»Nach über 20 Tagen ist natürlich nicht mehr allzu viel zu erwarten an leichtflüchtigen Substanzen. Aber wir haben hier eindeutig ein hübsch komplexes Gemisch aus über 100 leichten Kohlenwasserstoffen, Aromatenanteil unter 25 Prozent.«
»Gibt’s das auch auf Datterich-Niveau?«
»Universalverdünnung, Testbenzin, Terpentinersatz – nennen Sie es, wie Sie wollen. Wird als Verdünner für Farben und Lacke in jedem Baumarkt verkauft. Ist für Low-Level-Pyromanen, denen nichts Raffinierteres einfällt, die erste Wahl. Was ist eigentlich mit der Katze?«
»Welche Katze?«
»Der ganze Boden ist voll von Tonmineralien, Bentonitkügelchen, überall verstreut. Kenne keinen anderen Verwendungszweck für eine Wohnung als Streu für ein Katzenklo.«
»Die Mieterin hat mir nichts von einem Haustier erzählt.«
Rünz machte einen Rundgang und suchte nach Überresten von Näpfen, Whiskas-Dosen und Kratzbäumen, ohne Erfolg. Nach einigen Minuten stand er wieder am Ausgangspunkt und betrachtete Rossis Arbeitsplatz. Eine der Strippen an den Rückseiten der Geräte führte von der Arbeitsplatte weg, die Kupferadern lagen frei, die geschmolzene Isolation hatte einen breiten Pfad in den Teppichboden gebrannt, der zu einer Nische neben der Balkontür führte. Rünz folgte dem Kabel, schob einen verkohlten Bilderrahmen zur Seite und fand in der kleinen Ecke eine seltsame Apparatur, deren Sinn sich ihm nicht erschloss. Auf einem parabolförmigen Drehteller mit elektrischen Stellmotoren stand ein graues Kunststoffrohr von anderthalb Metern Länge und vielleicht einer Handbreit Durchmesser, in 15 oder 20 Windungen vom Sockel bis zum Ende mit einem kräftigen Metalldraht spiralartig umwickelt. Die ganze Maschine war auf Rollen montiert, Druckspuren in den Teppichresten deuteten darauf hin, dass sie immer wieder aus der Nische heraus zur Balkontür gezogen worden war. Die kleine Anlage hatte den Brand relativ unbeschadet überstanden, lediglich das PVC-Rohr war unter der Hitzeeinwirkung etwas deformiert. Das Ganze glich einer im Weltraumkampf ramponierten Strahlenkanone aus der Requisite alter Flash-Gordon-Filme.
»Was ist das hier für eine Anlage?«
Die Technikerin packte ihr Spektrometer ein.
»Gute Frage. Das Rohr vorn ist eine Antenne, eine Helixantenne, um genau zu sein. Das Ding ist eine Eigenkonstruktion, Sie brauchen nicht viel mehr als ein Kunststoffrohr und etwas Kupferdraht. Mit dieser Bauart und Größe können Sie elektromagnetische Strahlung in Frequenzbereichen von 0,3 bis drei Gigahertz empfangen. Die hier hat einen Durchmesser von sieben Zentimetern, ist berechnet für eine Wellenlänge von gut 20 Zentimetern.«
»Und das ganze Zeug auf dem Tisch?«
»Die Antenne war über ein Koax mit dieser Blechbox verbunden, ein einfacher Vorverstärker mit externer Spannungsversorgung, Bandbreite 40 Megahertz, 28 Dezibel Signalverstärkung. Vom Ausgang führt eine SMA-Strippe zu diesem Kasten. Das war mal ein Spectrum Analyzer, nicht ganz billig, die Dinger kosten schon ein paar Tausend Euro. Na ja, und der Analyzer war über dieses RS232-Interface wahrscheinlich mit einem Notebook verbunden, jedenfalls hätte der Platz hier auf der Arbeitsplatte gerade für einen Laptop ausgereicht.«
Rünz fühlte sich, als erläuterte ihm eine Mediamarkt-Mitarbeiterin die Features der brandneuen Plasmafernseher-Generation.
»Also kein Sender?«
»So wie die Konfiguration ausschaut, hat er nur empfangen – oder abgehört, wie Sie wollen.«
»Aber was konnte er damit abhören?«
»Gute Frage, da blicken wir nicht durch. WLAN hat höhere Wellenlängen, die Mobilfunknetze passen auch nicht, die Frequenz des D-Netzes liegt drunter, die des E-Netzes ist zu hoch für die Anlage. Die Antenne ist dimensioniert für ein Frequenzband, das eigentlich nur vom Amateurfunk genutzt wird. Aber um den abzuhören, brauchte er keinen Empfänger mit so einer starken Richtwirkung. Damit können Sie ja ein Walkie-Talkie empfangen, das vom Mond sendet. Ich kann mir da keinen Reim drauf machen. Und dazu noch diese automatische Nachführung mit dem Drehteller, könnte die Montierung eines astronomischen Teleskopes sein.«
Rünz sinnierte, welcher Geheimdienst eines westlichen Industrielandes Interesse hätte an einer Information, die man mit einem Regenrohr aus dem Baumarkt abhören konnte. Er dachte an die Aussagen Rossis ehemaliger Chefin im ESOC und musste ihr im Nachhinein recht geben – der Italiener hatte ganz offensichtlich nicht mehr alle Tassen im Schrank gehabt. Vielleicht hatte er sogar selbst gezündelt, bevor er zu seinem Treffen auf dem Knell-Gelände aufgebrochen war – ein Paranoider, der keine Spuren hinterlassen wollte.
Das ganze elektronische Equipment mitten im Hundertwasserhaus amüsierte Rünz. Rossis Aktivitäten mussten den Makrobioten in der Nachbarschaft verborgen geblieben sein – sonst hätte ihnen der Elektrosmog sicher eitrige Pusteln bereitet.
»Was ist mit Unterlagen, privaten Dokumenten, Aufzeichnungen, Kontoauszügen?«
»Feuer und Wasser sind eine denkbar schlechte Kombination, wenn es um die Erhaltung von Papier geht. Vielleicht können wir ein paar Sachen rekonstruieren, aber das wird dauern.«
»Und Datenträger, CDs, DVDs, Disketten?«, fragte Rünz.
»Ein angekokelter USB-Stick. Wir werden im Labor sehen, ob sich Daten auslesen lassen.«
Einen Schritt rückwärts Richtung Raummitte gehend, blieb Rünz mit der Ferse an einem schweren Gegenstand hängen, der ihn fast zu Fall brachte. Er bückte sich. Eine schwarz verrußte Platte, wie ein angekohltes Küchenbrett. Er versuchte, eine Seite mit dem Kugelschreiber anzuheben, und war überrascht über das hohe Gewicht. An einigen Stellen war die Rußschicht abgewischt, Myriaden kleinster Schriftzeichen darunter sichtbar. Er zog sich einen Latexhandschuh an und strich mit der Spitze des Zeigefingers über die Oberfläche. Hauchfeine Unebenheiten, die Zeichen waren nicht aufgedruckt, sondern in unendlich mühsamer Kleinarbeit eingraviert.
»Was ist das hier für ein Briefbeschwerer? Haben Sie den schon untersucht?«
Habich schloss die Klappe ihres Laptops und begann ihre Ausrüstung einzupacken.
»Habe vor zwei Stunden ein paar Fotos davon mit der Digicam gemacht und nach Wiesbaden gemailt. War eine richtig schöne Knobelei für die Kollegen. Das ist eine alte ägyptische Stele, besser gesagt eine Kopie davon. Aber eine ziemlich gute, sogar das Originalmaterial wurde verwendet – Gabbro, ein grobkörniger Magmatit, finden Sie auch hier im vorderen Odenwald. Das Original dieser Stele ist über zwei Meter hoch und steht im Britischen Museum in London. Hat einer von Napoleons Offizieren 1799 im Niltal gefunden. Die Tafel hat eine Schlüsselrolle bei der Entzifferung der ägyptischen Hieroglyphen gespielt, der Text ist ein Dekret ägyptischer Priester, übersetzt in demotische Schrift und griechisches Alphabet. Die ideale Langenscheidt für Ägyptologen. Das Original stammt aus dem Jahr 196 vor Christus. Premiumkopien wie diese können Sie in Kairo im gehobenen Antiquitätenhandel erwerben. Jetzt wollen Sie wahrscheinlich wissen, wann und wo welcher von den 80 Millionen Ägyptern dieses Souvenir verkauft hat?«
Rünz ließ fasziniert die Fingerkuppe über die Schriftzeichen gleiten. Habich ging neben ihm in die Hocke. Sie hatte einen dezenten Lippenstift aufgelegt und schien Parfüm zu benutzen, zum ersten Mal seit Beginn ihrer Zusammenarbeit.
»Die Archäologen nennen ihn den ›Stein von Rosetta‹.«
* * *
Das Kontrastmittel schmeckte weniger unangenehm, als er befürchtet hatte, eine leicht süßliche Zitronennote. Um keinen Durchfall zu riskieren, sollte er die Einnahme über anderthalb Stunden verteilen. Anderthalb Stunden in einem Wartezimmer im Hospital, und er hatte nicht einmal die aktuellen Ausgaben von ›Caliber‹ und ›Visier‹ mitgenommen. Mit solchen Spezialinteressen konnte er sich den Weg zum Klinikkiosk sparen. Er versuchte sich abzulenken, ging in Gedanken noch einmal die Zeugenaussagen der Nachbarn im Hundertwasserhaus durch. Dann vertrieb er sich eine halbe Stunde damit, die Patienten im Wartezimmer zu beobachten, eine Berufskrankheit, das gute alte ›Ich rate, wer du bist‹-Spiel. Ihm gegenüber saß ein Halbstarker mit Halskrause. Den Sorgenfalten seiner Mutter nach zu urteilen war er bei einem waghalsigen Downhill-Manöver mit dem Mountainbike an der Ludwigshöhe nur knapp an einer Querschnittslähmung vorbeigeschrammt. Neben den beiden hockte eine Rentnerin, steif und verkrampft vorn auf der Stuhlkante, die Hände auf dem Schoß gefaltet, den Blick gottergeben zur Decke gewandt. Das Schicksal hatte ihr womöglich einen vernichtenden Doppelschlag erteilt – der Verlust des Partners, kurze Zeit später eine deprimierende Prognose für das eigene Leben. Es gab keine Gerechtigkeit. Zwei Stühle weiter eine Vertreterin der sozialen Unterschicht, eine unerträgliche Wolke kalten Rauchs absondernd, viel zu enge rosa Leggings, wie Wurstpellen über die gequollenen Beine gezogen, eine Frisur wie ein gerupfter Strohballen, ruiniert durch unzählige misslungene Blondierungsversuche. Die Proletin beugte sich mit ihrer Tochter über eine Wellnesszeitschrift, die Textzeilen beim mühsamen Lesen wie ein Erstklässler mit dem Finger nachfahrend, beide diskutierten die Ergebnisse einer Mineralwasseruntersuchung. Vielleicht hatte sie die Illusion, mit einigen Ernährungsumstellungen auch nur eine einzige der über 100 000 Zigaretten wiedergutmachen zu können, die sie sich seit ihren Jugendjahren in die Lungenflügel gesaugt hatte.
Rünz wandte sich angewidert dem Zeitschriftenstapel zu. Er schnappte sich die zuoberst liegende ›Brigitte‹ und tauchte für einige Minuten ab in das Bermudaviereck aus Beauty, Wellness, Fun und Fashion, den kartesischen Bewusstseinskoordinaten postmoderner Frauen. Warum war in dieser Redaktion noch niemand auf die Idee gekommen, das Blatt in ›Bridget‹ umzubenennen? Irgendein US-amerikanischer Fitnessguru hatte das x-te Derivat eines Power-Wellfit-Relax-Balance-Yoga-Entschlackungs-Programmes auf dem Markt lanciert, und die führende deutsche Frauenzeitschrift hatte den Schmu sofort begeistert aufgegriffen. Die omnipräsenten Regenerations- und Entspannungsangebote schienen an Umfang inzwischen weit größer als alle Möglichkeiten, Stress und Anspannung aufzubauen. Den Teaser für die Story bildete eine doppelseitige Aufnahme unterernährter junger Frauen, die auf einer Frühlingswiese ihre Übungen machten. Sie standen wie Flamingos mit geschlossenen Augen auf einem Bein, das andere angewinkelt, die Fußsohle gegen die Innenseite des Standbeines gelegt, die Arme senkrecht über dem Kopf nach oben gestreckt und die Handflächen aneinandergelegt. Rünz fragte sich, in wie viel Tausenden von Anzeigen und Beiträgen von, für und über Wellness- und Vitalhotels, Energydrinks, Fitnessoasen und Spas er diese dämliche Pose schon gesehen hatte. Er hätte sie strafrechtlich gerne behandelt wie den Hitlergruß, sie erfüllte eigentlich alle Tatbestandsmerkmale der Volksverhetzung. Er wurde aufgerufen und in den Keller geschickt. Überall arbeiteten Handwerker, er dachte zuerst, er hätte sich verlaufen – der Bauleiter wies ihm den Weg zum Untersuchungsbereich.
»Ich habe doch schon einen Liter von dem Zeug getrunken, warum jetzt auch noch einen Schuss in die Blutbahn?«
Die Röntgenassistentin perforierte erbarmungslos seine Armbeuge.
»Das war Bariumsulfat, damit wird Ihr Verdauungstrakt auf den Aufnahmen sichtbar. Hier ist Jod drin, für Ihre restlichen Organe, Leber, Bauchspeicheldrüse und so weiter.«
Die Radiologin im Nebenzimmer schien mit einer umfassenden Metastasierung seines Körpers zu rechnen.
»Nicht erschrecken, das kann sich jetzt etwas heiß anfühlen. Vielleicht bekommen Sie einen metallischen Geschmack im Mund, das ist völlig normal.«
Sie hatte nicht übertrieben. Er bekam eine Hitzewallung, als hätte er sich im Kernkraftwerk Biblis einen kräftigen Schluck aus dem Primärkreislauf genehmigt, sein Mund schmeckte nach zehn Euro Kleingeld in den Backentaschen. Die Assistentin verließ das Zimmer. Er war allein auf der Liege, in Hüfthöhe umgeben von einem zyklopischen Ring mit dem anachronistisch altertümelnd anmutenden Logo von General Electric. Die Liege setzte sich in Bewegung und beförderte ihn bis auf Augenhöhe durch den Ring. Der Industriedesigner, der die Hülle des Gerätes gestaltet hatte, musste Sinn für schwarzen Humor haben. Ein kleines rot getöntes Fenster gab für den Patienten den Blick frei auf die technischen Innereien – nicht gerade ein beruhigender Anblick. Eine ganze Staffel von Glühwendeln leuchtete im Innern auf, ein mächtiger Rotor setzte sich langsam in Bewegung wie der Fan eines Jettriebwerkes. General Electric schien von den Synergieeffekten mit dem Flugzeugtriebwerksbau reichlich Gebrauch zu machen. Die Maschine schob Rünz einige Male durch den Ring und tranchierte seinen Körper in einige Tausend virtuelle Salamischeiben.
Er hörte einen metallischen Schlag, kurz darauf fluchte einer der Handwerker draußen auf dem Flur. Er hatte wohl einen Eimer mit Farbe umgestoßen, die Lösungsmittel drangen durch die Türritzen in das Untersuchungszimmer und verbanden sich mit dem metallischen Geschmack des Kontrastmittels zu einem unangenehmen sensorischen Cocktail. Der durchdringende Farbgeruch weckte Assoziationen in Rünz, die Ahnung einer Erinnerung an eine befremdliche, vielleicht auch belustigende Situation. Er versuchte, die gemeinsamen Stunden mit seinem Vater in der Werkstatt damit zu verbinden, aber es musste etwas Aktuelleres sein. Er konzentrierte sich, vielleicht hatte es mit den Stunden zu tun, die ihm die Amnesie geraubt hatte.
Als es ihm einfiel, wäre er am liebsten gleich aufgesprungen und aus dem Ring geklettert. Er hatte sich unwillkürlich bewegt, die Assistentin mahnte ihn über einen Lautsprecher aus dem Nebenraum zur Ruhe. Er wartete ungeduldig, bis der Rotor wieder zum Stillstand kam, ließ sich die Kanüle aus der Vene ziehen, sprang auf, zog sich an und stürmte mit dem Mobiltelefon in der Hand aus dem Gebäude. Es gab Wichtigeres als eine lebensgefährliche Erkrankung. Er sprach einige Minuten mit Wedel, während er seine rutschende Hose mit einer Hand am Bund festhielt. Dann ging er zurück ins Hospital, er hatte seinen Gürtel vergessen.
* * *
»Wie zum Teufel sind Sie auf die Idee gekommen, Chef?«, fragte Wedel.
»Ich war bei einer Comp…«, Rünz brach den Satz ab.
»Ich bin an einer Baustelle vorbeigekommen und habe Lösungsmittel gerochen, und da war’s plötzlich wieder da, wie ein Flashback, eine Szene im Baumarkt, bevor ich aufs Knell-Gelände gefahren bin. Ich ging durch die Farbenabteilung, da standen drei Typen, alle Mitte oder Ende 20, schwarze Lederblousons, kurze Haare, durchtrainierte Staturen, einer mit einem Sack Katzenstreu unter dem Arm. Die stehen in dieser Farbenabteilung vor dem ganzen Verdünnerzeug, Terpentinersatz und so weiter, diskutieren und gestikulieren. Als ich an ihnen vorbeikomme, höre ich Wortfetzen, osteuropäischer Sprachraum, Russen schätze ich.«
Wedel schüttelte missbilligend den Kopf, als zweifelte er an der Zurechnungsfähigkeit seines Chefs.
»Versuchen Sie’s doch mal mit Denken, Wedel. Drei Russen decken sich im Baumarkt mit Katzenstreu und Universalverdünner ein, ein paar Minuten später wird im Hundertwasserhaus, keinen Kilometer entfernt, eine Wohnung mit dem Zeug abgefackelt, gleichzeitig knallt genau dazwischen irgendein Sniper mit einer russischen Scharfschützenwaffe zwei Menschen ab. Statistisch gesehen ist das ein waschechter Russencluster, eine signifikante zeitliche und räumliche Häufung von Russland hier im Norden Darmstadts. Was haben Sie erreicht?«
Rünz’ Plädoyer war weit entfernt von einer belastbaren Indizienkette, aber es reichte aus, um Wedel zu beeindrucken.
»Also, der Baumarkt hat zwölf Kassen, zehn im Hauptgebäude, zwei im Baustoffhandel im nördlichen Nebengebäude. Eine Videokamera erfasst jeweils zwei Kassen. Die Aufnahmen werden auf drei digitalen Langzeitrekordern gespeichert, und zwar die jeweils letzten 48 Stunden, an denen die Kassen offen sind. Dann werden die Festplatten automatisch wieder von vorn beschrieben.«
»Wie sieht es mit Back-ups aus, Dateien, DVDs, Bändern?«
»Nur als Beweissicherung, wenn es Hinweise auf Unregelmäßigkeiten gibt. War am betreffenden Samstag leider nicht der Fall. Aber man muss auch mal Glück haben! Am Montag drauf fiel gegen Mittag einer der Rekorder aus. Just auf dieser Maschine ist das komplette Kassenkino vom Mordtag drauf. Der Sicherheitschef hat sofort den Kundendienst bei Mitsubishi Electric kontaktiert, die haben gleich ein Ersatzgerät beschafft und das defekte mitgenommen. Ich habe die Serviceleute in Ratingen kontaktiert, die hatten das fehlerhafte Gerät noch in der Werkstatt und haben für uns ein komplettes Back-up der Festplatte gezogen. Vor zehn Minuten kam das hier per Eilbote rein.«
Wedel legte einige blau schimmernde Blue-ray Discs in transparenten Hüllen auf den Tisch.
»Alle Kassenaufnahmen vom Samstag zwischen acht und 20 Uhr. Macht bei sechs Kameras 72 Stunden Aufzeichnung. Hatten Sie am Wochenende was Besonderes vor?«
Zwei Stunden später saß Rünz allein zu Hause beim Abendessen, seine Frau vergnügte sich bei der Jubiläumsfeier zum zweijährigen Bestehen ihrer Pilatesgruppe. Menschen feierten die seltsamsten Anlässe.
Er öffnete eine sterile, vakuumverpackte Dose mit runden Pumpernickelscheiben und begann zu knabbern. Seine Frau hatte ihm zur Erinnerung die Antibiotika mitten auf den Tisch gestellt. Noch zehn Tage, dann hatten seine lädierten Augen die kritische Phase hinter sich und er konnte das Medikament absetzen. Aus Langeweile studierte er den Aufdruck auf der Medikamentenpackung: ›Klacid PRO – jetzt im 5 Tage Compliance Blister‹. Compliance Blister, das klang nach einer mächtigen Portion Fortschritt. Was konnte das sein, und vor allem – hatte es Nebenwirkungen? Zeile für Zeile studierte er den Beipackzettel, fand aber keinen Hinweis.
Er ging früh zu Bett und fiel in einen unruhigen Schlaf. Hovens Business-Denglisch und der Compliance Blister hatten ihn stärker beeindruckt, als er es sich in wachem Zustand hatte eingestehen wollen – er litt unter einem Albtraum der ganz besonderen Art. Einen von der tückischen Sorte, die mit der Illusion begannen, morgens aufzuwachen …
Er blinzte durch die halbgeöffneten Augen, die Morgensonne schien durch das Fenster, es musste mindestens neun Uhr sein. Seine Frau saß aufrecht neben ihm im Bett, starrer Blick und Schmollmund. Sie trug ein Headset zu marineblauer Businesskleidung und tippte Buchstaben- und Zahlenkolonnen in einen BlackBerry. Unheil drohte. Er schloss wieder die Augen und stellte sich schlafend. Gab es etwas Unschuldigeres als einen schlafenden Menschen?
»Ich weiß, dass du nicht schläfst.«
Rünz grunzte und schnappte nach Luft. Wenn ein Grimme-Preis für die glaubwürdigste Schlafdarstellung verliehen wurde – er hatte ihn verdient.
»Wenn wir unser Relationship Management nicht grundsätzlich neu ausrichten, werden wir beziehungsmäßig den Turnaround in diesem Jahr nicht schaffen.«
Rünz ließ die Tarnung fallen und öffnete die bleiernen Lider.
»Seit wann gehst du mit Hoven ins Bett?«, knurrte er.
Sie reagierte nicht auf seine Frage.
»Du hast meine Emotional Requirements im vierten Quartal ’06 nur zu 79 Prozent erfüllt, und die Benchmarks für das erste Quartal ’07 deuten nicht auf einen kontinuierlichen Verbesserungsprozess deinerseits hin.«
Rünz drehte seinen Kopf und schaute auf den Nachttisch – keine Rasierklinge, kein Strick, keine Schlaftabletten, keine Ruger – nichts, womit man sich eben mal schnell das Leben nehmen konnte.
»Nimm das nicht auf die leichte Schulter«, sagte sie. »Der Markt bietet durchaus Competitors mit guter Performance.«
»Du meinst den sensiblen Weichspüler aus deiner Pilatesgruppe? Bis der sich aus seiner Angora-Unterwäsche gepellt hat, bist du doch in den Wechseljahren.«
Ihre Antwort war ein Briefumschlag unter seiner Nase.
»Ich habe hier einen Letter of Intent vorbereitet, die letzte Chance für einen erfolgreichen Relaunch unserer Relationship. Wenn du es wirklich ernst meinst, wirst du dich auf dieser Basis mit mir committen.«
Rünz erbat sich einige Minuten Bedenkzeit, zog sich an und beschloss, erst mal Brötchen zu holen. Vor dem Haus atmete er tief durch. Was er jetzt brauchte, war ein ganz normales Gespräch mit seinem ganz normalen Bäcker um die Ecke. Er schlurfte nach Süden, überquerte die Klappacher Straße und schlich an der Natursteinmauer der Orangerie entlang bis zur Bäckerei Bormuth. Der Filialleiter sah ihn durch das Schaufenster, kam aus seinem Ladengeschäft und begrüßte ihn mit Handschlag auf dem Bürgersteig.
»Ich grüße Sie, Herr Rünz. Darf ich Ihnen schon zum Geburtstag gratulieren?«
»Na ja, ist noch ein wenig hin«, stammelte Rünz.
»Sie kommen gerade richtig! Eben haben die Roland Berger Strategy Consultants die aktuellen Ergebnisse der BBCR-Study rübergemailt.«
»Die BBC – was??«
»›BBCR – Bormuth Bäckerei Client Research Study‹. Und jetzt raten Sie mal, wer mein Key Account Client Number one ist? Sie!! Kein anderer passt mit seinem Anforderungsprofil besser zu meinem Leistungsportfolio und meiner Business Strategy.«
Nie zuvor in seinem Leben hatte Rünz sich gewünscht, auf einem Hundehaufen auszurutschen und mit dem Kopf auf der Bordsteinkante aufzuschlagen. Anforderungsprofil – meinte der Bäcker die vier Mohn- und drei Roggenbrötchen, die Rünz jeden Samstag bei ihm erwarb?
»Wissen Sie …«, der Bäcker senkte die Stimme und nahm ihn geheimniskrämerisch beiseite, »… ich strebe Marktführerschaft für den Bereich Mohn- und Roggenbrötchen diesseits der Bessunger Straße an. Ich will die Brand ›Bormuth‹ so im Markt positionieren, dass wir hier eine Unique Selling Position gewinnen. Und da spielen Sie als Opinion Leader und Superspreader für die Meinungsbildung im Viertel natürlich eine Schlüsselrolle. Virales Marketing – Sie wissen, was ich meine?«
Stolz zeigte er Rünz seine neue Schaufensterauslage.
»Schauen Sie sich das an, ich habe den ganzen Point of Sales komplett restrukturiert – alles zum Benefit des Customers!«
Rünz staunte nicht schlecht, er sah Krapfen mit ›advanced content‹, seine Lieblingstorte Schwarzwälder Kirsch war zum ›Multilayer Blackforest Cake‹ mutiert. Der Bäcker schien sich gerade erst warmzulaufen.
»Eins ist doch ganz klar – ohne eine systematische Evaluierung der Customer Satisfaction brauchen Sie mit Customer Relationship Management gar nicht erst anzufangen. Ganz ehrlich, Herr Rünz, wie waren Sie in den letzten Wochen mit meinen Produkten und meinem Service zufrieden?«
Rünz zögerte.
»Wenn Sie mich so fragen – Anfang November letzten Jahres, da waren die Roggenbrötchen mal nicht ganz so frisch wie …«
»Warten Sie einen Moment, ich hole den Erfassungsbogen!«
Der Bäcker ließ ihn nicht ausreden und verschwand in seinem Laden. Rünz hatte einen Moment Zeit, durch das Schaufenster den restrukturierten point of sales in Augenschein zu nehmen. Neben der Ladentheke saß die Schwiegermutter des Filialleiters müde hinter einem aus dünnen Spanplatten zusammengezimmerten Stand, unter einem Schild mit der Aufschrift ›PPC – Pastries Competence Center‹.
Rünz ging langsam einige Schritte zurück, wie ein Indianer beim Anblick einer Klapperschlange, dann etwas schneller, drehte sich um, fiel dann in einen Trab. Flucht. Er ignorierte den Bäcker, der ihm hinterher rief.
Auf Höhe der Liebfrauenkirche warf ihn ein ohrenbetäubender Lärm fast aus der Bahn, irgendein akustisches Signal wie aus dem Handy eines Riesen. Er schaute sich verwirrt nach allen Seiten um, dann nach oben. Der Krach kam eindeutig aus der Glockenkammer des Kirchturms.
»Gefällt’s Ihnen, Herr Rünz?«
Der Pfarrer stand in seiner Soutane am Fuß des Turmes, unter dem Arm ein Notebook, die Baseballkappe schräg übers Ohr gezogen.
»Polyphone Klingeltöne, bei Jamba downgeloaded, in DOLBY Surround Prologic II – ich sag’ Ihnen, das ist Cutting Edge Technology! Die alten Glocken waren einfach nicht mehr State of the Art …«
… ein durchdringender Ton weckte ihn mitten in der Nacht auf. Er fluchte, es war erst 23 Uhr, er hatte den Wecker falsch eingestellt. Seine Frau lag neben ihm, sein Konkurrent aus der Pilatesgruppe schien keinen starken Abend gehabt zu haben. Sie grunzte mürrisch, drehte sich auf die andere Seite und schlief weiter.
Nach diesem zermürbenden Traum war in den nächsten zwei Stunden nicht an Schlaf zu denken. Er stand auf, zog sich seinen Morgenmantel an, ging in sein Arbeitszimmer und nahm die DVDs mit den Kassenaufzeichnungen aus seiner Aktentasche. Dann machte er es sich mit einem Pfungstädter Schwarzbier und der Fernbedienung im Wohnzimmer auf der Couch bequem. Zwölf Stunden Kassenkino – mit etwas Glück würde er sich nicht allzu viel davon anschauen müssen. Gegen 9.30 Uhr war er am Mordtag vom Parkplatz des Baumarktes zum Knell-Gelände aufgebrochen. Er selbst hatte vielleicht eine halbe Stunde in dem Geschäft verbracht. Die drei waren höchstwahrscheinlich insgesamt nicht mehr als eine Stunde dort gewesen, wenn er sich mit der eingeblendeten Uhrzeit also den Zeitraum von acht Uhr bis 10.30 Uhr vornahm, würden sie ihm wahrscheinlich nicht entwischen. Die Aufnahmen jeweils vier Kameras gleichzeitig im Splitscreen-Modus, wenn er zusätzlich die Abspielgeschwindigkeit erhöhte, war die Wahrscheinlichkeit gering, dass ihn seine Frau im Morgengrauen schnarchend vor dieser skurrilen Videoinstallation fand.
Nach einer halben Stunde Kassenkino wurde er wieder müde, ein effizienteres Schlafmittel als grobkörnige Schwarz-Weiß-Aufnahmen von Menschen, die an Großmarktkassen anstanden, war kaum vorstellbar. Im Halbschlaf wären sie ihm fast durch die Lappen gegangen, er erkannte sie nicht sofort, weil sie sich nicht zu dritt anstellten. Um 10.22 Uhr drückten sich zwei der Männer an Kasse sieben an der Schlange vorbei, sie führten keine Artikel mit. An der kleinen Verpackungsrampe hinter der Kasse blieben sie stehen, als warteten sie auf einen Begleiter. Der dritte Mann hatte sich nach zwei Minuten in der Warteschlange bis ins Blickfeld der Kamera vorgearbeitet. An der Kasse packte er ein paar Dosen auf das Förderband, in seinem Einkaufswagen ließ er zwei oder drei helle Säcke liegen, Details waren nicht zu erkennen. Die Kassiererin schob die Dosen über den Laserscanner, dann stand sie auf, beugte sich vornüber und las mit ihrem Handscanner die Strichcodes der Säcke in dem Einkaufswagen ein. Die zwei Freunde nahmen die Waren am anderen Ende in Empfang, während der Dritte bar zahlte. Der ganze Vorgang dauerte dreieinhalb Minuten, dann verschwand die Dreiergruppe Richtung Ausgang. Rünz studierte die Sequenz mehrmals. Sie hätten Brüder sein können, alle trugen dunkle Lederjacken, Jeans, Sneakers, ihr einziges auffälliges Unterscheidungsmerkmal war die Halbglatze des Mannes, der bezahlt hatte.
Mit der Kassennummer und der Uhrzeit würde die Buchhaltung des Baumarktes ohne größeren Aufwand rekonstruieren können, was dieses Trio dort gekauft hatte. Und mit etwas Glück waren auch draußen, auf dem Parkplatz vor dem Baumarkt, ein oder zwei Kameras installiert. Rünz schaltete den Fernseher aus, setzte sich an seinen Computer und mailte an Bunter und Wedel kurze Arbeitsanweisungen. Er genoss es, Aufgaben zu delegieren, es verschaffte ihm kurzzeitig das Selbstbewusstsein einer echten Führungspersönlichkeit.
* * *
Selbstverständlich konnte man Tapeziertische auch zum Tapezieren verwenden, aber ihr eigentlicher Zweck war ein anderer. Man stellte sie zwei- oder dreimal jährlich an öffentlichen Straßen und Plätzen auf und bot darauf Gegenstände zum Verkauf feil, die nie einen anderen Zweck gehabt hatten als den, auf Tapeziertischen zum Verkauf angeboten zu werden. Die meisten dieser Dinge erlebten bis zu ihrem Gnadentod in einer Müllverbrennungsanlage eine endlose Reise durch die Hände immer neuer Eigentümer, die sie über unzählige Verkaufstische, Kofferräume alter Kombis und klamme Zwischenlager in Garagen oder Kellern führte, eine endlose Transaktionskette ohne Wertschöpfung, rührige Betriebsamkeit ohne Ziel und Gewinn, eine selbstreferentielle Sinn- und Zeitvernichtungsmaschine, gelebte Ineffizienz – Flohmärkte waren Zen. Frauen liebten sie, und jeder zurechnungsfähige Mann hasste sie. Wenn man die Sinnlosigkeit eines Sommerflohmarktes noch übertreffen wollte, musste man ihn nur im Winter veranstalten.
Rünz trippelte wie ein arthritischer alter Chow-Chow fröstelnd hinter seiner Frau durch den Bürgerpark. Er fühlte sich unwohl, zum ersten Mal seit der Schießerei war er wieder in der Nähe des Knell-Geländes. Während seine Gattin an einem Stand in alten Sachen stöberte, lenkte er sich ab, indem er jungen Frauen nachstarrte. Er war erleichtert, als ihnen hinter dem Nordbad sein Schwager entgegenkam – in Begleitung.
»Ja, da schau her«, dröhnte Brecker, »mein Schwesterchen mit ihrem Beschäler! Janine, das ist Karl, du weißt schon, der, von dem ich dir dauernd erzähle, der mit dem Ess-Tick.«
Brecker zwinkerte seiner neuen Freundin zu und tippte sich mit dem Zeigefinger auf die Stirn. Feine Nuancen der Aussprache waren Breckers Sache nicht, er hatte ihren Vornamen ausgesprochen wie ›Schannin‹, mit Betonung auf der ersten Silbe. Schannin trug einen schwarzen Lederblouson, eine äußerst strapazierte Dauerwelle mit blonden Strähnchen, allerlei kitschigen Strass an den Ohren, lange künstliche Fingernägel und dickes Make-up auf einem Teint, der nach einer Jahreskarte fürs Sonnenstudio aussah. Sie spuckte einen Kaugummi aus, hustete etwas Schleim ab und steckte sich eine Marlboro ins Gesicht. Sie passte perfekt zu Brecker. Rünz’ Frau schlenderte langsam weiter, sie versprach sich wohl keine anregenden Impulse von einer Konversation mit ihrem Bruder und seiner neuen Gespielin.
»Hallo Schannin, schön dich kennenzulernen«, sagte Rünz. »Wenn Klaus dir schon so viel von mir erzählt hat, dann weißt du ja sicher auch schon von meinen Hämorrhoiden und diesem eitrigen, nässenden Ausschlag im Genitalbereich. Hast du vielleicht eine Ahnung, was man da machen kann?«
Schannin schwieg. Sie starrte Rünz an, saugte an ihrer Marlboro, bis die Glut knisterte, zog sich das Giftgas bis in die Lungenspitzen und blies es ihm ins Gesicht. Ihr Atem entfaltete auf einem kräftigen Tabakgrundton einen Akkord verschiedenster Aromen – Currywurst, Pommes, Himbeerkaugummi und Parodontose. Jedenfalls war sie nicht so leicht aus der Ruhe zu bringen.
»Hab ich dir zu viel versprochen, Schannin?«, dröhnte Brecker. »Mein Schwager lässt nichts anbrennen, wenn’s um Sprücheklopfen geht. Jetzt geh und schau dich etwas um, ich muss was besprechen mit dem Karl.«
Schannin ging und schaute sich etwas um. Rünz blickte ihr nach.
»Apportiert sie, wenn du einen Stock wirfst?«
»Tjaa, so folgsam hättest du mein Schwesterchen auch gerne, oder?«
»An welcher Aldikasse hast du die denn kennengelernt?«
»Von wegen Aldikasse, Schannin ist selbstständig!«
»Nagelstudio oder Nachtschicht an der Kirschenallee?«
»Sie hat eine Katzenpension.«
»Und wer hat dich da abgegeben?«
Brecker schaute sich verschwörerisch um.
»Schau mal, was ich hier gefunden habe, hat mir ein Penner drüben am Moorteich für 20 Mäuse vertickt. Der Typ muss neu in der Gegend sein, ist mir auf Streife noch nie über den Weg gelaufen. Das Ding ist nagelneu, keine Gebrauchsspuren!«
Er zog ein öliges langes Lappenpaket aus der Innentasche seiner Winterjacke und schlug die Stofffetzen auseinander. Ein Zielfernrohr. Rünz zog ein Taschentuch aus der Hosentasche und nahm die Optik in die Hand. Er spürte, wie sich sein Puls beschleunigte.
»Seit wann hast du Angst, dir die Finger dreckig zu machen?«, fragte Brecker. Rünz antwortete nicht. Grauer Hammerschlaglack, 24 Millimeter Objektivdurchmesser, sechs Grad Sichtfeld, Reflexvisier, passiver Infrarotfilter, kyrillische Beschriftung an der Montierung. Er nahm Brecker die Lappen ab, wickelte das Visier sorgfältig ein und steckte es in seine Jacke.
»He, was hast du vor mit dem Schmuckstück?«
»Wo ist der Typ, der dir das verkauft hat?«
»Keine Ahnung, der hatte gar keinen Stand, hat total zerfleddert auf einem Hocker gesessen und nur das kleine Meisterwerk hier angeboten. Der steht sicher schon an irgendeiner Trinkhalle und lötet sich ein paar Beschleuniger rein für den Zwanziger. Jetzt gib mir das Ding zurück!«
»Hast du ihn gefragt, wo er das herhat?«
»Bin ich hier im Dienst oder was?«
Rünz antwortete nicht. Er lief los Richtung Moorteich und versuchte, Brecker am Ärmel mitzuziehen wie ein Ruderboot einen Öltanker.
»Verdammt, was ist los, wo willst du hin? Was ist mit Schannin und Karin?«
»Vergiss die beiden, dieser Penner hat dir das PSO-1 verkauft, die Standardoptik der Dragunov, mit der Charli erschossen wurde. Das Teil gehört zur Tatwaffe, da geh’ ich jede Wette ein. Wir müssen den Typ finden!«
»Eine Dragunov?? Sind die Rotarmisten hinter dir her?«
»Keine der alten Holzgurken – die SVD, neueste Generation. Komm schon!«
Beide drückten sich durch die Kolonnen der Flohmarktbesucher nach Osten. Auf Höhe des Teiches bremste Brecker seinen Schwager.
»Verdammt. Hier, hier hat er gesessen, keine zehn Minuten her.«
Sie fragten vergeblich die Leute an den Nachbarständen nach dem Obdachlosen, dann liefen sie ein paar Schritte nach Norden Richtung Eissporthalle, dann nach Süden über das Leichtathletik-Trainingszentrum. Keine Spur. Also nach Westen, am Berufsschulzentrum vorbei, die Alsfelder Straße entlang. Dann sah Brecker ihn. Er schlenderte entspannt von Nordosten diagonal über den Messplatz, einen zusammengerollten Schlafsack an einem Riemen über der Schulter, in der Hand eine Bierflasche. Ihre Wege hätten sich auf Höhe der Staatsanwaltschaft gekreuzt, aber der Penner hatte den sechsten Sinn, was die Präsenz von Ordnungshütern anging. Er ging langsamer, schien wie ein Tier die Witterung seiner Jäger aufzunehmen und rannte plötzlich mit überraschend hoher Geschwindigkeit nach Nordwesten Richtung Marburger Straße. Rünz joggte und fluchte, er hasste es, wenn ihm körperliche Leistung abgefordert wurde. Brecker zog ihm wie eine von der Leine gelassene Bulldogge davon.
Rünz holte die beiden erst am Carl-Schenck-Ring wieder ein. Der Penner hatte versucht, über den Bretterzaun des Knell-Geländes zu klettern, und Brecker hatte ihn wie einen faulen Apfel heruntergepflückt. Jetzt saß der arme Schlucker keuchend im Gras. Brecker, breitbeinig über ihm, redete beruhigend auf ihn ein. Rünz versuchte, flach zu atmen, trotz der Kälte roch er die Ausdünstungen des Obdachlosen, die typische Mischung aus altem Schweiß, Urin und Straßendreck, die internationale olfaktorische Visitenkarte von Menschen, die nicht weiter absteigen konnten. Die beiden Polizisten brauchten einige Minuten, um ihm klarzumachen, dass sie ihn nicht fertigmachen wollten. Dann noch einmal ein paar Minuten, in denen Brecker die Fingerknöchel seiner mächtigen Pratzen knacken ließ, bis er bereit war, ihnen sein kleines Geheimnis zu zeigen. Brecker spielte virtuos mit dem verstörenden Kontrast zwischen seiner bedrohlichen körperlichen Präsenz und einer samtweich einschmeichelnden Stimme. Guter Cop und böser Cop in Personalunion.
Sie kletterten über die Bretterwand. Rünz schaute über das Gelände – der Hochbunker, der Stapel alter Eisenbahnschwellen, der ihm das Leben gerettet hatte, vom Wind zerfetztes Absperrband des Spurensicherungsteams. Er hatte den Tatort auf Dutzenden von Fotos aus allen Perspektiven gesehen, aber selbst der reale Anblick löste nicht seine Erinnerungssperre. Der Penner führte sie quer über das Gelände. Die Brachfläche hatte sich verändert in den wenigen Wochen seit den Morden, von Osten und Süden arbeiteten sich Abbruchteams mit schwerem Gerät vor, Hallen wurden abgerissen, Betonbrocken mit Armierungseisen zu Halden zusammengeschoben. In wenigen Monaten würde der letzte große Abenteuerspielplatz der Darmstädter Parallelgesellschaft frei geräumt sein und als Gewerbegebiet dem ökonomischen Verwertungszyklus zugeführt werden.
Der Penner schwang sich unerwartet behände die Laderampe an einer der alten Richthallen hoch und verschwand in dem offenen Tor. Bevor die Polizisten das Gebäude betreten hatten, kam er ihnen schon wieder entgegen, im Schlepptau an einem Seil ein unsäglich stinkendes, langes Lumpenbündel hinter sich herziehend.
»Nur Tarnung …«, nuschelte der Penner, »… jibt kein Versteck, wo besser is als ’n alten Lumpen, wo nach Kacke stinkt.«
Der Alte bückte sich und schlug die Lappen zurück. Rünz ging in die Hocke, eine Hand an der Nase. Es bereitete ihm fast körperliche Pein, ein so erlesenes Meisterstück des Büchsenmacherhandwerkes in einem so erbärmlichen Zustand zu sehen. Mit einem Taschentuch drehte er die Waffe und betrachtete sie von allen Seiten. Die Picatinny-Schiene war arg zerschrammt, der Alte hatte sich nicht viel Mühe gegeben bei der Demontage des Zielfernrohrs.
»Klappschaft, verkürzter Lauf, Polymermagazin, keine Seriennummer – die gehört nicht zu den Großserien, mit denen Dragunov die Scharfschützen der osteuropäischen Armeen ausstattet. Das ist eine Spezialanfertigung.«
»Wer lässt sich so was bauen?«, fragte Brecker.
»Irgendein Waffennarr wie wir, nur dass er nebenher noch russischer Rohstoffmilliardär ist. Oder Leute, die von anderen Leuten gut dafür bezahlt werden, sehr spezielle Aufträge auszuführen. Wo haben Sie die gefunden?«
Der Penner druckste herum und nuschelte unverständliches Zeug. Brecker ließ die Fingerknöchel knacken.
»Bunker.«
»In dem Hochbunker drüben? Das ist unmöglich, unsere Leute haben da jeden Quadratzentimeter abgesucht!«
Der Penner zog mit seinem schwarzen Zeigefinger ein Unterlid herunter und zeigte Rünz grinsend das Weiße an seinem Augapfel.
»Da hab icke dat Schießeisen doch längst in Sicherheit jebracht, der Typ hat mir det ja praktisch wie’n Baby in die Arme jeworfen, wie ick unten da sitz unn mein Jeschäft mach. Is nämlich mein Klöchen da unner der Wendeltreppe, müssen Se wissen.«
Rünz stand wieder auf. Er fragte sich, welchen kruden Spracheinflüssen dieses Unterschichten-Berlinerisch im Laufe seiner Entwicklung ausgesetzt war.
»Sie haben ihn gesehen?«
»Neenee, viel zu dunkel.«
Brecker stellte sich auf wie Meister Proper und zog bedrohlich die Augenbrauen zusammen.
»Jetzt mal langsam und von Anfang an, Alter.«
»Joo. Iss’n paar Tage her, bin im Bunker, Hose runter. Draußen Rumgezeter, schaue mal raus, liegt so’n Dicker am Boden, ’n anderer immer feste druff, mit Jewehr inner Hand. Halt dich mal besser bedeckt, sach ich mir, unn zurück in’n Bunker. Peng peng macht det, dann jault wieder der Dicke, dann isset ruhig. Icke späh nochma raus, kommt ’n Dritter durch’n Bretterzaun auf meen Grundstück, genauso einer wie Sie«, sagte der Alte und grinste Rünz an. »Dann wieder ’n paar Minuten Ruhe, auf eima springt hier eina rein wie Polka un ab die Treppe hoch. Oben im Turm wieder peng peng. Dann schreit irjendne Zicke draußen rum, peng, hört auf mit Schreien. Dann fängt von draußen einer an, auf den Bunker zu schießen. Der Typ im Obergeschoss wieder ab runter, drei Stufen auf einmal, unn auf halba Höhe zerlegts ihn, aber mit Schmackes. Dat Schießeisen sejelt ab durch die Mitte unn knall, mir direkt vor die Füße. Der Typ humpelt runter zu mia, sucht sein Jewehr mit die Finger auf’m Boden, alles duster da unten, keene Sehschlitze wie oben. Der hockt mir fast schon auf die Füße, da merkta, datter mit de Finger in meine alten Schisskuppen rummacht. Brüllt ›Dermo‹, ›Dermo‹ oder sowat. Draußen jeht ne Autohupe, er ab raus. Puh is det trocken hier.«
Der Penner fischte eine kleine PET-Flasche aus seiner Jacke, die er mit irgendeinem billigen Wermut gefüllt hatte, und nahm einen kräftigen Zug. Dann bot er Brecker und Rünz einen Schluck an, die dankend ablehnten.
»Der macht sich dünne, steicht draußen innet Auto un jibt Gummi. Icke warte erstma ’n paar Minütchen, dann raus, liejen drei Jestalten auf’m Jelände, kontrollierter Rückzuch sach ich mir unn mach mich vom Acker. Mit dat Ding hier, war zu schad zum liejenlassen.«
»Hast du den Mann gesehen? Würdest du ihn wiedererkennen?«, fragte Brecker.
Der Penner schüttelte in gespielter Resignation den Kopf.
»Janz janz schlechte Augen hab ick.«
Rünz ließ sich von Brecker noch ein paar Taschentücher geben und befreite die Waffe vom gröbsten Unrat, dann zog er aufopferungsvoll seine Jacke aus und wickelte das Gewehr behutsam ein, als hätte er ein erfrierendes Kind gefunden. Er nahm das Päckchen unter den Arm und machte sich mit Brecker auf den Weg, ohne sich von dem Alten zu verabschieden.
»Jibbet da ’n büschen Patte für?«, rief der Alte. Brecker drehte sich um.
»Klar«, rief er. »Stell einen Antrag beim Sozialamt!«
»Na denne«, kicherte der Penner zum Abschied. »Grüßt mir die lustichen Hamburjer.«
Rünz blieb stehen und starrte den Alten an.
»Was für Hamburger?«
* * *
Er mochte es sich nicht eingestehen, aber die Diagnose rumorte in seinem Innern, es kostete Energie, gegen die Angstattacken anzukämpfen. Seine Widerstandskraft gegen beziehungstechnische Zumutungen seiner Frau war erschlafft. Sie war geradezu verblüfft gewesen, wie leicht sie ihn zu dieser Paartherapie hatte überreden können. Im Paulusviertel unweit des Präsidiums hatten sie eine Praxis gefunden, er hatte auf dienstfreundlichen 18-Uhr-Terminen bestanden, so versuchte er die wöchentlichen Sitzungen wie eine lästige Überstunde am Ende eines Arbeitstages abzusitzen.
Klee oder Kandinsky – etwas anderes kam als Wanddekor für psychologische Praxen nicht infrage. Wahrscheinlich hatte der Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen e. V. einschlägige Richtlinien diesbezüglich erlassen und drohte renitenten Jungtherapeuten, die sich ihre Behandlungszimmer mit Pop Art oder Jungen Wilden dekorierten, mit Ausschluss.
Die Therapeutin fasste die Arbeit der letzten Stunden in einigen einführenden Worten zusammen. Rünz hatte Gelegenheit, ein weiteres Exemplar der kleinformatigen Klee-Reihe zu studieren, die wie ein umlaufender Fries die Wände des Raumes schmückte. Um sich die Zeit zu vertreiben, nahm er sich im Rahmen einer stillen Exegese zu jeder Sitzung ein neues Bild vor. Darunter litt natürlich seine Aufmerksamkeit, und er vergaß mitunter, auf Fragen seiner Frau oder der Therapeutin zu reagieren. Rünz versuchte jedes Mal, das abstrakte Spiel aus Linien, Flächen und Farben zu dechiffrieren, in die Sprache des Gegenständlichen zu übersetzen, aber er scheiterte stets an der entschiedenen Subjektivität der Kunstwerke. Um die innere Unruhe zu dämpfen, die die Gemälde in ihm auslösten, hatte er sich ein Erklärungsszenario zurechtfantasiert, das den gesamten Expressionismus als genialen marktstrategischen Coup decouvrierte. Klee und Kandinsky, so mutmaßte er, hatten während ihrer gemeinsamen Zeit an der Münchner Kunstakademie die Köpfe zusammengesteckt, um Prognosen über Zukunftsmärkte für bildende Künste zu diskutieren. Sie hatten von Freuds Arbeiten über das Reich des Unbewussten und die Traumdeutung gehört und mit genialischem Weitblick den exponentiell wachsenden Bedarf an Reflektions- und Seelenarbeit in hochgradig arbeitsteilig organisierten Dienstleistungsgesellschaften vorausgesehen. Was lag also näher, als diesen Emerging Market mit Kunstwerken zu bedienen, die praktisch nach allen Seiten interpretationsoffen waren und die freie Assoziation geradezu herausforderten?
Die Therapeutin schwieg seit einigen Sekunden, die Stille hatte Rünz aus seinen Reflexionen gerissen.
»Wie bitte? Entschuldigen Sie, ich habe einen Moment nicht zugehört.«
»Ich fragte Sie, Herr Rünz, ob Sie sich noch an das erste leidenschaftliche Erlebnis mit Ihrer Frau erinnern können?«
Aufmunternd strahlte sie ihn an, am Revers ihres malvenfarbenen Kostüms steckte eine tennisballgroße Blüte, in platter Symbolik den zweiten Frühling ankündigend, auf den Rünz’ Ehe nach erfolgreicher Therapie zusteuerte. Sie war eine Meisterin des aktiven Zuhörens. Sobald Rünz oder seine Frau etwas erzählten, stützte sie ihr Kinn auf die Handknöchel, riss ihre Augen auf wie Scheinwerfer, als hätte sie in ihrem Leben noch nichts Spannenderes gehört, und kommentierte die Beiträge alle paar Sekunden mit einem ›mhmmm‹. Mit geringen Modulationen dieses Mollakkordes aus Weichkonsonanten konnte sie eine ganze Palette subtiler Bewertungen ausdrücken, die Rünz nach und nach entschlüsselte. Ein knappes, kehliges ›hm‹ bedeutete ›das ist ja ein Ding‹. Wenn sie die Mundpartie skeptisch zusammenzog, die Augenbrauen liftete, die Lippen wie eine Magenkranke zusammenpresste und das ›mhm‹ hart und kurz ausklingen ließ, war klar, dass sie Rünz’ Statement für Bullshit hielt. Alles an ihr signalisierte und forderte warmherzige Offenheit – sie gehörte zu den anstrengendsten Menschen, die Rünz je kennengelernt hatte.
Er kicherte und gluckste.
»Amüsiert Sie meine Frage?«
»Na ja, da kann ich mich eigentlich noch sehr genau dran erinnern.«
»Wunderbar, legen Sie los!«
Er schaute skeptisch zu seiner Frau, die ihn bestärkend anlächelte.
»Wir müssen 16 oder 17 gewesen sein und kannten uns erst ein paar Wochen. Ich war zum ersten Mal bei ihr zu Hause, wir lagen in ihrem Zimmer auf dem Bett und …«
Rünz zögerte. ›… machten Petting‹? ›… fummelten‹? Was war der richtige Ausdruck in dieser Situation?
»… und wir manipulierten an unseren sekundären Geschlechtsorganen.«
Ja, so ging es. Klang ein bisschen nach einem Ermittlungsbericht über eine sexuelle Nötigung, aber egal. Unter Zeitdruck entwickelte er die besten Ideen.
»Wir kamen ein wenig in Fahrt, als ich merkte, dass ich …«
Pinkeln? Strullen? Urinieren?
»… meine Blase entleeren musste. Ich verlasse also das Zimmer und stehe im Flur, klopfe an die Tür, das Bad ist besetzt. Schließlich kommt Klaus – der Bruder meiner Frau – heraus. Sie müssen wissen, mein Schwager war damals schon zwei Meter groß und wog über 100 Kilo, fettige Haare, Pickel, ein riesiger Nerd, würde man heute sagen.«
Rünz redete sich in Fahrt, hatte fliegend vom Präteritum ins Präsens gewechselt, um seiner Anekdote mehr Drive zu geben. Die ganze Veranstaltung schien ihm eine stammtischmäßig kumpelhafte Note zu bekommen, die ihm sehr zusagte.
»Klaus grinst mich also hämisch an, und als ich mich an ihm vorbei ins Bad drücke und die Tür hinter mir schließe, weiß ich warum. Ein unsäglicher Gestank verschlägt mir den Atem – Klaus hatte einen seiner titanischen Haufen in die Schüssel gesetzt …«, Rünz formte mit seinen Handflächen eine imaginäre Melonenhälfte, »… und nicht abgezogen. Du weißt doch, deine Eltern hatten damals diesen Flachspüler, in dem …«
Irgendetwas am Blick seiner Frau brachte ihn davon ab, diese sanitärtechnischen Details zu vertiefen.
»Ich stehe also in dieser Wolke, und mir wird klar, dass mein Schwager mir ein kapitales Kuckucksei ins Nest gelegt hat. Was sollte ich tun? Wieder rausgehen und ihm sagen, er soll das wegspülen? Oberpeinlich, außerdem hätte er sofort abgestritten, den Stinker in die Schüssel gesetzt zu haben. Einfach drüberpinkeln und das Bad verlassen? Jeder, der als nächster ins Bad gegangen wäre, hätte mir das Ei in die Schuhe geschoben – ziemlich unangenehm. Mir blieb also nichts anderes übrig, als die Sauerei selbst wegzumachen, aber mit Spülen war das nicht getan, ich musste ordentlich mit der Bürste nachhelfen! Und dann natürlich Fenster auf, um den Gestank rauszukriegen.«
Rünz gluckste wie ein Baby, er hatte Tränen in den Augen und haute sich beim Lachen mit der flachen Hand auf den Oberschenkel. Er ging völlig auf in seiner Anekdote. Langsam legte sich seine Begeisterung, und er registrierte, dass das Amüsement eine eher unilaterale Angelegenheit geblieben war. Seine Frau schaute betreten zu Boden, und die Psychologin starrte ihn an wie eine amorphe Lebensform aus dem Andromedanebel.
Sein Handy klingelte mal wieder im richtigen Moment. Die Psychologin schaute ihn tadelnd an, als er es aus der Tasche zog, aber sie konnte nicht ernsthaft von ihm erwarten, sein wichtigstes Arbeitsgerät für etwas Belangloses wie eine Stunde Paartherapie abzuschalten. Bunter hatte ihm eine SMS geschickt.
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* * *
Seit die US-Army aus Angst vor Terroranschlägen die Durchfahrt zwischen Cambrai-Fritsch-Kaserne und Jefferson-Siedlung gesperrt hatte, musste man sich mit dem Auto über Heidelberger und Heinrich-Delp-Straße am Seminar Marienhöhe vorbeifädeln, ein indiskutabler Umweg, schließlich war die Anhöhe kaum einen Kilometer vom Präsidium entfernt. Rünz fasste einen verwegenen Entschluss – er würde die Direttissima zu Fuß durch den Wald nehmen, in heldenhafter Verachtung der fast 50 Meter Höhenunterschied, die er dabei zu überwinden hatte. Auf halber Höhe, völlig außer Atem, verfluchte er die Odenwälder Bergwacht. Keine Sicherungsmöglichkeiten, kein Basislager, nicht einmal eine Schutzhütte bot Unterschlupf für Bergsteiger, die sich mit dem Aufstieg zu viel zugemutet hatten. Er wurde von einer Gruppe joggender Senioren in hautengen Leggings überholt, die nicht halb so schwer atmeten wie er.
An der offenen Eingangstür zur Sternwarte brauchte er einige Minuten, bis seine Biodaten wieder im grünen Bereich waren. Dann betrat er die Volkssternwarte, eine seltsame Konstruktion ineinander verschachtelter Oktaeder, dominiert vom achteckigen Turm auf der Nordseite, dessen Spitze die kleine Halbkugel des Observatoriums bildete. Mit den wenigen Fensteröffnungen und Lichtleisten, die zudem mit Glasbausteinen verschlossen waren, hatte der Bau etwas von einem umgewidmeten Wehrmachtsbunker.
»Ist hier jemand?«
Keine Antwort. Er versuchte es noch einmal etwas lauter.
»Hallo, Herr Stadelbauer?«
»Gehen Sie einfach immer die Treppen hoch, bis es nicht mehr weitergeht!«, rief jemand von oben.
Rünz folgte der Anweisung. Wie befürchtet glich der Grundriss des Gebäudes eher einem Labyrinth als dem eines zweckmäßig und übersichtlich aufgeteilten Rechteckrasters. Er stand schließlich vor einer steilen Stiege, die in die Beobachtungskuppel hinaufführte, und sah oben einen hageren Mittfünfziger an einem Teleskop hantieren.
»Herr Stadelbauer?«
»Kommen Sie hoch, ist genug Platz für zwei.«
Rünz stieg hoch und suchte sich eine freie Ecke in der Halbkugel. Das Öffnungssegment der Kuppel war nach außen weggeklappt, die Wintersonne erleuchtete die samtartige schwarze Innenauskleidung. Die erzwungene körperliche Nähe zu dem unbekannten Menschen war Rünz zuwider, aber genau genommen war ihm jede körperliche Nähe zuwider.
»Welcher Architekt hat sich denn an diesem Labyrinth verwirklicht?«
Stadelbauer lachte.
»Anders hätten wir Anfang der 80er-Jahre hier gar nicht bauen dürfen! Einen Steinwurf von hier hat die Bundesnetzagentur eine Außenstelle. Die kontrollieren die nationalen Funknetze und Frequenzzuordnungen. Ein Gebäude mit glatten Fronten in so kurzer Entfernung hätte denen unerwünschte Reflektionen beschert. Also hat unser Architekt einfach ein paar außergewöhnliche geometrische Grundformen verwendet – und jetzt haben wir die weltweit einzige Stealth-Sternwarte!«
Der Vereinsvorsitzende wirkte, als hätte ihn eine Zeitmaschine direkt aus den 70er-Jahren ins Hier und Jetzt katapultiert. Er trug Koteletten an den Wangen, eine krause Matte auf seinem Schädel, die auf versprengte afroamerikanische Gensequenzen in seinem Stammbaum hindeuteten, eine Brille mit einem 20 Jahre alten Kassengestell und ein enges, verwegen gemustertes Nylonhemd mit halbmeterlangen Kragenspitzen. Eigentlich hatte er recht, warum sollte man intakte Kleidung nicht mehr verwenden, nur weil sie unmodisch war? Außerdem erforderten ja nur die Phasen zwischen den 70er-Jahre-Revivals Courage. Rünz beschloss, ihn mit Bunter bekannt zu machen, die beiden konnten ja auf der Frankfurter Zeil eine Boutique für hippe Best-Ager aufmachen.
»Ich dachte, Astronomen wären nachtaktive Wesen«, sagte Rünz.
»Nicht, wenn sie die Sonne beobachten wollen.« Stadelbauer tätschelte das Teleskop liebevoll. »Unser Nemec-Refraktor, gefalteter Strahlengang, ideal für die Beobachtung unseres Zentralsterns.«
Für einen Menschen, den man eine halbe Stunde zuvor am Telefon vom Tod eines Freundes unterrichtet hatte, wirkte er erstaunlich aufgeräumt, er gab sich nicht einmal Mühe, Betroffenheit und Trauer zu simulieren. Stadelbauer fragte nach Rossis Todesumständen, nicht übermäßig interessiert, aber auch nicht auffällig unbeteiligt, gerade so, als erkundigte er sich bei seiner Werkstatt nach dem Stand seiner Autoinspektion. Er konnte Rünz nicht allzu viele Informationen entlocken, also fing er ungefragt an zu erzählen.
»Rossi hatte diese durchgeknallte Idee mit den Außerirdischen – na ja, so verrückt war sie eigentlich gar nicht. Er war überzeugt davon, dass sie schon lange hier sind, nicht hier bei uns auf der Erde, aber in unserem Sonnensystem. Er dachte nicht an kleine grüne Männchen in fliegenden Untertassen, sondern an autonom operierende Systeme, die vielleicht schon seit Zehn- oder Hunderttausenden von Jahren in einem Sonnenorbit kreisen und die Entwicklung des Lebens bei uns beobachten.«
»War das nicht eine ziemlich naive Idee für so einen Raumfahrtprofi? So einen Satelliten hätten die Amerikaner oder die Russen oder sonst wer doch längst entdeckt.«
Stadelbauer lachte.
»Sie haben falsche Vorstellungen über die Dimensionen unseres Sonnensystems. Wissen Sie was? Ich mache Ihnen einen Vorschlag: Wir steigen zusammen drüben auf den Ludwigsturm, da oben kann ich Ihnen das besser erklären.«
Stadelbauer schloss die Klappe der Kuppel, dann kletterten beide die Stiege hinunter ins Obergeschoss.
»Warten Sie, ich muss die Plattform noch schließen.«
Er suchte in seinen Hosentaschen.
»Verdammt, ich glaube, ich habe die Schlüssel auf dem Arbeitstisch liegen lassen.«
Der Hobbyastronom streckte im Flur seine rechte Hand hoch zu einem Kabelträger und tastete mit seinen Fingerspitzen einen Moment unter den Stromkabeln herum, dann fischte er einen kleinen Schlüsselbund herunter. Er schloss eine Stahltür auf, und Rünz hatte freien Blick auf eine Terrasse mit einem knappen Dutzend Teleskopen verschiedenster Bauarten und Größen unter freiem Himmel, alte Geräte in robusten Holzkästen auf schweren mechanischen Montierungen, andere in futuristischen, kurzen Leichtmetallzylindern mit elektronischen Steuerungseinheiten.
»Das ist unsere eigentliche Beobachtungsplattform. Die Kuppel oben benutzen wir eher selten.«
Stadelbauer drückte einen Knopf an einem Schaltkasten an der Wand, und Rünz zuckte zusammen. Über seinem Kopf setzte sich eine Stahlkonstruktion wie ein Autoschiebedach in Bewegung, schob sich aus dem Gebäudeinnern auf Führungsschienen über den Freisitz, bis die beiden in einem geschlossenen Raum standen.
»Serienausstattung!«, witzelte Stadelbauer.
Im Ludwigsturm, einen Steinwurf von der Sternwarte entfernt, verfluchte Rünz schon auf halber Höhe den Großherzog dafür, dass er dem Darmstädter Verschönerungsverein vor über 120 Jahren den Bau dieser Röhre gestattet hatte. Die Sandsteinstufen der Wendeltreppe verjüngten sich zur Mitte hin auf Papierstärke, das filigrane Geländer war die Karikatur einer Sicherheitseinrichtung – gebogene, stricknadeldicke Stahlstäbe, mit kümmerlichen Schweißpunkten aneinandergeheftet. Der Astronom stürmte vor, drei Stufen auf einmal nehmend. Gab es denn keinen vernünftigen Menschen mehr, der keinen Sport trieb? Rünz steckten die Strapazen des zermürbenden Anstiegs auf die Ludwigshöhe in den Knochen. Er hatte noch beängstigende 50 Stufen vor sich und war schon völlig erschöpft. Wenn er sich in der sauerstoffarmen Höhenluft ein Lungenödem zuzog? Vielleicht konnte ihn die Odenwälder Bergwacht im Notfall mit dem Hubschrauber von der Spitze des Turmes aus retten.
Auf dem Ausguck angekommen stockte ihm der Atem. Die umlaufende Mauer war gerade mal anderthalb Meter hoch, ein leichter Windstoß würde ausreichen, um ihn über die Brüstung in die Tiefe zu reißen. Er blieb im Zentrum der Plattform, eine Hand am Geländer des Treppenaufganges, mit der anderen den Kragen seiner Jacke zusammenhaltend, um sich vor der kühlen Brise zu schützen. Der Astronom setzte sich lässig auf die Mauer wie auf eine Parkbank und wies mit dem Arm Richtung Innenstadt.
»Stellen Sie sich da drüben, mitten in der Stadt, am Langen Ludwig, so einen Hüpfball vor, einen Meter Durchmesser, das ist die Sonne. Gut 40 Meter entfernt, am Brunnen vor dem Regierungspräsidium, liegt ein Schrotkorn, drei Millimeter groß, Merkur. Knapp 80 Meter vom Turm, am Haupteingang des Luisencenters, liegt eine dicke Erbse, die Venus. Wir mit unserer Erde sind kaum größer und ungefähr auf halbem Weg zum Schloss, gut 100 Meter vom Hüpfball entfernt. Dann kommt Mars, gut halb so groß wie die Erde, ungefähr 160 Meter entfernt, also irgendwo auf dem Ludwigsplatz. Das waren die inneren Planeten. Dann eine Pampelmuse auf dem Altar der Kuppelkirche, mehr als einen halben Kilometer von unserem Hüpfball entfernt – Jupiter, der erste der äußeren Planeten und der Riese des Systems. Und Saturn? Ein Tennisball in einem Kilometer Entfernung. Auf dem Unicampus an der Lichtwiese liegt eine Kastanie, mehr als zwei Kilometer vom Zentrum, das ist Uranus. Hier, wo wir stehen, mehr als drei Kilometer Luftlinie vom Hüpfball, ist Neptun, groß wie eine Walnuss. Und Pluto, unser Stiefkind, dem wir die Planetenrechte aberkannt haben? Ein Stecknadelkopf auf dem Prinzenberg, über vier Kilometer vom Luisenplatz entfernt.«
Rünz war fasziniert. Er vergaß für einen Augenblick seine Höhenangst, fasste Mut und trat einen Schritt vor zum Fernrohr. Die Sicht war beeindruckend, er konnte im Norden die Hochhaus-Skyline der Frankfurter City erkennen, Flugzeuge, die von der Startbahn West aus nach Süden aufstiegen, die rheinhessischen und pfälzischen Höhenzüge auf der westlichen Rheinseite.
»Und zwischen diesen kleinen Bällchen ist – nichts?«
»Nicht ganz, und das ist der Punkt!«
Stadelbauer ruderte begeistert mit den Armen, während er erzählte.
»Sie erinnern sich an die Lücke zwischen den inneren und den äußeren Planeten, zwischen Mars und Jupiter? Da ist ganz schön was los – na ja, kein wirkliches Gedränge, aber für die Verhältnisse in unserem Sonnensystem eine regelrechte Party. Über 100 000 Objekte nach aktuellem Forschungsstand, die meisten einige Hundert Meter oder ein paar Kilometer im Durchmesser, krumm wie Kartoffeln. Der größte, Ceres, sieht schon mehr einem Planeten ähnlich und hat einen Radius von knapp 1000 Kilometern. Ceres ist deswegen 2006 zum Zwergplaneten gekrönt worden. In diesem Asteroidengürtel könnten die Vogonen oder Romulaner entspannt einen Satelliten von der Größe eines Öltankers parken, ohne dass wir ihn als solchen erkennen würden.«
Eine Windböe fegte um die Plattform, Rünz klammerte sich am Stativ des Fernrohrs fest. Der Astronom ließ unbeeindruckt ein Bein über dem Abgrund pendeln.
»Wenn den Extraterrestrischen der Asteroidengürtel nicht zusagt, dann haben wir noch einen anderen Großparkplatz zu bieten, den Kuipergürtel, jenseits der Neptunbahn. Wir haben bis jetzt gut 1000 Objekte aus dieser Zone katalogisiert, aber nur solche mit mehr als 100 Kilometern Durchmesser, die kleineren können wir mit unseren technischen Mitteln gar nicht sehen. Letztes Jahr hat eine taiwanesische Gruppe Messungen durchgeführt, die haben belastbare Indizien, dass dort Billiarden hochhausgroßer Kleinplaneten existieren. Das ideale Versteck für einen außerirdischen Erkunder, wenn Sie mich fragen. Und dann haben wir ja noch die Oortsche Wolke, ein Friedhof mit Abfällen aus der Entstehung unseres Sonnensystems, eine Apfelsinenschale mit Milliarden von Objekten, die uns außerhalb der Planetenbahnen in 1,5 Lichtjahren Entfernung umgibt. Da eröffneten sich ganz neue Möglichkeiten – zumindest in Rossis Fantasie.«
Stadelbauer kam richtig in Fahrt, ein Mann hatte sein Metier gefunden. Rünz fragte sich, was er beruflich machte, wahrscheinlich einen Nine-to-five-Job irgendwo in der Verwaltung, der ihn intellektuell völlig unterforderte und ihm ausreichend Zeit und Energie für sein Hobby ließ. Vielleicht saß er wie Einstein im Patentamt und knobelte die Weltformel aus. Der Verlust seines Vereinskameraden schien ihn so wenig zu bewegen wie Rünz der seiner französischen Kollegin. Seine Freunde waren die Sterne, Rünz liebte seine Ruger.
»Ein wirklich intelligent gebauter kosmischer Erkunder würde vielleicht kometengleich auf einer stark elliptischen Bahn im Kuipergürtel oder in der Oortschen Wolke positioniert, die ihn alle 100 oder 1000 Jahre ins innere Sonnensystem nahe an der Erde vorbeiführt. Er macht seine Aufnahmen, schaut, ob wir unsere Hausaufgaben erledigen, und verschwindet dann wieder für 500 Jahre an den Rand des Sonnensystems, um entspannt seine Daten an den Heimatplaneten zu übermitteln, unbeeinträchtigt vom störenden Strahlungsgürtel der Sonne.«
»War Rossi einer von diesen paranoiden UFO-Forschern und Verschwörungstheoretikern, Sie wissen schon, die Leute, die an diese Kornkreise und all den Mist glauben?«
»Da tun Sie ihm Unrecht, dafür war er viel zu intelligent. Er hat oft in Archiven gestöbert auf seinen Dienstreisen in ganz Europa, hat sich besonders für die Geburtsstunde der modernen Physik Anfang des 20. Jahrhunderts interessiert. Und vor Jahren ist er irgendwo in Oslo in einem privaten Nachlass auf diesen Brief von Jørgen Hals gestoßen, einem norwegischen Radioingenieur. Hals hatte 1927 in Oslo Signale einer holländischen Kurzwellenstation in Eindhoven aufgefangen, und kurz danach noch mal Echos des gleichen Signals. Keine besondere Sache eigentlich, die elektromagnetischen Wellen werden von der Erdatmosphäre reflektiert, laufen um den Globus, und man hört sie mit einer siebtel Sekunde Verspätung wieder. Aber Hals hatte ein weiteres Echo gehört, mit drei Sekunden Verspätung. Diese Verzögerung konnte sich der Norweger nicht erklären, also beschrieb er seinem Landsmann und Physiker Fredrik Störmer das Problem. Nach Rossis Recherchen hatte Störmer mit anderen Physikern in den Folgejahren mehrere Experimente angesetzt, langwellige Radiostrahlung ausgesendet und skurrile Verzögerungen bei den Echos festgestellt – von einigen Sekunden bis zu mehreren Tagen.«
»Und die Erklärung waren extraterrestrische Sonden, die auf die Signale antworteten?«
»Zumindest eine der Erklärungen. Konservativere Kollegen führten die Erscheinungen auf Reflexionen am Strahlungsgürtel und der Sonnenkorona zurück – der übliche Hickhack unter Wissenschaftlern. Rossi jedenfalls hat das alles nicht mehr losgelassen.«
»Ziemlich abgehoben für einen Luft- und Raumfahrttechniker, am Anfang des 21. Jahrhunderts, finden Sie nicht?«
»Sie haben schon recht, die etablierten Astronomen und Astrophysiker scheuen heute die Beschäftigung mit solchen Theorien wie der Teufel das Weihwasser. Wenn Sie sich mit so einer Idee zu weit aus dem Fenster lehnen, bekommen Sie im universitären Wissenschaftsbetrieb keinen Fuß mehr auf den Boden. Ronald Bracewell von der Stanford University hat 1960 einige interessante Gedanken zu dieser Idee formuliert, ein paar Jahre lang wurde die Theorie heiß diskutiert. Autonome Sonden als Kundschafter auf interstellare Reisen zu schicken, die Idee hatte etwas Bestechendes. Das Konzept wurde von anderen Astrophysikern fortgeschrieben – selbstreplizierende Automaten, die sich mit Rohstoffen aus Kometen und Asteroiden versorgen und sich klonen, um ihre Nachkommen im Schneeballsystem im ganzen Universum zu verbreiten. Parallel zur Entwicklung der SETI-Programme hat sich da ein ganzer Forschungsbereich entwickelt, SETV – Search for Terrestrial Visitation. In den Siebzigern hat eine kleine Gruppe von Radioastronomen auf den Falklands noch ein paar Versuche gemacht, später ist das wissenschaftliche Interesse daran eingeschlafen. Aber Generationen von Science-Fiction-Autoren haben sich seitdem dran abgearbeitet.«
Stadelbauer kratzte an seinen Koteletten.
»Im Grunde genommen war Rossis Ansatz logisch stringent. Er hat eigentlich nichts weiter getan, als die technisch-wissenschaftliche Entwicklung unserer Zivilisation zu extrapolieren und auf außerirdische intelligente Lebensformen zu übertragen. Um seinen Ansatz zu verstehen, müssen Sie sich einfach mal die unglaubliche Explosion an technischem Fortschritt vergegenwärtigen. Wenn Sie die letzten fünf Milliarden Jahre Erdgeschichte mal in Gedanken auf 24 Stunden verkürzen, tauchen vor 15 Stunden die ersten Einzeller auf, vor gut zwei Stunden die Wirbeltiere. Vor 20 Minuten tummeln sich hier die ersten Affenhorden, vor zwei Minuten lernen die ersten Vormenschen den aufrechten Gang. Vor drei Sekunden betritt der Homo sapiens in seiner heutigen Form die Bühne, und vor zwei zehntel Sekunden beginnt er mit Ackerbau und Viehzucht. Die ganze Industrialisierung, die Entwicklung von der Dampfmaschine bis zu künstlicher Intelligenz und selbstständig agierenden Marsrovern hat sich in den letzten Millisekunden abgespielt! Und jetzt stellen Sie sich mal vor, auf einem Planeten eines benachbarten Sonnensystems in unserer Galaxie, vielleicht 20 oder 30 Lichtjahre entfernt, ging es nicht vor 24, sondern vor 25 Stunden los! Ahnen Sie, was eine Stunde zusätzliche Entwicklungszeit bei diesem exponentiell ansteigenden Innovationstempo bedeutet? Also, hat Tommaso sich gesagt, wenn wir schon auf unserem Entwicklungsstand Satelliten zur Erforschung unseres Sonnensystems ins All schießen, dann kann das eine etwas weiter entwickelte extrasolare Zivilisation erst recht! Sie sondieren die Sonnensysteme in ihrer Nachbarschaft auf vielversprechende Planeten, schicken ihre völlig autonom agierenden Erkundungsbojen dorthin, und die beobachten und warten.«
»Warten? Worauf warten? Sie hätten doch längst eine Grußbotschaft am Fallschirm zu uns runterlassen können?«
»Würden Sie versuchen, einem Orang-Utang das Betriebssystem Ihres Computers zu erklären?«
Rünz drückte sich um eine Antwort, er hätte eingestehen müssen, dass er es selbst nicht verstand.
»Gut, aber Affen sind wir ja nun nicht mehr.«
Rünz hatte keine Ahnung, warum ihm ausgerechnet jetzt Brecker einfiel.
»Jaaa«, räsonierte Stadelbauer, »wir halten uns schon für ziemlich intelligent und zivilisiert, aber im intergalaktischen Ranking haben wir vielleicht noch den Status eines verrohten und unberechenbaren Eingeborenenstammes, der noch nicht reif ist für den Kontakt mit der Zivilisation. Also entscheidet die Sonde, uns noch 10 000 oder 100 000 Jahre Zeit zu geben bis zur Kontaktaufnahme.«
»Aber warum Satelliten, warum kommen sie nicht selbst mit ihren Raumschiffen?«
»Aus vier Gründen. Erstens: Sie wissen noch nicht, ob es hier Leben gibt, sie wissen nur von den günstigen Rahmenbedingungen. Zweitens: Wenn es hier Leben gibt, dann wissen sie nicht, wie weit es entwickelt ist und ob der Kontakt schon lohnt. Wollen Sie jahrelang vor der Haustür warten, weil der, den Sie besuchen wollen, noch in der Pubertät steckt? Drittens: Über intelligente, kommunikationsfähige und randvoll mit Daten über ihre Schöpfer versehene Sonden lässt sich interstellare Kommunikation doch viel einfacher bewerkstelligen. Denken Sie doch an die Signallaufzeiten der Radiostrahlung im Sonnensystem, das sind höchstens ein paar Stunden, aber nicht mindestens mehrere Jahrzehnte, wie bei der direkten Übertragung in ferne Sonnensysteme. Viertens: Bemannte Raumfahrt ist wissenschaftlicher und ökonomischer Unsinn.«
Rünz konnte auch unbemannter Raumfahrt nichts abgewinnen, aber er hielt den Mund.
»Schauen Sie sich die Programme der Amerikaner und der Russen an! Da werden für viele Milliarden Dollar Menschen in erdnahe Orbits geschossen, und das meiste Geld geht dafür drauf, die Leute heil hochzubringen, sie oben am Leben zu erhalten und sicher wieder zurückzubringen. Beim wissenschaftlichen Ertrag das Gleiche: Bemannte Raumfahrt vermehrt in erster Linie die Kenntnisse über bemannte Raumfahrt. Das gilt auch für die von der NASA geplante Mondstation und die Marsmission, reine Renommierprojekte, wenn Sie mich fragen. Die Relation von finanziellem Einsatz und Ertrag ist vernichtend. Und da die Grundregeln der Ökonomie so universell sind wie die der Mathematik, gilt das auch für die Außerirdischen, nur dass die es schon verstanden haben.«
Stadelbauer machte eine Pause, Rünz hatte Zeit, die Fakten zu verdauen.
»Was ist mit Ihnen, was hielten Sie von seinen Ideen?«
»Bis Mitte der 90er-Jahre war ich ziemlich skeptisch, was diese Ideen vom Kontakt mit Außerirdischen anging. Leben auf einer anderen Grundlage als der kohlenstoffbasierten Chemie konnte ich mir nicht vorstellen. Und damit sich so was wie unsere biologische Evolution auf einem anderen Himmelskörper abspielt, brauchen Sie bestimmte Rahmenbedingungen. Sie brauchen erst mal einen Planeten, der sich um ein Zentralgestirn dreht, von dem er Strahlungsenergie bezieht. Aber Sie brauchen auch flüssiges Wasser, die Quelle des Lebens! Dreht sich Ihr Planet so nah um seine Sonne wie Merkur sich um unsere, verdampft jeder Tropfen sofort. Und in zu großer Entfernung wie auf Neptun oder Pluto finden Sie bestenfalls Eis. Außerdem muss der Planet noch um sich selbst rotieren, und zwar mit der richtigen Geschwindigkeit, sonst wird eine Seite ständig überhitzt, die andere unterkühlt. Wenn Ihnen das noch nicht reicht – die zentrale Sonne darf eine bestimmte Größe nicht überschreiten, sonst brennt der Stern zu früh aus und kollabiert schon nach einer Milliarde Jahren. Zu kurz, um in der habitablen Zone etwas Nennenswertes hervorzubringen.«
Rünz erinnerte sich vage daran, dass er einen Fall aufzuklären hatte, aber er liebte es, wenn ihn jemand mit interessanten Geschichten von der Arbeit abhielt.
»Da haben wir ja alles in allem ziemlichen Dusel gehabt mit unserer Erde.«
»Ein Sechser mit Zusatzzahl, wenn Sie mich fragen. Aber nehmen wir mal an, in nicht allzu großer Entfernung von, sagen wir, maximal 500 Lichtjahren wären alle diese Bedingungen erfüllt und wir hätten einen aussichtsreichen Kandidaten, auf dem intelligentes Leben entstanden wäre. Dann wäre immer noch die Frage, ob sich diese Zivilisation gerade in der richtigen Entwicklungsphase für eine Kontaktaufnahme befindet. Letztendlich ist also alles Statistik, und statistisch sah die ganze Sache ziemlich schlecht für einen Kontakt aus.«
»Bis Mitte der 90er.«
»Genau, bis Mitte der 90er. Dann wurden auf der Erde immer mehr extremophile Organismen entdeckt, Bakterien und Einzeller in der Tiefsee und geologischen Gesteinsschichten, die extreme Temperaturen, hydrostatischen Druck, Trockenheit und aggressive chemische Milieus aushalten. Wenn auf der Erde Leben unter solchen Extrembedingungen existiert, warum nicht auch auf anderen Planeten? Damit wuchs die Zahl für aussichtsreiche Kandidaten unter den Planeten. Und manche Kollegen entwickelten völlig neue Ideen für Lebensformen, basierend auf komplexen, langkettigen organischen Molekülen aus Silizium zum Beispiel. Außerdem hatten wir einen Faktor in der Gleichung falsch berechnet – die Anzahl der Planeten in unserer Nachbarschaft. Je höher die Zahl, umso höher die Wahrscheinlichkeit eines Treffers. Die Beobachtungstechnik wurde konsequent verbessert, und nach jeder Hardware-Innovation wurden neue Planeten entdeckt.«
»Sind die Dinger denn so schwierig zu finden? Die bauen doch ständig riesige Teleskope mit unseren Steuergeldern.«
Stadelbauer lachte.
»Peilen Sie doch mit Ihrem Fernrohr hier mal rüber zum Frankfurter Waldstadion. Nehmen wir an, es ist Samstagabend, die Eintracht hat ein Heimspiel, sie fokussieren eine der Flutlichtanlagen. Und um die Scheinwerfer herum dreht eine Hummel ihre Kreise. Das wäre ein Planet, der um seine Sonne kreist. Wie würden Sie die Hummel erkennen? Überhaupt nicht. Nicht direkt jedenfalls. Aber wenn Sie ein präzises Messgerät installierten, dann könnten Sie nachweisen, dass in periodischen Abständen, immer wenn die Hummel zwischen Ihnen und den Scheinwerfern durchfliegt, die Intensität des Lichts um den Bruchteil eines Prozentes abnimmt. So hätten Sie einen indirekten Nachweis für einen Planeten, der sich um eine Sonne dreht.«
»Wenn sie genau vor dem Licht durchfliegt!«
Stadelbauer schien sichtlich begeistert über einen Gesprächspartner, der mitdachte. Vielleicht hatte er mit Rossi einfach nur einen intellektuellen Sparringspartner verloren und witterte in Rünz den geeigneten Ersatzmann.
»Genau! In der Astronomie nennt man diese Form der Passage, wenn ein Planet genau zwischen seinem Zentralgestirn und dem Beobachter durchzieht, einen Transit. Die Hummel kann natürlich auch auf einer senkrechten Umlaufbahn um die Lampen kreisen, so sehen Sie sie nie vor dem Licht. Aber auch dann könnten Sie sie mit der richtigen Technik aufspüren. Sie werden es mir vielleicht nicht glauben, aber dieses kleine Insekt übt nach den Gravitationsgesetzen eine winzige Anziehungskraft auf die Flutlichtanlage aus, sie wird sie bei jeder Umrundung um einen unvorstellbar kleinen Betrag aus ihrer Position bringen. Auch das kann man messen. Gerade vor ein paar Tagen hat die Europäische Südsternwarte in Chile mit diesen Methoden wieder einen vielversprechenden Kandidaten gefunden, einen Exoplaneten mit eineinhalbfachem Erddurchmesser, der um den Stern Gliese 581 im Sternbild Waage kreist. Mit 20 Lichtjahren Entfernung praktisch vor der Haustür, mit kosmischen Maßstäben gemessen.«
Rünz versuchte, das Gesprächsthema auf seine Ermittlungsarbeit zurückzuführen.
»Wir haben in Rossis Wohnung einiges an elektronischem Equipment gefunden, einen Mikrowellenscanner und -verstärker, Frequenzwandler …«
»Ich kenne die Anlage, Tommaso hat mir das alles vorgeführt. Amateur-SETI, eine Graswurzelbewegung …«
»SETI – was bedeutet das?«
»Ein Akronym – ›Search for Extraterrestrial Intelligence‹. Die US-amerikanische Regierung hat ein paar Jahre lang viel Geld ausgegeben, um den Himmel nach codierten Radiosignalen abzusuchen. Heute beteiligen sich Tausende von Hobbyastronomen weltweit an dieser Abhöraktion, Aliensuche von unten, wenn Sie so wollen. Tommaso war Mitglied der SETI-League, ein internationaler Verein, der die Radioastronomie im Amateurbereich fördert.«
»Die wollen mit TV-Sat-Antennen die Signale von Außerirdischen aufspüren?«
»Das ist weniger verrückt, als Sie vielleicht denken. So viel Technik brauchen Sie gar nicht, um ein Signal aufzufangen, das Ganze ist eher ein galaktisches Lotteriespiel. Sie müssen nur mit Ihrer Antenne zum richtigen Zeitpunkt den richtigen Himmelspunkt mit der richtigen Frequenz abhören. Abgesehen von der Frage, ob es da draußen irgendetwas gibt, was Signale sendet – statistisch ist es einfach extrem unwahrscheinlich, irgendetwas davon aufzuschnappen. Aber es gibt ja auch Menschen, die im Lotto gewinnen!«
* * *
Rünz brauchte etwas Zeit, um die Informationsflut zu verdauen. Wie Reinhold Messner am Nanga Parbat wählte er für den Abstieg von der Ludwigshöhe die flachere Ostflanke, über den Heinemannweg und die Wilbrandschneise. Vor der Nieder-Ramstädter-Straße bog er links ab und war nach einigen Minuten am Goethefelsen. Er suchte sich einen Baumstamm als Sitzgelegenheit und legte sich seine Handschuhe unter, damit er sich nicht Blase und Prostata verkühlte. Die Urogenitalregion des Mannes ab 40 bedurfte des Schutzes und der Schonung.
Dann warf er den Projektor seines Fantasiekinos an und ließ die Landgräfin Karoline mit dem jungen Goethe und ihrem Kreis der Empfindsamen entlangflanieren, versunken in romantische Unterhaltungen und feingeistige Reflexionen, wie vor über 230 Jahren. Eine Weile hörte er ihnen zu, sie berauschten sich gemeinsam am Zauber der Natur und der Poesie und erschufen sich ihr eigenes Elysium. Hätten sie einen emotional Unterentwickelten wie ihn in ihre Runde aufgenommen? Rünz hielt es in solchen Fällen wie Groucho Marx – er mochte keinem Verein beitreten, dem Leute wie er angehörten. Die Kälte kroch ihm langsam aus dem Baumstamm in den Unterleib, er brach auf nach Westen Richtung Präsidium.
Die meisten Menschen konnten sich entspannen und auch mal an nichts denken. Jedenfalls hatten sie dann das Gefühl, an nichts zu denken. In Wahrheit arbeiteten ihre Gehirne ununterbrochen, sammelten Eindrücke und Sinnesreize aus der Umwelt, ordneten und verarbeiteten sie im Reich des Unbewussten. Aber ihre Wahrnehmungsapparate gingen dabei selektiv vor, sie sortierten Umweltreize instinktiv nach einer Prioritätenliste, die von ihrer Profession abhing – vorausgesetzt, sie hatten in ihrem Leben Beruf und Berufung zur Deckung bringen können. Kein Coiffeur war imstande, die Frisuren seiner Mitmenschen zu ignorieren, wenn er in seiner Freizeit durch die Stadt bummelte. Eine Grafikerin würde niemals die Missachtung typografischer Grundregeln auf einem Werbeplakat übersehen. Und Rünz’ Kriminalistenhirn war konditioniert darauf, die Erscheinungen und Phänomene um ihn herum in schlüssige, kausale Zusammenhänge zu bringen, abgerichtet auf die automatenhafte Herleitung konsistenter und widerspruchsfreier Erklärungen für Alltagsbeobachtungen. Sobald diese intuitive Erklärungsmaschine klemmte, wurde er aufmerksam.
Auf Höhe des Goetheteiches blieb er stehen und drehte sich langsam um. Über der spiegelglatten Wasseroberfläche schwebte eine zentimeterhohe Dunstschicht, aus der in den Uferzonen einige tote Äste herausragten. Er ging in die Hocke, spähte über den Nebelschleier und scannte das gegenüberliegende Ufer Meter für Meter ab. Dann hatte er ihn. Ein brauner Kegel, die Spitze gerundet, auf einer Seite abgeflacht und schwarz, ragte einige Zentimeter aus dem Uferschlamm; ein geometrischer Körper, den in dieser Form weder Flora noch Fauna hervorbrachten. Rünz ging im Schnelldurchgang die Bilder von ähnlich geformten Alltagsgegenständen durch, die ihm in den Sinn kamen, und entschied, dass die Spitze eines Damenpumps dieser Kontur am nächsten kam. Hinter dem Gegenstand waren einige armdicke Äste aufgestapelt, vielleicht die Hinterlassenschaft spielender Kinder, die sich ein Floß hatten bauen wollen, vielleicht das Werk eines Menschen, der etwas verstecken wollte. Er ging weiter, auf der Südseite um den Tümpel herum. Vom Wanderweg aus war die Stelle nicht einzusehen, er musste sich querab einige Meter durch das Unterholz schlagen, um das Ufer zu erreichen.
Vor dem Holzstapel blieb er einige Minuten stehen, versuchte, jedes Detail in sich aufzunehmen und abzuspeichern. Dann ging er langsam und konzentriert auf seiner eigenen Spur zurück. Als er den Wanderweg wieder erreicht hatte, zog er sein Mobiltelefon aus der Hosentasche.
* * *
»Knapp 100 Einsatzkräfte der Bereitschaft, Vollsperrungen an der Klappacher und der Nieder-Ramstädter Straße, die Tauchergruppe der Wasserschutzpolizei mit Winterausrüstung, ein Spurensicherungsteam – vielleicht etwas überreagiert, Herr Rünz?«
Hoven schien auf eine Erklärung zu warten. Rünz entschied sich für den Angriff als Verteidigungsstrategie.
»Wer erlaubt denn irgendwelchen Kunstsimulanten, blutige Frauenunterwäsche im Wald zu verteilen? Die haben ja nicht mal die ausgeräumte Handtasche, die Schleifspuren auf dem Boden und die Haarbüschel in den Zweigen vergessen. Und alles so knackfrisch wie eben erst angerichtet. Was soll der Mist?«
»Dieser ›Mist‹ ist Teil einer Performance. Wenn Sie ab und an einen Blick in die ›Darmstädter Allgemeine‹ werfen würden, dann wüssten Sie etwas besser Bescheid über den Waldkunstpfad, der hier jedes Jahr im Bessunger Forst eingerichtet wird. Da sind ein paar sehr interessante Installationen dabei.«
»Installationen hab’ ich zu Hause im Badezimmer. Wissen Sie, warum diese Performance-Idioten keine ordentlichen Ölbilder mehr malen wollen? Weil sie es nicht mehr können! Sie sind zu faul, sich die handwerklichen Fertigkeiten anzueignen, deswegen hängen sie lieber ein Klavier an eine Eiche, spritzen Schlagsahne drauf und nennen das eine ›Installation‹.«
Na los, dachte Rünz, nenn mich schon einen Reaktionär und einen Nazi. Aber Hoven schien an einem vertiefenden Kunstdiskurs mit diesem Banausen nicht interessiert.
»Jedenfalls habe ich jetzt das Problem, die Kosten für Ihre haarsträubende Aktion zu verbuchen. Und wenn einer aus dem Kollegium etwas der Presse steckt, können Sie sich vorstellen, was hier los ist. Umso wichtiger ist, in den Fällen Rossi und de Tailly jetzt weiterzukommen.«
Hoven schaute auf seine Patrimony, wahrscheinlich hatte er noch eine Verabredung auf dem Golfplatz.
»Ich denke, wir haben uns so weit committed und erwarte, dass Sie innerhalb von zwei Wochen delivern.«
Er hatte sich zum Gespött der Mitarbeiterschaft gemacht und konnte jetzt zwischen zwei Optionen wählen. Die eine war, die Kantine im Präsidium einfach für zwei oder drei Jahre nicht mehr aufzusuchen. Er konnte sich morgens von seiner Frau Brote schmieren lassen, die er in Tupperdosen mitnahm und mittags an seinem Schreibtisch verspeiste. Ein- oder zweimal die Woche würde er oben das Restaurant am Böllenfalltor aufsuchen, kaum einen halben Kilometer vom Präsidium entfernt. Die zweite Option war der Sprung ins kalte Wasser, einmal richtig leiden, um danach hoffentlich Ruhe zu haben.
Er nahm seinen Mut zusammen, entschloss sich für die kurze, schmerzhafte Variante und betrat die Kantine. Das Tablett hatte er noch nicht in der Hand, da hatten ihn die Ersten schon entdeckt, lachten, tuschelten und machten ihre Tischnachbarn auf ihn aufmerksam. Das Gelächter ging innerhalb von Sekunden wie eine Welle durch den ganzen Saal, irgendwann stand einer auf und applaudierte. Auch den Rest der Meute hielt es nicht mehr auf den Stühlen. Rünz setzte sich allein an einen Tisch, das Gekicher ebbte quälend langsam ab, dann folgten die Einzelbesuche, kaum ein Kollege, der nicht ein aufmunterndes Wort für ihn hatte.
»Da schau her, Sherlock Rünz. Wie sieht’s aus mit dem Ripper vom Goetheteich, schon weitergekommen?«
»Nimm die Karpfen ins Kreuzverhör!«
»Du Karl, ich hab’ bei H&M Frauenunterwäsche im Erdgeschoss gefunden, schau dir das doch bitte mal an.«
»Die suchen da einen bei der Bessunger Grundschule für die Verkehrserziehung …«
»Du gehörst befördert – damit du keinen Schaden mehr anrichten kannst!«
Er hatte sich so lächerlich gemacht wie nur irgend möglich, aber der ganze Auftritt hatte auch etwas Tröstliches. Sie hatten ihm mit ihrem Spott signalisiert, dass er noch dazugehörte.
Wedel war der Einzige, der sich zu ihm setzte, ohne eine ironische Bemerkung abzuschießen – er schien nicht in der nötigen Stimmung zu sein.
»Sybille Habich hat heute Morgen angerufen, ich soll Ihnen ausrichten, es wäre ihr furchtbar peinlich, sie hätte früher drauf kommen müssen – es geht um die Sache mit dem Katzenstreu. Das Zeug kann als Brandbeschleuniger eingesetzt werden. Egal, was Sie nehmen, um etwas abzufackeln – Diesel, Benzin, Verdünner –, wenn Sie es über irgendein poröses Material oder Granulat schütten, können Sie die Wirkung vervielfachen, muss irgendwas mit der Oberflächenvergrößerung zu tun haben, wenn ich sie richtig verstanden habe.«
Wedel wirkte deprimiert und abwesend, während er erzählte, als gäbe es nichts Langweiligeres auf der Welt als diese Geschichte mit dem Katzenstreu.
»Außerdem hat sie ein paar Daten rübergeschickt, die ihre Kollegen von Rossis USB-Stick retten konnten. Die meisten Bits und Bytes sind Reste von Office-Programmen und -dateien, Word, Excel, PowerPoint, außerdem ein Haufen PDF-Dokumente, wissenschaftliche Arbeiten, technische Dokumentationen, die er sich wahrscheinlich aus dem Internet runtergeladen hat. Aber ein winziges Paketchen von 1,6 Kilobyte können sie keiner marktüblichen Anwendersoftware zuordnen.«
Rünz kaute lustlos an seiner Kohlroulade herum.
»Schicken Sie die Datei an diesen Hobbyastronomen von der Volkssternwarte. Ich weiß, nicht gerade der vorschriftsmäßige Umgang mit Beweismitteln, aber wenn es sich um Files einer astronomischen Spezialsoftware handelte, werden sich die IT-Experten vom KTI monatelang die Zähne dran ausbrechen.«
»Und wenn der Typ selbst mit den Morden zu tun hat?«
»Stadelbauer? Kein Motiv, Alibi zum Tatzeitpunkt. Und als Strippenzieher im Hintergrund eine absolute Fehlbesetzung. So viel Aufregung kann der gar nicht vertragen.«
Wedel schaute immer noch drein wie Regenwetter.
»Was ist los mit Ihnen?«, fragte Rünz. »Junge Menschen wie Sie sind doch normalerweise ständig gut drauf und haben permanent fun. Ist Ihr iPod defekt? Haben H&M die Preise raufgesetzt? Skateboard verloren?«
»Oberliga«, nuschelte Wedel. Sonst nichts.
»Entschuldigen Sie, ich wusste nicht … – das tut mir leid«, kondolierte Rünz. Fast hätte er seinem Assistenten tröstend die Hand gehalten. Die Anteilnahme schien Wedel aufzuweichen. Er schaute an Rünz vorbei zum Fenster, die Lippen zusammengepresst, Tränen in den Augen, und schüttelte den Kopf.
»Zweieinhalb Torchancen gegen München II, keine genutzt.«
Wie schaute eine halbe Torchance aus? Rünz vermied technische Detailfragen.
»Aber in der Oberliga können die Lilien dann doch richtig aufdrehen!«, sagte Rünz. Wedel schien den plumpen Aufmunterungsversuch überhaupt nicht wahrzunehmen. Rünz entschied, ihn in den folgenden Tagen etwas zu schonen.
* * *
Ein ganz dummes Vorurteil, natürlich hießen nicht alle Fitnesstrainer, Surfer, Snowboarder und Verkäufer in Sportgeschäften Sven oder Mike. Nur der hier hieß zufällig so. Mike war braun gebrannt, hatte eine gepiercte Unterlippe, einen sonnengebleichten, leicht angefilzten Waikikibeach-Blondschopf und porzellanweiße Zähne. Wahrscheinlich kam er gerade von irgendeinem hirnverbrannten, von Red Bull gesponsorten Extreme-Outdoor-Kitebike-Canyoning-Event auf Tahiti zurück, bei dem tumbe Berufsjugendliche mit albernen Sportgeräten Sprünge machten, die sie Backflip, Mac-Twist, Indy Air oder Tail-grap nannten.
»Ich empfehle dir den Speed Pacer Vario von Leki, da hast du gleich was Solides. 16-Millimeter-Teleskoprohr aus hochmodularem Carbon, Nordic-Thermo-Trigger-II-Griffe mit Power-Race-Trigger-II-Schlaufen. Super-Lock SLS 10 Verstellsystem, Hartmetall-Flexspitze mit Walking-Lite-Gummipuffer. Und als Special Feature das Ultra Sonic Finish Nordic Tellerwechselsystem. Damit bist du für alles gerüstet.«
Mike duzte ihn mit diesem unwiderstehlichen Wir-Sportler-sind-alle-unglaublich-lässige-und-unkomplizierte-Typen-da-spielt-der-Altersunterschied-überhaupt-keine-Rolle-Charme. Rünz hatte sich die Entscheidung nicht leicht gemacht, aber er war entschlossen, der Empfehlung des Arztes zu folgen. Er schaute sich unsicher um. Ein Sportgeschäft auf der Frankfurter Zeil aufzusuchen, war ein geschickter Schachzug gewesen, aber selbst hier konnte ihn ein bekanntes Darmstädter Gesicht beim Kauf einer Nordic-Walking-Ausstattung entdecken. So weit war es mit ihm gekommen. Eine ernsthafte Diagnose, die Empfehlung eines jungen Medizinerschnösels, schon war er eingeknickt und hatte sich in den Mahlstrom ziehen lassen, der Fitness genannt wurde und seine Opfer in der Regel erst auf ihr Sterbebett wieder ausspuckte. Für die Vermarkter neuer Sportarten musste Deutschland der Garten Eden sein. Ein durchschnittlicher Landsmann entschied sich nicht einfach für eine Sportart und übte sie dann aus. Vielmehr praktizierte man eine systematische, strukturierte Annäherung, die in der Regel mit der Lektüre von Ratgebern begann, geschrieben von Menschen wie Rosi Mittermaier und Christian Neureuther, die mit ebendieser Sportart tiefes, dauerhaftes Lebensglück und Zufriedenheit gefunden hatten. Dann folgten Abonnement und Studium fachspezifischer Periodika (›Fit mit Walking‹, ›Nordic Fitness‹, ›Walking Magazin‹, ›Nordic Walker‹) mit intensiver Auswertung von Testergebnissen für das notwendige technische Equipment, dessen Erwerb für den verletzungsfreien Übergang in die nächste Phase unverzichtbar war. Unter Anleitung eines Instructors, besser aber eines Master Instructors, konnten erworbenes Wissen und Ausrüstung dann in der Praxis zusammengeführt werden. Das Ganze endete dann meist in kaum erträglicher chronischer Auskennerose, Expertopathie und Fachsimpelitis. Ob Blitzkrieg, Tierschutz oder Sport, wenn seine Landsleute etwas anpackten, dann machten sie es gründlich.
»Wie viel kosten die Dinger denn?«, fragte Rünz.
»Haben wir im Moment im Angebot, die kommen auf 139,90 Euro, zehn Euro Einkaufsgutschein und einen kostenlosen Einführungskurs mit unserem Master Instructor Sven inklusive, plus Pay-back-Punkte natürlich. Hast du schon unsere Acti-Flex-ClientCard? Damit gibt’s noch mal zehn Prozent, und wir halten dich per Mail über unsere Angebote auf dem Laufenden.«
Rünz knabberte noch am Preis.
»Und wenn ich einfach ein paar Skistöcke nehme?«
Mike schaute ihn an, als hätte er vorgeschlagen, einen Pudel zu frittieren.
»Davon kann ich dir nur abraten, du wirst dir einen völlig falschen Bewegungsablauf antrainieren und deine Gelenke ruinieren. Wie sieht’s denn mit Schuhen aus, bist du schon ausgerüstet?«
Rünz lächelte entspannt.
»Klaro hab’ ich Turnschuhe, Mike. Kein Thema!«
Der jugendliche Jargon bereitete ihm zunehmend Vergnügen, er fühlte sich gleich zehn Jahre jünger. Vielleicht suchten sie noch einen Verkäufer oder Trainer? Aber Mike stutzte ihn gleich wieder zurecht.
»Eins musst du dir klarmachen, mit normalen Turnschuhen kannst du beim Nordic Walking keinen Topf gewinnen! Bei deiner Statur empfehle ich dir den Gel-Tech Walker 7 WR von Asics, die Referenz in der Basic-Walking-Klasse. Warte mal …«
Er verschwand Richtung Schuhregal und kam mit einem schwarzen Turnschuhpaar zurück. Was meinte er mit ›Bei deiner Statur …‹ und ›Basic-Walking‹? Rünz blieb keine Zeit zum Nachdenken.
»Schau dir die mal an – IGS Flexkerben, GEL-Dämpfungssystem in Rück- und Vorderfuß, kombinierte DUOMAX und TRUSSTIC-Stützelemente, innovative SOLYTE-45-Grad-Lasting-Mittelsohle. Das Ganze im BIOMORPHIC-Konzept mit Personal-Heel-Fit gegen Fersenschlupf und Security-Package mit 3M-Reflektoren.«
Rünz schaute Mike schweigend an. Langsam verstand er, was Stadelbauer gemeint hatte, als er von grundsätzlichen Kommunikationsproblemen zwischen Individuen verschiedener Lebensformen gesprochen hatte. Er wollte sich doch einfach nur ein bisschen bewegen …
Mike hatte ihn noch davon überzeugen können, dass er sich ohne spezielle Nordic-Walking-Funktionsunterwäsche und -handschuhe in Lebensgefahr begab – so verließ er um über 500 Euro erleichtert das Sportgeschäft. Auf der Zeil drückte er sich sofort in eine Nische, packte die Utensilien aus, drehte die Außenseiten der Plastiktüten mit dem Logo des Geschäfts nach innen und steckte alles wieder ein. Als er die Tüten im Parkhaus in seinem Kofferraum verstaut und sich auf den Fahrersitz hatte fallen lassen, atmete er tief durch. Er wusste, was passieren würde. Das ganze Zeug landete unbenutzt in seinem Keller, und in zehn oder 20 Jahren zog es ein türkischer Familienvater aus einem Sperrmüllhaufen im Paulusviertel, um es im Bürgerpark auf dem Flohmarkt zu verkaufen.
* * *
Großes Kino. Ein leeres Parkdeck, hoch über den Dächern der Stadt, zwei Männer warten schweigend in einem 63er Lincoln Continental. Ein offener Buick Skylark fährt die Rampe hoch, parkt drei Reihen weiter. Der Cabriofahrer fischt einen kleinen Alukoffer von seinem Rücksitz, steigt aus, schnippt seine Zigarette über die Brüstung und geht auf den Lincoln zu. Er öffnet die Hecktür, schwingt sich auf die Rückbank und zieht eine 44er aus seinem Köfferchen …
Wie aufregend war doch Rünz’ öder Ermittlungsalltag, wenn er mithilfe seiner Fantasie nur ein paar kleine Details modifizierte! Stadelbauers 70er-Outfit hatte ihn zu seinem kleinen Tagtraum inspiriert. Er saß mit dem Astronom in seinem Dienstwagen, sie standen auf dem obersten Deck des Parkhauses in der Hügelstraße. Sie waren völlig allein, abgesehen von einem schwarzen Allradler mit abgedunkelten Scheiben, der ein paar Reihen hinter ihnen stand. Stadelbauer dozierte ohne Punkt und Komma über das Fermi-Paradoxon, die Rio-Skala und das anthropische Prinzip, während Rünz sich auf die junge Frau konzentrierte, die sich im Bad der Dachgeschosswohnung auf der anderen Straßenseite entspannt zurechtmachte. Sie schaute ab und an zu den beiden Männern herüber, schien sich aber nicht belästigt zu fühlen. Irgendwann verschwand sie im Nebenzimmer. Rünz sah durch den Vorhang, wie sie telefonierte.
»… oder sind Sie noch einer von diesen Kohlenstoffchauvinisten?«
»Ähm – wie? Was?«, stotterte Rünz, er hatte nicht zugehört. »Also das hat mir meine Frau noch nicht vorgeworfen.«
»Ich meine, ob Sie einer von denen sind, die glauben, intelligentes Leben könne nur auf der Basis von Kohlenstoffverbindungen existieren.«
Rünz’ Aufmerksamkeit war auf die äußerst attraktive Kohlenstoffverbindung in der Wohnung auf der anderen Straßenseite konzentriert. Stadelbauer wartete gar nicht erst auf eine Antwort.
»Ich halte das für Unsinn. Leben bedeutet nichts anderes als Komplexität jenseits des Equilibriums, die chemische Basis ist doch völlig nebensächlich. Ich meine, manchmal muss man einen Schritt zurücktreten, um das Ganze zu sehen!«
Das Letzte hatte er sich aus irgendeinem Science-Fiction-Movie abgekupfert, Rünz hatte Jodie Foster vor Augen, aber ihm fiel der Filmtitel nicht ein. Das Autoradio zwitscherte leise vor sich hin. Stadelbauer hielt plötzlich mitten im Satz inne.
»Kann ich das lauter machen?«, fragt er, die Hand schon am Regler.
Bob Dylan nölte eine fast zur Unkenntlichkeit entstellte Spätinterpretation einer seiner Klassiker.
»Das ist Bob Dylan«, sagte Rünz und drehte die Lautstärke wieder runter. Er betonte es wie ›Rauchen ist stark krebserregend‹.
Stadelbauer schaute ihn an, als bereitete ihm diese Bemerkung körperliche Schmerzen. Wie er so dasaß, mit seinem Kraushaar, seinen Koteletten und dem zerknirschten Gesichtsaudruck, wie ein gekränkter 15-jähriger Boygroup-Fan.
»Mögen Sie Dylan?«, fragte Rünz.
»Ob ich ihn mag? Bob Dylan ist Gott!«
Rünz hatte sich Gott immer etwas anders vorgestellt, nicht wie einen talentfreien Barden mit einer wischmoppartigen Kopfbedeckung. Aber er musste vorsichtig sein mit seinen Äußerungen, er war mit einem leibhaftigen Dylan-Aficionado zusammen.
»Ist das nicht ›Like a rolling stone‹ von Wolfgang Niedecken? Wusste gar nicht, dass Dylan den Song gecovert hat.«
Rünz’ Scherz taute die frostige Atmosphäre nicht merklich auf. Kein Wunder, durchschnittliche Pop- und Rockstars hatten Fans, Dylan hatte Jünger. Der Folksänger war unter seinen Bewunderern sakrosankt – kein noch so lustlos dahingeschrammelter Folksong, der nicht als musikalische Offenbarung abgefeiert wurde, kein noch so steinblödes Interview-Statement, das ihm nicht von einer ergebenen Anhängerschaft als brillante ironische Replik ausgedeutet wurde. Dabei war sein Erfolgsrezept überraschend einfach. Man musste nur irgendeine künstlerische Tätigkeit – zum Beispiel Singen – überhaupt nicht beherrschen, und mit einer zweiten kombinieren, die man noch weniger unter Kontrolle hatte – zum Beispiel Mundharmonikaspielen –, und dann lange und nachhaltig sein Publikum ignorieren. Es war wie bei den Geisteskranken unter den Eingeborenen in Neuguinea, denen die Stammesbrüder und -schwestern den kurzen Draht zu den Göttern zuschrieben. Ein einziges Wesen existierte, das mit Dylans Wirkung auf seine Bewunderer gleichziehen konnte – das Dalai-Lama.
Rünz hatte Lust auf einen kleinen Dylan-Diskurs, aber Stadelbauer zu verärgern war keine konstruktive Idee, er würde ihn noch brauchen. Er versuchte, den Astronomen vom Klangbrei aus dem Radio abzulenken.
»Wo arbeitet Ihr Freund Werner noch mal?«
»Im Institut für Graphische Datenverarbeitung, die gehören zur Fraunhofer-Gesellschaft«, knurrte Stadelbauer. »Sitzen direkt hinter dem neuen Kongresszentrum. Ich habe mir die Daten angeschaut, sieht nach einer kodierten Pixelgrafik aus. Für solche Aufgaben sind die Leute vom IGD erste Wahl. Entweder die können es entschlüsseln – oder keiner.«
Mit löchrigem Auspuff knatternd parkte ein 84er Polo neben ihnen. Ein untersetzter junger Mann verließ das Auto mit einem schlanken Alukoffer, er war vielleicht Ende 20, gedunsene und fettige Haut, mit der unglücklichsten Frisur, die man mit einem vor der Zeit gelichteten Kopf wählen konnte – er hatte sich das schüttere und fettige, dünne Haupthaar mehr als schulterlang wachsen lassen und hinten zu einem Zopf zusammengebunden. Rünz hatte die unappetitliche Vision eines ziemlich verstopften Duschabflusses. Der Mann schaute sich auf dem Parkdeck unsicher um und setzte sich dann zu den beiden anderen in den Passat. Er machte alles in allem den Eindruck eines ziemlich verunsicherten IT-Nerds.
»Was soll das Theater mit diesem komischen Treffpunkt, warum haben wir uns nicht im IGD oder bei dir zu Hause getroffen?«, fragte Stadelbauer.
Der Nerd reagierte nicht.
»Ist der vertrauenswürdig?«
Er stellte die Frage Stadelbauer, für ›der‹ kam also nur Rünz infrage. Der Astronom stellte beide einander vor. Die Augen des Computerexperten waren ständig in Bewegung, er schien hochgradig aufgeregt.
»Das ist ein Riesending«, murmelte Werner ständig.
»Ein Riesending ist das. Ein Signal aus dem All, sagst du, hat einer deiner Vereinskollegen aufgefangen? Junge, Junge, Junge …«
»Langsam, langsam, ich habe dir am Telefon gesagt, die Daten sind von einem Freund, der sich etwas mit SETI beschäftigt hat«, bremste Stadelbauer. »Woher genau er diese Datei hat, wissen wir nicht.«
›Wir‹, das waren wohl Stadelbauer und Rünz. Das stärkste Team seit Starsky & Hutch. Der Nerd legte begeistert los.
»Ich habe Stunden gebraucht, bis ich auf die Lösung kam. Das Signal ergibt erst einen Sinn, wenn man die Anzahl der Bits in die Primfaktoren zerlegt und die Pixel dann entsprechend anordnet.«
Er blickte sich noch einmal um, als könnten die drei beobachtet werden, legte dann sein Aluköfferchen auf die Beine, klappte den Deckel hoch, klackerte kurz auf einer Tastatur und drehte den Koffer dann nach vorn. Rünz wandte sich von der Schönen gegenüber ab und schaute mit Stadelbauer zwischen den Vordersitzen hindurch nach hinten auf ein Notebook-Display mit einigen Dutzend Reihen Nuller und Einser.
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»Wow«, sagte Rünz. »Ich glaube, jetzt kommen wir einen entscheidenden Schritt weiter. War wirklich ein heißer Tipp mit dieser Fraunhofer-Gesellschaft.«
»Nur nicht ungeduldig werden. Das war der Originalcode, jetzt wird es spannend«, sagte Werner und tippte ein paar Tasten.
»Das hier habe ich draus gemacht!«
Der Bildschirm zeigte eine hieroglyphenartige Matrix kleiner Quadrate auf einer rechteckigen Fläche, die hochkant die gesamte Bildschirmhöhe einnahm. Das einzige Element mit Wiedererkennungswert war ein Strichmännchen aus winzigen Planquadraten unterhalb des Bildzentrums.
»PacMan!«, rief Rünz. »Super, habe ich lange nicht mehr gespielt.«
Er zweifelte, ob der Kontakt mit Außerirdischen lohnte, deren Konsolenspiele auf diesem Niveau waren. Werner blieb unbeeindruckt.
»1.679 Bits. Zerlegt in die Primfaktoren sind das 23 mal 73. Also habe ich eine kleine Matrix gebaut mit 23 Spalten und 73 Zeilen und mit den Bits zeilenweise aufgefüllt, jedes leere Quadrat ist eine Null, jedes volle eine Eins. Und was kommt dabei raus, hier oben in den ersten drei Zeilen? Die Spalten sind immer von oben nach unten zu lesen, das ist die binäre Kodierung der Zahlen von eins bis zehn – 001, 010, 011 und so weiter. Arithmetik – galaktisches Esperanto – das Tor zur interstellaren Kommunikation! Sozusagen der Opener, Brot und Salz für die neuen Nachbarn! Jeweils eine Leerzeile scheint die Informationspakete voneinander zu trennen. Den Rest habe ich noch nicht dechiffriert, aber schaut euch den hier unten an!«
Er legte die Fingerspitze auf das Strichmännchen.
»Entweder, die sehen genauso aus wie wir, oder die wissen genau, wie wir aussehen. Und die komische Kuppel hier unten könnte eins ihrer Raumschiffe sein.«
Werner strich sich die strähnigen Haare aus den Augen und schaute die beiden auf den Vordersitzen erwartungsvoll an. Ein historischer Augenblick, die drei einzigen lebenden Menschen auf der Erde, die vom Kontakt wussten, in einem alten VW Passat auf einem Parkhaus in der Hügelstraße im südhessischen Darmstadt. In 40 Jahren würde hier eine Gedenkstätte mit Museum Pilgerströme aus aller Welt anziehen, ein pfiffiger Darmstädter Baukünstler würde die rohe Parkhausarchitektur mit ihren Rampen, Decks und Betonstützen zum integralen Ausstellungselement machen. Fotos und Originaldokumente würden jedes biografische Detail des Trios durchleuchten, auf Videowänden liefen Interviews mit Zeitzeugen (Rünz’ Frau? Brecker? Hoven?) in Endlosschleifen. Rünz’ Super Ruger Redhawk – eine Reliquie unter Glas, an der sich täglich Tausende bekreuzigten. Für die Gebeine der drei entstände ein eigenes Mausoleum auf der Rosenhöhe, zwischen dem kleinen griechischen Tempel, den Georg Moller als Ruhestätte für Prinzessin Elisabeth Karoline entworfen hatte, und dem schlichten Grabmal, das Ernst Ludwig für seine Eltern und Geschwister in Auftrag gegeben hatte. Und wahrscheinlich würde in 80 Jahren ein ausgebuffter junger Geschichtswissenschaftler in seiner Promotion nachweisen, dass Rünz zu Lebzeiten regelmäßigen Kontakt mit einer Prostituierten namens Yvonne im Watzeviertel hatte und damit einen heftigen Sturm im Elfenbeinturm der Historikerzunft auslösen.
Werner redete und redete, und Stadelbauer grinste von Minute zu Minute breiter, bis dem Zopfträger der Kragen platzte.
»Verdammt, das hier ist das dickste Ding seit der Relativitätstheorie, was gibt’s da zu lachen?«
»Du warst schon auf dem richtigen Weg. Das abgebrochene Rechteck hier in der zweiten Reihe, die Zahlen eins, sechs, sieben, acht und 15, wieder binär kodiert. Die Ordnungszahlen der Elemente Wasserstoff, Kohlenstoff, Stickstoff, Sauerstoff und Phosphor. Die Basis des organischen Lebens hier auf der Erde. Damit hat man die Leseanleitung für den dritten Teil hier in der Mitte. Chemische Verbindungen, die Nukleotide, die Grundbausteine der menschlichen DNA, dargestellt durch die Anzahl der jeweils enthaltenen chemischen Elemente. Damit ist auch klar, was diese beiden Spiralen oberhalb des kleinen Männchens hier bedeuten, die Doppelhelix des DNA-Moleküls. Links neben dem Männchen ist die Zahl 14 kodiert, multipliziert mit 12,6 cm, der Wellenlänge des Signals, ergibt das die durchschnittliche Größe eines erwachsenen Menschen. Rechts daneben 4,3 Milliarden, binär kodiert, die Größe der Weltbevölkerung Mitte der 70er-Jahre. Die Reihe unter dem Männchen ist eine generalisierte Darstellung unseres Planetensystems, links die Sonne, rechts die Planeten Merkur bis Pluto. Und die umgedrehte Schüssel unten stellt das Radioteleskop dar, mit dem das Ganze gesendet wurde.«
Der Nerd brauchte ein paar Sekunden, um Stadelbauers Kurzreferat zu verarbeiten.
»Scheiße, woher weißt du das alles?«
»Ganz einfach«, lachte Stadelbauer. »Ich kenne den Außerirdischen, der die Nachricht hier geschrieben hat. Drake heißt er, Frank Drake, ist 77 Jahre alt und lebt in den Vereinigten Staaten. Du hast die Arecibo-Message geknackt, meinen Glückwunsch. Hätte ich eigentlich selbst draufkommen können. Aber den Nobelpreis kriegst du dafür nicht. Drake gehörte zu den Gründervätern des SETI-Projektes. Er hat in der Frühphase des Programms vorgeschlagen, nicht nur die Ohren aufzusperren, sondern auch mal was in den Wald reinzurufen. Also hat er diese kurze Botschaft entworfen, und die wurde im November ’74 vom Arecibo-Observatorium in Puerto Rico aus ins All gesendet. Ausgerichtet auf einen damals vielversprechenden Kugelsternhaufen im Sternbild Herkules, Messier 13, um genau zu sein.«
»Ja und?«, versuchte Werner seine Entdeckung zu retten. »Vielleicht haben die Vogonen auf Messier 13 das Signal empfangen und sofort geantwortet? Und haben unsere Nachricht noch mal als Anlage an ihren Brief drangehängt!«
»Gute Idee, das Problem ist nur: Unser Signal kommt erst in 22.800 Jahren dort an, mein Freund!«
Werner hatte keine Zeit, sich zu ärgern. Zwischen seinen Polo und Rünz’ Passat schob sich ein Bereitschaftswagen des zweiten Polizeireviers. Brecker hob seinen massigen Körper aus dem Sitz, das Fahrwerk schien erleichtert aufzuseufzen und hob die Karosse um eine Handbreit. Er ging zur Fahrerseite des Passats, Rünz ließ sein Fenster herunter. In der Dachwohnung gegenüber stand die junge Mieterin fröstelnd im Morgenmantel am offenen Fenster.
»Was suchst du hier, Klaus«, brummte Rünz. »Neue Geschäftsidee? Vielleicht Slimfast-Diäten für den Sudan? Ich brauche kein Kindermädchen. Und zieh dir diese blöde 70er-Jahre-Sonnenbrille ab, oder wird das hier ein Rod-Steiger-Lookalike-Contest?«
Brecker reagierte nicht, kaute entspannt an einem Zahnstocher und schaute sich die drei im Passat genau an.
»Immer schön die Hände am Lenkrad lassen, Mister«, schnarrte er, als hätten die Insassen Schmalz in den Ohren.
›Mister‹? Hatte er ›Mister‹ gesagt? Stadelbauer wich das Blut aus dem Gesicht, auf seinem Amt schienen durchgedrehte Streifenpolizisten eher selten zu sein. Werner klappte auf dem Rücksitz seinen Laptop zu und setzte sich drauf, dabei hätten nicht mal Breckers Arschbacken ausgereicht, um diesen Koffer zu verdecken.
»Herr Rünz, kennen Sie diesen Polizisten?«, stotterte Stadelbauer. »Sie sind Kommissar, sagen Sie das diesem Mann doch endlich, zeigen Sie ihm Ihre Marke und Ihren Dienstausweis!«
»Na klar, Ihr Freund ist Kommissar«, grinste Brecker, »und ich bin Roland Koch.«
Er trat ein paar Schritte zurück, legte die Hand an seine Dienstwaffe und sprach zu der jungen Frau auf der anderen Seite, ohne die drei Verbrecher aus dem Blick zu verlieren.
»Ist schon gut Ma’am, alles unter Kontrolle. Sind Sie in Ordnung, Ma’am? Sind das die drei Spanner, die Sie belästigt haben?«
›Ma’am‹. Er hatte wirklich ›Ma’am‹ gesagt. Rünz senkte resigniert den Kopf auf die Brust. Die NYPD-Nummer. Und nichts und niemand würde Brecker jetzt aufhalten. Rünz musste wohl oder übel mitspielen, wenn er einen Nervenzusammenbruch bei einem der beiden anderen vermeiden wollte. Er startete einen letzten diplomatischen Vorstoß.
»Hör zu Klaus, ich weiß, du bist sauer. Das mit dem Recharger tut mir leid. Vielleicht ist die Idee ja gar nicht so schlecht! Lass uns einfach noch mal drüber reden.«
Brecker wollte nicht reden.
»Ihr drei kommt jetzt schööön langsam aus dem Auto raus, Hände aufs Dach und Beine auseinander.«
Die drei gehorchten, Stadelbauer zitterten die Knie, er war nervlich am Ende und konnte sich vor Aufregung kaum mehr auf den Beinen halten. Rünz strich ihn endgültig von der Liste der Verdächtigen, für die Beteiligung an einem Mord fehlte ihm die nötige Stressresistenz. Der Computernerd hatte trotz der frischen Temperatur Schweißperlen auf der Stirn. Brecker tastete alle sorgfältig ab, und als Rünz an der Reihe war, zog er ihm die Beine noch weiter auseinander, damit er seinen Schrittbereich intensiv nach Atomwaffen abtasten konnte.
»Verdammt Klaus, wenn du noch länger da unten rumfummelst, werde ich schwanger.«
Brecker kam nahe an seinen Kopf und flüsterte ihm ins Ohr.
»Du hast vielleicht A12, aber ich habe Street Credibility.«
Dann arbeitete er sich ungerührt an den Beinen nach unten vor, und – oh Wunder – wurde fündig.
»Sieh mal an, was haben wir denn da!«
Er zog Rünz’ kleinen LadySmith aus dem Knöchelholster und hielt ihn triumphierend an den Fingerspitzen in die Höhe, als gälte es, noch Fingerabdrücke zu sichern.
»Würde mich doch stark wundern, wenn das hier eine ordnungsgemäß angemeldete Handfeuerwaffe ist.«
Dann wandte er sich wieder der Dame im Morgenmantel zu.
»Gut, dass Sie angerufen haben, Ma’am«, rief er über die Straße. »Das hier sind drei ganz schwere Jungs, die haben wir schon lange auf der Liste.«
»Herrgott«, blaffte Rünz, »warum gehst du nicht gleich rüber zu ihr?«
* * *
Die Nacht war furchtbar, er hatte einen der heftigsten Albträume seit Jahren, die Vision eines Einführungstrainings mit dem Nordic-Walking-Master-Instructor Sven, der ihn tief in den Odenwald führte und völlig allein ließ. Er verirrte sich und musste in einer verfallenen alten Hofreite übernachten. Zu später Stunde überraschten ihn Christian Neureuther und Rosi Mittermaier – die beiden schnallten ihn auf einem Stuhl fest und drückten ihm die Metallzylinder eines seltsamen E-Meters in die Hände, mit dem Scientologen ihre Novizen durch Psychoaudits quälten. Sie stellten ihm Hunderte von Fragen, ob er an Nordic Walking wirklich glaubte, ob er schon einmal Zweifel an der reinen Lehre hatte, ob er sich bereit fühlte, den ›Heiligen Trail‹ zu walken, ob er manchmal Lust verspürte, ohne seine Stöcke durch den Wald zu wandern. Das E-Meter schlug immer wieder aus, Rosi stand vor Wut der Schaum vorm Mund – sie forderte eine schmerzhafte Lektion für den Renegaten, Neureuther gab den eiskalten, erbarmungslosen Folterknecht und drückte ihm die Hartmetall-Flexspitzen seiner Speed Pacer Vario in die Eingeweide.
Als er morgens völlig zerknautscht in die Küche kam, blätterte seine Frau in seinen Ermittlungsakten wie in einer Illustrierten. Er nahm selten Unterlagen mit nach Hause, und noch seltener ließ er sie dort offen herumliegen.
»Du hast unruhig geschlafen«, sagte sie.
»Da findest du keine Horoskope«, sagte er und nahm ihr die Mappe weg. Sie schaute ihm eine Weile schweigend zu, wie er eine steril verschweißte Brotpackung öffnete und den Deckel eines kleinen Margarinebechers abzog, die man normalerweise in Hotels und Pensionen zum Frühstück servierte.
»Du hast mir noch nichts von den Ergebnissen deiner Nachuntersuchung erzählt.«
»Wusste nicht, ob dich das interessieren würde.«
»Ja klar, woher auch, wir sind ja nur verheiratet.«
Rünz schwieg. Die Radiologin hatte von einem unveränderten Befund gesprochen, Stagnation des Tumorwachstums, es gab also wirklich keinen Anlass, seine Frau jetzt mit Details zu beunruhigen.
»Alles klar so weit, Verletzungen verheilt, bin wieder voll einsatzfähig.«
»Auch im Haushalt, oder sollst du dich da noch schonen?«
Er antwortete nicht, sie spähte wieder auf seine Unterlagen.
»Ist das der Fall, an dem du im Moment arbeitest?«
Rünz schwieg.
»Ist nicht so deine Wellenlänge, das Opfer, oder?«
»Was meinst du damit?«
»Na ja, war doch wohl eher so ein kindlicher, romantischer Typ, der gern liest und träumt.«
»Jetzt hör mir bitte auf mit Sternzeichen, ich kann den Schmu nicht mehr hören.«
»Das meine ich nicht!«
Rünz war einen Moment unachtsam, sie zog die Ermittlungsmappe wieder auf ihre Seite des Tisches und nahm ein Foto des Sweatshirts heraus, das Rossi an seinem Todestag getragen hatte.
»Guck mal, was da draufsteht.«
»Mein Gott, B 612, das ist sicher das Kürzel irgendeiner amerikanischen Basketballmannschaft oder einer Hip-Hop-Gruppe oder sonst was, worauf willst du hinaus?«
Sie ließ ihn einen Moment schmoren.
»Der kleine Prinz. Hast du das nie gelesen?«
»Von Charles Bukowski? Verdammt, wie konnte mir das nur durch die Lappen gehen.«
»Ein Märchen von Antoine de Saint-Exupéry. Der Ich-Erzähler muss mit seinem Flugzeug in der Wüste notlanden und trifft dort auf einen kleinen Jungen, der mit einem Asteroiden auf die Erde gekommen ist. Und dieser Asteroid hat den Namen – B 612.«
Rünz knurrte, biss in sein Brot, nahm ihr das Foto aus der Hand und betrachtete es. Er kaute langsamer, immer langsamer, irgendwann stand sein Mund offen und er vergaß zu schlucken. Wortlos stand er auf und setzte sich in seinem Arbeitszimmer an den Computer.
Google gab im ersten Anlauf nicht viel her zu B 612, außer Fanseiten des Kleinen Prinzen, Dutzenden von Kreativagenturen und Kunstinitiativen, die das Kürzel irgendwie in ihren Namen und Werken verarbeitet hatten. Rünz blätterte die gelisteten Links durch und brauchte eine halbe Stunde, bis er einen interessanten Hinweis fand – die B 612 Foundation – eine Initiative von Wissenschaftlern, die sich 2001 bei einem informellen Treffen im Johnson Space Center in Houston gebildet hatte. Rünz quälte sich mit seinen dürftigen Sprachkenntnissen durch die englischsprachige Webseite. Immer wieder war von NEOs und NEAs die Rede, es dauerte eine Weile, bis er verstand, worum es ging – ›Near Earth‹-Objekte und Asteroiden, die dem Asteroidengürtel, dem Kuipergürtel oder der Oortschen Wolke entstammten und bei ihrem Umlauf um die Sonne der Erdbahn gefährlich nahe kamen. Die Forschergruppe hatte in Texas die technischen Möglichkeiten für die Abwehr von Asteroiden auf Kollisionskurs diskutiert. Die Foundation berichtete auf ihrer Webseite von einem Spaceguard Survey der NASA, der von 1998 bis 2008 90 Prozent aller NEOs aufspüren wollte, die einen Durchmesser von mehr als einem Kilometer hatten. Die Arbeiten der NASA schienen gut voranzukommen, wenn man den Angaben der Foundation glauben mochte, zwei Drittel der Objekte waren identifiziert, ihre Bahnparameter berechnet, von ihnen ging in den nächsten 100 Jahren keine Gefahr aus. Aber es blieb das unbekannte Drittel, und es blieben die unzähligen Objekte unter einem Kilometer Durchmesser, die jederzeit verheerende Zerstörungen anrichten konnten. Rünz ging die Mitglieder der Foundation und ihre Arbeitsstätten durch – Southwest Research Institute, Jet Propulsion Laboratory, Los Alamos National Laboratory, University of Michigan – ausschließlich Mitarbeiter US-amerikanischer Institute.
Er klickte unabsichtlich auf den Download-Button, ein minutenlanger Dateitransfer startete. Er wartete ungeduldig, schließlich erschien die Startseite einer PowerPoint-Präsentation im Browserfenster, eine wissenschaftliche Arbeit über die Einschlagswahrscheinlichkeit von NEAs und NEOs auf der Erde – Co-Autor: Tommaso Rossi, Advanced Concepts Team der European Space Agency. Der Italiener schien außer fliegenden Untertassen noch andere Interessengebiete zu pflegen.
Wenn ein südhessischer Polizeihauptkommissar eine Eingebung hatte, dann konnten sich die Gesetzlosen warm anziehen. Und Rünz hatte eine. Er schaltete den Computer aus und setzte sich ins Auto.
* * *
»Wie kommen Sie auf die Idee, an dem Stofffetzen hier könnte irgendwas Interessantes dran sein?«
Sybille Habich hatte sich Latexhandschuhe übergestreift, sie tastete Säume und Nähte des Sweatshirts sorgfältig ab. Frisch und entspannt wirkte sie, ihr Körper schien sich von der chronischen Nikotinvergiftung langsam zu erholen. Die Entzugserscheinungen waren wohl abgeklungen, Rünz erschien sie geradezu euphorisiert. Zum ersten Mal trug sie Kleidung, die speziell auf den Körper einer Frau zugeschnitten war. Ihre Oberlippe war leicht angeschwollen, sie hatte sich offensichtlich Hyaluronsäure unterspritzen lassen. Wahrscheinlich stürzte sie sich gerade mit der verzweifelten, hemmungslosen Lust der letzten fruchtbaren Lebensjahre in eine erotische Affäre.
Rünz hielt Abstand, er fühlte sich unwohl in der Gegenwart von unternehmungslustigen Frauen mit Latexhandschuhen.
»Weibliche Intuition«, sagte Rünz.
»Ihre weibliche Intuition oder die Ihrer Frau?«
Rünz wollte das Thema nicht weiter vertiefen.
»Wenn Sie so nichts finden, dann trennen Sie alle Säume auf.«