Binärcode

 

Das Projektil schlug wenige Zentimeter links neben dem Kommissar in flachem Winkel auf und riss eine Wolke schallschneller mikrofeiner Betonpartikel aus dem rissigen, alten Industrieboden, die ihm an Knöcheln, Händen und Gesicht jeden Quadratzentimeter unbedeckter Haut perforierten. Wie ein flacher Stein auf dem Wasser prallte das Geschoss ab, setzte seine durch den Drallverlust instabile Flugbahn laut pfeifend fort, landete irgendwo östlich des Knell-Geländes in der Gewerbezone zwischen Frankfurter Straße und Messplatz. Rünz kicherte trotz seiner misslichen Lage, er stellte sich vor, wie der Staatsanwältin im Schottener Weg das heiße deformierte Metallklümpchen durch das offene Fenster direkt auf den Schreibtisch segelte, bereit zur Asservierung. Kalt  war ihm, und er hatte Angst. Er kauerte sich noch enger mit dem Rücken an den schützenden Stapel teergetränkter alter Eisenbahnschwellen und wendete den Kopf nach rechts, um sein Gesicht zu schützen. Als hätte der Sniper Rünz’ Bewegung vorausgeahnt, platzierte er den nächsten Treffer auf der anderen Seite der Deckung. Diesmal erwischte der Betonschrot den Kommissar bei geöffneten Augen frontal im Gesicht. Er schrie auf, griff reflexartig mit den Fingern nach seinem Kopf und zog sie sofort wieder zurück, weil ihm jede Berührung der Augen unerträgliche Schmerzen bereitete. Dutzende Splitter hatten sich fest in seine Hornhaut eingebrannt und machten jede mechanische Reibung zur Qual. Aber er konnte den Lidreflex nicht unterdrücken. Jedes Mal, wenn sich die Augen schlossen, fühlte er sich, als bearbeitete jemand mit grobkörnigem Schleifpapier seine Pupillen. Die Hände zum Schutz an die Schläfen gelegt, spähte er durch die Finger nach links zu dem Verwundeten. Der Mann lag einer fetten Made gleich auf dem Bauch und versuchte vergeblich, seinen mächtigen schlaffen Körper mit der Kraft seiner Arme zu Rünz hinter die Deckung zu ziehen. Anfangs war er dem Kommissar nur dick erschienen, aber sein Leib schien unter dem Einfluss innerer Blutungen von Minute zu Minute weiter anzuschwellen. Er hatte die Jeanshose in den Kniekehlen hängen, sein riesiger pickliger Hintern sah in der kalten Winterluft aus wie eine gerupfte Putenbrust.

Rünz zog sein Handy aus der Jackentasche. Die Verletzungen der Hornhaut hatten ihm die scharfe Nahsicht geraubt, weder auf seiner Armbanduhr noch auf den Tasten und dem Display konnte er irgendetwas erkennen, wahrscheinlich war bei seinem Hechtsprung das Gerät ohnehin beschädigt worden. Mehrmals versuchte er blind, eine Verbindung herzustellen – ohne Erfolg. Er tastete den Boden um sich herum ab. Der Ausrichtung und Tiefe der Kerben nach zu urteilen, die die Geschosse im Beton hinterließen, musste der Sniper irgendwo westlich auf erhöhter Position auf der Lauer liegen. Rünz war womöglich dicht an ihm vorbeigelaufen, als er vom Sensfelder Weg das Knell-Gelände betreten hatte. Die alte Brachfläche mit ihren leeren Backsteinhallen, Laderampen und dem dichten Buschwerk war der ideale Ort für einen Hinterhalt. Vielleicht lag er auf dem Dach einer der verfallenen Werkhallen, kaum fünfzig Meter entfernt. Wenn er weiter weg war, schoss er nach Pythagoras von höherer Position aus, dann kam eigentlich nur der alte Hochbunker aus dem Zweiten Weltkrieg infrage, der wie eine gigantische versteinerte Spitzmorchel die Silhouette des Areals dominierte. Seine Präzision auf diese Entfernung war über jeden Zweifel erhaben, sie setzte erstklassiges Material und eine hervorragende Ausbildung voraus. Nur beim ersten Schuss hatte der Jäger gepatzt. Rünz hatte neben dem Verwundeten gekniet, als ihm die Kugel um die Ohren flog, er hatte sich mit einem Satz hinter den Schwellenstapel gerettet. Der Kommissar stellte überschlägige Berechnungen an, kombinierte die Sekundenbruchteile, mit denen der gedämpfte Mündungsknall dem Aufprall der Kugel folgte, mit der Mündungsgeschwindigkeit eines hochwertigen Repetierers und entschied sich für den Hochbunker.

Der Angeschossene lag knapp drei Meter neben ihm im freien Gelände, der Schütze hätte ihm längst den Fangschuss geben können. Offensichtlich brauchte er ihn als lebenden Köder, um Rünz aus der Deckung zu locken. Aber Heldentum war dem Ermittler fremd. Er versuchte, die Zeitspanne abzuschätzen, seit er auf dem Parkplatz des Baumarktes in der Otto-Röhm-Straße mit der Zentrale gefunkt hatte. Das Präsidium hatte ihn über einen Notruf von einem Mobiltelefon unterrichtet, aber der Anrufer war außerstande gewesen, seinen Aufenthaltsort mitzuteilen. Rünz hatte das zersplitterte Handy neben dem Verwundeten gesehen und sich gewundert, dass der Dicke in diesem Zustand mit seinen Wurstfingern überhaupt die drei Zahlen auf der Tastatur getroffen hatte. Die Kollegen konnten die Signalquelle auf das Knell-Gelände eingrenzen. Rünz hatte zugesagt, nach dem Rechten zu schauen, und war um 9.30 Uhr vom Baumarkt losgefahren, im Kofferraum einige Regalböden, mit denen er etwas Ordnung in die explodierende esoterische Privatbibliothek seiner Frau bringen wollte. Er hatte rund zehn Minuten gebraucht, um auf der Suche nach einem Zugang im Schritttempo um das Gelände herumzufahren, hatte schließlich die Zufahrt zum Sensfelder Weg direkt hinter dem Müllheizkraftwerk gefunden und, als er fast schon wieder auf dem Carl-Schenck-Ring stand, das Loch im übermannshohen Bretterzaun entdeckt, der das ganze Areal umgab. Danach vielleicht noch einmal zehn Minuten, bis er die Baracken inspiziert und den Angeschossenen auf der Freifläche entdeckt hatte. Also mochte es jetzt ungefähr 9.50 Uhr sein. Seine Zentrale würde in zehn Minuten vergeblich versuchen, ihn anzufunken, dann würden sie es ohne Erfolg auf seinem Mobiltelefon versuchen. Um spätestens 10.10 Uhr würde sich eine Streife oder ein Kollege aus seinem Team aufmachen, um nach ihm zu suchen. Er hatte also noch gut und gerne zwanzig Minuten Überlebenskampf vor sich, bevor er mit professioneller Unterstützung rechnen konnte.

Der Schlot des Müllheizkraftwerkes südlich der Brachfläche blies stoisch seine Rauchfahne in den Himmel. Rünz spielte verschiedene Szenarien durch. Variante eins war der Heldentod. Er konnte die Deckung verlassen, sich einen Arm des verwundeten Riesen nehmen und versuchen, ihn beiseite zu ziehen. Der Schütze hatte ihn dann wie auf dem Präsentierteller und konnte sich in aller Ruhe überlegen, ob er ihn gleich terminierte oder lieber etwas leiden ließ, indem er ihm zuerst die Kniescheiben zerschoss. Das Ergebnis war ein Begräbnis in allen Ehren, mit Anwesenheit des Polizeipräsidenten, eine Witwe, die bei einem seelenverwandten Veganer aus ihrer Pilatesgruppe Trost suchte, und einige Kollegen, die ein paar Tage ein betretenes Gesicht machten, bevor sie zum Tagesgeschäft übergingen. Ach ja, und natürlich sein Schwager Brecker, der alles daransetzen würde, Rünz’ großkalibrige Ruger in seine Waffensammlung aufzunehmen.

Variante zwei führte zum gleichen Resultat, allerdings ohne dass Rünz die Deckung verließ. Der Schütze hatte seit einer halben Minute nicht gefeuert, vielleicht hatte er den Turm längst verlassen und schlich in aller Ruhe wie ein Großwildjäger mit seiner Langwaffe durch das Gestrüpp, um die waidwunde Beute Auge in Auge zu erledigen. Für diesen Fall hatte Rünz allerdings eine kleine Überraschung präsent – er war bewaffnet. Nicht mit seiner Dienstwaffe, die P6 lag im Waffenschrank im Präsidium, das Schulterholster war ihm zu unbequem im Alltagseinsatz. Aber er hatte sich zum bevorstehenden 45. Geburtstag mit einem kompakten 38er LadySmith beschenkt, einer wunderschön brünierten Waffe mit Wurzelholzgriff und zweizölligem Lauf, die er in einem Lederholster am Unterschenkel trug. Eine kleine Schwester für seine großkalibrige Ruger Super Redhawk. Das mit dem Knöchelholster hatte er sich Richard Widmark in ›Nur noch 72 Stunden‹ abgeschaut. Rünz liebte amerikanische Polizeifilme aus den Sechzigern. Alle rauchten ständig, niemand trieb Sport, ohne Unterlass boten sich Menschen gegenseitig hochprozentige Drinks an, Frauen ließen sich von Männern widerstandslos mit ›Kleines‹ anreden und jeder Polizist trug als Zweitwaffe in einem Holster an seinem Unterschenkel einen handlichen Smallframe aus dem Hause Smith & Wesson. Ein Paradies.

 

Der Dicke hatte aufgehört zu kriechen, den Bewegungen seines Rückens nach zu urteilen wurde sein Atem unregelmäßiger. Rünz hörte von Südosten Sondersignale von Einsatzfahrzeugen, die sich über die Frankfurter Straße näherten. Womöglich hatte er Glück, und einer der Obdachlosen, die sich nachts in die Baracken auf dem Gelände zum Schlafen zurückzogen, hatte die Szene verfolgt und seine Kollegen alarmiert. In einer der Hallen stand die Halfpipe einer Skaterclique, hoffentlich schliefen die Kids samstags um diese Uhrzeit noch in ihren Mittelschicht-Eigenheimen ihren THC-Rausch aus, ein unbedarfter Teenager mit muffigen Dreadlocks war das Letzte, was er hier in der Schusslinie brauchte. Die Sondersignale kamen näher, mindestens drei oder vier Fahrzeuge, Rünz hätte aufstehen müssen, um über das Dickicht nach Osten zu spähen und etwas zu erkennen. Die Signale wurden wieder leiser, die Kolonne war wohl nach Osten Richtung Messplatz abgebogen, zum Hundertwasserhaus oder dem Berufsschulzentrum. Ein paar Minuten lang passierte überhaupt nichts. Der Dicke hatte aufgehört zu atmen. Der Kommissar resignierte. Dann hörte er ihre Stimme.

 

»ERR RUUUNZ!«

 

Er zuckte zusammen, drehte sich um und spähte durch einen der Schlitze zwischen den Schwellen. Es gab nur einen Menschen, der seinen Namen so aussprach. Seine französische Kollegin Charlotte de Tailly stand auf halbem Weg zwischen dem Bunker und ihm, auf freiem Feld, die Hände in die Hüften gestemmt. Sie schaute sich um und rief nach ihm, ein offenes Scheunentor hätte kein schwierigeres Ziel abgegeben. Rünz schrie, seine Stimme überschlug sich, statt ›Deckung‹ brachte er nur ein unendlich gedehntes ›DEEEECKOOOOO‹ heraus, er schrie, als könne er mit seinen Stimmbändern den Kurs des Projektils beeinflussen, er schrie auch dann noch, als die Französin konsterniert ein rotes Loch in ihrem Brustbein registrierte, aus dem hellrotes, sauerstoffgesättigtes Blut wie aus einem kleinen Geysir spuckte.

Der Kommissar kannte aus zahlreichen Untersuchungen die Auswirkungen überschallschneller Metallgeschosse, die auf menschliche Körper trafen. Selbst der Impuls eines 44er Magnum-Kalibers reichte nicht aus, um einen erwachsenen Menschen allein durch die Wucht des Projektils umzuwerfen, auch wenn Generationen von Hollywoodregisseuren seit Peckinpahs ›Wild Bunch‹ das den Kinozuschauern in unzähligen Slow Motions hatten weismachen wollen. Die heute ungelenk und lächerlich anmutenden Darstellungen der Mimen in den frühen Western aus den 40ern und 50ern kamen der Realität viel näher. Die Französin legte andächtig den Kopf auf die Schulter und presste ihre Hände auf die blutende Wunde. Einige Sekunden stand sie so da, wie eine ins Gebet versunkene Madonna, dann gaben ihre Beine nach, und sie sackte unspektakulär zusammen.

Rünz versagte sich jede weitere Abwägung. Er nahm seinen LadySmith aus dem Holster, entsicherte und stürmte halbblind aus der Deckung geradewegs auf den Hochbunker zu. Zwei oder drei Sekunden war er sicher, der Jäger musste aufstehen, ein rennendes Tier konnte er nur aus kniender oder stehender Position erlegen. Aus vollem Lauf feuerte Rünz, die Schüsse mitzählend, er musste sich eine Kugel aufbewahren für den unwahrscheinlichen Fall, dass er die Stahltür am Fuß des Turmes lebend erreichte. Die Geschosse zerplatzten am meterdicken Beton des Bunkers, ohne nennenswerte Spuren zu hinterlassen – genauso gut hätte er einen afrikanischen Elefantenbullen mit Knallerbsen bewerfen können.

 

Die Demontagetrupps der Deutschen Bahn hatten schon Jahre zuvor ganze Arbeit geleistet, das Gelände von allen alten Gleisanlagen, Rangier- und Signaleinrichtungen befreit. Sie hatten nur ein einziges Stück vergessen, eine zehn Meter lange rostige und krautüberwucherte Vignolschiene, die quer in Rünz’ Laufrichtung lag und nach Jahren nutzlosen Herumlungerns noch einmal eine Aufgabe hatte – einen südhessischen Polizeihauptkommissar an der Ausübung seiner Pflichten zu hindern. Er blieb mit der rechten Fußspitze unter dem Schienenkopf hängen, kippte vornüber und schlug mit der Schläfe auf dem Beton auf. Aber er verlor nicht sofort das Bewusstsein. Seine Muskeln waren gelähmt, er verdrehte wie ein Chamäleon seine schmerzenden Pupillen, um seine Umgebung zu erfassen. Dann sah er sie, in einigen Metern Entfernung, durch die Büsche hindurch. Mit weit aufgerissenen Augen starrte Charli ihn an. Sie lag im Sterben, ihre Lippen formten die immergleichen Silben, als wollte sie Rünz noch etwas mitteilen. Was folgte, war schwarze Leere.

 

 

* * *

 

 

Krankenhäuser waren eine sinnvolle Einrichtung, mit einem marginalen Nachteil – sie gaben einem nicht die Chance, zu genesen. In Kliniken galten zwei ungeschriebene Gesetze. Das erste verbot den Patienten, aktiv zu werden, das zweite untersagte ihnen, zur Ruhe zu kommen. Versuchte Rünz seinen Aktionsradius mit Ausflügen durch die Klinikflure zu erweitern, blind vortastend, immer mit einer Hand an der Wand entlang, riet ihm das Pflegepersonal, auf der Station zu bleiben, da für irgendwann in den nächsten 48 Stunden eine wichtige Untersuchung angesetzt sei. Wollte er sich dagegen entspannen, betrat eine Reinigungskraft das Zimmer, die Nachtschwester kam mit den kleinen Schlafhelfern, der Chefarzt schaute mit seinem Hofstaat vorbei, fummelte an seinem Körper herum und raunte dem Oberarzt lateinische Fachausdrücke zu, es wurde Frühstück, Mittagessen, Kaffee oder Abendessen gebracht oder wieder abgeholt, eine Schwester nahm die Essenswünsche für die folgende Woche auf, Besuch kam, Blutdruck wurde gemessen oder die Betten gemacht. Betten wurden meist um fünf Uhr morgens gemacht, denn dann war Schichtwechsel. Die nicht bettlägerigen Patienten standen dann einige Minuten schlaftrunken wie Zombies in den Krankenzimmern herum und ließen sich danach wieder ins frische Laken fallen, um bis zum Frühstück noch einmal wegzudösen. So verbrachte Rünz die meiste Zeit im Bett, zur Untätigkeit verdammt, ein deprimierender Dämmerzustand zwischen Schlaf und Wachsein, in dem der Unterschied zwischen Tag und Nacht verschwamm.

 

Ein vertrauter Duft weckte ihn aus der Trance, eine Melange aus Palmöl, Kokos, Lavendel und Rosenextrakt, die sich langsam, aber nachdrücklich ihren Weg durch die Ausdünstungen der Putz- und Desinfektionsmittel bahnte.

»Dass ich deine Weleda-Ökoseife mal gerne riechen würde – scheint ziemlich schlimm um mich zu stehen

»Warst halt lange genug auf Entzug

Seine Frau raschelte mit irgendeiner Papierschachtel, er gab sich keine Mühe, unter seinem Augenverband hindurchzulinsen. Dann spürte er ihre Hand über seinem Gesicht und millimetergroße minzige Kügelchen zwischen seinen Lippen.

»Nicht schlucken, langsam im Mund zergehen lassen

Er nahm seinen Mut zusammen, öffnete die Lippen und ließ die Bällchen in seine Mundhöhle fallen.

»Keine schlechte Gelegenheit, mich zu vergiften«, nuschelte er.

»Eben. Ein homöopathisches Mittel.«

»Hast du das mit dem Oberarzt besprochen

»Natürlich, kann nicht schaden, sagt er

»Ist das schon so weit, dass Kassenpatienten nur noch Medikamente bekommen, die nicht schaden können

»Hör auf herumzupiensen, das ist Graphites, gut für deine Verletzungen

Rünz simulierte Würgereiz und tastete nach seinem Spucknapf.

»Grafit?? Du steckst mir hier eine zerbröselte Bleistiftmine in den Mund

»Da mach dir mal keine Sorgen. Das sind Globuli in einer D12-Potenz. Von denen musst du schon ein paar Tausend nehmen, bis man mit dir zeichnen kann

»Ach ja, ihr Homöopathie-Schamanen seid ja Meister der Verdünnung. Welche Wirkstoffkonzentration haben wir denn hier

»Wichtig ist doch die feinstoffliche Information, die beim Potenzieren vermittelt wird

»Sag schon, welche Konzentration

»Eins zu eine Billion.«

Die Kügelchen lösten sich auf in seinem Mund und hinterließen einen scharfen Nachgeschmack.

»Eins zu eine Billion – na ja, vielleicht habe ich Glück und erwische ein Molekül. Man soll ja auch nicht überdosieren

Seine Frau seufzte. Rünz war beunruhigt, er konnte ihre Befindlichkeit nicht zuverlässig beurteilen, wenn er sie nicht sah. Jetzt, wo er so hilfsbedürftig dalag, empfand er plötzlich wieder große Zuneigung zu ihr, während sie sonst für seinen Gefühlshaushalt so relevant war wie ein funktioneller und unverzichtbarer Einrichtungsgegenstand in ihrem gemeinsamen Haushalt. Auch Liebe schien letztendlich nach durchweg eigennützigen ökonomischen Prinzipien zu funktionieren.

»Hast du sie gut gekannt, fragte sie.

Rünz fühlte Panik aufkommen. Sie wollte über Gefühle reden, und er konnte nicht weglaufen.

»Sie gehörte zu meinem Team, war hier für ein Jahr, im Rahmen eines Austauschprogrammes mit unserer französischen Partnerstadt Troyes. Sie wäre in vier Wochen wieder zurückgegangen, zu ihren Kollegen ins Commissariat …«

»Das meinte ich nicht

Rünz schluckte. Er verstand, sie wollte wissen, was in ihm vorging, seine Trauer, die Art, wie er den Tod einer Kollegin verarbeitete. Charli fehlte, das war natürlich schade, zumal sie mit ihrem überragenden Einfühlungsvermögen in einigen schwierigen Verhören entscheidende Wendungen herbeigeführt hatte. Aber seine Hauptsorge galt der Unruhe, die die ganze Sache in seinen Arbeitsalltag brachte – die interne Untersuchung, mögliche Umstrukturierungen, Kontakte mit ihren Angehörigen, lästige Journalisten. Aber das musste seine Frau nicht wissen.

»Es ist nicht leicht …«, presste er hervor, als unterdrückte er mühsam eine starke Gefühlswallung.

»Ich weiß, du brauchst jetzt einfach Zeit

Sie legte ihm tröstend die Hand auf den Unterarm, er entschied spontan, noch eine Schaufel Sentiment nachzulegen.

»Weißt du, wir haben nicht nur perfekt zusammengearbeitet, wir haben uns auch gut verstanden, auf einer menschlichen Ebene

Die Hand verschwand von seinem Unterarm.

»Auf einer menschlich-professionellen Ebene, meine ich

»Das freut mich«, sagte sie kühl. »Ich habe dir deine Waffenmagazine mitgebracht, sind heute mit der Post gekommen. Verlange jetzt bitte nicht von mir, dir diesen Rambo-Mist vorzulesen, mein Bruder ist sicher der Richtige für diesen Job

Sie legte ihm die Hefte auf die Bettdecke. Rünz strich zärtlich mit den Fingerspitzen über das Titelblatt des Deutschen Waffenjournals, als könnte er die Konturen der abgebildeten Walther SSP an der Oberflächenbeschaffenheit der Druckfarbe ertasten.

»Danke«, hauchte er. »Und – wie geht’s dir so

»Wie bitte? Du fragst mich, wie es mir geht? Welche Drogen geben die dir hier? Schalt besser einen Gang zurück, ich könnte denken, du magst mich

»So war das nicht gemeint. Ich muss einfach wissen, ob du fit genug bist, um mich in den nächsten Jahrzehnten zu versorgen, wenn ich nicht mehr auf die Beine komme

»Da mach dir keine Hoffnungen auf Vollpension, wenn die dich hier nicht auf die Beine kriegen, ich schaffe das zu Hause ganz sicher

Rünz hörte, wie sie aufstand und sich den Mantel anzog.

»Ich muss los, habe heute meinen Pilatesabend

»Ah, die Warmduschergymnastik. Sind meine beiden Freunde auch noch dabei? Warum lädst du sie nicht mal wieder zum Essen ein

»Deine Freunde? Nach deinem Auftritt neulich? Gott, ich will nicht wissen, wie du mit deinen Feinden umgehst

»So nachtragend? Schade, ich hätte mich an die beiden gewöhnen können

»Mach dir nichts draus, du hast ja einen, der auf deiner Wellenlänge sendet. Klaus wird dich heute noch besuchen

 

Rünz döste sofort wieder ein, nachdem seine Frau gegangen war. Als er das nächste Mal aufwachte, war ein instinktiver Angstreflex die Ursache, die basale Nervenreaktion eines Primaten auf die unmittelbare Nähe eines gefährlichen Räubers. Er hatte das Zeitgefühl verloren; seit dem Besuch seiner Frau konnten Minuten oder Stunden vergangen sein. Durch seine Augenverbände nahm er einen blassen Lichtschein wahr, er drehte mehrmals den Kopf, um herauszufinden, ob Tageslicht oder die Neonröhren an der Zimmerdecke den Raum erhellten.

Sein Schwager Klaus Brecker knarzte mit seinen 110 Kilo Lebendgewicht auf dem Besucherstuhl herum. Rosenduft und Lavendel waren Pitralon Classic Aftershave gewichen.

»Klaus?«

»Jep«, knurrte Brecker und verschränkte die Arme vor der Heldenbrust. Rünz gähnte und versuchte, seine Gedanken zu sortieren.

»Was ist mit den Leuten aus meinem Team, Wedel und Bunter? Keiner lässt sich hier blicken

»Danke, freue mich auch, dich zu sehen. Die Ärzte haben dich abgeschottet, Besuch nur von der Familie. Und bevor du jetzt anfängst …«

»Wie stehen die Ermittlungen, wen hat Hoven als Vertreter für mich eingesetzt? Haben sie den Schützen? Ist der Dicke identifiziert? Ihr müsst oben in diesem Hochbunker …«

»Das wäre ja mal ganz was Neues – die Superhirne von der Ermittlungsgruppe Darmstadt City informieren ein Streifenhörnchen vom zweiten Revier über ihre Ermittlungsergebnisse. Du bist wirklich auf den Kopf gefallen. War ganz schön was los im Präsidium. Presse, LKA, BKA, öfter mal Besuch von der französischen Staatspolizei. Aber eigentlich darf ich dir gar nichts erzählen

Brecker beugte sich vor zum Krankenbett.

»Sag mal, wie sieht’s denn hier so aus mit dem weiblichen Personal? Hast dir doch sicher schon ausgiebig die Prostata abtasten lassen

Er ließ sich wieder in den Stuhl fallen und klatschte seine Pratze auf den Oberschenkel.

»Ach, ich vergaß, die Augenbinde! So ein Jammer. Obwohl – manchmal vielleicht besser so, wenn man gar nicht sieht, wer einen da gerade beglückt! Übrigens – im Präsidium steht so ein Karton auf dem Flur, mit deinen privaten Sachen. Dachte, das würde dich vielleicht interessieren

Rünz war nicht in Scherzlaune.

»Hör zu, Klaus. Ich gebe dir den Schlüssel von meinem Waffenschrank mit. Bring mir morgen meine Ruger mit der gesamten Pflegeserie vorbei. Mit meinem Baby kann ich mich auch blind beschäftigen. Ich drehe hier am Rad ohne Ablenkung, mein letzter Zimmernachbar hat acht Stunden täglich ›Neun Live‹ geguckt

»Ist doch genau dein Niveau mit dem Hirnschaden. Tu nicht so, als hättest du dir zu Hause immer Themenabende bei Arte und Phönix reingezogen. Soll ich dir noch einen Schalldämpfer besorgen? Du könntest hier unten in der Kühlkammer an den Abgängen etwas trainieren, damit du in Form bleibst. Wann lassen die dich eigentlich hier wieder raus

»Die haben alles in mich reingesteckt und mich in alles reingesteckt, was man zu Untersuchungszwecken benutzen kann. Morgen nehmen die mir die verdammte Augenbinde ab, und ich habe einen Termin mit dem Stationsarzt, denke, ich bin dann so weit in Ordnung und kann spätestens übermorgen wieder nach Hause. Wenn nichts dazwischenkommt …«

 

 

* * *

 

 

»Mit Ihren Verletzungen ist so weit alles in Ordnung

Der Arzt mochte vielleicht Mitte 30 sein, er saß auf einem kleinen Drehschemel und wirkte entspannt und ausgeruht. Vielleicht hatte er seinen Dienst gerade erst angetreten, womöglich wirkte er auch so zufrieden, weil ihn die Reformen und Tarifverhandlungen der letzten Jahre von der Last der Überstunden und Doppelschichten befreit hatten. Er hatte einen deprimierend durchtrainierten Körper, blonde Locken und eine klassisch ebenmäßige Physiognomie, ganz so, als wäre Agasias’ Borghesischer Fechter eben mal vom Marmorpodest gestiegen, hätte seinen Degen gegen ein Stethoskop getauscht und mit einem weißen Kittel den Louvre verlassen. Die natürliche Arroganz attraktiver junger Menschen war ihm eigen – wahrscheinlich bewunderte er morgens beim Rasieren seine Schönheit und probte markante Gesichtsausdrücke, vielleicht nahm er einen zweiten Spiegel zur Hilfe, um sein Profil zu begutachten. Und in zehn Jahren würde er in Baden-Baden ein kleines Frischzellensanatorium für solvente Senioren eröffnen. Ganz sicher verursachte er einigen Aufruhr und Zickereien unter dem weiblichen Pflegepersonal im Darmstädter Klinikum.

Der Mediziner hatte die Betonung auf ›Verletzungen‹ gelegt, so klang es wie die Einleitung eines Vortrages, der ein paar unangenehme Überraschungen bereithielt.

»Sie hatten durch ihren Sturz bedingt eine Gehirnprellung, ein Schädel-Hirn-Trauma zweiten Grades. Ihre retrograde Amnesie beschränkt sich auf ein oder zwei Stunden, Sie haben keine neurologischen Ausfälle mehr. Können Sie mir Ihren gestrigen Tagesablauf schildern

Rünz beantwortete die Frage routiniert, ohne sich exakt zu erinnern. Der Vortag war sicher nicht anders verlaufen als die restlichen Tage seines Klinikaufenthaltes.

»Ihre Prognose ist gut, Spätfolgen des Traumas sind unwahrscheinlich. Sie sollten sich in den nächsten zwei bis drei Monaten noch Ruhe gönnen, Stress und Lärm vermeiden, möglichst kein Fernsehen, kein Alkohol

Rünz runzelte die Stirn. Wenn es irgendein probates Mittel gab, sich Ruhe zu gönnen, dann war es ein Kombinationspräparat aus einem Nachmittag auf dem Schießstand, einer Doppelfolge ›Walker, Texas Ranger‹ und einigen Flaschen Pfungstädter Schwarzbier.

»Was Ihre Hornhautverletzungen angeht, da haben Sie insgesamt ziemliches Glück gehabt. Die meisten der Perforationen sind weniger als einen Millimeter groß, das Gewebe wird an diesen Stellen aufquellen und mit der Zeit von selbst heilen. Die wenigen tieferen Wunden haben wir chirurgisch versorgt. Halten Sie unbedingt die Medikamentierung mit den Antibiotika streng ein, eine Endophthalmitis kann Sie Ihr Augenlicht kosten! Na ja, der Rest sind Prellungen und Schürfwunden, nichts Gravierendes

Einige Sekunden herrschte Schweigen zwischen Arzt und Patient.

»Aber, fragte Rünz. »Sie sagten am Anfang, dass mit meinen Verletzungen so weit alles in Ordnung ist

»Richtig. Wir haben in den letzten Tagen ein ziemlich umfassendes Untersuchungsprogramm mit Ihnen gefahren, ist Ihnen wohl nicht entgangen

»Jesus, ich dachte, Sie hätten mich nur als Dummy benutzt, um Ihre Geräte zu testen

»Wir haben in Ihrem Gehirn eine Anomalie gefunden, im äußeren Bereich Ihres Großhirns. Im Frontallappen, um genau zu sein.«

Der Adonis rotierte auf seinem Hocker, nahm eine Aufnahme aus einer Mappe auf seinem Schreibtisch und wandte sich wieder Rünz zu. Das Bild zeigte den Vertikalschnitt eines menschlichen Kopfes, und unter den gegebenen Umständen musste Rünz davon ausgehen, dass es sein eigener war. Er studierte fasziniert die graue Masse unter der Schädelkalotte – hier lag sie vor ihm, die Hardware seiner Seele, ein paar Milliarden synaptischer Schaltkreise, in denen alles gespeichert und abrufbar war, von seiner Aversion gegen Nordic Walker über seine neurotische Angst vor dem Erbrechen bis zu der tiefen Befriedigung, die er spürte, wenn er sich mit seinen Waffen beschäftigte. Rünz hatte sich in 25 Berufsjahren intensiv mit rechtsmedizinischen Fragestellungen auseinandergesetzt, er konnte die Anomalie, die der Mediziner meinte, sofort identifizieren. Zwischen Stammhirn und vorderer Begrenzung des Stirnbeins leuchtete ein haselnussgroßer heller Fleck, der sich klar von der homogenen grauen Masse seines Großhirns abhob und vom umgebenden Gewebe scharf abgrenzte.

»Sie meinen das Ding hier

Rünz legte den Finger auf den Fleck.

»CT, MRT, Angiografie – alles deutet auf ein Astrozytom hin, eine Form von Geschwulst, die aus den Stützzellen des zentralen Nervensystems entsteht. Eine der häufigsten raumgreifenden Gewebeveränderungen des Gehirns – im mittleren Lebensalter.«

Immerhin, er hatte nicht von der zweiten Lebenshälfte gesprochen. Der junge Held schien irgendwie um den Begriff ›Tumor‹ herumzuschiffen. Rünz hatte als Patient jetzt eigentlich die Gretchenfrage nach der Bösartigkeit zu stellen, aber ihn beschäftigte etwas anderes. Er fühlte sich gekränkt. Der Stationsarzt war mindestens zehn Jahre jünger als er. Die Diagnose einer vielleicht letalen Erkrankung hätte er sich lieber von einem erfahrenen Chefarzt mitteilen lassen, mit alters- und standesgemäßem Pathos und Schwere in der Stimme.

»Hatten Sie, von Ihrem Sturz mal abgesehen, in den letzten ein bis zwei Jahren vermehrt Konzentrationsstörungen? Fühlten Sie sich schlapp und antriebsschwach? Leiden Sie unter Krämpfen und epileptischen Anfällen? Beschweren sich Ihre Frau, Freunde oder Kollegen über ihr zunehmend unsoziales Verhalten

Rünz verneinte, wider besseres Wissen, was die letzte Frage anging. Wenn solche Vorwürfe seiner Frau ein zuverlässiges Indiz für unheilbare Krankheiten waren, dann stand es schlecht um ihn.

»Sie sind Polizist, entnehme ich Ihren Unterlagen. Waren Sie jemals in Ihrem Leben über einen längeren Zeitraum petrochemischen Substanzen ausgesetzt, Kraftstoffen, Heizölen, Chemikalien, was auch immer

»Na ja, Mitte der 80er, da habe ich mal vollgetankt, unten an der ARAL-Tankstelle in der Rheinstraße. Damals war der Sprit noch billig, wissen Sie …«

Rünz konnte es nicht lassen. Wenn es ernst wurde, fing er an, Faxen zu machen, als könnte er die existenzielle Tragweite der Situation ins Lächerliche transformieren. Der Beau ignorierte seine Witze.

»Jetzt sagen Sie schon, wie gefährlich ist das Ding

»Das kann ich Ihnen auf Basis der vorliegenden Untersuchungsergebnisse nicht sagen. Jedenfalls handelt es sich hier höchstwahrscheinlich nicht um eine Metastase eines Primärtumors, der irgendwo in Ihrem Körper schlummert, und gestreut hat die Geschwulst auch nicht. Es gibt ein breites Spektrum bei dieser Form der Gliome, niedrig-maligne, selten aber auch solche, die bösartige Neubildungen hervorrufen. Meist werden Gewebeveränderungen wie diese nur durch Zufallsbefunde diagnostiziert, wie in Ihrem Fall. Ohne Ihren Unfall hätte Sie zeitlebens wahrscheinlich kein Arzt mit diesem Befund konfrontieren müssen. Wenn Sie sichergehen wollen, empfehle ich Ihnen eine feingewebliche Untersuchung. Eine Biopsie.«

Der Kommissar zuckte zusammen. Die Vorstellung einer Kanüle, die in seinen Schädel eindringt, verursachte ihm Schweißausbrüche. Der Arzt schien seine Reaktion zu registrieren.

»Das ist weniger brisant, als Sie vielleicht denken. Alles passiert unter Vollnarkose, eine bildgestützte stereotaktische Gewebeentnahme. Die Komplikationsrate liegt bei unter zwei Prozent, und nach drei Tagen haben wir ein belastbares Ergebnis. Lassen Sie uns direkt einen Termin ausmachen

Zwei Prozent klangen eigentlich beruhigend, andererseits lief dann bei jedem 50. Patienten etwas schief. Rünz verkniff sich die Frage, wie viele Patienten sie in den letzten Monaten komplikationsfrei biopsiert hatten. Er schaute aus dem Fenster des Untersuchungszimmers auf die Autokolonnen in der Bismarckstraße und beschloss, das zu tun, was er am besten konnte – die ganze Sache erst mal zu ignorieren. Durch Aussitzen hatte er schon viele Probleme gelöst.

»Haben Sie mit meiner Frau über die Diagnose gesprochen

»Dafür bestand bislang kein Anlass, Sie sind bei Bewusstsein und voll zurechnungsfähig. Aber wenn Sie möchten …«

»Nein, nein, ich mache das. Und wenn ich diese Biopsie nicht machen lasse? Wie stünden dann meine Chancen

»Die Wahrscheinlichkeit für eine maligne Geschwulst liegt bei rund zehn Prozent. In den nächsten Tagen nehmen wir hier unten im Haus einen Computertomografen der neuesten Generation in Betrieb. Wenn Sie die Gewebeentnahme ablehnen, vereinbaren Sie möglichst bald einen Termin für eine CT. Wir machen eine Präzisionsvermessung des Knotens, das Gleiche in drei Monaten noch mal. Mit einem engmaschigen Monitoring können wir das Wachstum kontrollieren

Rünz schaute ein paar Sekunden betroffen aus dem Fenster. Der Mediziner machte keine weiteren Versuche, ihn zu einer Gewebeprobe zu überreden. Rünz war fast ein wenig enttäuscht, er vermisste bei dem jungen Schönling den aufopferungsvollen Gestus, mit dem Ärzte in Krankenhaus-Soaps beratungsresistenten Patienten ihre Therapievorschläge andienten.

»Was kann ich sonst noch tun, fragte Rünz.

»Für Ihre Gesundheit? Das, was wir alle tun sollten. Ernähren Sie sich gesund, bewegen Sie sich. Ihr Leistungsvermögen könnte etwas besser sein für Ihr Alter, fangen Sie mit Sport an. Etwas Schonendes für den Anfang – wie wär’s mit Nordic Walking

Nordic Walking. Warum nicht gleich Pilates? Der Beau wirkte unruhig, als wäre er in Gedanken schon bei seinem nächsten Termin. Sie verließen gemeinsam das Untersuchungszimmer und verabschiedeten sich. Am Ende des Flurs blieb Rünz stehen und drehte sich um, der blonde Engel stand vor dem Stationszimmer und flirtete mit einer Krankenschwester. Zwei junge, vitale, attraktive und gesunde Menschen – Wesen aus einer anderen Welt.

 

 

* * *

 

 

Eigentlich war es eine glänzende Idee, nach einer längeren Auszeit den Arbeitsplatz an einem Freitag wieder aufzusuchen. Man schaffte sich einen lockeren Übergang und hatte nicht die deprimierende Aussicht auf eine ganze Arbeitswoche.

Vor dem Eingang des Präsidiums stand ein fabrikneuer Citroën C6 mit französischem Kennzeichen und den Endziffern 10 des Départements Aube. Rünz blieb einen Moment stehen und genoss das mutige Stück Industriedesign, eine erstarrte schwarze Ozeanwelle kurz vor der Brandung, die zeitgemäße stilistische Referenz an eine Stilikone der 60er-Jahre, den alten DS. In welchem Département lag eigentlich Troyes? Rünz wurde unruhig, vielleicht hätte er seine vorzeitige Rückkehr zum Dienst doch telefonisch ankündigen sollen.

Der Fahrer kam ihm im Foyer des Präsidiums entgegen, ein wendiger und temperamentvoller kleiner Mittsechziger, der mit finster entschlossenem Gesichtsausdruck dem Ausgang zustrebte. Das dünne, schüttere und schneeweiße Haar stand  in allen Richtungen vom Kopf ab, als hätte er sich elektrisch aufgeladen. Rünz hatte ihn nie zuvor gesehen, aber alles kam ihm bekannt vor – der starke Vorbiss, die quirlige Art, wie er sich bewegte. Charlis Vater, er hatte keine Zweifel. Der Alte hatte seiner Tochter einiges an genetischer Ausstattung mit auf den kurzen Lebensweg gegeben. Sollte Rünz sich ihm zu erkennen geben? Er zögerte zu lange, der Franzose war schnell aus dem Gebäude und in seinem Auto. Das hydraktive Fahrwerk lupfte die Karosse an, und er verließ den Parkplatz Richtung Stadtmitte.

Rünz ging weiter zu seinem Büro. Aus dem Besprechungsraum seiner Abteilung hörte er Stimmen, die Tür stand offen, er blieb am Eingang stehen. Bunter und Wedel registrierten ihn nicht, die Rücken ihm zugewandt standen sie am Tisch vor ihren Unterlagen und einigen Folienbeuteln mit Beweismaterial und diskutierten. Er lauschte dem Gespräch einen Moment, ohne auf sich aufmerksam zu machen. Bunter hatte die Rolle des Ermittlungsleiters übernommen, keine Überraschung, der Westfale war schließlich Rünz’ offizieller Stellvertreter. Aber die Verve, mit der sich der sonst eher phlegmatische Westfale in die übernommene Aufgabe geworfen hatte, wirkte doch unheimlich. Er trug einen Anzug, gut, nicht gerade ein aktuelles Modell, aber ein Quantensprung im Vergleich zu dem Birkenstock-Look, in dem er jahrelang herumgeschlurft war. Sein Bauch wirkte etwas flacher, und der Vollbart war auf ein durchaus businesskompatibles Maß zurechtgestutzt. Hier nutzte ein Mann seine Chance. Wedel demonstrierte penetrante Jugendlichkeit, er trug Sneakers und eine goldfarbene gesteppte Daunenjacke aus der aktuellen Winterkollektion irgendeiner Jugendmarke, mit der er gegen akute Heizungsausfälle gewappnet war, dazu gegelte Naturlocken. Er hörte Bunter konzentriert zu und nickte ab und an bestätigend mit dem Kopf. Die beiden schienen blendend zusammenzuarbeiten.

Drei Worte nur, ein kurzer Satz, unendlich oft wiederholt, jedes Mal etwas lauter, wie bei einer albernen Ausstellungsperformance, eine akustische Installation, die irgendein Kunststudent mitten in Rünz’ krankem Kopf veranstaltete  – JEDER IST ERSETZBAR.

Die zwei drehten sich um und starrten ihn an. Er hatte den Satz laut und deutlich ausgesprochen, wie ein Kind, dem noch das Über-Ich als zensierende Instanz fehlte. Keiner sagte ein Wort, eine indifferente Situation. Der alte Wolf war zurückgekehrt – würde er mit seinem Nachfolger um den Rang des Alphatieres rivalisieren?

»Wir haben Sie erst am Montag erwartet. Wie geht es Ihnen, fragte Bunter.

»Schon gut, bin heute nur Gasthörer«, klärte Rünz die Lage. »Ab nächste Woche wieder offiziell im Dienst. Da unten am Eingang – Charlis Vater, richtig? Haben Sie mit ihm gesprochen

»Hoven hat ihn eingeladen, als Wiedergutmachung sozusagen«, antwortete Bunter. »Er war Dauergast bei uns, es gab einigen Ärger, weil sich die Überführung von Charlis Leiche verzögerte. Die Staatsanwältin hat natürlich eine Obduktion angeordnet. Bartmann hatte in Frankfurt seine Kühlfächer voll und musste erst mal andere Fälle abarbeiten, bevor er sich um Charli kümmern konnte. Ihr Vater ist hier im Dreieck gesprungen, er musste über zwei Wochen warten, bis er seine Tochter rückführen und beerdigen konnte

»Die Beisetzung – war von euch jemand dabei

Bunter nestelte nervös am Revers seines C&A-Sakkos.

»Ich bin mit Hoven rübergefahren. War keine angenehme Sache, sie hatte eine große Familie, viele kleine Nichten und Neffen, die mit den Nerven völlig fertig waren

Bunter war mit Hoven rübergefahren. Ein trauriger Anlass, aber eine gute Gelegenheit, mit Hoven ins Gespräch zu kommen. Rünz trat ein paar Schritte vor und überblickte die Fotos, Skizzen und Notizen, die auf dem Tisch ausgebreitet lagen.

»Wo ist Meyer

»Feiert Resturlaub ab«, sagte Bunter. »Hat sich im Urlaub krankgemeldet, Knöchel verstaucht oder so

»Hat der sich schon mal in einem Urlaub nicht krankgemeldet

Rünz musste sich zusammenreißen. In Gegenwart von Untergebenen über Mitarbeiter herzuziehen, zeugte nicht von Führungsqualität. Er wechselte das Thema.

»Warum hält mich keiner auf dem Laufenden? Und an meiner Aussage hatte wohl auch keiner Interesse. Seit drei Wochen studiere ich das deutsche Gesundheitssystem von innen, ich könnte bei Maischberger als Experte anheuern

»Wir haben versucht, mit Ihnen zu sprechen, aber Ihre Ärzte …«

»Ja, ja, die Schutzhaft, schon gut. Wo ist die ganze Entourage – BKA, LKA, Interpol –, eine Kollegin ist ermordet worden

Bunter zog ratlos die Schultern hoch.

»Wir können uns das auch nicht erklären. In den ersten 14 Tagen nach den Morden hatten wir hier einen richtigen Hofstaat, die Leute haben sich gegenseitig Hühneraugen getreten. Wir hatten hier eigens für den Fall eine Einsatzzentrale improvisiert mit den besten Leuten, Rheinland-Pfalz und Bayern haben mit Spezialisten Amtshilfe geleistet, Geld schien keine Rolle zu spielen. Tagelang stand uns ein Expertenteam aus Nanterre auf den Füßen, SCTIP der Police Nationale, der Dienst für internationale technische Zusammenarbeit. Die wollten sich hier voll einbringen bei den Ermittlungen. Und dann, nach zwei Wochen, kommen wir Montagmorgen hierher – und alle sind weg. Die Staatsanwältin druckste herum, und Hoven sagte, das ginge schon in Ordnung, wir hätten bundesweit akute Terrorwarnungen, die Leute müssten sich erst mal darum kümmern. Seitdem köcheln wir hier wieder allein

»Wir hatten hier einen richtig schönen internationalen Presseauflauf in den ersten Tagen«, sagte Wedel. »Eine französische Polizistin, die in Deutschland ermordet wird – hat ganz schön Staub aufgewirbelt bei unseren Nachbarn. ›Le Monde‹ hatte uns mit einem Einspalter auf der Titelseite, der ›Figaro‹ auf Seite zwei, von der deutschen Presse mal ganz abgesehen

Er stand breitbeinig da in seiner Goldjacke und den Schlabberjeans und gestikulierte beim Reden im Stil afroamerikanischer Rapper. Erwachsen zu werden war keine leichte Aufgabe.

»Sie können sich vorstellen, was hier los war. Hat einiges an Energie gekostet, uns die Medienmeute vom Hals zu halten, aber Hoven hat sich da voll eingebracht

Bunter grinste schelmisch, und Rünz konnte sich lebhaft vorstellen, mit welcher Begeisterung sich sein Vorgesetzter vor die Objektive gestürzt hatte.

»Wie weit seid ihr, fragte Rünz.

»Woran können Sie sich noch erinnern, fragte Bunter.

»Mir fehlen die letzten zwei oder drei Stunden vor dem Sturz

»Gut. Wir hatten um 9.25 Uhr einen Anruf per Handy in der Notrufzentrale. Klang ziemlich undeutlich, wie ein Besoffener, die Stimme kaum verständlich, danach ein paar Worte mit russischem Akzent, dann war die Verbindung weg. Das Ganze klang nicht dramatisch, keine Anzeichen unmittelbarer Gefahr, eher so, als hätte jemand versehentlich den Notruf seines Handys aktiviert. Wir haben die Signalquelle mit dem IMSI-Catcher auf dem Knell-Gelände geortet. Die Stadt war ziemlich dicht, ein Schwertransport mit einem Stahlteil für das neue Kongresszentrum hatte sich in der Pallaswiesenstraße verkeilt. Wir oder die Kollegen vom ersten Revier unten im Schloss hätten ziemlich lange gebraucht, deswegen haben wir erst mal gecheckt, ob zufällig jemand in der Nähe ist. Um 9.30 Uhr haben wir Ihr Auto in der Otto-Röhm-Straße lokalisiert und Sie angefunkt, Sie haben zugesagt, mal nachzusehen. Wir haben eine Baumarktquittung und ein paar Regalbretter in Ihrem Dienstwagen am Sensfelder Weg gefunden. Vermute, Sie waren beim Männershopping im Baumarkt

Rünz überlegte krampfhaft, ob er irgendwelche kompromittierenden Privatsachen in seinem Wagen hatte liegen lassen, aber Bunter machte keine Anspielungen in dieser Richtung.

»Bis zehn Uhr haben wir auf eine Reaktion von Ihnen gewartet, dann hat sich Charli mit zwei Kollegen vom zweiten Revier auf den Weg gemacht. Die haben fast 20 Minuten durch die Stadt gebraucht, und just als sie den Rhönring überqueren, kommt ein Notruf rein – Wohnungsbrand im Hundertwasserhaus. Die drei disponieren um, Charli steigt am Knell-Gelände aus, die zwei von der Bereitschaft fahren weiter zum Brandort. Dort war ja schließlich unmittelbare Gefahr im Verzug, keiner wusste, ob der Block nicht evakuiert werden musste. Na ja, als wir dann um elf Uhr auf der Knell waren, um nach Ihnen und Charli zu suchen, fanden wir Sie bewusstlos mit einem ziemlich blutigen Kopf, Charli und den Dicken tot.«

»Hat er einen Namen, der Dicke

Wedel schob ihm einen Stapel mit Aufnahmen von Kleidungsstücken hin.

»Keine Papiere, Geld oder Dokumente. Melderegister, INPOL, SIS, AZR – alles negativ. In den drei Wochen seit den Morden sind bundesweit 18 Personen als vermisst gemeldet worden, kein Treffer. Familie, Nachbarn, Freundeskreis, Arbeitgeber – keiner meldet sich. Scheint nicht viele Kontakte gehabt zu haben

»Mediterraner Typ, 1,79 Meter groß, schwarze Haare, braune Augen, starkes Übergewicht«, sagte Bunter. »Sonst keine relevanten besonderen Kennzeichen, keine Tätowierungen, Piercings, Brandings, OP-Narben. Raucher, aber keine Anzeichen von Alkohol- oder Drogensucht, keine Medikamentenrückstände nachweisbar. Sein Gebiss war eine ziemlich stümperhafte Baustelle, sagt Bartmann, wahrscheinlich hat er sich in Ost- oder Südeuropa bei einem Discounter behandeln lassen

Rünz betrachtete die Aufnahmen der Kleidungsstücke des Toten. Unterwäsche, nach dem Exitus eingenässt, ein Sweatshirt mit dem Aufdruck B 612, wahrscheinlich irgendein Kürzel einer amerikanischen Basketballmannschaft, eine gesteppte Jacke, Nike-Turnschuhe und Tennissocken, die nicht nach frischer Waldluft aussahen. Die Jeans hatten fünf Einschusslöcher am rechten Bein, braun umrandet von geronnenem Blut.

»Die Levis und die Nikes sind Fakes«, sagte Wedel, und er musste es wissen. »Qualitativ hochwertige Produktpiraterie, die irgendwo in Südostasien hergestellt wird. Können Sie sich übers Internet auf der ganzen Welt kaufen. Sweatshirt und Jacke stammen aus Kollektionen, die H&M Ende der 90er in Frankreich, Australien und Deutschland verkauft hat. Den Aufdruck auf dem Sweatshirt hat allerdings irgendwer nachträglich draufgebügelt

»Wo sind die Einschusslöcher im Pulli, er ist doch nicht an den Beinschüssen gestorben

Bunter übernahm wieder.

»So wie wir das sehen, hat der – oder haben die – Täter ihn ins Bein geschossen, um ihn zu quälen, vielleicht ein Sadist, vielleicht wollten er oder sie Informationen aus dem Dicken herauskitzeln

Bunter startete Laptop und Beamer und zeigte einige Aufnahmen, die der Rechtsmediziner von der Leiche gemacht hatte. Ein gequollenes, dickes weißes Bein, feist wie eine Presswurst, auf der Rückseite des rechten Oberschenkels fünf große, radiär eingerissene Einschussplatzwunden, umgeben von Brandhöfen und großflächigen Schmauchablagerungen.

»Also, was war die Todesursache? Ist er an den Beinwunden hier verblutet

»Thrombenembolie. Wahrscheinlich waren die Schussverletzungen nur der Auslöser, nicht die Ursache. Ziemlich unglückliche Rahmenbedingungen – Adipositas, Bewegungsmangel, außerdem hatte er Typ-II-Diabetes, wahrscheinlich noch symptomfrei und zu Lebzeiten nicht diagnostiziert

Rünz schnappte nach Luft bei der Vorstellung, der Täter hätte ihm nach seinem Sturz die gleiche Behandlung zukommen lassen. Er war nicht mehr sicher, ob er sich wirklich wieder an alles erinnern wollte, was er auf dem Knell-Gelände erlebt hatte.

Wedel stellte sich mit einem Edding an das Flipchart, skizzierte den Umriss des Geländes, die Stelle am Sensfelder Weg, an der Rünz geparkt hatte, den runden Hochbunker, den Stapel alter Eisenbahnschwellen, hinter dem die Spurensicherung einige Blutstropfen mit Rünz’ DNA gefunden hatte, die Orte, an denen Charli und der Dicke gefunden worden waren, den Punkt, an dem er bewusstlos gelegen hatte. Bunter führte ihm mit dem Beamer synchron Fotos des Tatortes vor. Beide schauten ihn erwartungsvoll an, sie schienen zu hoffen, seinem Gedächtnis mit ihren Informationen auf die Sprünge helfen zu können. Aber Rünz erschien das Szenario völlig fremd, es hätte auf einem anderen Stern spielen können.

»Sie haben mit Ihrer Smith & Wesson vier Schüsse abgegeben, drei der Projektile haben wir am Sockel des Hochbunkers gefunden. Charli hat es von hinten erwischt, aus Richtung des Bunkers, sie hat keinen einzigen Schuss abgegeben. Wir haben weitere Projektile aus der Tatwaffe in den Eisenbahnschwellen gefunden, außerdem Einschlagspuren rechts und links davon. Sieht so aus, als hätten Sie dort Deckung gesucht

Rünz trat zum Flipchart, nahm Wedel den Edding aus der Hand und zog eine Linie vom Hochbunker bis zum Schwellenstapel. Charli lag exakt auf der Mitte der Geraden, er selbst auf halbem Wege zwischen ihr und seiner Deckung. Er atmete erleichtert auf, Bunter schien seine Gedanken zu ahnen.

»Ihrer Lage auf dem Boden nach zu urteilen sind Sie auf Charli zugerannt und dabei über eine alte Eisenbahnschiene gestolpert«, sagte er. »Sieht so aus, als wollten Sie ihr helfen. Sie müssen den Täter bei seiner Beschäftigung mit dem Dicken gestört haben, er hat sich wohl erst seitwärts in die Büsche geschlagen, als er Sie kommen sah, ist dann zurück Richtung Ausgang und in den Hochbunker. Wahrscheinlich haben Sie ihn nicht verfolgt, sondern sich erst mal um den Dicken gekümmert. Vom Bunker aus konnte er Sie dann bequem in der Deckung festnageln – bis Charli kam

»Hmm, aufgesetzte Schüsse. Und riesige Stanzmarken«, murmelte Rünz, über die Aufnahmen des Frankfurter Rechtsmediziners gebeugt.

»Ein Schalldämpfer. Oder haben Sie eine bessere Idee, Chef

Wedel schien langsam wieder zur gewohnten hierarchischen Ordnung zurückzukehren.

»Die fünf Beinwunden sind Durchschüsse«, sagte er. »Wir konnten die Projektile im Erdreich sicherstellen. Im freien Gelände hat er seine ausgeworfenen Patronenhülsen eingesammelt. Oben im Hochbunker hat er das wohl auch versucht, Pech für ihn, dass da oben durch die kleinen Sehschlitze kaum Licht reinfällt. Wir konnten zusätzlich zwei Hülsen sicherstellen

Er reichte seinem Vorgesetzten ein Tütchen mit den Munitionsüberresten. Rünz ging zum Fenster und begutachtete die Beweisstücke im Licht der Wintersonne.

»Da haben wir ja einen richtigen Klassiker, 7,62 x 54 Millimeter rimmed

»Das Kaliber gehört immer noch zur Standardausrüstung der Armeen in Russland und Osteuropa«, sagte Wedel. »Die Experten vom KTI faxen uns noch eine Liste der Waffen, die mit dieser Munition …«

»Darauf braucht ihr nicht zu warten«, unterbrach Rünz. »Die russische Mosin-Nagant, Standardwaffe der sowjetischen Infanterie bis in die 50er-Jahre. Außerdem die MG Degtjarow DA, ein Maschinengewehr, hat die Luftwaffe in ihren Tupolewbombern eingesetzt. Dann hätten wir noch die Tokarew SVT-40, die Scharfschützenwaffe der Rotarmisten im Zweiten Weltkrieg

Rünz erlebte einen der raren Glücksmomente, wenn Hobby und Beruf zu einer Passion verschmolzen.

»Aber mit keiner dieser alten Gurken hätte der Schütze eine solche Präzision erreicht. Er hat mit der Dragunov geschossen, einer Weiterentwicklung des AK 47. Wahrscheinlicher noch mit dem Nachfolgemodell, der SVD

Rünz nahm das Messingröhrchen aus der Tüte und versuchte, die Prägung auf dem Hülsenboden zu entziffern. Seit den Verletzungen an seiner Hornhaut funktionierte die Akkommodation seiner Augenlinsen nicht mehr richtig, er musste die Munition wie ein Weitsichtiger am ausgestreckten Arm auf Entfernung halten.

»Sellier & Bellot, tschechischer Hersteller. Da ist keine Chargennummer drauf, erinnert die Jungs vom KTI dran nachzuforschen, an wen die Tschechen Munition ohne Seriennummer verkaufen. Ist Charli mit der gleichen Waffe erschossen worden

Beide nickten.

»Da ist noch was«, sagte Wedel. »Wir haben das Handy gefunden, mit dem der Dicke den Notruf abgesetzt hat. Ziemlich ramponiert, sieht aus, als hätte jemand drauf rumgetreten

»Hmm, der Täter nimmt ihm alles weg, Geld, Papiere, Brieftasche, und lässt das Handy liegen«, murmelte Rünz.

»Oder der Tote hatte nichts mitgenommen außer seinem Handy«, sagte Bunter.

»Was ist mit der Seriennummer und der SIM-Karte? Wisst ihr, wo das Gerät gekauft wurde? Habt ihr gespeicherte Telefonnummern, SMS, Verbindungsdaten, Gesprächsaufzeichnungen des Netzbetreibers

»Das ist kein marktübliches Gerät«, antwortete Bunter. »Der Dicke muss ein ziemlicher Geheimniskrämer gewesen sein. Ein Kryptohandy von Pfeiffer & Weiss auf der Basis eines alten Siemens S35i. Das Ding nutzt den transparenten GSM-Kanal zur Verschlüsselung, Gesprächsaufzeichnungen sind da nicht zu erwarten. Pfeiffer & Weiss haben das Ding 2001 an einen italienischen Geschäftsmann verkauft, der in Noordwijk in den Niederlanden lebt. Unsere holländischen Kollegen haben sich mit dem Mann unterhalten. Er hat glaubhaft beteuert, das Handy vor drei Jahren gegen Bargeld an einen ihm unbekannten Landsmann verkauft zu haben, ein schnelles Straßengeschäft

»Hat der Mann ein Foto vom Toten gesehen

»Ja. Er sagt, von der Figur her könnte das passen, aber er könnte sich nicht mehr genau erinnern, hat sich ja nur ein oder zwei Minuten mit ihm unterhalten. Prozessor und Speicher der SIM-Karte sind völlig zerstört, wir konnten keine Daten mehr auslesen. Die Techniker haben erst gestern den Identifikator wieder lesbar machen können. Ist eine Prepaidkarte

»Wo ist das Problem, beim Kauf dieser Dinger werden doch die Personalien registriert

»Ist auch so. Diese hier hat eine MobiConnect-Filiale in Schwabing an einen Münchner Studenten verkauft, der hat das erste Guthaben halb abtelefoniert und die Karte dann über eBay versteigert. Ist nichts Besonderes, die werden zu Tausenden im Web angeboten. Der ideale Weg, um anonym zu telefonieren, wenn man eine ersteigert und immer wieder auflädt. Der Studi kann sich natürlich nicht mehr dran erinnern, an welchen Bieter er sie geschickt hat, aber wir haben bei eBay eine Anfrage laufen, der Käufer muss da mit Adresse registriert sein. MobiConnect wird uns morgen die Verbindungsdaten der Prepaidkarte schicken

Rünz torkelte vom Fenster ein paar Meter durch den Raum auf den Tisch zu, Wedel drehte einen Stuhl um und bot ihm wie einem Invaliden einen Platz an. Die Liegezeit im Krankenhaus hatte seiner ohnehin unterdurchschnittlichen Konstitution einen nachhaltigen Schlag versetzt. Wenn er sich nicht bald erholte, würde er in nicht allzu ferner Zukunft dem Rat des Arztes folgen und Sport treiben müssen – eine entwürdigende Perspektive. Er versuchte, von seinem kleinen Schwächeanfall abzulenken.

»Wie ist der Dicke auf die Knell gekommen? Auto, zu Fuß, mit dem Fahrrad oder öffentlichen Verkehrsmitteln?«

»Wir sind alle Varianten durchgegangen«, sagte Wedel. »Seiner Statur nach zu urteilen hat der sich nicht einen Meter freiwillig bewegt, wenn es nicht unbedingt notwendig war. Welche Möglichkeiten hatte er? Variante A – er wohnte in der Nähe. Wir haben ein Mailing an alle Haushalte in einem halben Kilometer Umkreis geschickt, mit Foto und Personenbeschreibung. Außerdem Aushänge in den Treppenhäusern. Morgen erscheint eine Meldung in der ›Allgemeinen‹. Variante B – er ist selbst mit einem Fahrzeug gekommen, Fahrrad, Auto, Roller, was auch immer. Wie haben die Halter aller gemeldeten Fahrzeuge gecheckt, die seit den Morden rund um die Knell stehen und nicht bewegt wurden – negativ. Acht Fahrzeuge standen zum Tatzeitpunkt in Halteverbotszonen an der Frankfurter und der Kasinostraße und wurden am gleichen Tag oder in den Tagen danach abgeschleppt – negativ. Drei fahruntüchtige, alte Fahrräder lagen auf der Knell herum, das ist die ganze Ausbeute

»Vielleicht ist er zusammen mit dem Täter gefahren«, sagte Rünz.

»Richtig«, sagte Bunter, »das ist Variante C. Und der Täter ist möglicherweise mit dem Fahrzeug des Toten geflohen. Oder, Variante D, öffentliche Verkehrsmittel.«

Wedel rollte einen Netzplan der Darmstädter Verkehrsbetriebe auf dem Tisch aus und beschwerte die Ecken mit Kaffeetassen. Die beiden spielten sich gegenseitig die Bälle zu und boten eine perfekte Vorstellung.

»Die Straßenbahnlinien 4, 5, 6, 7 und 8 fahren über die Frankfurter nach Norden Richtung Arheilgen, direkt an der Knell vorbei. 4 und 5 biegen auf Höhe des Messplatzes nach Osten Richtung Kranichstein ab. Dann sind da noch der R-Bus, der im Osten und Norden um die Knell herumfährt, und zwei Buslinien der regionalen DADINA. Wir haben mit allen Fahrerinnen und Fahrern gesprochen, die diese Linien in den letzten zwei Monaten gefahren sind. Außerdem haben wir Aushänge in den Fahrzeugen gemacht. Die freien Taxifahrer und Taxiunternehmen sind informiert. Ergebnis – null

Rünz hatte einen Erinnerungsblitz, ein Bild kurz vor der Schwelle zum Bewusstsein, quälend wie ein Traum, an den man sich direkt nach dem Aufwachen vergeblich zu erinnern versuchte. Seine Gedanken drohten abzuschweifen, er versuchte sich auf das Arbeitsgespräch zu konzentrieren.

»Und Charli?«

»Aortenbogen durchschossen«, sagte Wedel. »Sie hatte nicht den Hauch einer Chance

»Warum hat er mich nach meinem Sturz nicht auch erschossen, ich lag doch wie Wildbret auf dem Tablett

»Vielleicht war er in diesem Moment schon auf der Flucht, die Wendeltreppe im Bunker runter und raus durch den Bretterzaun

»Augenzeugen?«

Wedel stellte sich breitbeinig auf und fuhr sich mit der Hand durch die glänzende Tolle.

»Das ganze Areal wird derzeit nur von ein paar Pennern als Nachtlager und von zwei Dutzend kiffenden Skatern in Schlabberhosen genutzt, die sich in den alten Hallen ein paar Halfpipes zusammengeschraubt haben. Wir haben die ganze Bande befragt, sind nicht gerade die idealen Kooperationspartner, was polizeiliche Ermittlungen angeht, die gehen sofort in Fundamentalopposition. Und wenn diese Typen zu irgendeinem Zeitpunkt gar nichts mitbekommen, dann ist das ein Samstagvormittag

Rünz verspürte zum ersten Mal seit seinem Dienstantritt im Präsidium Südhessen vor über 20 Jahren Appetit auf das Kantinenessen, er versuchte aufzustehen. Wedel sprang ihm behände zur Seite und zog den Stuhl etwas zurück, wie ein zuvorkommender Zivi im Altersheim. So weit war es gekommen.

Auch Bunter schien die Situation unangenehm, er kramte in den Unterlagen wie auf einem Wühltisch herum und zog ein kleines Tütchen hervor.

»Ach ja, den hier haben wir noch vergessen: einen kleinen Doppelbartschlüssel, haben wir in der Coin pocket seiner Jeans gefunden. Schätze, der Mörder hatte keine Zeit, ihn richtig sorgfältig zu durchsuchen. Herstellercode und Kennnummer sind abgeschliffen, keine besonderen Sicherheitsfeatures. Die Dinger werden für leichte Tresore benutzt, Wertsachenfächer in Schwimmbädern und Hotels. Wir haben ein Foto an alle Hersteller gemailt, die infrage kommen

 

 

* * *

 

 

Zum ersten Mal seit Charlis Tod saß er wieder in der Kantine des Präsidiums. Einige Kolleginnen und Kollegen kamen an seinen Tisch, begrüßten ihn, erkundigten sich nach seinem Befinden. Er gab sich kurz angebunden mit knappen Antworten, schließlich ließen sie ihn in Ruhe. An der Wand hing ein großes Porträtfoto von Charli, darunter lehnten ein paar Kränze und verwelkende Blumen. Laut Wedel war die gesamte Belegschaft zehn Tage mit schwarzen Armbinden herumgelaufen, jetzt schien keiner mehr von der kleinen Gedenkstelle Notiz zu nehmen. In ein oder zwei Wochen würde der Hausmeister das Foto abnehmen und im Archiv einlagern, die Blumen in der Biotonne entsorgen. Charli war dann Geschichte. Er schaute ihr Foto an und spürte, wie auf dem riesigen Berg aus Schuldgefühlen, den er sein Leben lang mit sich herumtrug, ein neues Gipfelkreuz errichtet wurde. Leider war von seinem Schwager Brecker weit und breit keine Spur zu sehen, eine seiner hirnverbrannten Geschäftsideen war jetzt genau das Richtige, um Rünz auf andere Gedanken zu bringen.

Er hatte sich Kartoffelsalat und Frikadellen mit Mayonnaise auf sein Tablett geladen – Speisen, denen er sich vor seinem Krankenhausaufenthalt aus hygienischen Gründen nicht einmal genähert hätte. Vielleicht war sein Hirntumor just an der Stelle lokalisiert, die auch für seine Emetophobie verantwortlich war? Allein am Tisch sitzend kicherte er wie ein einsamer, kleiner Idiot. Die Aussicht, durch eine todbringende Erkrankung von einer Angstneurose geheilt zu werden, hatte etwas Tragikomisches. Erst als er die tadelnden Blicke von den Nebentischen bemerkte, hörte er auf zu lachen. Er erfüllte nicht die sozialen Erwartungen der Kollegen, er schämte sich nicht für das, was geschehen war, und sie schienen ihn dafür zu verachten. Jeder wusste inzwischen, wie die Sache auf dem Knell-Gelände gelaufen war, dass er vorschriftsmäßig vorgegangen war und Charli unmöglich hatte retten können, ohne sich selbst in Lebensgefahr zu bringen. Aber die Vorschriften waren nur die eine Seite der Medaille. Er hatte die eherne, ungeschriebene Regel gebrochen, er war ein Mann und hatte eine Frau im Stich gelassen. Mehr als das – er war ein Polizist. Polizisten hatten Frauen und Kinder unter Einsatz ihres Lebens zu beschützen. Wenn jemand sterben musste, dann er und nicht die Unschuldigen. Das war die einzige Vorschrift, die wirklich zählte.

Aber wie immer in solchen Situationen tröstete ihn die Vorstellung, alles sei eine Illusion, Ergebnis seiner Projektionen, sie dachten wahrscheinlich an gar nichts anderes als an die zähen Schnitzel auf ihren Tellern, mokierten sich über die Qualität des Kantinenessens und schmiedeten Pläne für die Gestaltung ihrer Schrebergärten im nächsten Frühjahr.

Er tunkte ein Stück Frikadelle in die Mayonnaise, ließ die Gabel wieder auf den Teller sinken, bevor er den ersten Bissen im Mund hatte. Die chronische Angst vor Übelkeit und Erbrechen schien sich an seinem Astrozytom vorbei wieder ins Bewusstsein zu mogeln. Er empfand die aufkommende Panik fast als beruhigend – selbst von einer Phobie konnte eine tröstende Wirkung ausgehen, wenn sie eine Konstante in unruhigen Zeiten bildete. Er schaute auf die Uhr. Sein Vorgesetzter Hoven hatte zu einer seiner Investigation Conferences geladen, und Rünz hielt es für opportun, sich wieder ins Spiel zu bringen. Er stand auf und brachte sein Tablett zum Förderband.

 

»… was ich damit sagen will, wir bewegen uns mit unserem Security Portfolio in einem hochperformanten Marktumfeld. Emerging Markets erfordern eine proaktive und hochdynamische Fokussierung der Assets auf die Nachfragesituation

Hoven war in Topform. Rünz’ Vorgesetzter lud zu seinen Conferences inzwischen im vierteljährlichen Turnus ein, nach dem Vorbild der Quartalsberichte großer Aktiengesellschaften. Er hatte sich offensichtlich mit Aufzeichnungen alter Regierungserklärungen von Gerhard Schröder für seine keynote Speech gebrieft – mit einer Hand in der Hosentasche lehnte er überaus entspannt am Rednerpult, die Hüfte lässig abgewinkelt, als sei er nur zufällig für einen kurzen Plausch über den Gartenzaun vorbeigekommen, das rechte Bein über das linke geschlagen und mit der Fußspitze auf den Boden gestellt. Den Oberkörper hatte er mit einem Ellenbogen auf die Holzplatte gestützt, mit Daumen, Zeige- und Mittelfinger der erhobenen Hand einen imaginären Diamanten im Licht drehend, der die Brillanz und Präzision seiner Analysen unterstrich.

»Damit wir uns richtig verstehen – wir stehen im Wettbewerb! Und dieser Wettbewerb fordert von uns einen Paradigmenwechsel

Gelassen ließ er die Provokation im größtenteils verbeamteten Auditorium nachwirken.

»Unsere Competitors sind gut aufgestellte Security & Safety Agencies, die aggressiv Marktnischen besetzen. Wir werden unsere Synergiepotenziale voll ausschöpfen müssen, und dazu werden wir hochintegrierte Module implementieren, die ein effizientes Knowledge Management gewährleisten

Hoven drehte den Luftdiamanten und ließ den Ärmel seines Jacketts wie unbeabsichtigt ein paar Zentimeter hochrutschen. Rünz entdeckte einen neuen Zeitgeber am Handgelenk seines Vorgesetzten. Die extravagante Luminor Sealand von Panerai war einer klassischen Vacheron Constantin gewichen, soweit das aus einigen Metern Entfernung zu erkennen war. Jeder hergelaufene Parvenü hätte sich für eine seriösere Ausstrahlung mit einer Patek Philippe zufriedengegeben, aber Hoven brauchte es grundsätzlich etwas exklusiver. Es machte alles in allem den Eindruck, als arbeitete er an einem Relaunch seines persönlichen Corporate Designs, weg von einer enervierend spätjuvenilen Westerwelligkeit, hin zum reiferen und arrivierteren Auftritt des Elder Statesman. Für Rünz war und blieb er ein Blender oder, um in Hovens Idiom zu bleiben, ein ›pain in the ass‹.

Bunter und Wedel saßen in der Reihe vor Rünz und machten sich permanent Notizen. Die beiden vertrieben sich die Zeit bei Hovens Vorträgen mit einer weiterentwickelten Version des alten Bullshit-Bingo. Auf Vordrucken hatten sie Dutzende von Hovens Lieblingstermini und -anglizismen aufgelistet und hakten sie ab, sobald er einen benutzte. Am Ende wurde ausgezählt – wer die meisten mitbekommen hatte, strich den Geldeinsatz ein. Das Ganze basierte natürlich auf Vertrauen und führte regelmäßig zu Reibereien. Natürlich konnte auch vorher auf die Verwendung bestimmter Begriffe gewettet werden. Sie spielten oft mit horrenden Einsätzen, und wenn Rünz ab und an mitmachte und erfolgreich auf einen elaborierten Exoten wie ›ressourcen-leverage‹ 50 Euro setzte, konnte er schon mal mit dem vierfachen Einsatz nach Hause gehen.

»… und den Workflow kompromisslos auf ein professionelles Customer Relationship Management hin ausrichten. Wenn wir uns auf dieser Bottom Line committen, dann sind wir einen entscheidenden Step ahead

Zieleinlauf. Das Publikum applaudierte reserviert und ehrfürchtig. Hoven hatte im Präsidium das ideale Auditorium für sein Metagelaber aus dem Begriffs- und Anglizismenbaukasten von PR-Strategen, Coaches, Corporate Communication Managers, Pressesprechern und Consultants – die Belegschaft hatte wenig Affinität zur Businesswelt, niemand verstand, was er sagte – und vor allem bemerkte keiner, dass er eigentlich überhaupt nichts sagte.

 

»Bingo«, rief Wedel etwas zu laut, Hoven blickte verstört herüber.

»Lass mal sehen«, sagte Bunter und zog Wedel die Liste aus der Hand.

»›Supply Chain‹, ›Human Resources‹, ›Total Quality Management‹ – willst du mich verarschen? Hoven hat nichts davon verwendet

»Du musst mal richtig zuhören, altes Nordlicht. Dir geht ja die Hälfte durch die Lappen

Wedel hatte recht, Bunter war ein schlechter Verlierer, aber Rünz beschloss, sich nicht einzumischen. Er stand auf, den Rest seines letzten Krankentages wollte er eigentlich zu Hause verbringen. Hoven bemerkte ihn, als er vom Rednerpult herabstieg, und gab ihm per Handzeichen zu verstehen, dass er ihn in seinem Büro erwartete.

 

 

* * *

 

 

Cheftermine hatten für Rünz immer etwas Beunruhigendes. Er war ein Meister der Verdrängung. Stets schob er einen ganzen Güterzug unerledigter Sonderaufgaben, ungeklärter Konflikte und nicht abgeschlossener Berichte, Protokolle und Abrechnungen vor sich her und wunderte sich jedes Mal, wenn Hoven ihn bei einer Besprechung deswegen nicht in den Senkel stellte. Aber dieser Narziss war einfach zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Jeder Businesscoach hätte Rünz dringend empfohlen, diese Altlasten abzuarbeiten, seinen Tisch aufzuräumen, um neue Kreativität und Energien freizusetzen. Er aber hatte mit solchen Strategien nur schlechte Erfahrungen gemacht. Einige Jahre zuvor hatte er sich einmal überwunden und die Halde auf seinem Schreibtisch abgetragen – prompt hatte er seinem natürlichen Angstpotenzial die gewohnte Nahrung entzogen und eine paranoide Furcht vor Katastrophen entwickelt. Klimaerwärmung, Überalterung, Asteroiden, Vogelgrippe, Globalisierung, China, die Magmablase unter dem Yellowstonepark – nie zuvor waren ihm Bedrohungen aus der unbekannten Zone jenseits der Stadtgrenzen Darmstadts so unheimlich vorgekommen. Sofort fiel er zurück in seinen alten Arbeitsmodus und hatte innerhalb weniger Wochen wieder einen kleinen Stapel unerledigter und unangenehmer kleiner Aufgaben auf dem Tisch, die er jeden Tag verdrängen musste. Letztlich schützten die kleinen Alltagsprobleme zuverlässig vor den globalen Gefahren, gegen die man ohnehin nichts ausrichten konnte.

 

»Einen Moment noch bitte, ich bin gleich für Sie da, Herr Rünz

Hoven tippte auf der Tastatur seines MacBooks herum, wahrscheinlich ein paar sinnlose Zeichen, nur um geschäftig zu wirken und seinen Befehlsempfänger einige Minuten warten zu lassen. So konnte er die Rangfolge im Rudel noch einmal klarmachen. Rünz schaute sich im Zimmer um. Hoven hatte eine neue Strategie, was die Auswahl der Kunstreproduktionen an den Wänden seines Büros anging. Dem fachlichen Urteil seiner angeheirateten Baronesse schien er nicht mehr zu trauen, er hielt sich jetzt einfach an die Gewinner des britischen Turner Prize, damit konnte man nicht viel falsch machen. In dieser Saison hingen Werke von Tomma Abts, abstrakte Vektorgrafiken in Öl auf Leinwand, die Rünz an Designentwürfe des VEB Innendekor Chemnitz aus den 70er-Jahren erinnerten.

Auf der cremeweißen Arbeitsplatte lag eine angebrochene Tafel Edelschokolade, Hoven lutschte auf einem Stück herum wie auf einem Bonbon.

»Möchten Sie ein Stück? Eine Criollo, über 80 Stunden conchiert. Hören Sie mal, das Bruchgeräusch …«

Er knickte einen Riegel ab und zeigte Rünz die Bruchflächen.

»Ein sauberer, kurzer Knacks, glatte Kanten, keine Krümel. Wichtiges Qualitätskriterium.«

»Wirklich beeindruckend«, gestand Rünz.

Es gab wahrscheinlich keinen Upperclass-Trend, für den sich Hoven zu schade war. Rünz hatte im Rollcontainer unter seinem Schreibtisch noch irgendwo ein ranziges altes Snickers herumliegen, er beschloss, den Schokoriegel bei der nächsten Besprechung mitzubringen.

»Wie fanden Sie meinen Vortrag

»Nun, ich finde Sie bringen richtig neuen Wind in den Laden

Rünz dachte dabei an die Brise, die zuweilen von den Jauchegruben Odenwälder Schweinemastbetriebe herüberwehte. Er sorgte sich einen Moment, ob er vielleicht zu dick aufgetragen hatte mit seiner Schleimerei, aber Hovens Empfänglichkeit für Bewunderung schien belastbar.

»Schön. Freut mich aufrichtig, dass es Ihnen wieder besser geht. Bunter hat Sie würdig vertreten, so weit mein Eindruck. Diese Geschichte hat im Präsidium ziemlichen Wirbel verursacht. Wie dem auch sei, ich bin der festen Überzeugung, Sie haben völlig richtig gehandelt, draußen auf dem Knell-Gelände, meine ich

Wer Sätze mit ›Freut mich aufrichtig‹ begann, der fühlte alles außer aufrichtiger Freude, und ›feste Überzeugungen‹ hatten meist die Konsistenz von hessischem Kochkäse. Rünz versuchte zu übersetzen: ›Ihre Genesung ist mir scheißegal, Bunter macht Ihren Job sowieso besser als Sie, die tote Kollegin passt mir jetzt überhaupt nicht in meine Karriereplanung, wenn Sie nur einen Hauch von Arsch in der Hose hätten, dann wäre das nicht passiert.‹

»Finde ich auch, konterte Rünz, nahm sich eine Ecke von der Criollo und begann, lautstark zu lutschen.

»Schmeckt fantastisch, ein bisschen wie die schwarze Herrenschokolade vom Kaufhof, finden Sie nicht? Gibt’s nächste Woche im Angebot, 1,59 Euro für drei Tafeln, plus Payback-Punkte

Hoven schaute drein wie ein Yale-Absolvent, dem man einen Job bei McDonald’s angeboten hatte.

»Fühlen Sie sich wirklich fit genug, Ihren Job zu machen? Ich hätte kein Problem damit, wenn Sie erst mal ein paar Wochen in Kur gehen

»Topfit«, schmatzte Rünz und grinste ihn an.

Hoven legte nach.

»Ist vielleicht sowieso der richtige Moment für Sie, mal über eine ausgewogene Work-Life-Balance nachzudenken

Rünz schaute sich nach Fluchtwegen um. Einen Sprung aus dem zweiten Stock konnte er vielleicht mit einigen Prellungen überstehen.

»So einen Break, wie Sie ihn erlebt haben, sollte man als Turning Point benutzen, um endlich mal etwas downzushiften

»Ich könnte zum Wiedereinstieg unten den Parkplatz sauber halten und die Wagen waschen«, sagte Rünz.

Hoven war ein neoliberaler Effizienz-, Dienstleistungs- und Marktideologe, und wie allen Ideologen fehlte ihm jeglicher Sinn für Ironie.

»Sie wissen, dass ich Ihnen den Fall eigentlich nicht übertragen darf. Sie sind befangen

»Bedeutet ›eigentlich‹, dass ich mich an die Arbeit machen kann

»Sobald mir ein Whistle-Blower steckt, dass Sie vom Pfad der Tugend abfallen, ziehe ich Sie von der Sache ab

Hoven streckte sich, legte die Unterarme auf die cremeweiße Arbeitsplatte, und wie zufällig tauchte seine Vacheron unter dem Ärmel auf. Rünz betrachtete das kleine Meisterwerk aus der Nähe, eine Patrimony Contemporaine in Gelbgold, mit guillochierter Lünette, arabischen Ziffern und Dauphinzeigern. Hoven registrierte mit Genugtuung das Interesse seines Untergebenen. Er fing an zu berichten über die unglaublich wichtigen Gespräche, die er während Rünz’ Krankenhausaufenthalt mit zahlreichen unglaublich wichtigen Menschen in ganz Europa geführt hatte. Wie in Gedanken nahm er dabei seine Uhr ab, legte sie mit der Rückseite nach oben auf den Tisch und rieb sich das Handgelenk, als bereitete ihm das Lederarmband Juckreiz. Rünz hatte durch den Saphirglasboden freien Blick auf das faszinierende Räderwerk eines frisch konstruierten und von Hand montierten Kaliber 2450 vom Genfer See – eine perlierte Platine, die Kanten der Brücken gebrochen und hochglanzpoliert, ausgekehlte Räder, ein rotgoldener Automatikrotor.

Rünz ließ seinen Vorgesetzten ausreden, dann war er an der Reihe. Er hatte sich von Breckers letzter Bildungsreise nach Bangkok eine Rolexkopie mitbringen lassen, aber keine der professionellen Fälschungen, die man nur aus der Nähe als solche erkannte. Brecker hatte ihm für ein paar Hundert Baht eine haarsträubend dilettantisch zusammengeklebte GMT-Master präsentiert, bei der sich schon bei der ersten Anprobe der Minutenzeiger aus der Verankerung löste und unter dem zerkratzten Plastikdeckel herumkullerte. Rünz schlug ein Bein über das andere und verschränkte die Finger vor dem Knie. Hoven starrte auf die Karikatur einer Luxusuhr wie auf Hundedreck an seinen Edelschuhen.

»Wissen Sie, Herr Hoven, eins ist mir während der Zeit im Krankenhaus klar geworden. Ich sollte bei allem, was ich tue, mehr Wert auf Stil legen. Was meinen Sie

Hoven konnte seinen Blick nicht von dem goldlackierten Plastik abwenden, als betrachtete er ein eitriges Furunkel, das jeden Moment aufplatzen konnte.

»Nun ja, ich denke – einen Anfang haben Sie gemacht

 

 

* * *

 

 

Montagmorgen. Seine Frau löffelte grob geschroteten, in Wasser gequollenen Leinsamen aus einer Tonschüssel. Sie beobachtete, wie er minutenlang konzentriert die Margarine auf seiner Brotschnitte verteilte, bis er auf der gesamten Fläche eine konstante Schichtdicke von einem halben Millimeter hatte.

»Wann musst du zur Nachuntersuchung

Frauen hatten ein perfektes Timing, wenn es darum ging, einen Mann an Dinge zu erinnern, an die er nicht erinnert werden wollte.

»Keine Ahnung, irgendwann nächste Woche, hab’s mir im Kalender notiert

Rünz versuchte, das Thema zu wechseln. Er würde seiner Frau von der Diagnose erzählen müssen. Er wusste, was ihn dann erwartete. Sie würde ihre gesamte homöopathische Artillerie in Stellung bringen und ihre Breitseite mit psychologischer Kriegsführung flankieren, ihm erklären, die Entstehung von Tumoren sei auch Ausdruck unbewältigter seelischer Konflikte – der ganze lächerliche neuzeitliche Schamanismus, mit dem sich Gesunde zuweilen vor der Gefahr unheilbarer Krankheiten zu wappnen versuchten. Heute wollte er sich das nicht zumuten. Vielleicht morgen. Oder übermorgen.

»Was hat der Arzt sonst noch gesagt? Die haben dich doch sicher gründlich durchgecheckt. Ist alles in Ordnung

Geschroteter Leinsamen schien telepathische Fähigkeiten zu verleihen – er beschloss, morgens zwei Teelöffel zu essen, damit er beruflich vorankam. Jetzt reichte es nicht mehr aus, etwas zu verschweigen, jetzt musste er lügen, wenn ihm nicht irgendein Zufall zu Hilfe kam. Ein Anruf von Wedel zum Beispiel.

Sein Handy summte. Er zog es aus der Tasche seines Bademantels, nahm das Gespräch an, und sein Assistent sagte am anderen Ende fünf Worte, die einen sofortigen Abbruch des unbequemen Frühstücksplausches rechtfertigten.

 

»Der Dicke, wir haben ihn

 

Rünz leerte die Kaffeetasse in einem Zug.

»Sorry, ich muss los

»Wir müssen heute Abend noch ein paar Sachen einkaufen

»Kannst du das nicht allein machen

»Damit du mir nachher die Hölle heißmachst, weil ich nicht ausschließlich Sonderangebote gekauft, die Pfandflaschen nicht abgegeben, die ganzen Gutscheine und Rabattmarken nicht eingelöst und die Pay-back-Punkte nicht habe gutschreiben lassen

»Ist ja schon gut, wir gehen gemeinsam

 

 

* * *

 

 

Bunter dampfte vor Begeisterung und nahm keine Notiz von den beiden Hemdknöpfen, die ihm auf Bauchnabelhöhe offen standen.

»Zwei Bewohner eines Mietshauses in der Ludwigshöhstraße in Bessungen haben sich auf den Artikel in der ›Allgemeinen‹ hin gemeldet. Sie sagen, der Dicke hätte zwei Jahre in ihrem Haus gewohnt, von 2004 bis 2006. Das passt zu der Aussage eines Straßenbahnfahrers, der 2005 die Linie 3 gefahren hat und sich dran erinnern kann, den Typ fast täglich zum Hauptbahnhof gefahren zu haben. Außerdem hatten wir einen Anruf vom European Space Operations Center – aber alles der Reihe nach

Rünz massierte sich die Schläfen. Der Heilungsprozess seiner Hornhaut verursachte ihm unerträglichen Juckreiz, es kostete ihn viel Überwindung, nicht permanent die Augen zu reiben. Bunter knallte einen Stapel Faxe und Ausdrucke auf den Tisch, dann zog er ein paar unscharfe Kopien aus dem Stapel.

»Sein Mietvertrag, mit Kopie seines Ausweises. Tommaso Rossi, Italiener, 1960 in Catanzaro, Kalabrien, geboren. Die italienischen und französischen Kollegen waren sehr kooperativ, wir haben eine detaillierte Biografie. Eltern Teresa und Giuliano Rossi. Scuola Materna, Elementare und Media Unica in Catanzaro, 1978 Abschluss an der Liceo Scientifico Statale in seiner Geburtsstadt, Zweitbester seines Jahrgangs. Gleich nach seinem Schulabschluss immatrikulierte er sich an der Politecnico di Milano, Fachrichtung Luft- und Raumfahrttechnik. Er wird ’84 noch vor seinem Diplom von der Alenia Spazio abgeworben, einem italienischen Luft- und Raumfahrtunternehmen. Seit 2006 heißen die TAS, Thales Alenia Space, ein Joint Venture zwischen der Thales Group und dem italienischen Finmeccanica Konzern, beide Global Player in den Bereichen Rüstung, Elektronik, Luftfahrt und Informationstechnologie. Die TAS hat ihr Hauptquartier in Cannes und insgesamt dreizehn Standorte in Italien, Spanien, Frankreich, Belgien und den USA. Rossi hat bis Anfang 2000 im Werk Turin gearbeitet, die bauen dort wissenschaftliche Satelliten zusammen für die European Space Agency, außerdem das ganze Drumherum, technische Ausrüstungen für Bodenstationen, Sende- und Empfangsanlagen. Mitte 2000 beginnt seine Europatournee, er wechselt zur ESA, European Space Agency, mal verbringt er ein paar Wochen im Hauptquartier in Paris, dann einen Monat bei der ESA-Bodenstation in Villafranca del Castillo bei Madrid, zwischendurch arbeitete er immer wieder Monate beim Space Research & Technology Center in den Niederlanden. Im April 2004 hat er hier in Darmstadt angefangen, beim ESOC, dem European Space Operations Center, drüben im Europaviertel hinterm Bahnhof, bis Mai 2006 war er dort beschäftigt. Er hatte in der Ludwigshöhstraße ein möbliertes Apartment. Die Eigentümerin vermietet die Wohnung fast ausschließlich befristet an ESOC-Mitarbeiter. Sie hat ihn eindeutig identifiziert, sagt, er wäre Ende Juni 2006 ausgezogen. Er hat ihr erzählt, er würde nach Italien zurückgehen. Das stimmt mit dem Melderegister überein, er hat am 3. Juli im Stadthaus ausgecheckt. Zehn Tage später hatte er seinen offiziellen Wohnsitz wieder in Italien, aber nicht mehr in Turin, sondern in seinem Geburtsort Catanzaro, aber er ist dort weder einer sozialversicherungspflichtigen Arbeit nachgegangen noch war er arbeitslos gemeldet

»Was ist mit seiner Familie, fragte Rünz.

»Seine Mutter lebt in Lamezia Terme in einem Pflegeheim, sie leidet an Demenz. Die italienischen Kollegen haben heute Morgen versucht, mit ihr zu sprechen

»Warum dieser Einbruch nach so einem Karrierestart? Und warum ist er nach Darmstadt zurückgekommen? Nur um auf dem Knell-Gelände jemanden zu treffen, der ihn dann erschießt, fragte Rünz.

»Vielleicht hat er die Stadt nie verlassen

»Hatte er hier irgendein Fahrzeug angemeldet? Was ist mit seinen finanziellen Verhältnissen, haben wir Bankdaten

Bunter kam nicht zu einer Antwort. Auf dem Flur rumorte es, Wedel verließ das Zimmer, um nachzuschauen. Er schien mit einer aufgeregten Frau zu diskutieren. Dann ging die Tür auf, er betrat den Raum wieder, Rünz sah auf dem Flur eine völlig zerzauste und verheulte Frau von etwa Mitte 20.

»Chef, die Dame hier ist die Mieterin der Wohnung im Hundertwasserhaus

Rünz grübelte konzentriert, ob ihm das irgendetwas sagen musste.

»Sie wissen schon, der Wohnungsbrand am Mordtag. Sie sagt, sie ist gerade erst aus dem Urlaub zurückgekommen und hat ihre Wohnung versiegelt vorgefunden

»Ja und? Ist das unsere Baustelle? Soll sich an ihre Hausverwaltung und ihre Versicherung wenden, wir machen hier nur Mord und Totschlag

Wedel rollte mit den Augen.

»Das ist es doch, Chef«, sagte er leise. »Sie sagt, sie sucht ihren Freund und Mitbewohner. Tommaso. Tommaso Rossi.«

 

 

* * *

 

 

Rünz hatte seine Kollegen rausgeschickt. Die junge Frau saß ihm jetzt gegenüber und schlürfte zusammengesunken an einem Automatenkaffee. Sie hatte kurze Haare, eine eher stämmige Figur und nicht gerade filigrane Gesichtszüge – die richtige Statur, um Sex mit dem dicken Italiener ohne größere Frakturen zu überstehen. Er stellte ihr einige Fragen zu Rossis Biografie und Physiognomie, bis er keinen Zweifel mehr an der Übereinstimmung hatte. Sie wurde von Frage zu Frage unruhiger.

Menschen benutzten seltsame Eröffnungen, wenn sie anderen die Nachricht vom Tod eines Angehörigen überbringen mussten – ›Ich muss Ihnen leider mitteilen …‹, ›Ich habe leider keine guten Nachrichten für Sie …‹, ›Was ich Ihnen sagen muss, betrifft Ihren Freund/Mann/Sohn …‹, ›Sie müssen jetzt sehr stark sein‹ – Floskeln, die einen gleitenden Übergang zwischen dem dumpfen Alltag und der emotionalen Hölle der Trauer bieten sollten, und wenn er nur eine halbe Sekunde währte. Rünz hielt nichts von solchen Weichspülern, er war ein gebranntes Kind, seit er einmal unnötig lange herumgesülzt hatte, als er einer alten Dame die Todesumstände ihres Jugendfreundes mitteilen musste. Es existierte keine noch so flauschige Verpackung, die solche Nachrichten erträglicher gestaltete. Subjekt – Prädikat – Objekt, einfach, klar und geradeaus.

 

»Ihr Freund ist tot

 

Sie schaute aus dem Fenster und wirkte, als hätte sie gar nicht zugehört. Er musterte sie wie ein Wissenschaftler, der sein Versuchstier einem Schlüsselreiz ausgesetzt hatte.

»So ein milder Winter«, flüsterte sie. »So ein milder Winter …«

Dann brachen die Dämme. Sie brauchte eine halbe Stunde, bis sie wieder ansprechbar war. Rünz bot ihr an, jemanden anzurufen, Familie, Freunde, oder sie irgendwo hinzubringen, aber sie lehnte ab. Vielleicht half es ihr, wenn er ihr ein paar Fragen stellte, auf die sie sich konzentrieren musste. Vielleicht half es ihm, wenn er einige Antworten erhielt.

»Wann haben Sie ihn zum letzten Mal gesehen

Der Rotz lief ihr aus der Nase, Rünz klaubte ein altes Papiertaschentuch aus seiner Hosentasche und reichte es ihr.

»Vor einem Monat. Ich bin Anfang Januar auf die Kanaren geflogen. Ich versuchte, ihn zu überreden mitzukommen. Zuerst lehnte er ab, wegen Geldmangels. Ich sagte ihm, das wäre kein Problem. Dann hieß es, er müsse hier präsent sein wegen seiner laufenden astronomischen Aufzeichnungen, in Kontakt bleiben mit seinen Geschäftspartnern

»Aufzeichnungen? Seinen Geschäftspartnern? Was war das für eine Branche, für die er da nebenher gearbeitet hat

»Branche? Eine Luftnummer, wenn Sie mich fragen. Keine Ahnung, er hat da immer ein großes Geheimnis drum gemacht. Immer wieder Andeutungen über Datenaufzeichnungen, für die manche Leute einen Haufen Geld lockermachen würden. Ständig Versprechungen, wir hätten bald ausgesorgt – ich habe ihm nie geglaubt. Er war Raumfahrttechniker, hat in ganz Europa für European Space Agency gearbeitet, zuletzt für das ESOC hier in Darmstadt, bis Mai 2006, hat mir erzählt, sein Zeitvertrag wäre ausgelaufen.«

»Und dann hat er seine Wohnung in der Ludwigshöhstraße geräumt und ist bei Ihnen eingezogen

Sie vergaß einen Moment zu schluchzen und starrte Rünz an. Dann druckste sie herum.

»Na ja, eigentlich ist er zurück zu seiner Mutter nach Süditalien, aber er war natürlich öfter …«

Rünz winkte ab.

»Schon gut. Wissen Sie, warum er nicht weiter in seinem Fachgebiet gearbeitet hat? Er hatte doch eine Bilderbuchkarriere hingelegt

»Keine Ahnung, ich kenne nur seine Version. Für ihn waren das alles Bremser und Bürokraten dort. Leute, die lieber nach Schema F arbeiteten und den Kopf einzogen, wenn es wirklich mal was zu entdecken gab. Aber seine früheren Arbeitgeber werden Ihnen wahrscheinlich eine ganz andere Geschichte erzählen

Eine neue Trauerwelle erfasste sie, sie heulte, versuchte gleichzeitig zu sprechen, Rünz hatte Probleme zu verstehen, was sie sagte.

»Das war bestimmt sein Scheißtechnikzeugs, ein Kurzschluss oder so was. Aber warum ist er nicht einfach rausgerannt? Warum ist er nicht rausgerannt

Sie schien anzunehmen, ihr Freund sei bei dem Wohnungsbrand umgekommen – es war an der Zeit, sie über die Todesumstände zu informieren. Er beschrieb ihr die Szene auf dem Knell-Gelände, gab ihr aber eine etwas geschönte Version mit einem schnellen Heldentod ihres Freundes – und ohne seine eigene Beteiligung.

»Was hat er gesucht auf diesem Gelände, fragte sie.

»Sieht nach einem Hinterhalt aus, das Ganze. Er wollte sich wahrscheinlich mit jemandem treffen, möglichst ohne Öffentlichkeit. Hatte er Verwandte hier, Freunde, Bekannte, Exkollegen, mit denen er öfter zusammen war? Leute, denen er Geld schuldete?«

»Außer mir? Nein. Er hat meine Wohnung so gut wie nie verlassen. Doch, mit einem hat er sich manchmal getroffen, so ein hagerer Großer mit Koteletten, von irgendeinem Astronomenverein hier in Darmstadt. Sein einziger Kontakt zur Außenwelt, von seinen Telefonaten und Mails abgesehen

Sie trocknete sich das Gesicht ab.

»Wann kann ich in meine Wohnung? Ist überhaupt noch etwas Verwertbares übrig geblieben nach dem Feuer

»Wir werden jetzt erst noch mal eine richtige Spurensicherung machen müssen, ich gebe Ihnen morgen Bescheid. Haben Sie jemanden, bei dem Sie vorübergehend wohnen können

»Ich habe eine Schwester, in Arheilgen …«

»Gut, mein Assistent wird Sie hinfahren

Rünz hätte sie gerne noch weiter befragt, aber sie brauchte jetzt offensichtlich Ruhe. Er übergab sie Wedel, ging in sein Büro und setzte sich ans Telefon. Sybille Habich vom Kriminaltechnischen Institut in Wiesbaden sagte ihm für den nächsten Tag eine Untersuchung der Wohnung im Hundertwasserhaus zu, die er mit der Hausverwaltung des Gebäudes abstimmte. Dann ließ er sich mit dem European Space Operations Center im Europaviertel verbinden. Der Angstschweiß stand ihm auf der Stirn, in solchen Einrichtungen arbeiteten schließlich Menschen, die sich mit exotischen Sprachen wie Englisch oder Französisch verständigten. Ohne solche Feindberührungen schaffte er es, einen Termin für den Nachmittag auszumachen. Dann googelte er im Internet nach Darmstädter Clubs und Vereinen, die sich mit Astronomie beschäftigten. Er stieß auf eine private Arbeitsgemeinschaft in Eberstadt und die ›Volkssternwarte Darmstadt e.V.‹, die das Observatorium auf der Ludwigshöhe betrieben. Die ehrenamtlich aktiven Mitglieder waren erwartungsgemäß tagsüber nicht zu erreichen, er besprach die Anrufbeantworter der Vereinsvorstände mit der Bitte um Rückruf. Dann entschied er, in der Kantine einen keimfreien Imbiss einzunehmen.

 

 

* * *

 

 

Wenn es einen sicheren Indikator für Normalität gab, eine Art Lackmustest für eine imaginäre Skala, deren Wertebereich von ›komplettes Chaos‹ bis zu ›alles geht seinen gewohnten Gang‹ reichte, dann waren das Breckers Geschäftsideen. Je absurder, umso normaler. Rünz schnitt das Wiener Schnitzel in schmale Streifen und untersuchte die Schnittflächen auf zartrosa Verfärbungen, sichere Belege für zu geringe Bratzeit. Dann begann er zu essen, lange und intensiv kauend, um seinem Magen so viel Arbeit abzunehmen wie irgend möglich. Plötzlich zuckte er zusammen – neben ihm erschien eine mächtige Tatze an einem stark behaarten muskulösen Unterarm und knallte ihm ein kleines Kunststoffkästchen auf das Tablett. Das Ding sah aus wie das Netzteil eines Trockenrasierers aus den 70er-Jahren. Brecker drehte auf der anderen Seite des Tisches einen Stuhl um und setzte sich, die Unterarme auf die Lehne gestützt, triumphierend und geheimniskrämerisch grinsend. Er wirkte, als hätte er auf der Rosenhöhe den Heiligen Gral ausgegraben. Rünz schob sein Tablett zur Seite und betrachtete das Gerät genauer, ein Gehäuse aus billigem Plastik, vorn ein einfacher Stecker und hinten je eine grüne und eine rote LED-Leuchte, die die Betriebszustände ›recharging‹ und ›ready‹ anzeigten. Dann schaute er Brecker gerührt in die Augen.

»Klaus, das ist unheimlich lieb von dir. Offen gesagt, ich hatte geglaubt, du hättest meinen Geburtstag vergessen

Brecker rollte mit den Augen.

»Herrgott, jetzt sei kein Pienschen! Das kleine Gerät hier ist ein ganz großes Ding. Und wenn du den Mumm hast mitzumachen, dann wird das für dich ein Geburtstagsgeschenk, wie du noch keins bekommen hast

»Ok, was kann ich tun, damit du mir jetzt nichts über diese Box erzählst

Brecker ignorierte das Bremsmanöver.

»Hast du dir schon mal überlegt, was elektrischer Strom ist

»Na ja, Elektronen, die durch irgendwelche Kupferdrähte schwirren, nehme ich an

»Bingo, und was machen diese Elektronen, wo schwirren sie hin

»Geh mir nicht auf den Zeiger, Klaus. Die rauschen zu Mixern, Vibratoren, Heizdecken, Fernsehern und Playstations und machen da ihren Job. Worauf willst du hinaus

»Eben, und wenn sie ihren Job gemacht haben, sind sie fertig, ausgelaugt. Nicht mehr zu gebrauchen. Jedes Mal, wenn du dir abends eine Chuck-Norris-Folge reinziehst, saugst du dir ein paar Billionen Elektronen aus den Kupferleitungen in deiner Wohnung. Du laugst dir über die Jahre deine gesamte Elektroinstallation aus. Der Widerstand in den Leitungen steigt, und deine Stromrechnung genauso, jedes Jahr um ein paar Euro.«

Heilige Mutter Gottes, Astrologie, Feng Shui, Ayurveda – auf den vorderen Plätzen wurde es eng beim Wettlauf um die idiotischste Theorie des Jahrhunderts.

»Und dieses Gerät hier pumpt ordentlich knackfrische Elektronen in die Kabel, richtig

»So ist es

Rünz beschloss, die Sache hermeneutisch anzugehen und systemimmanent zu argumentieren.

»Aber irgendwann ist das Ding doch auch leer, oder

Er hatte seinen Schwager unterschätzt.

»Gut aufgepasst! Jetzt kommt der Clou an der ganzen Geschichte. Du kannst den Recharger wieder aufladen, online, über das Internet. Du loggst dich mit einem Passwort auf einem ganz bestimmten Server ein, steckst das Gerät in dieselbe Steckdosenleiste, in der auch dein PC eingestöpselt ist, und in einer halben Stunde ist das Ding wieder vollgetankt

»Du hast was vergessen

Brecker schaute ihn fragend an.

»Deine Kreditkartennummer. Die musst du beim Aufladen doch sicher angeben

»Ja klar, da ist dann eine kleine Gebühr fällig. Aber unterm Strich sparst du ordentlich Geld! Hier steht genau drin, wie alles funktioniert

Brecker zog eine zerfledderte Betriebsanleitung aus der Gesäßtasche, Rünz hob sie mit zwei Fingern an einer Ecke hoch und schnupperte dran. Dann faltete er das Blatt auseinander und begann, laut vorzulesen, damit die Kollegen an den Nachbartischen auch etwas davon hatten.

»Na, da wollen wir mal sehen. Steckerblockbaugruppe in eine Einfasung des Steckers 220V setzte sich, danach nur die Ladevorrichtung zur Steckerblockbaugruppebefestigung. Ähnlich mit Last 12V brachte das Kabel in den Ladevorrichtung Einsatz durcheinander. Pro Kreis 2, die gleiche Zellen verwenden, sehen Sie über in den 2 Kreisen, die die fähigen jedoch unterschiedlichen geladen zu werden sind Zellen. Immer 2 oder 4 Zellen fangen, nachdem sie die Zellen verwendet haben, können vorgewählt werden an, ob geladen zu werden oder gebildet zu werden ist. Wenn geladen zu werden ist, ist, weiter getan zu werden nichts. Ist gebildet zu werden, die Taste für den passenden Kreis müssen an der Frontseite der Ladevorrichtung betätigt werden, die, wenn die LED grünen, um zu glänzen, das Ladenverfahren schließlich, wenn die Entladung Prozessendrunde ist, zum Schnellladung wird geschaltet automatisch ist. Da bleiben doch keine Fragen mehr offen – genial! Warum ist da nicht schon früher einer drauf gekommen

Rünz freute sich wie ein Kind. Brecker schaute sich besorgt in der Kantine um, rückte dann nach vorn, beugte sich über den Tisch und flüsterte.

»Gut, im Detail ist da vielleicht noch Verbesserungspotenzial. Aber denk doch mal nach, der Recharger ist Sprengstoff für die großen Energieversorger. Und die Regierung? Die meisten von denen parken doch in den Aufsichtsräten der Stromkonzerne, wenn sie abgewählt werden. Die stecken doch alle unter einer Decke. So was wie das hier versuchen die da oben mit allen Mitteln zu verhindern. Die Technik hat ein koreanisches Unternehmen entwickelt, ich war da gestern auf einem Informationsabend im Maritimhotel. Die suchen hier in Deutschland noch Vertriebspartner! Da der militärisch-politisch-industrielle Komplex das Ding bei uns vom Markt haben will, kommt nur Direktvertrieb infrage

»Eine Superidee, wir machen Recharger-Partys, so werden doch auch Tupperdosen vertickt! Oder meinst du eher so im Avonberater-Stil, mit Hausbesuchen und Typberatung

Brecker blieb ernst.

»Die haben ein geniales Vertriebssystem entwickelt. Wenn du dich als Partner vertraglich bindest, zahlst du einen kleinen Betrag an den, der dich angeworben hat. Und jetzt kommt der Knaller: Du kannst selbst neue Partner anwerben, die dir diesen hübschen kleinen Betrag auszahlen – und nach ein paar Monaten bist du finanziell saniert

Rünz stocherte eine Weile nachdenklich schweigend in seinem Essen herum, Brecker schaute ihn erwartungsvoll an. Dann legte er los.

»Gut, wo wollen wir anfangen. Da wäre zunächst das Vertriebskonzept – ein klassisches Schneeballsystem, unlauterer Wettbewerb nach § 16 Absatz 2 UWG, dann hätten wir einen Warenbetrug nach § 263 StGB. So, wie das Ding aussieht, fängt es Feuer, sobald es zwei Minuten an einer Steckdose hängt, wir haben also Herbeiführung einer Brandgefahr und fahrlässige Brandstiftung nach § 306 Absätze f und d StGB. Deine Nachbarn sterben an Rauchvergiftung, dazu kommt dann also fahrlässige Körperverletzung mit Todesfolge nach § 227 StGB. Außerdem sondert das Gerät hier wahrscheinlich schon im Standby-Betrieb alle möglichen Sauereien ab, polychlorierte Biphenyle, chlorierte Kohlenwasserstoffe, Asbest – wahrscheinlich ist das Ding sogar aus irgendwelchem radioaktiven Müll gepresst. Es kommen also noch die §§ 324 bis 330 StGB dazu, Gewässer-, Luft- und Bodenverunreinigung, unerlaubter Umgang mit gefährlichen Stoffen und Gütern. Und wenn du mich fragst, werden die Geräte hier von minderjährigen Zwangsarbeiterinnen in nordkoreanischen Arbeitslagern gebaut …«

Weiter kam Rünz nicht. Brecker schnappte sich den Recharger, stand auf und ging. Eine Männerfreundschaft in der Krise.

Wedel übernahm gleich seinen Platz und schaute Brecker nach, der wie ein wütender Stier die Kantine verließ.

»Was hat er denn

»Ich glaube, ich habe ihm gerade seine berufliche Zukunft ruiniert

»Was gibt’s da noch zu ruinieren, er ist Polizist

Rünz widmete sich wieder seinen Schnitzelstreifen.

»Gibt’s was Neues

»Die Verbindungsdaten vom Festnetzanschluss seiner Freundin geben nichts her. Er hat die Leitung nicht ein einziges Mal benutzt, während sie weg war. Auch aus den Monaten vorher existieren nur Gesprächsaufzeichnungen seiner Freundin. Aber wir haben ein sehr interessantes Paket mit Verbindungsdaten von MobiConnect bekommen …«

Rünz schaute auf die Uhr und legte sein Besteck zur Seite.

»Sprechen wir später drüber, habe noch einen Termin. Weltraumbahnhof Cape Datterich.«

 

 

* * *

 

 

Rünz ging knurrend hinter der Sicherheitsbeamtin her, die großen Satellitenmodelle auf dem Grünstreifen ignorierend, die die Besucher auf eine Besichtigung des Kontrollzentrums einstimmen sollten. Er fühlte sich entmündigt. Sie hatte ihn in einer kleinen Sicherheitsschleuse an der Zufahrt mit einem Metalldetektor abgesucht und fast eine Panikattacke bekommen, als sie seinen kleinen Nothelfer am Unterschenkel entdeckt hatte, den er sich frisch aus der Asservatenkammer zurückgeholt hatte. Rünz konnte sie mit seinem Dienstausweis und seiner Marke beruhigen, kurz bevor sie die Kavallerie um Unterstützung anfunken wollte. Aber sie hatte darauf bestanden, die Pistole sicherzustellen, solange er sich auf dem ESOC-Gelände bewegte. Unbewaffnet fühlte er sich nackt und schutzlos. Jeder hergelaufene Satellitenmechaniker konnte ihm jetzt einen 36er Maulschlüssel über die Stirn ziehen und ihm die fünf Euro für das nächste Kantinenessen abnehmen.

Sie führte ihn in ein Gebäude im westlichen Teil des Komplexes und bat ihn, in einem Raum im Erdgeschoss Platz zu nehmen und zu warten. Er war allein und schaute sich um. Ein kleiner Saal, 30 oder 40 Stühle in Reihen, auf die gegenüberliegende Wand ausgerichtet, die ein blauer Vorhang verdeckte. Sicher ein kleiner Vorführraum, in dem Steuerzahlern kleine PR-Filmchen über die Vorteile sündhaft teurer Weltraummissionen vorgeführt wurden. Aber wieso stand da noch ein großer Plasmabildschirm auf einer Konsole, wenn man an der Wand eine viel größere Projektionsfläche zur Verfügung hatte? Rünz lauschte. Ein konstantes, leises Brummen kam von einem der Nachbarräume, vielleicht ein Transformator oder eine Klimaanlage. Und da war noch etwas anderes, ein rhythmisches Quietschen, wie die alten Stahlfedern eines Bettes, auf dem sich ein Paar vergnügte. Er drehte mehrfach den Kopf, um das Signal zu orten – es kam eindeutig von der Wand gegenüber. Er durchquerte den Raum, näherte sich dem Vorhang, fummelte an den Falten herum, und als er endlich das Ende einer der beiden schweren Stoffbahnen gefunden hatte, nahm er seinen Mut zusammen und riss das Tuch entschlossen zur Seite.

Die Putzfrau auf der anderen Seite der Panzerglasscheibe ließ Glasreiniger und Lappen fallen und wich erschrocken zurück. Rünz hob die Hand zum Gruß, um sie zu beruhigen. Dann zog er den Vorhang weiter auf und betrachtete die Halle hinter der Panoramascheibe. Vor ihm lag das Herz der europäischen Weltraumfahrt, der Hauptkontrollraum des European Space Operations Centers, Dutzende von Bildschirmarbeitsplätzen an langen Pultreihen mit Headsets und Schaltkonsolen, an den Wänden riesige schwarze Bildschirme, Anzeigenpanels mit den Ortszeiten irgendwelcher Stationen rund um den Globus – und alles war vollkommen leer. Kein Terminal war besetzt, kein Bildschirm flimmerte, niemand rief aufgeregt Kommandos durch den Raum und spannte dramatisch die Kaumuskeln an, keine Männer mit Headsets in durchgeschwitzten weißen Hemden, die unverständliche technische Abkürzungen benutzten und unschuldige, wehrlose Satelliten durch feindliche Asteroidengürtel lotsten. Alles wirkte wie eine eingelagerte alte Kulisse der Paramount Studios, in der irgendwann vor 20 oder 30 Jahren eine Apollo-Mission verfilmt wurde.

Rünz war verblüfft. Er dachte nach. Es gab nur zwei Erklärungen. Entweder, die Ingenieure und Wissenschaftler hatten die Satellitensteuerung so weit perfektioniert und automatisiert, dass eine Putzfrau als Notbesetzung im Kontrollraum völlig ausreichte – oder alles war Betrug. Er war wie elektrisiert. Vielleicht hatte ihn die Sicherheitsbeamtin in den falschen Raum geführt, ihn niemals unbeaufsichtigt in diesen Bereich lassen dürfen? Wahrscheinlich wurden die hektischen Missionsaktivitäten hier für Presse und politische Entscheidungsträger mit versierten Schauspielern nur simuliert, auf den Bildschirmen flimmerten dann die Telefonbucheinträge von Toronto, und dort oben flog nicht ein einziger europäischer Satellit – und all die Milliarden Euro Steuergelder flossen in militärische Geheimprojekte! Watergate, Iran-Contra, Gammelfleisch, die Abwassergebühren in Darmstadt – Rünz hatte den großen Skandalen der Weltgeschichte einen neuen hinzuzufügen, und es musste mit dem Teufel zugehen, wenn ihm der Oberbürgermeister dafür nicht die Silberne Verdienstplakette der Stadt überreichte. Vielleicht benannten sie sogar eine Grillhütte nach ihm.

 

»Das haben Sie sich wohl etwas aufregender vorgestellt, Herr Rünz

Er fuhr herum. Ihr Alter konnte er kaum abschätzen, zwischen 50 und 60 war alles möglich. Sie war der lebende Beweis für einen beunruhigenden Wandel in der Frauenwelt – während seiner Jugend trugen weibliche Wesen in diesem Alter rosa Pudeldauerwellen und himmelblaue Kittelschürzen über feisten Leibern, man sah sie meist an Küchenherden und beim Wäscheaufhängen. Heute hatten sie auch jenseits der Lebensmitte noch Körper wie 30-Jährige, präsentierten mit aufreizendem Selbstbewusstsein ihre grauen Haare, trugen Pencil-Skirts, elegante Etuikleider, glamouröse, schmal geschnittene Hosenanzüge und steuerten Satelliten durchs All. Sie machte ihm Angst.

»Sigrid Baumann, ich bin Spacecraft Operations Managerin hier beim ESOC

Das klang nach einem verdammt wichtigen Job. Wie konnte Rünz gleichziehen? Kundenbetreuer waren ›Account Manager‹, Personalchefs ›Human Resources Manager‹, Buchhalter nannten sich ›Controller‹ – und Kriminalhauptkommissare? Rünz grub in den Ruinen seines Mittelstufenenglisch.

»Guten Tag, Karl Rünz, Primary Investigator im Police Department Südhessen.«

Hoven wäre stolz auf ihn gewesen. Er fühlte sich fantastisch, wie ein frischgebackener Kosmopolit mitten im Auge des Globalisierungssturmes. Sie schien ihm die Aufschneiderei abzukaufen.

»Entschuldigen Sie, dass ich Sie hier empfange, aber unsere Büros werden im Moment umgebaut. Bitte wundern Sie sich nicht über den leeren Kontrollraum, wenn wir Simulationen machen oder Missionen in kritischen Phasen sind, dann ist hier mehr los. Die eigentliche Arbeit wird nebenan in den Dedicated Control Rooms  geleistet

Sie hatte den seltsam leichten Akzent deutscher Muttersprachler, die sich jahrelang in englischsprachigem Arbeitsumfeld bewegten. Nach einer kurzen Pause drückte sie ihr Bedauern über Rossis Tod aus. Beide setzten sich in eine der Stuhlreihen, und sie fing ungefragt an zu reden.

»Die Nachricht von seinem Tod hat das gesamte Kollegium ziemlich erschüttert. Er war nicht gerade das, was man einen Buddy nennt, aber mit seinen Fähigkeiten und seinem Einsatz hat er sich hier hohes Ansehen erarbeitet

»Wann und wie ist er zu Ihnen nach Darmstadt gekommen

»Er hatte hervorragende Referenzen. Rossi war in den 90er-Jahren in Turin, Rom und in der Schweiz intensiv an der Entwicklung und am Bau von Komponenten der Rosetta-Raumsonde beteiligt, er hat unter anderem die Projektgruppe geleitet, die die High Gain Antenna und den Transponder entwickelt und gebaut hat, das ganze Technikpaket, mit dem die Funkverbindung zur Erde gewährleistet wird. Die italienische Alenia Spazio gehörte zu den wichtigsten Subunternehmen der EADS Astrium, die im Auftrag der ESA Entwicklung und Bau der Sonde koordiniert hat. Die britische und die französische Astrium hatten die Plattform der Sonde und die Avionik zu entwickeln, Alenia kümmerte sich in Italien um Zusammenbau, Integration und Erprobung des Systems

»War das irgendwas Besonderes, dieser Satellit, diese Antenne? Ich meine, Sonden, die Informationen zur Erde funken, existieren doch schon ein paar Jahrzehnte

»Das ist technisch auch kein größeres Problem, solange Sie sich in erdnahen Umlaufbahnen befinden. Aber wenn Sie sich mit einer Sonde wie Rosetta auf einer interplanetaren Reise bis zu einer Milliarde Kilometer von der Erde entfernen, dann sieht das schon ganz anders aus. Dann haben Sie Signallaufzeiten von fast 50 Minuten – bei Lichtgeschwindigkeit! Und die Einstrahlungsenergie der Sonne beträgt gerade mal vier Prozent von der auf der Erde. Die Solar-Panels der Sonde können kaum noch Energie einfangen, um den Sender zu betreiben. Aus dieser Entfernung ist die Sonne noch so groß wie irgendein Fixstern am Himmel. Entsprechend schwach sind die Signalstärken, die auf der Erde ankommen. Normalerweise werden Satelliten in diesen Entfernungen mit Nuklearbatterien betrieben – wir haben völlig neue Solar-Panels entwickelt, die auf diese Distanz noch über 500 Watt Leistung bereitstellen. Technisches Neuland haben wir betreten – in jeder Hinsicht. Alle Komponenten und Systeme müssen über eine Missionsdauer von elf Jahren funktionieren, sie müssen der Strahlung bei extremer Sonnennähe standhalten und den kalten Winterschlaf in der Nähe der Jupiterbahn überstehen. Das war schon eine technische Meisterleistung von allen Beteiligten

»Und 2004 hat er dann bei Ihnen hier angefangen

»Wir hatten hier eine ganz normale Stellenausschreibung laufen für einen ICT Engineer, alles im Rahmen der Rosetta-Mission. Wir haben da unsere Statuten und schreiben neue Positionen immer erst europaweit intern aus, damit ESA-Mitarbeiter sich bewerben können. Kurz bevor wir Anzeigen auf den üblichen Internetplattformen schalteten, gingen wir noch mal die Blindbewerbungen durch, die im vergangenen Jahr eingegangen waren. Da sind wir auf ihn gestoßen, er hatte sich bereits Anfang 2002 beworben, und sein Profil passte perfekt, er war vertraut mit dem Projekt wie nur wenige, hatte exzellente Referenzen, und die Italiener waren bei uns im ESOC sowieso etwas unterrepräsentiert, was den Proporz der 17 Teilnehmerländer in der Belegschaft angeht. Wir luden ihn sofort zum Vorstellungsgespräch ein, und vier Wochen später fing er bei uns an. Er war die Idealbesetzung, schließlich kannte er die Sonde bereits in- und auswendig. Wir haben ihn bei der Inbetriebnahme des Engineering Models eingesetzt, einer flugfähigen Eins-zu-eins-Kopie der Rosetta-Sonde, die wir hier am Boden für Simulationen und Tests benutzen. Er hat sich innerhalb kürzester Zeit hochgearbeitet, ein exzellenter Mitarbeiter, der gerne auch einen Blick über den Tellerrand seiner Arbeit wagte. Ab Mitte 2005 hat er in unserem ACT mitgearbeitet, dem Advanced Concepts Team. Diese Gruppe befasst sich mit Zukunftstechnologien und ihrer Verwertbarkeit für Weltraummissionen – Biomimetik, künstliche Intelligenz, Fusionstriebwerke und so weiter

»Warum haben Sie seinen Zeitvertrag nach zwei Jahren nicht verlängert, wenn er so ein heller Kopf war? Sie hätten doch versuchen müssen, ihn zu halten

Sie zögerte eine Sekunde.

»Ich weiß nicht, wer Ihnen das erzählt hat. Wir hatten mit ihm eine auf vier Jahre angesetzte Arbeitsvereinbarung mit Verlängerungsoption, aber wir mussten uns vor der Zeit von ihm trennen – aus Sicherheitsgründen

Rünz zog fragend die Augenbrauen hoch.

»Es kam zu Nachlässigkeiten, unvorsichtigem Vorgehen, manchmal ignorierte er Sicherheitsvorschriften. Wir mussten dem Einhalt gebieten, bevor irgendeine Situation entstand, die die Mission gefährdet hätte. Wir spielen hier mit hohen Einsätzen, ich meine damit sowohl die ökonomischen Mittel als auch die Energie, die viele Menschen über Jahre in ein solches Projekt stecken

»Wie erklären Sie sich das, hatte er private Probleme, hat er Drogen genommen, zu viel getrunken

»Wenn er die hatte, dann wussten seine Kollegen nichts davon. Ich hatte mehrere Gespräche mit ihm, sein Zustand schien sich über die Zeit eher zu verschlechtern als zu verbessern. Ich habe ihm empfohlen, sich an unser ›Social, Sports and Culture Committee‹ zu wenden, eine Dachorganisation für die über 30 Freizeitclubs im ESOC – Golf, Fußball, Klettern, Theater, Motorradfahren – da ist eigentlich für jeden was dabei. Aber er hatte überhaupt kein Interesse an sozialen Kontakten. Er war einfach ein hochintelligenter und kreativer, aber auch etwas sensibler Mensch, ein Eigenbrötler, vielleicht eine Borderline-Persönlichkeit. Wir haben uns die Entscheidung nicht leicht gemacht. Mit ihm haben wir einen unserer besten Mitarbeiter verloren, aber letztendlich hatte die Sicherheit der Mission Vorrang. Glauben Sie, der Mord hatte irgendetwas mit seiner Arbeit zu tun

»Unwahrscheinlich, wir versuchen einfach, uns ein möglichst komplettes Bild zu machen. Gab es Animositäten im Team, Konkurrenz um irgendwelche Posten, Mobbing? Ich weiß, Sie werden ungern über Interna sprechen, aber ich kann Ihnen absolute Vertraulichkeit zusichern

Sie schaute einen Moment an Rünz vorbei und dachte nach.

»Wissen Sie, die Menschen, die für die ESA arbeiten, sind ehrgeizig, aber sie teilen gemeinsame Leidenschaften, Raumfahrt und Grundlagenforschung. Hier gibt es keine Grabenkämpfe wie in privaten Unternehmen, unsere Missionen sind nur dann erfolgreich, wenn alle an einem Strang ziehen

»Und der Papst ist evangelisch«, murmelte Rünz.

»Wie bitte?«

»Nichts, ich habe nur laut nachgedacht. Könnten Sie mir eine Liste zusenden mit den Mitgliedern seiner Arbeitsgruppe und allen Menschen, mit denen er hier engeren Kontakt hatte

»Kein Problem. Kann ich Ihnen sonst noch irgendwie helfen

»Sagen Sie, dieses Rosetta-Dings, worum geht’s da eigentlich

»Kommen Sie mit, ich erklär’s Ihnen

Sie führte ihn aus dem Westeingang heraus, rechts um den Bau herum bis auf die nördliche Stirnseite. Schließlich standen sie vor einem aluminiumverkleideten, teilverglasten Kubus, offenbar ein erst vor wenigen Jahren errichteter Anbau, innen ein schwarzer Würfel mit über zwei Metern Kantenlänge auf einem mächtigen Stahlgestell, der den Raum fast komplett ausfüllte. Dutzende chrom-, gold- und silberglänzende Geräte, Instrumente, Antennen, Parabolspiegel und Steuerungsdüsen bedeckten jede Seite des Quaders. Unter dem Satellitenmodell ringelten sich unzählige Strippen und Leitungen wie Spaghetti, die zu einem Dutzend Schaltkästen und Racks an den Raumseiten führten, die mit Messgeräten und Kontrollmonitoren belegt waren.

Die Techniker im Raum bemerkten Rünz’ Begleiterin und grüßten sie durch die Glasscheibe. Rünz hatte sich Satelliten immer kleiner vorgestellt, und Sigrid Baumann schien seine Überraschung zu registrieren.

»Mit ausgefalteten Solarpanels hat die ganze Einheit eine Spannweite von 35 Metern. Was Sie sehen, ist das Engineering Model, von dem ich Ihnen erzählt habe, eine Zwillingsschwester der Sonde, die seit 2004 im All ist. Unser Crash Test Dummy sozusagen wurde Anfang 2003 hier aufgebaut. Die Spezialisten von Alenia Spazio, Astrium Deutschland und unser ESOC-Flugkontrollteam konnten an diesem Modell vor dem Start der Zwillingsschwester Hunderte von Systemtests durchführen und Flugszenarien durchspielen. Ein besseres Trainingsgerät als eine Eins-zu-eins-Kopie gibt es nicht. Die meisten kritischen Operationen in der Flugphase werden hier zuerst simuliert und auf Validität und Konsistenz geprüft, bevor wir Kontakt mit der Schwester im All aufnehmen. Risikominimierung, Sie verstehen

Er verstand.

»Rosetta ist die aufwändigste Satellitenmission, die die European Space Agency je gestartet hat. Über 20 Jahre Gesamtlaufzeit von der Aufnahme ins ›Horizon 2000 Programme‹ 1993 bis zum Missionsende 2015. Wir haben 21 Instrumente an Bord, Spektrometer für elektromagnetische Strahlung vom ultravioletten über den optischen bis zum Infrarot- und Mikrowellenbereich, Ionendetektoren, Analyseeinheiten für den Kometenstaub, Infrarot- und optische Kameras. Da kommen riesige Datenmengen zusammen, und nach Missionsende geht die Auswertung erst richtig los

»Wo geht denn die Reise hin, oder wird das eine Überraschung

»Tschurjumow-Gerasimenko, ein kurzperiodischer Komet, der alle sechseinhalb Jahre auf einer stark elliptischen Bahn die Sonne umkreist. Rosetta wird ihn über ein Jahr lang auf seiner Reise ins innere Sonnensystem begleiten, die Veränderung seiner Oberfläche und des Eiskerns unter dem Einfluss der Sonne studieren. Die Sonde trägt Philae huckepack, eine kleine Landeeinheit, die auf dem Kometenkern niedergehen und Proben analysieren wird. Das ist ein international einmaliges Projekt, Tausende Wissenschaftler weltweit warten gespannt auf die Ergebnisse

Rünz verstand plötzlich, warum die Polizei in Deutschland noch mit analogen Funksystemen aus den 70er-Jahren kommunizieren musste, einer Technik, die so abhörsicher war wie der Marktschreier am Obststand in der Ernst-Ludwig-Straße. Die Regierung brauchte das Geld, um schmelzende Eisbälle im Weltraum zu fotografieren! Alles verstehen hieß alles vergeben. Er versuchte, seine Frage diplomatisch zu formulieren.

»Sagen Sie, nichts für ungut, aber was ist so interessant an diesem Tschurmof-Grassimko

»Kometen sind Objekte aus der Geburtsstunde unseres Sonnensystems. Ihren Aufbau zu erforschen heißt, die Entstehung der Planeten und unserer Erde zu verstehen. Einige Wissenschaftler halten es für durchaus möglich, dass Kometenkerne organische Moleküle enthalten, aus denen auf der Erde die ersten Lebensformen entstanden sind. Ein faszinierenderes Objekt für Grundlagenforschung kann man sich kaum vorstellen

Rünz hatte diesbezüglich weniger Ehrgeiz, er hätte sich damit zufriedengegeben, seine Frau zu verstehen. Sie verließen das Satellitenmodell, sie begleitete ihn Richtung Ausgang. Er freute sich schon auf das Gesicht der Sicherheitsbeamtin, wenn sie ihm den Revolver wieder aushändigen musste.

»Kommen Sie doch nächste Woche zur Eröffnung des Galileo-Gründerzentrums vorbei! Der Ministerpräsident wird anwesend sein – und unser Direktor Gerry Summers. Ich schicke Ihnen eine Einladung – in Ihr ›Police Department‹ …«

Sie schien Sinn für Humor zu haben. Als er wieder allein auf der Robert-Bosch-Straße stand, warf er noch einmal einen Blick zurück auf die Fahnen der ESA-Mitgliedsnationen, die regungslos wie steif gefroren in der kalten Winterluft herunterhingen. Seltsamer Name, Rosetta. Wieso hatten sie das Ding nicht Bärbel oder Michaela genannt, wenn deutsche Steuerzahler schon einen Großteil dieser Spielerei finanzierten?

 

 

* * *

 

 

Er fühlte sich moralisch integer und überlegen, wenn er seiner Frau etwas unter die Arme griff, was den Haushalt anging – ein moderner Mann in einer zeitgemäßen, paritätisch organisierten Partnerschaft. Und Einkaufen war ja nicht wirklich anstrengend. Er sondierte am Zeitungsständer des Biosupermarktes in der Kasinostraße die Neuerscheinungen an Magazinen und Illustrierten, während seine Frau den Einkaufswagen durch die Gänge schob. Mit den zwei Kästen Pfungstädter Schwarzbier hatte sie Probleme, das Gefährt in engen Biegungen in der Spur zu halten. Er durfte nicht vergessen, sie zur Fleischtheke zu schicken. Rünz liebte die Rindersteaks der Odenwälder Biobauern. Fleisch von glücklichen Nutztieren, großgezogen von rotwangigen, wettergegerbten Anthroposophen in handgefilzten Kniebundhosen, die nach vollbrachtem Tagwerk heimkehrten von der dampfenden Ackerscholle und am knisternden Ofen ein gutes Buch und einen Brottrunk zur Hand nahmen. Echt, authentisch, unverdorben und natürlich.

Sein Blick blieb auf einem Cover hängen – ein verzweifeltes Beckham-Double über einem Foto seiner Verflossenen. Der Kommissar fischte das Magazin aus dem Regal. ›Rosenkrieg‹ hieß das Periodikum und versprach im Untertitel die erschöpfende Besprechung der Themen Trennung, Scheidung und Neuanfang. Rünz seufzte deprimiert, es gab wahrscheinlich keine gesellschaftliche Randgruppe, keine noch so marginale Interessengemeinschaft, die nicht mit einem eigenen Printprodukt bedient wurde. Ganz sicher existierte irgendwo ein Verlag, der eine Monatszeitschrift für homosexuelle, afroamerikanische Modelleisenbahnfans herausgab.

 

»Was liest du denn da Schönes

Seine Frau hatte sich unbemerkt von hinten an ihn herangepirscht.

»Ooooch …« Er fummelte die Zeitschrift hastig zurück in eine Heftreihe und schob jeweils eine Ausgabe ›GeoLino‹ und ›Pettersson und Findus‹ vor das Cover. Eine glänzende Idee.

»Kinderzeitschriften, schnurrte sie, schmiegte sich von hinten an ihn und schlang ihre Arme um seinen Bauch. »Hast du’s dir doch noch mal überlegt mit dem Nachwuchs

Befruchtungsstimmung. Alarmstufe Rot. Rünz starrte auf den ›Rosenkrieg‹, dessen Überformat oben und seitlich hinter den Kinderheften herausragte. Seine Auflagenentwicklung vorwegnehmend sackte das Magazin in sich zusammen, und drohte, ihm mitsamt dem alten Schweden und seinem Kater entgegenzufallen. Er legte stabilisierend den Zeigefinger auf die Zeitschriften, wie um seiner Frau etwas zu zeigen.

»Die – äh – die machen heute wirklich tolle Sachen für Kinder

»Finde ich auch«, hauchte sie ihm ins Ohr. »Wollen wir nach Hause gehen

»Gute Idee!«

Er ließ den Zeigefinger auf den Heften, bis sie sich ein paar Schritte entfernt hatte, dann trat er selbst mit ausgestrecktem Arm zurück und ließ erst im letzten Moment los. Bevor seine Frau sich nach dem herunterstürzenden Papierstapel umdrehen konnte, hatte er seinen Arm um ihre Taille gelegt und ihr zärtlich am Ohrläppchen geknabbert. Wenn es nötig war, konnte er auch mal ein Opfer bringen.

 

 

* * *

 

 

»Wir haben die Verbindungsdaten der Prepaidkarte

Bunter hatte zu seinem gewohnten Schlabberlook zurückgefunden – ausrangierte Birkenstockschlappen, ein Holzfällerhemd, das ihm halb aus der Hose heraushing. Um Kinn- und Wangenpartie wucherte wieder die westfälische Macchia, eine wilde Strauch- und Krautschicht, Heimstatt zahlreicher bedrohter Tier- und Pflanzenarten. Seinen kurzen Karriererausch hatte er offenbar ausgeschlafen und Rünz wieder als Leitwolf akzeptiert. Ausflüge in die Welt zeitgemäßer urbaner Herrenoberbekleidung waren damit überflüssig. Er knallte seinen Laptop etwas zu heftig auf den Tisch, stöpselte ihn an den Beamer und legte los. Wedel und Rünz machten es sich auf ihren Stühlen bequem.

»Er war ziemlich aktiv mit seinem Kryptohandy – 127 Nummern hat er mit dieser Karte seit Oktober 2006 angerufen, alle gehören zu Unternehmen, staatlichen oder halbstaatlichen Institutionen, wissenschaftlichen Communities und deren Mitgliedern. Wenn er nicht noch irgendeine andere Karte für Privatgespräche genutzt hat, dann hatte er einen sehr übersichtlichen Freundeskreis außerhalb seiner beruflichen Kontakte. Einige der Nummern führen zu Spezialanbietern für Elektronik und Übertragungstechnik, Antennenanlagen, Verstärker, Transmitter und so weiter. Aber richtig spannend wird es bei den Auslandsgesprächen. Die folgenden Nummern hat er von Mai bis Juli dieses Jahres angerufen, manche mehrfach. Über die Dauer und Inhalte der Gespräche haben wir keine Informationen, ich habe das Ganze nach der Häufigkeit der Verbindungen sortiert

Bunter startete die Präsentation. Er hatte die Telefonnummern jeweils mit Screenshots zusammenmontiert, Webseiten der Institutionen, mit denen Rossi Kontakt aufgenommen hatte. Rünz ahnte, warum der Westfale aussah wie durch die Hecke gezogen – er hatte Blut geleckt und die ganze Nacht recherchiert.

»Die hier gehört zum NASA Astrobiology Institute, eine virtuelle US-Organisation, die aus zwölf Lead-Teams besteht, verteilt auf Universitäten und Forschungsinstitute in den ganzen USA. Ein multidisziplinärer Verein, die beschäftigen sich mit der Verbreitung organischen Lebens auf der Erde und im Weltall. Das Gleiche gilt für die hier – Centro de Astrobiologica, östlich von Madrid, dann das Australian Center for Astrobiology in New South Wales, das britische Cardiff Center for Astrobiology, das UK Astrobiology Forum und die Astrobiology Society of Britain, das Goddard Center for Astrobiology der NASA, das Spanish Center for Astrobiology – so geht das immer weiter, ich könnte noch ein Dutzend von diesen Instituten nennen. Es gibt weltweit kaum noch eine große Universität mit naturwissenschaftlicher Fakultät, die sich keinen eigenen Lehrstuhl für Astro- und Exobiologie leistet, das ganze Thema scheint unheimlich heiß zu sein in der Astronomenszene. Und unser Italiener war immer dabei. Seit der Jahrtausendwende hat kaum ein internationaler Kongress, Workshop oder ein Seminar über Astrobiologie stattgefunden, bei dem Rossi nicht mit am Tisch saß, die meisten Teilnehmerlisten kann man bei den einschlägigen Scientific Communities im Web runterladen: First European Workshop on Exobiology in Frascati im Mai 2001 und im September 2002 die Folgeveranstaltung in Graz. Astrobiology Conference der NASA im Ames Research Center in Kalifornien, April 2002. Im November 2003 eine Konferenz der European Exo-/Astrobiology Network Association in Madrid, im Juli 2004 die achte Internationale Konferenz für Bioastronomie in Reykjavik, ein Jahr später ist er in Budapest beim fünften European Workshop on Exobiology, im Mai 2006 Workshop der Deutschen Forschungsgesellschaft über ›Viability in Space‹. Ich habe letzte Nacht etwas in der Welt herumtelefoniert und kaum ein internationales wissenschaftliches Netzwerk gefunden, das sich mit Exo- und Astrobiologie beschäftigt und ihn nicht auf der Mitgliederliste hatte

»Wer zum Teufel bringt einen durchgeknallten, finanzschwachen Sternengucker um, der sich mit nichts als grünen Marsmännchen und UFOs beschäftigt? Wo ist das Motiv? Ein eifersüchtiger Ex-Lover seiner Freundin?«

»Der zufällig an ein russisches Scharfschützengewehr herankommt und dieses Instrument auch noch perfekt beherrscht, fragte Bunter. »Ich habe einen anderen Vorschlag

Er klickte weiter durch seine Präsentation.

»Bis jetzt hatten wir den wissenschaftlichen Teil seiner Telefonkontakte, richtig spannend wird’s im zweiten Paket. Die Telefonate mit den folgenden Anschlüssen fanden alle im vierten Quartal 2006 statt. Die Nummer hier führt zum DS&T, dem Directorate for Science & Technology, eine der vier Hauptabteilungen der US-amerikanischen CIA. Das ist sozusagen der Think Tank der CIA, was die Entwicklung neuer Techniken für die Informationsbeschaffung und -auswertung angeht. Ein traditionsreicher Laden, die machen Forschung und Entwicklung, haben Leute aus über 50 Disziplinen – IT-Spezialisten, Ingenieure, Wissenschaftler. Das DS&T hat in den Fünfzigern und Sechzigern die U-2- und A-12-Programme geleitet, die Spionageflugzeuge, mit denen sie Chruschtschow beim Nasenbohren fotografierten. Auch das CORONA-Programm, der erste Spionagesatellit, geht auf deren Konto. Dann haben wir noch das NRO – National Reconnaissance Office in Chantilly, Virginia, eine US-Behörde, die im Auftrag der CIA und des Department of Defense Aufklärungssatelliten plant, baut und betreibt. Noch nicht genug? Ich habe noch im Angebot die National Security Agency, die Abteilung Nachrichtenbeschaffung der französischen Direction Générale de la Sécurité Extérieure, die Information Services Branch des britischen MI5 und das kanadische Communications Security Establishement und diverse osteuropäische Geheimdienste. Und das war nur eine Auswahl. Keine Ahnung, ob irgendwo in einer afrikanischen Bananenrepublik noch ein Nachrichtendienst existiert, bei dem nicht irgendwann Rossi an der Strippe war. Nur MAD, BND und Verfassungsschutz fehlen, von Kontakten zu den deutschen Trenchcoatträgern hat er sich wohl nichts versprochen

Rünz brauchte ein paar Sekunden, um die Informationen zu sortieren.

»Was wollte er von den Geheimdiensten, hat er gedacht, die CIA hätte die fliegenden Untertassen der Marsmännchen verwanzt, fragte Wedel.

»Vielleicht wollte er keine Informationen von den Geheimdiensten haben, sondern ihnen welche anbieten. Seine Freundin hat Ihnen doch von diesem angeblich vielversprechenden Coup erzählt, vielleicht war es das, was er meinte. Er könnte auf einer dieser Konferenzen von irgendeinem Fachkollegen ziemlich brisante Informationen über ein Geheimprojekt irgendwo auf der Welt bekommen haben, und diese Info versuchte er vielleicht zu versilbern

Rünz seufzte. Die Ermittlungen waren schon wieder auf dem besten Wege, die Grenzen seiner beruhigend übersichtlichen Heimatstadt zu sprengen. Seit dem Fund des toten britischen Kriegspiloten schien ein Fluch auf seinem Beruf zu liegen. Globalisierung war wie ein aggressives Virus, zuerst hatte es sich der Ökonomie bemächtigt und schien jetzt alle anderen Lebensbereiche zu infizieren. Warum konnte er nicht einen ganz und gar provinziellen Eifersuchtsmord auf dem Heinerfest abarbeiten – er fände es ja noch durchaus akzeptabel, wenn ihn die Spuren bis nach Pfungstadt oder Griesheim führten, notfalls wäre er auch bis nach Seeheim-Jugenheim gefahren, man durfte sich dem Fortschritt ja nicht in den Weg stellen.

Bunter grinste triumphierend, er schien noch einen Joker in der Hand zu haben. Er klickte auf die Tastatur seines Laptops, diesmal erschien nur eine lange Telefonnummer mit der Ländervorwahl 007 – Russland.

»Anfang 2006 hat die italienische Nachrichtenagentur ANSA öffentlich hingewiesen auf einen Link in der Internetpräsenz des Geheimdienstes FSB der Russischen Föderation. Der FSB forderte russische Bürger offen auf, sich bei ihren Auslandsreisen als Freizeitagenten zu betätigen und das Heimatland unter dieser Nummer mit interessanten Informationen zu versorgen. Der Tourist und Geschäftsreisende als Spion sozusagen – billiger und unauffälliger kann man’s nicht haben. Es gab einigen diplomatischen Hickhack deswegen, der FSB hat die Nummer daraufhin vom Netz genommen. Aber Rossi hat sie sich rechtzeitig gespeichert. Allein in der 47. Kalenderwoche 2006 hatte er über diese Nummer elf Verbindungen in die FSB-Zentrale ins Moskauer Lubyanka-Viertel

 

 

* * *

Bis zum Termin mit der Kriminaltechnikerin hatte er noch etwas Zeit. Er hackte eine kurze Zusammenfassung für die Staatsanwältin in den Computer, dann legte er die Füße auf den Schreibtisch, schnappte sich die aktuelle Caliber-Ausgabe und berauschte sich am minimalistischen Design des brandneuen Keppeler-Bullpup-Repetierers KS V in 308er Winchester.

Brecker stürmte in Rünz’ Büro, ohne anzuklopfen, das Hemd halb aufgeknöpft, in der Hand sein Lederholster mit der Dienstwaffe. Er bezog hinter seinem Schwager Stellung, mit guter Sicht auf den Computermonitor.

»Und? Was Neues von Hoven, fragte er.

»Habe heute noch nicht reingeschaut, mal sehen …«

Rünz startete das lokale Intranet des Präsidiums und klickte sich durch einige Menüebenen. Hoven hatte ein neues Steckenpferd – den Blog. Einige Wochen zuvor hatte die Financial Times Deutschland einen Bericht gebracht über die wachsende Anzahl börsennotierter Unternehmen, die mit ihren Firmenblogs prahlten, also wollte er auch einen. Und er bekam ihn – nach einigen hitzigen Auseinandersetzungen mit den hausinternen IT-Spezialisten und dem Datenschutzbeauftragten. Der Blog war sozusagen das kollektive virtuelle Poesiealbum des Polizeipräsidiums Südhessen. In der freien Wirtschaft dienten Firmenblogs dazu, die Prostitution der Angestellten für ihre Firmen zu perfektionieren. Es reichte nicht mehr aus, dem Arbeitgeber seine physischen oder kognitiven Fähigkeiten zur Verfügung zu stellen, die Manager forderten emotionale Bindung ein und die vorbehaltlose Identifikation mit dem Unternehmen. Mitarbeiter wurden aufgefordert, ihre Erlebnisse, Einfälle und Gefühle rund um die Firma im digitalen Blog niederzuschreiben, mit Kollegen und Kolleginnen zu diskutieren und zu kommentieren. Und so hatte sich Hoven das für das Präsidium auch vorgestellt. Aber was nützten solche Innovationen, wenn man Menschen wie Rünz und Brecker beschäftigte?

 

Rünz scrollte durch die Liste der Beiträge.

»Bingo! Ganz aktuell, von heute, 11.15 Uhr.«

Er las laut vor:

 

Von: Sven Hoven

 

Gestern hatte ich beim Fraunhofer-Institut für Integrierte Publikations- und Informationssysteme Gelegenheit, mich über hoch entwickelte Expertensysteme für effektives Wissensmanagement zu informieren. Ich bin mir sicher, dass viele Mitarbeiter im Präsidium Südhessen über Skills und Key Competences verfügen, die wir mit solchen Tools intern intensiver kommunizieren könnten, um damit unsere Performance nachhaltig zu steigern. Was halten Sie davon?

 

:-((           :-(           :- |           :-)           :-))

 

Die Emoticons in der letzten Zeile waren interaktive Buttons, mit denen der Leser seine Bewertung des Blogbeitrages abgeben konnte. Rünz und Brecker entwickelten einige Ideen und verwarfen sie wieder, schließlich einigten sie sich auf eine Antwort. Rünz klickte den Kommentar-Button und bearbeitete im Zweifinger-Suchsystem die Tastatur.

 

:-))    Von: Karl Rünz und Klaus Brecker

 

Eine Superidee! Wir vom Vorstand der Kleingartenanlage Kraftsruhe in Bessungen haben ganz ähnliche Probleme. Horst Hübner von der Parzelle 6c weiß zum Beispiel, wie man den Giersch ein für allemal sicher und zuverlässig aus dem Garten vertreibt, und das haben wir alle nur durch Zufall auf der letzten Sitzung erfahren! Und unser Kassenwart Willy Schnubbel hat einen Thermokomposter entwickelt, in dem das Schnittgut wegfault wie Schweinehack auf der Heizung. Wir könnten so ein Wissensmanagementsystem also auch gut gebrauchen, vielleicht wird’s im Zweierpack billiger?

 

:-((            :-(            :- |            :-)            :-))

 

 

* * *

 

 

Auf der Dachterrasse saugte er frische Luft in die Lungenflügel – die stockigen Ausdünstungen der vom Löschwasser durchnässten Polster, Teppiche und Vorhänge hatten ihm den Atem geraubt. Sybille Habich schien immun gegen derlei berufliche Zumutungen, sie arbeitete sich systematisch durch die Überreste, die der Brand vom Interieur übrig gelassen hatte. Ihr Standardprogramm – Fingerabdrücke, DNA-Spuren an benutztem Geschirr und Badartikeln, Fußabdrücke, Fasern – hatte sie mithilfe von zwei Assistenten abgearbeitet, die schon wieder auf dem Rückweg nach Wiesbaden waren. Sie unterhielt sich mit Rünz durch die offene Balkontür.

»Mehr als drei Wochen ist das her? Wissen Sie, warum noch niemand den ganzen Plunder hier ausgeräumt hat, fragte Habich.

»Wir hatten einfach Glück. Die Mieterin ist gestern erst aus dem Urlaub zurückgekommen. Laut Hausverwaltung braucht der Gutachter der Brandversicherung die Einwilligung der Mieterin, um hier nach der Brandursache zu forschen. Wir sind also sozusagen die ersten am Tatort, von der Feuerwehr mal abgesehen

»Was ist mit der Brandursache, haben die Jungs mit den langen Schläuchen sich geäußert

»Verdacht auf Kurzschluss an einem der elektronischen Geräte, keine Hinweise auf Brandstiftung.«

Rünz schaute sich um. Auf dem  Terrassenboden  hatte der Fliesenleger wohl Altbestände von Rudis Öko-Resterampe verarbeitet. Naturstein, Tonfliesen, Keramik, Terrakotta, Terrazzo in allen Formen und Größen – erstaunlich, wie viele unterschiedliche Materialien auf so kleiner Fläche verarbeitet werden konnten. Die Wände links und rechts der Terrasse wirkten, als hätten Kleinkinder ihre Fingerchen durch den noch feuchten Putz gezogen. Rossis Freundin hatte Dutzende Rankgitter, Stäbe und Drähte im Mauerwerk verdübelt, an denen sich allerlei blattloses Grünzeug hochschlängelte, im Sommer sah die Veranda wahrscheinlich aus wie ein Urwald. Er ging ein paar Schritte nach Westen zur Brüstung und schaute hinunter. Von der Bad Nauheimer Straße näherte sich eine Gruppe Asiaten, die schon in einiger Entfernung ihre Kameras zückten. Selbst im Winter machte eine Touristengruppe nach der anderen ihre Runde um das Hundertwasserhaus. Amerikaner, Japaner, Franzosen, Engländer –, alle fotografierten die immergleichen Motive, versuchten, durch die Fenster der Wohnungen einen Blick ins Innere zu werfen wie Zoobesucher am Raubtierkäfig. Eine schwarze Mercedes G-Klasse mit mächtigem Kuhfänger vor dem Kühler stand auf dem Bürgersteig, die Insassen waren wohl zu bequem, um auszusteigen, mächtige Teleobjektive ragten aus den Seitenfenstern. Auf weltweit Tausenden privater Computerfestplatten mussten schon Terabytes ähnlicher Aufnahmen liegen – vergoldete Türmchen, bunte, bauchige Wände, schiefe Vor- und Rücksprünge, verspielte Fliesenmosaike und wulstige Säulen, die mit kindlichem Trotz die klare geometrische Form zu meiden suchten. Die Fassade war einem geologischen Sediment gleich in erdigen Tönen horizontal gebändert – oberbayrische Lüftlmalerei für Anthroposophen. Das Ganze wirkte, als hätte ein gigantischer alkoholisierter Konditor eine riesige Keksform in den Untergrund gesteckt, den Inhalt hier abgesetzt und dann mit kandierten Früchten, Petits Fours und gespritzten Sahne- und Schokohäubchen verziert. Der Grundriss glich einem nach Süden offenen U, das Dach stieg einer langen gekrümmten Rampe gleich vom Ende des westlichen Schenkels von ebenerdigem Niveau gleichmäßig bis zur Maximalhöhe auf der Ostseite an, eigentlich ein ideales offenes Parkdeck, aber der alte Friedensreich hatte natürlich einen Dachgarten mit ordentlich Grünzeug anlegen lassen. Die ganze Anlage deprimierte Rünz. Die Waldspirale war das Taj Mahal der Globulianer, ein gebautes Manifest gegen Geometrie, Technik, Aufklärung und Wissenschaft, sie bediente wie kein anderes Gebäude in Darmstadt die naive Sehnsucht vieler urbaner Menschen nach Natürlichkeit – als wären Städte jemals etwas anderes gewesen als Trutzburgen gegen die Unberechenbarkeiten der umgebenden Natur. Das Attribut ›natürlich‹ hatte eine verhängnisvolle Bedeutungsmetamorphose hinter sich und war inzwischen auf eine erbarmungswürdig einfältige Art positiv besetzt. Seine Frau benutzte es im Zusammenhang mit pflanzlichen Medikamenten gerne als Synonym für ›harmlos‹, ›unbedenklich‹ und ›frei von Nebenwirkungen‹. Er assoziierte mit diesem Begriff Bandwürmer, Hyänen und Ebolaviren. Sie hatte ihm hier vor der Jahrtausendwende eine Wohnungsbesichtigung schmackhaft zu machen versucht – er hatte erstmals seit ihrer Hochzeit mit Scheidung gedroht.

 

Rünz holte noch einmal tief Luft und ging dann zurück in die Wohnung. Die Kriminaltechnikerin hatte auf der Arbeitsplatte der kleinen Wohnküche ihre mobile Laborausrüstung aufgebaut. Sie trug einen weißen Einweg-Overall, sah aber nicht halb so sexy aus wie die Spezialistinnen der einschlägigen US-amerikanischen Polizeiserien. Aber irgendwie erschien sie verändert, sie hatte nicht mehr den fahlgrauen Kettenraucher-Teint und seit Rünz’ Anwesenheit nicht einmal zur Zigarette gegriffen.

»Was ist mit dem Loch in der Eingangstür, fragte sie. »Hat der Eigentümer mit einer Schrotflinte um sich geschossen

»Habe mit dem Einsatzleiter der Feuerwehr gesprochen. Die Jungs sind da mit der Löschlanze durchgegangen. Die wollten einen Backdraft vermeiden, durchs Außenfenster war nur Rauchgas zu sehen, keine Flammen mehr

Sie hatte ein handliches kleines Photoionisations-Spektrometer, mit dem sie auf der Suche nach flüchtigen Bestandteilen von Brandbeschleunigern in der Raumluft wenige Zentimeter über dem stinkenden Teppichboden wedelte, wie eine kleine Ente quer durch das Wohnzimmer watschelnd. Ihre Hand zitterte merklich, und Rünz ahnte, wie ihr der Nikotinentzug zu schaffen machte. Er schaute sich um und versuchte, aus den Überresten des Brandes den ursprünglichen Zustand der Wohnung zu rekonstruieren. Von der schmierigen Rußschicht abgesehen, die die gesamte Inneneinrichtung wie ein Trauerschleier überzog, gab es nichts, was er nicht auch in irgendeinem anderen der Millionen junger weiblicher deutscher Singlehaushalte erwartet hätte, deren Bewohnerinnen ihre Existenz als PR-Assistentinnen, Fremdenverkehrskauffrauen und Pharmareferentinnen fristeten oder irgendwas mit Medien machten, sich abends DVDs mit Renée-Zellweger- oder Hugh-Grant-Filmen ausliehen, in Singlebörsen chatteten oder freche Frauenromane von Ildikó von Kürthy lasen. Über den Resten einer Stereoanlage hing ein Poster an der Wand, ein Schwarz-Weiß-Negativ ohne nennenswerte Brandspuren. Rünz ging hin und berührte es, eine Metallplatte mit dem eingeätzten Antlitz des US-Softrockers Jon Bon Jovi. Auf dem Hi-Fi-Rack darunter fand er die verkohlten Überreste einer ganzen Devotionalienhandlung zu Ehren des blonden Weichspülers, Kaffeetassen, Stifte und Schlüsselanhänger.

Feuer und Löscharbeiten hatten einige Verwüstung angerichtet, die Brandbekämpfer hatten auf der Suche nach Glutnestern sämtliche Schränke, Schubladen und Fächer geöffnet und durchwühlt – unmöglich zu rekonstruieren, ob hier irgendjemand etwas gesucht und gefunden hatte. Rossi schien in der Wohnung seiner Freundin kaum Spuren hinterlassen zu haben – bis auf eine Arbeitsplatte auf Holzböcken nahe der Balkontür, auf der allerlei verschmurgeltes elektronisches Gerät stand. Wahrscheinlich das Technikzeugs, von dem seine Freundin gesprochen hatte.

»Schau mal an«, murmelte Habich.

»Was gefunden?«