. Seth killt Osiris, tranchiert ihn und verteilt die Einzelteile im ganzen Land. Leichte Spannungen in der Familie, wenn Sie mich fragen. Isis rennt also in Ägypten rum und sucht alle Leichenteile, um sich ihren Bruder wieder zusammenzubauen. Und wo findet sie sein Herz

Wenn Wedel über die ägyptische Götterwelt sprach, dann klang das, als erklärte Paris Hilton die Stringtheorie. Er schaute Rünz erwartungsvoll an, der sorgfältig kaute.

»Keine Ahnung«, nuschelte er mit vollem Mund. »In Seths Tiefkühltruhe?«

Wedel beugte sich über den Tisch nach vorn.

»Auf Philae, einer Insel im Nil.«

Er schien zu erwarten, dass Rünz begeistert aufschrie.

»Philae, Chef, das ist der Name der kleinen Landeeinheit, die diese Rosetta-Sonde huckepack zu diesem Kometen bringt

»Wo haben Sie das alles her

Wedel lehnte sich zufrieden zurück.

»Allgemeinwissen, Chef. Na ja, und ein bisschen Internetrecherche. Aber der Hammer kommt noch

Wedel zog einen zusammengefalteten Fotoplot aus der Innentasche seiner Jacke und schob ihn über den Tisch. Rünz legte die Gabel zur Seite und betrachtete die Aufnahme. Sie zeigte ein fußballgroßes komplexes technisches Gerät, Kernstück war ein schwarzer Zylinder, aus dem die messingfarbene Spitze eines Projektils herausragte. Zwei Kränze stählerner Widerhaken deuteten auf Großwild als Jagdziel hin. Das Ganze sah aus wie die Bonsai-Version einer Harpune japanischer Walfänger.

»Haben das die Leute in Garching gebaut

»Bingo, das ist der Anker

Wedel fischte sich eine Kartoffel von Rünz’ Teller, nahm seinen Kaugummi aus dem Mund und einen Zahnstocher aus dem kleinen Reservoir auf dem Tisch. Er steckte die Spitze des Zahnstochers in den Kaugummi, hielt mit der Linken die Kartoffel hoch und umkreiste sie mit der Rechten.

»Das hier ist der Komet, Churumof-Grasimko oder wie das Ding heißt. Rosetta setzt den Lander ab Er bewegte den Kaugummi Richtung Kartoffel. »Philae setzt auf der Oberfläche auf. Das Problem: Die Anziehungskraft dieses Kometen ist so gering, der Lander springt wie ein Gummiball weg, wenn er sich nicht festhält. Und wie macht er das

Wedel drückte den Zahnstocher durch den Kaugummi in die Erdfrucht, die graue Masse war gut fixiert.

»Er schießt eine Harpune in den schmutzigen Schneeball, wie der Schlachter den Bolzen in den Schweineschädel. Die Jungs und Mädels vom Max-Planck-Institut in Garching haben das Gerät entwickelt, Stoiber hat ihnen dafür 2003 den Bayerischen Staatspreis um den Hals gehängt

Wedel zog den Zahnstocher heraus und steckte sich den Kaugummi wieder in den Mund. Die Kartoffel warf er mit Schwung zurück auf den Teller, sodass Rünz die Sauce aufs Hemd spritzte. Ein gutes Gefühl, von seinen Mitarbeitern respektiert zu werden. Rünz verteilte mit der Serviette die Flecken, bis das Hemd aussah wie der Übungsfetzen aus einem Batikkurs seiner Frau.

»Er warf den Anker ins Fleisch des Feindes«, murmelte er. »Das ergibt keinen Sinn. Ist der Komet der Feind

»›Frag sie nach dem Delay‹«, konterte Wedel.

 

Ohne Teller oder Tablett setzte sich Hoven grußlos zu den beiden an den Tisch. Wedel witterte Ärger.

»Ich geh’ dann mal an die Arbeit, Chef«, sagte er und verabschiedete sich.

Hoven verschränkte die Arme vor der Brust und schaute Rünz schweigend beim Essen zu. Die geschlossene, abwehrbereite Sitzhaltung war untypisch für Hoven, normalerweise achtete er auf eine betont entspannte und offene Körpersprache, auch wenn ihm vor Wut schon der Schaum vor dem Mund stand. Rünz nahm ein abgenagtes Hühnerbein von seinem Teller, schaute seinem Vorgesetzten tief in die Augen und begann, mit fettglänzenden Lippen frivol auf dem Knochen herumzulutschen, als wollte er Hoven zu einem schnellen Blowjob auf der Präsidiumstoilette verführen. An den Nebentischen ging schon das Gekichere los, Hoven musste sein Schweigen brechen.

»›Polizei Hessen – come in and schrei laut‹ – ein wirklich konstruktiver Beitrag, Herr Rünz

Der Kommissar legte den Knochen zurück auf den Tisch und wischte sich die Finger ab.

»Na ja, wir wollten mit dieser Tagline ein ironisch gebrochenes Fanal setzen, gegen die unmenschliche Behandlung der US-Gefangenen in Guan…«

»Hören Sie mir bloß auf mit diesem Mist. Und für ›Polizei Südhessen – Dein Feind und Schleifer‹ haben Sie sicher eine ähnlich plausible Erklärung?

»Nichts weiter als eine jugendlich-bissige Reprise des altbackenen und konservativen Slogans vom ›Freund und Helfer‹. Wenn Sie heute junge Menschen erreichen wollen, dann müssen Sie …«

»… sich so einen Bockmist einfallen lassen? Und ›more fuckin shelter for ya damn niggaz‹ ist dann sicher Ihre Grußadresse an unsere Mitbürgerinnen und Mitbürger mit Mi-grationshintergrund.«

»Eben, die sollen sich nicht alleingelassen fühlen im Kampf gegen Rassisten und Neonazis

»Herr Rünz, ich habe manchmal meine Zweifel, ob Sie und Ihr Schwager – dieser Brecker von der Bereitschaft ist doch Ihr Schwager? – den KVP in diesem Haus wirklich ernst nehmen

»Den KV-was?«

»Den kontinuierlichen Verbesserungsprozess.«

»Gibt es da keinen Anglizismus für? So klingt das irgendwie nach sozialistischer Planwirtschaft, Fünfjahreszielen und Held der Arbeit

»Der KVP ist Kernbaustein des japanischen Kaizen, aber ich habe nicht den Eindruck, dass Sie das wirklich interessiert

»Doch doch«, schmatzte Rünz. »Die Japaner hatten uns schon immer einiges voraus – Erdbeben, Tsunamis, Harakiri, Kamikaze, rohen Fisch …«

»Sushi ist das richtige Stichwort. Ich habe in drei Tagen einen Business Lunch mit einem gut befreundeten Staatssekretär aus dem Wirtschaftsministerium. Wäre schön, wenn Sie auch Zeit hätten

 

 

* * *

 

 

Die plausibelste Erklärung für die soziale Interaktion in einer Ehe war das Modell einer endlosen, auf Missverständnissen basierenden Reiz-Reaktions-Kette. Ein beliebiger Schlüsselreiz – zum Beispiel ein Mann, der konzentriert Zeitung las – rief bei seiner Partnerin einen bedingten Reflex hervor – in aller Regel reden. Frauen reagierten auf die meisten Schlüsselreize ihrer Männer mit reden, aber das war ein anderes Thema. Der in seiner Konzentration gestörte Mann reagierte meist mit vertieftem Rückzug hinter die Zeitungsseiten, also der unausgesprochenen Bitte um Ruhe, forderte damit aber umso forschere Ansprache seiner Frau heraus. Die Systemtheoretiker nannten diesen Mechanismus ›positive Rückkoppelung‹ und antworteten auf Fragen nach dem Ausgang mit resigniertem Kopfschütteln oder Panik.

 

Rünz studierte beim Frühstück die Wissenschaftsseite der ›Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung‹, er stieß auf einen Beitrag über das geplante europäische Satellitennavigationssystem Galileo.

 

Galileo funkt nicht*

von Thiemo Heeg

 

Weiter kam er nicht.

»›Ein bisschen gebastelt‹ hast du mit Oskar, wirklich spitze. Hast du keine Angst gehabt, dich anzustecken

»Nö.«

Rünz ließ in weiser Voraussicht den Vorsatz fahren, den kompletten Artikel zu lesen, und beschränkte sich auf eine diagonale Schnelldurchsicht.

 

Europa feiert sich. Aber das Renommierprojekt kommt nicht in die Gänge. (…)

 

»Ich habe eben mit der Nachbarin gesprochen, Oskar konnte im Kindergarten seiner Mäusegruppe ziemlich genau erklären, wie man eine 480er Ruger demontiert, reinigt, wieder zusammenbaut, lädt und entsichert. Und dass man damit einem Grizzly die Schädeldecke spalten kann, wenn man aus unter drei Metern Entfernung draufhält.«

Seine Frau rührte in ihrem Gemüsesaft, schaute aus dem Fenster und schüttelte pausenlos den Kopf, wie ein Wackeldackel auf der Hutablage.

 

(…) Das europäische Navigationssystem Galileo droht zu scheitern. Wenn die EU am Sonntag ihr Jubiläum feiert, dürfte manchem Wirtschaftspolitiker und Topmanager eher zum Weinen zumute sein.

 

»Hättest ja Blindekuh mit ihm spielen können, wenn du die Vereinbarung nicht verbaselt hättest«, knurrte er abwesend. »Ich fand, er war ganz aufgeschlossen und interessiert an aktiven Selbstschutzmaßnahmen

 

(…) »Europas größter Technologietraum« (…) Plötzlich (…) nicht mehr auszuschließen, dass von den hochfliegenden Träumen (…) nur eines übrig bleibt: Elektronikschrott.

 

»Aktive Selbstschutzmaßnahmen. Na klar, so aufgeschlossen, dass du ihm danach noch diesen Chuck-Norris-Scheiß vorgeführt hast. Hörst du mir überhaupt zu

 

(…) EU-Verkehrskommissar Jaques Barrot sieht geplanten Starttermin Ende 2010 gefährdet. (…) Verkehrsminister Wolfgang Tiefensee (…) neigt zum Pessimismus: »Galileo steckt in der Krise

 

»Klar höre ich dir zu. Die Zeitung halte ich mir nur vors Gesicht, um die Brotkrümel aufzufangen. Du hast mir die DVDs doch geschenkt! Außerdem – jetzt komm mal runter, als ob das Horrorfilme wären. Ist doch einfach nur ein texanischer Polizist, der ein bisschen für Ruhe und Ordnung sorgt, nichts weiter. Und sein Deputy ist auch noch Neg… – ähm – Afroamerikaner, ein ganz klar antirassistisches Statement, und Vegetarier außerdem, also eigentlich genau auf deiner Linie! Die stehen doch auf diesen Multikultikram in den Kindergärten

 

(…) Mix aus regionalverliebten Politikern und risikoscheuen Unternehmen verhindert rasche Fortschritte beim designierten GPS-Konkurrenten. (…) Galileo krankt (…) an bürokratischen Strukturen und falschen Anreizen.

 

»Jetzt willst du mir diesen reaktionären Asphaltcowboy noch als Teletubbie verkaufen. Das ist ja ungefähr so, als würde man Kindern für die Verkehrserziehung Formel-1-Rennen vorführen

 

Der Vertrag ist bis heute nicht unterschrieben. (…) Konsortium uneinig. (…) EADS, Alcatel-Lucent, Thales, Finmeccanica, Inmarsat, Hispasat, AENA und TeleOp im normalen Wirtschaftsleben (…) Konkurrenten. (…) deutliche Kostensteigerungen (…)

 

»Hab’ ihm übrigens versprochen, ihn mal mit auf den Schießstand zu nehmen

»Du hast WAS? Bist du noch ganz dicht? Oskar ist fünf Jahre alt! Warum nimmst du ihn nicht gleich mit zu Bartmann nach Frankfurt zur nächsten Autopsie

 

(…) setzten die EU-Verkehrsminister den beteiligten Unternehmen ein Ultimatum. Bis zum 10. Mai sollen die Satellitenfirmen eine arbeitsfähige Betreibergesellschaft gründen. (…)

 

»Hab’ ich mir auch schon überlegt, aber ich will ihn nicht überfordern. In ein oder zwei Jahren vielleicht.«

Rünz legte die Zeitung zur Seite, zog finster die Augenbrauen zusammen und schaute seine Frau eindringlich an. Es war an der Zeit, etwas klarzustellen.

»Ein Junge in seinem Alter muss lernen, in dieser feindlichen Umwelt …«, er machte mit dem Arm eine ausladende Geste, als wäre das Paulusviertel umgeben von Favelas mit marodierenden Jugendbanden, Privatmilizen südamerikanischer Drogenkartelle und Todesschwadronen korrupter Sicherheitskräfte, »… zu überleben. Töten – oder getötet werden. Das ist die Realität

Er hatte sie für einen Moment ruhiggestellt. Sie war sprachlos, er nahm die Zeitung wieder auf und nutzte die Pause, um einen längeren Abschnitt zu lesen.

 

(…) Um wie viel einfacher haben es da die Amerikaner mit ihrem Global Positioning System, besser bekannt als GPS. Das vom Militär aufgebaute System läuft seit Jahren problemlos; von Streitigkeiten im Vorfeld ist nichts bekannt. (…) Inzwischen haben die Amerikaner bereits eine modernisierte GPS-Version in Aussicht gestellt. Die soll 2010 zur Verfügung stehen. Und mindestens so gut sein wie Galileo.

 

Europäische Volkswirtschaften und Verteidigungskräfte abhängig von einem Navigationssystem unter der Kontrolle von US-Militärs? Die Vorstellung behagte Rünz nicht. Er beschloss, Sigrid Baumann zukünftig nach Kräften zu unterstützen.

Seine Frau  hatte sich wieder gefangen.

»Sag mal, könnte es sein, dass du etwas zu viel Fernsehen schaust

 

 

* * *

Die ESA bot auf ihrem Internetauftritt eine beeindruckende Informationsfülle über ihre Missionen, Rünz hatte keine Mühe, Dutzende von Pressemitteilungen über die Rosetta-Mission zu finden, die zusammen die komplette Missionsgeschichte abbildeten. Mit einigen englischen Synonymen für delay – postponement, deferment, detention – filterte er die Meldungen mit einem Suchlauf und wurde gleich fündig.

 

Press Release Arianespace-Headquarters*

Evry, France, December 30, 2002

Delay of Arianespace Flight 158 with Rosetta

The inquiry board named by Arianespace, the European Space Agency and France’s CNES space agency to investigate the anomaly observed during Flight 157 on December 11 continues to examine the potential impact on preparations for the upcoming mission with Rosetta.

The inquiry board will submit its final report to Arianespace on Monday, January 6, 2003. Until then, the irreversible operations linked to Rosetta’s launch have been suspended – which will result in a launch postponement of several days beyond the targeted date of Sunday, January 12.

A new launch date will be announced at the end of the week of January 6, which is to say on Saturday, January 11.

 

Press Release European Space Agency N° 4-2003

Paris, January 14, 2003

Rosetta launch postponed

Having considered the conclusions of the Review Board set up to advice on the launch of Rosetta, Arianespace and the European Space Agency have decided on a postponement.

The Review Board called for Arianespace and all its partners to make sure, in the framework of a programme for the resumption of Ariane 5 flights, that all Ariane 5 system qualification and review processes have been checked.

Arianespace and the European Space Agency, together with all interested parties, are now going to consult each other in order to determine arrangements for the soonest possible launch of Rosetta.

 

Press Release European Space Agency

Paris, May 29, 2003

New destination for Rosetta, Europe’s comet chaser

Comet-chasing mission Rosetta will now set its sights on Comet Churyumov-Gerasimenko. During its meeting on 13–14 May 2003, ESA’s Science Programme Committee decided Rosetta’s new mission baseline.

The spacecraft will be launched in February 2004 from Kourou, French Guiana, using an Ariane-5 G+ launcher. The rendezvous with the new target comet is expected in November 2014.

The choice of a new comet has required intensive efforts, including observations by telescopes such as the Hubble Space Telescope and the ESO Very Large Telescope to ensure we know as much as we can about the new target. The cost of the Rosetta launch delay is estimated at round 70 million Euros. The ESA Ministerial Council has resolved the financial issue by approving financial flexibility at Agency level.

Scientists will now investigate an alternative launch to this comet, in February 2005, as a back-up plan. Rendezvous with the comet is expected in November 2014.

Once again, Europe is set to try to do something no one has ever done before – to chase and catch a comet.

 

Mit seinen fragmentarischen Fremdsprachenkenntnissen verfügte Rünz eigentlich über einen Freifahrtschein vom Sonnenstaat der Globalisierungsgewinner ins Schattenreich des Prekariats, aber er war klug genug gewesen, an der Zwischenstation Beamtenhausen auszusteigen, dem sicheren Refugium für reformresistente Zeitgenossen. Rünz jagte die Texte durch die Internet-Übersetzungsmaschine Babelfish – das Ergebnis war kaum aussagekräftiger als die Betriebsanleitung für Breckers Recharger. Jedenfalls schienen Probleme mit der Trägerrakete Ursache der Startverschiebung um über ein Jahr gewesen zu sein. Bei der Startprozedur im Februar 2004 hatte es dann noch einmal zwei kurze Verzögerungen gegeben, einmal spielte das Wetter nicht mit, dann wurde bei der Startrampe ein Stück der Isolierung von den Wasserstofftanks der Ariane-5-Rakete gefunden, aber Rünz kam nicht mehr dazu, sich in die Details zu vertiefen. Wedel stürmte ins Büro, ohne anzuklopfen, und knallte ihm einen Stapel Papier auf seinen Schreibtisch.

»Sieht das hier aus wie ein Altpapiercontainer? Nehmen Sie den Müll von meinem Arbeitsplatz

Sein Assistent ließ den Stapel liegen. Er stellte sich breitbeinig vor Rünz’ Schreibtisch auf, die Hände vor dem Schritt zusammengelegt, wichtig und ernst dreinschauend. Mit Sonnenbrille und Knopf im Ohr wäre er gut als Leibwächter einer drittklassigen RTL-Serienactrice durchgegangen. Oberliga? Abstieg war vor dem Aufstieg.

»Haben Sie was von dem tschechischen Munitionsanbieter gehört, Sellier & Beillot, fragte Rünz.

»Die haben uns versichert, sie würden auf gar keinen Fall Munition ohne Chargennummer herausgeben, das müsste sich um eine Fälschung handeln. Ist natürlich Nonsens, aber wir haben keine Handhabe, mehr aus denen rauszukitzeln

Wedel machte eine kurze Pause.

»Erinnern Sie sich an den kleinen Schlüssel, Chef

»Wieso, hat sich der Hersteller gemeldet

»Nein, eBay hat sich gemeldet, wir haben Namen und Anschrift des Ersteigerers der Prepaidkarte

Rünz beugte sich auf seinem Stuhl nach vorn und zog die Augenbrauen hoch.

»Herrgott Wedel, wird das jetzt ein Quiz oder was? Vielleicht hat es Ihnen noch niemand gesagt, aber wir wissen, wie Rossi hieß und wo er gewohnt hat. Also, was hat das Ganze mit dem Schlüssel zu tun

Wedel blieb cool, Clint Eastwood am Kotflügel der Präsidentenlimousine.

»Mir kam es gleich spanisch vor. Die Nachbarin seiner Freundin im Hundertwasserhaus sammelte ihre Post, während sie auf den Kanaren war, und in dem ganzen Stapel war kein einziger Brief für Rossi. Sehr seltsam.«

»Ein Postfach!«

Wedel grinste triumphierend.

»Wir hatten Glück, die wollten ihm den ganzen Plunder gerade nachschicken, weil aus dem Fach in den letzten Wochen nichts abgeholt wurde. Allerdings an seine alte Adresse in der Ludwigshöhstraße, wäre mangels Nachsendeantrag also irgendwo im Nirwana versandet

»Und, was Verwertbares?«

»Fachliteratur, Korrespondenz, Periodika, Einladungen zu Kongressen, Mahnungen für Mitgliedsbeiträge, Rechnungen und Kataloge von Elektronikanbietern – und das hier.«

Wedel nahm den obersten Bogen vom Papierstapel und hielt Rünz das Cover vor die Augen. Der Union Jack, umgeben von einigen weißen Sternchen – die australische Nationalflagge.

»Das ist kein Preisausschreiben, sondern eine Umfrage der Australian Tourist Commission, die evaluieren jeweils am Jahresanfang die Erfahrungen der europäischen Touristen, die im Vorjahr Down Under besucht haben. Wollen damit ihren Service verbessern

»Das heißt, er war 2006 in Australien

»Wir haben eine schriftliche Bestätigung der australischen Botschaft, er hat im Dezember 2005 via Internet über die Australian Electronic Travel Authority ein ETA-Touristenvisum beantragt, damit konnte er für maximal drei Monate innerhalb eines Jahres ins Land

»Haben wir Daten über Flüge, die er gebucht hat

»Die haben wir. Nicht nur das, wir haben über Interpol von den australischen Kollegen ein ziemlich genaues Bewegungsprofil. Und ich kann Ihnen sagen, das ist der verrückteste Kurzurlaub, von dem ich je gehört habe. Fliegt im Januar 2006 mit Qantas über 20 Stunden von Schiphol nach Perth, mietet sich dort am Flughafen einen Wagen und rauscht zwei Stunden später 120 Kilometer nördlich von Perth, kurz vor der Kleinstadt New Norcia, in eine Radarfalle. Der Polizist fragt ihn, wohin er will, und er gibt als Ziel eine Benediktinerabtei in der Nähe an, übrigens die einzige in ganz Australien. Wir haben den australischen Kollegen ein Foto von Rossi gemailt, sie haben es der örtlichen Polizeistation in New Norcia weitergeleitet, und die haben es dem Mönch vorgelegt, der das Gästehaus der Abtei leitet. Der konnte sich an den Dicken sofort erinnern, sagt, der wäre zwei Nächte geblieben und hätte sich dann wieder Richtung Süden aufgemacht. Muss ziemlich übermüdet und nervös gewesen sein

»Was hat er dann in Perth gemacht

»Mietwagen zurückgegeben und dann eingecheckt für den Rückflug! Drei Tage nach der Ankunft fliegt der Idiot wieder zurück

»Müssen ein ziemlich effektives Wellnessprogramm anbieten, die Benediktiner

»Der Hammer kommt noch, Chef. Als der Senior Constable in New Norcia dem Superintendent des Districts Bericht erstattet, fragt er ihn, ob die Ermittlungen was mit dem Einbruch an der Bodenstation der ESA zu tun haben

»DEM WAS??«

»Fragen Sie mich nicht, die ESA muss da irgendeine Antennenanlage betreiben, und eine Woche, nachdem Rossi wieder weg war, hatte dem Constable ein örtlicher Farmer von der aufgebrochenen Tür des Kontrollraums berichtet

 

 

* * *

 

 

»War das nicht eine Superidee, uns hier zu treffen

Rünz versuchte bestätigend zu lächeln.

»Ja super. Sind Sie öfter hier

»Jede Woche, ich liebe die Atmosphäre, Inspektor

Der Hobbyastronom hatte ihm den Fantasie-Dienstgrad ›Inspektor‹ verliehen, und Rünz war nicht sicher, ob das einer Beförderung oder einer Degradierung gleichkam. Stadelbauer schien keinen Gedanken darauf zu verschwenden, dass diese Treffen für Rünz Arbeitsgespräche waren, warum also sollte man sich nicht abends im Jagdhofkeller zusammensetzen? Rünz beobachtete ängstlich die Decke des Kellergewölbes, ein wenig vertrauenswürdiges Flickwerk aus Natur- und Ziegelsteinen. Vielleicht hatte er Glück, und das Mauerwerk würde nach 300 Jahren auch noch diesem Treffen standhalten.

Meist traten hier renommierte Vertreter der Jazzszene auf, aber dieser Abend war dem Chanson und der Kleinkunst gewidmet. Auf der Bühne stand eine Chanteuse aus Frankfurt mit ihrer dreiköpfigen Instrumentalgruppe, alle hatten die Gesichter geschminkt wie Stummfilmschauspieler. Die Combo versuchte sich an musikalischen Interpretationen der lyrischen Ergüsse irgendeines Dada-Künstlers aus den 20er-Jahren. Alle gaben sich redlich Mühe, die Wirkung der verqueren Texte mit Clownsgrimassen zu verstärken, aber das mimische Repertoire der Truppe beschränkte sich auf weit aufgerissene Augen und Schmollmünder. Die Sängerin vermied den Blickkontakt mit dem Publikum, sie hielt die Augen starr über die Köpfe der Gäste hinweg auf einen imaginären Punkt an der gegenüberliegenden Wand gerichtet, so als reichte ein skeptischer Blick aus dem Parkett, um sie aus der Façon zu bringen. Kleinkunstbühnen waren das säkulare Fegefeuer der Postmoderne. Menschen, die noch vor 50 Jahren ein weitgehend unauffälliges Leben als Buchhalter oder Hausfrauen geführt hatten, ohne größere Flurschäden in der Kulturlandschaft zu hinterlassen, stiegen heute auf Kleinkunstbühnen, um sich zu verwirklichen. Rünz litt Höllenqualen, seiner Frau würde die Truppe also höchstwahrscheinlich gefallen. Er beschloss nachzufragen, wo sie in den nächsten Wochen auftraten. Er wollte provokativ werden, was seine Ehe anging.

Stadelbauer amüsierte sich prächtig und war nicht ansprechbar, bis die Chanteuse ihre erste Auszeit nahm. Dann lud Rünz ihn an die Bar ein und erzählte ihm von Rossis Kurztrip nach Australien. Der Astronom wurde schlagartig ernst, er bestand darauf, zu zahlen und das Lokal zu verlassen. Im Jagdhof strich er aufgekratzt und nervös um die Bäume herum wie Großherzog Ernst Ludwigs Hunde vor dem Anpfiff zur Parforcejagd.

»Verdammt, der Junge hat es wirklich ernst gemeint. Haben Sie mit den ESOC-Leuten schon drüber gesprochen

»Nein, ich wollte erst wissen, was Sie davon halten. Was ist das für eine Bodenstation da unten, was kann er da gewollt haben

»Die gehört zu ESTRACK, den ESA tracking stations, ein Netz von Funkstationen rund um den Erdball, das die kontinuierliche Satellitenkommunikation gewährleistet, weltweit neun Stationen, in Schweden, Frankreich, Spanien, Belgien, Australien, Kenia und Französisch-Guayana. Die in New Norcia und im spanischen Cebreros sind 35-Meter-Parabolantennen, die bilden das Deep Space Network der ESA. Bei Missionen wie Rosetta läuft ohne DSN überhaupt nichts. Sie haben Signallaufzeiten bis zu 100 Minuten, bei einer Sendeleistung von maximal 28 Watt können Sie sich vorstellen, was hier auf der Erde noch ankommt. Um das bisschen Energie aufzufangen, brauchen Sie richtig große Salatschüsseln, und das rund um den Erdball. Die in Australien wiegt 630 Tonnen, die gesamte Mechanik wurde übrigens in Duisburg gebaut …«

»Rossi fliegt hin, bleibt drei Tage in New Norcia in einem Kloster, fliegt wieder zurück. Ein paar Tage später wird acht Kilometer südlich vom Kloster in dieser Bodenstation eingebrochen. Das ergibt keinen Sinn

»Vielleicht wurde während seines Aufenthaltes dort eingebrochen

»Das hätten die Wissenschaftler dort doch sofort am nächsten Morgen entdeckt

»Diese Bodenstationen werden die meiste Zeit vom ESOC in Darmstadt ferngesteuert, da schaut nur alle paar Tage ein Technikerteam für einen Check-up vorbei

»Sie meinen, Rossi hat sich dort Zugang verschafft

»Können Sie das ausschließen

»Aber was zum Teufel wollte er dort? Sie können doch heute jedes Datenpaket in Sekunden um die halbe Welt schicken, da müssen Sie doch nicht 20 Stunden um die halbe Welt fliegen, um sich vor Ort ein paar Bytes auf Ihren USB-Stick zu ziehen.«

»Vielleicht wollte er die Datenversendung ja gerade verhindern! Oder er wollte Daten hochschicken, manipulierte Routinen für Bahnkorrekturen, was auch immer

Rünz schaute ihn ratlos an, Stadelbauer legte nach.

»Folgendes Szenario: Die Antenne in New Norcia richtet sich nach einem genau definierten Zeitschema auf Deep Space Satelliten der ESA aus – Mars Express, Venus Express oder Rosetta –, macht ein Sicherungs-Back-up der eingehenden Daten und schickt sie dann sofort vollautomatisiert nach einem bestimmten Verteilungsschlüssel zu den Kontroll- und Forschungszentren der ESA in Europa. Rossi steckte tief genug in der Materie, um zu wissen, wie genau dieser Zeitplan aussah. Wenn er also ein bestimmtes Datenpaket ganz allein für sich haben wollte, dann musste er sich dahin bemühen, wo es empfangen wird, und zwar zu einem genau definierten Zeitpunkt. Er musste da sein, bevor es in die weite Welt gemailt wird

Rünz fiel nichts mehr ein, er fühlte sich, als entglitte ihm der Fall vollends mangels Fachkompetenz. Er war nahe dran, einen beruflichen Offenbarungseid zu leisten und einfach Stadelbauer die Ermittlungsleitung zu übertragen. ›Wie machen wir jetzt weiter?‹, lag ihm auf der Zunge, aber der Hobbyastronom kam ihm zuvor.

»Wir brauchen einen Internetanschluss

 

Rünz war selten nachts im Präsidium, die Kollegen vom Bereitschaftsdienst schauten ihn und seinen Begleiter auf dem Weg durch die Flure erstaunt an. Er machte Licht in seinem Arbeitszimmer, stellte einen zweiten Stuhl vor den Tisch, loggte sich ins System ein und überließ Stadelbauer die Regie an der Tastatur.

»Was suchen Sie

»Die ESA veröffentlicht regelmäßig detaillierte Status Reports aller Missionen. Er hat für das Rosetta-Projekt gearbeitet, die Rosetta-Sonde hält über die Parabolantenne in New Norcia Kontakt mit dem ESOC. Ich will wissen, in welcher Flugphase der Satellit war, als er an der Bodenstation herumgebastelt hat. Wann genau war er dort

Rünz kramte auf seinem Schreibtisch nach den Unterlagen der australischen Behörden, die Wedel ihm zusammengestellt hatte.

»Er hat in seiner Unterkunft in New Norcia am 15. Januar 2006 um 18 Uhr Ortszeit eingecheckt und ist zwei Tage später morgens um 9.30 Uhr wieder abgefahren

Stadelbauer klickte sich durch die Webseiten der ESA zu den Reports der Rosetta-Mission, Rünz schaute ihm über die Schulter. Die Berichte schienen sich vor allem an die wissenschaftliche Community zu wenden, sie gingen viel weiter in die technischen Details als die Pressemeldungen, mit denen er sich über die Startverschiebung informiert hatte. Schließlich fand Stadelbauer, was er suchte.

 

No. 54 – Spacecraft Monitoring*

30 Jan 2006 10:31

 

Report for Period 6 January – 27 January 2006

 

The reporting period covers three weeks of passive cruise, with monitoring and minor maintenance activities.

On the subsystems side, the TC link timeout was returned to its normal value of 9 days on 12 January. The TM mode was temporarily changed to ›bi-weekly‹ between 12 and 19 January, to cope with possible reduction of coverage when New Norcia was supporting Mars Express contingency operations.

The payload was inactive in the reporting period, with the exception of SREM measuring radiation in the background.

A total of 3 New Norcia passes were taken over the reporting period.

 

NNO Pass

 

Date

 

DOY

 

Main Activity

 

683

 

12.01.06

 

012

 

Monitor;

TC link timeout to

 9 days

690

 

19.01.06

 

019

 

Monitor

uplink new Payload

off OBCPs

697

 

26.01.06