Handel

Borric rieb sich das Kinn.

»Ich wünschte, die Leute würden mich nicht immer gleich schlagen, wenn sie mir ihre Meinung sagen wollen«, murmelte er.

Ghuda, der über ihm stand, meinte: »Das war dafür, daß du mich um meinen Lohn gebracht hast. Ich kann jetzt nicht zu Saber zurück, ohne die halbe kaiserliche Armee auf dem Buckel zu haben, und selbst wenn ich ihn finden sollte, würde mir der Kerl, glaube ich, kaum rausrücken, was er mir schuldet. Und das habe ich allein dir zu verdanken, Verrückter.«

Borric konnte nur zustimmen, obwohl er fand, so wie er hier auf dem feuchten Stroh in einer verlassenen Scheune saß, inmitten eines Landes, in dem nur Menschen wohnten, die ihn anscheinend bei jeder Gelegenheit umbringen wollten, verdiente er wenigstens ein wenig Mitleid. »Sieh mal, Ghuda, ich mache es wieder gut.«

Der Söldner drehte sich um und wollte die Pferde absatteln, die sie gestohlen hatten, sagte jedoch über die Schulter: »Ach, wirklich? Und wie willst du das, bitte schön, machen? Willst du vielleicht eine höfliche Nachricht an Abar Bukar, den Lord der Armeen, schicken: ›Bitte, guter Lord, laßt meinen Freund noch einmal davonkommen. Er wußte doch nicht, daß ich bei Verhaftung zu töten sei, als er mich kennenlernte‹? So vielleicht?«

Borric stand auf und bewegte sein Kinn, um zu prüfen, ob damit noch alles in Ordnung war. Es schmerzte, doch er glaubte, es wäre nicht ernstlich verletzt. Er sah sich in der alten Scheune um. Das Bauernhaus, das daneben gestanden hatte, war niedergebrannt worden, entweder von Banditen oder – aus welchem Grund auch immer – von den kaiserlichen Soldaten. Doch egal, wer es angezündet hatte, die Scheune neben dem Haus bot Borrics kleiner Gruppe jetzt die Gelegenheit, die Pferde ein wenig ausruhen zu lassen. Wie bei guten Reitern üblich, fand sich Getreide in den Satteltaschen, also machte sich Borric zu seinem Pferd auf und gab ihm eine Handvoll. Suli saß zermürbt auf einem halbverrotteten Strohballen und bot einen jämmerlichen Anblick. Nakor hatte sein Pferd bereits abgesattelt und striegelte es mit dem saubersten Stroh, das er hatte finden können. Er summte abwesend irgendeine Melodie vor sich hin, während er arbeitete. Und er hatte nicht einen Moment aufgehört zu grinsen.

Ghuda sagte: »Wenn sich die Pferde ausgeruht haben, sind wir beiden quitt miteinander. Ich werde schon irgendwie wieder nach Faráfra zurückkommen, und dort suche ich mir ein Schiff nach Niederkesh. Dort unten geht es etwas weniger kaiserlich zu, wenn du verstehst, was ich meine. Vielleicht werde ich das Ganze ja sogar überleben.«

Borric sagte: »Ghuda, warte.«

Der große Söldner ließ den Sattel auf den Boden plumpsen und fragte: »Was ist?«

Borric machte ihm ein Zeichen, er solle ein Stück von den anderen fort kommen, und sagte leise: »Bitte. Es tut mir leid, ich wollte dich da nicht mit hineinziehen, aber ich brauche dich.«

»Du brauchst mich, Verrückter? Wofür? Damit du nicht allein stirbst? Danke, aber ich möchte eigentlich lieber in den Armen einer Hure sterben, und zwar erst in einigen Jahren.«

»Nein, ich meine, ich schaffe es nicht ohne dich nach Kesh.«

Ghuda sah himmelwärts. »Warum ich?«

Borric sagte: »Sieh dir den Jungen an. Er ist vollkommen verschreckt und so durcheinander, daß er nicht mehr klar denken kann. Er kennt sich vielleicht in den Hinterhöfen von Durbin aus, doch sonst weiß er nichts. Und der Isalani … nun, er ist nicht gerade das, was ich zuverlässig nennen würde.« Borric hob den Zeigefinger an die Schläfe und ließ ihn kreisen.

Ghuda betrachtete das kläglich aussehende Paar und mußte zustimmen. »Gut, deine Aussichten sind schlecht. Aber was geht’s mich an?«

Borric dachte nach und konnte keinen vernünftigen Grund nennen. Das Schicksal hatte sie zusammengebracht, doch zwischen ihnen gab es keine richtige Freundschaft. Der ältere Söldner war auf seine Art ein liebenswerter Kerl, doch nicht das, was Borric einen Gefährten fürs Leben nennen würde. »Sieh mal, ich würde es wirklich wieder gutmachen.«

»Wie?«

»Wenn du mich nach Kesh bringst und mir hilfst, die Leute zu treffen, die ich finden muß, um dieses Schlamassel zu beenden, dann bezahle ich dir mehr Gold, als du in deinem ganzen Leben als Karawanenwächter verdienen kannst.«

Ghuda kniff die Augen zusammen, während er über Borrics Worte nachdachte. »Du sagst das doch nicht nur einfach so dahin?«

Borric schüttelte den Kopf. »Ich gebe dir mein Wort.«

»Wo willst du hin, um eine solche Menge Gold in die Hände zu bekommen?« fragte Ghuda.

Borric dachte nach, ob er ihm die ganze Geschichte erzählen sollte, doch er konnte Ghuda einfach nicht so viel Vertrauen entgegenbringen. Ein namenloser Mann, den man eines Verbrechens beschuldigte, das er nicht begangen hatte, war eine Sache; ein Prinz, der gejagt wurde, war eine andere. Selbst jemand, der Borrics wahren Namen nur ahnte, war schon so gut wie tot, wenn man ihn in seiner Gesellschaft fand. Ghuda würde vielleicht durch die hohe Belohnung verlockt werden, sein Glück zu versuchen. Borrics Erfahrungen mit Söldnern sprachen nicht gerade für ihren übermäßigen Sinn für Treue.

Endlich sagte Borric: »Man hat mich aus politischen Gründen des Mordes an der Frau des Gouverneurs von Durbin beschuldigt.«

Ghuda zuckte nicht mit der Wimper, also war Borric auf der richtigen Fährte; politische Morde waren in Kesh nicht unwahrscheinlich. »Hier in Kesh gibt es Leute, die könnten mich von diesem Verdacht befreien, und noch mehr, sie haben die Mittel, um dir« – er rechnete rasch einen für das Königreich beeindruckenden Betrag in die Währung von Kesh um – »zweitausend ecu zu geben.«

Ghuda machte große Augen, dann schüttelte er den Kopf. »Hört sich gut an, Verrückter, aber das tun die Versprechen einer Hure auch.«

Borric sagte: »Also gut, dreitausend.«

Der Söldner wollte, daß Borric Farbe bekannte, also forderte er: »Fünftausend!«

»Abgemacht!« erwiderte der Prinz. Er spuckte in die Hand und streckte sie Ghuda entgegen. Ghuda betrachtete die ausgestreckte Hand, die ihm auf die althergebrachte Art der Händler angeboten wurde, und er wußte, er würde sie entweder annehmen müssen oder als Eidbrecher gelten. Widerwillig spuckte er in die eigene Hand und schüttelte daraufhin Borrics. »Verdammt noch mal, Verrückter!

Solltest du mich angelogen haben, dann durchbohre ich deine Eingeweide mit meinem Schwert, das schwöre ich dir! Wenn ich aus Dummheit sterben sollte, dann möchte ich zumindest das Vergnügen haben, dich tot zu sehen, bevor ich vor die Göttin des Todes trete!«

Borric sagte: »Sollten wir es schaffen, dann bist du ein gemachter Mann, Ghuda Bulé.«

Ghuda warf sich auf das feuchte Stroh; er wollte sich so gut es ging noch ein wenig ausruhen. »Ich hätte es lieber gesehen, wenn du es auf eine andere Art und Weise gemacht hättest, Verrückter.«

Borric ließ den Söldner, der irgend etwas in seinen Bart murmelte, allein und setzte sich neben Suli. »Wirst du es schaffen?« fragte er.

Der Junge sagte: »Ja. Es tut nur ein bißchen weh. Doch dieses Untier hat einen Rücken wie eine Schwertklinge. Ich komme mir vor wie in zwei Teile gerissen.«

Borric lachte. »Am Anfang ist es immer hart. Du wirst noch ein bißchen Unterricht bekommen, hier in der Scheune, ehe wir heute abend aufbrechen.«

Ghuda sagte: »Nicht daß es ihm viel helfen würde, Verrückter.

Wir werden diese Sättel hierlassen müssen. Der Junge wird auf dem bloßen Rücken reiten.«

Nakor nickte heftig. »Ha, das stimmt. Falls wir diese Pferde verkaufen sollten, darf keiner auf die Idee kommen, sie könnten aus kaiserlichem Eigentum stammen.«

»Verkaufen?« fragte Ghuda. »Warum?«

»Wegen der Geburtstagsfeier«, erwiderte Nakor, »wird es leichter für uns sein, wenn wir ein Boot mieten und auf dem Fluß, dem Sarne, zur Stadt reisen. Da werden wir nur vier unter vielen sein. Aber dafür brauchen wir Geld.«

Borric dachte an das bißchen Geld, das ihm nach dem Kauf der Kleidung und des Harnisches in Faráfra geblieben war, und er wußte, Nakor hatte recht. Sie hatten nicht einmal mehr genug Geld, um sich in einem anständigen Gasthaus ein richtiges Essen zu leisten.

»Wer sollte sie denn kaufen?« fragte Ghuda. »Sie haben ein Brandzeichen.«

»Das stimmt«, meinte der Isalani, »aber dagegen kann man etwas machen. Die Sättel kann man leider, leider nicht verändern, ohne sie bis zur Wertlosigkeit zu zerschneiden.«

Ghuda stützte seinen Kopf in die Hand. »Wie willst du denn dieses Brandzeichen ändern? Hast du ein Brandeisen in deinem Rucksack?«

»Etwas Besseres«, sagte der kleine Mann, griff in seine Tasche und zog ein kleines verkorktes Glas hervor. Er kramte weiter in seiner Tasche und brachte eine kleine Bürste zum Vorschein. »Gebt acht.« Er zog den Korken aus dem Glas. »Mit einem Eisen würde man nur eine grobe, leicht zu entdeckende Veränderung des Brandzeichens hinbekommen. Dies hier ist eher etwas für einen Künstler.« Er ging zu dem Pferd, das am nächsten bei ihm stand.

»Die Armee drückt allen Tieren das kaiserliche Zeichen auf.« Er begann, die Flüssigkeit auf die Flanke des Pferdes aufzutragen, indem er es leicht mit der Bürste betupfte. Man hörte ein leichtes Zischen, und die Haare, die er mit der Bürste berührte, wurden schwarz, wie von einer Flamme. »Halt das Pferd still, bitte«, sagte er zu Borric. »Das hier wird ihm nicht weh tun, doch vielleicht macht die Hitze es scheu.«

Borric ging hin, schnappte sich das Zaumzeug des Tiers und hielt es, während sich die Ohren des Pferdes hierhin und dorthin drehten.

Nach einem Moment sagte Nakor: »Da. Jetzt trägt es das Zeichen von Jung Sût, Pferdehändler aus Shing Lai.«

Borric kam herum und sah es sich an. Das Brandzeichen sah jetzt ganz anders aus; Nakor hatte recht behalten. Es schien, als wäre das Brandzeichen wie jedes andere mit einem einzigen Brandeisen gemacht worden. »Wird irgend jemand in Kesh diesen Jung Sût kennen?«

»Höchst unwahrscheinlich, mein Freund, weil er nämlich nicht existiert. Wie auch immer, es gibt in Shing Lai vielleicht tausend Pferdehändler, und wer will schon behaupten, sie alle zu kennen?«

Ghuda sagte: »Also dann, wenn ihr damit fertig seid und wir aufbrechen können, weckt mich, ja?« Während er das sagte, streckte er sich auf dem feuchten Stroh aus und machte es sich so bequem wie möglich.

Borric sah Nakor an und meinte: »Wenn wir den Fluß erreicht haben, wäre es wohl besser, wenn du uns verlassen würdest.«

»Das glaube ich nicht«, sagte der andere grinsend. »Ich beabsichtige, auf jeden Fall nach Kesh zu reisen, weil ich während der Geburtstagsfeier sicherlich leichtes Geld machen kann. Es wird viele Glücksspiele geben, und viele Gelegenheiten, bei denen ich meine kleinen magischen Fähigkeiten einsetzen kann. Außerdem, wenn wir beide zusammen reisen, und Ghuda und der Junge ein paar Stunden hinter uns, werden wir nicht mehr die sein, nach denen die Soldaten Ausschau halten.«

»Vielleicht«, meinte Borric, »doch mittlerweile haben sie von uns eine sehr gute Beschreibung.«

»Aber nicht von mir«, erwiderte der Isalani grinsend. »Mich hat keiner der Soldaten gesehen, als sie die Karawane angehalten haben.«

Borric dachte daran zurück; tatsächlich war Nakor verschwunden gewesen, während die kaiserlichen Soldaten alle anderen unter die Lupe genommen hatten. »Ja, wo du das erwähnst, wie hast du das gemacht?«

»Das ist ein Geheimnis«, sagte er und grinste freundlich. »Aber das spielt keine Rolle. Wir müssen etwas an deinem Aussehen ändern, und das spielt eine Rolle.« Er betrachtete Borrics unbedeckten Kopf eingehend. »Dein Haar wächst an den Wurzeln verdächtig rot heraus. Also müssen wir uns etwas für dich einfallen lassen.«

Borric schüttelte den Kopf. »Noch eine Überraschung aus deinem großen Rucksack?«

Nakor beugte sich über den Rucksack, und sein Grinsen wurde noch breiter als gewöhnlich. »Natürlich, mein Freund.«

 

Borric wachte auf, weil Suli ihn heftig an den Schultern rüttelte.

Er wurde augenblicklich wach. Draußen wurde es gerade dunkel.

Ghuda stand lauschend mit gezogener Waffe an der Tür, und Borric gesellte sich einen Moment später mit gezogenem Schwert zu ihm.

»Was gibt es?« zischte Borric.

Ghuda hob die Hand, um Borric zum Schweigen zu bewegen, und lauschte weiter. »Reiter«, flüsterte er. Er wartete, doch endlich steckte er sein Schwert zurück in die Scheide. »Sie reiten nach Westen. Diese Scheune ist weit genug von der Straße entfernt, daß sie sie sich vermutlich nicht ansehen, doch wenn sie erst einmal den Haufen getroffen haben, den wir in Jeeloge zu Fuß hinter uns gelassen haben, werden sie hier einfallen wie Fliegen auf den Mist. Wir sollten uns lieber in Marsch setzen.«

Borric hatte dasjenige der vier Pferde für Suli ausgesucht, welches ihm wahrscheinlich am wenigsten Widerstand entgegensetzen würde, und er half dem Jungen auf den Rücken des Tiers. Während er ihm die Zügel reichte, sagte er: »Wenn wir irgendwann schnell reiten müssen, hältst du dich mit der linken Hand an der Mähne fest. Und mach die Beine so lang du kannst – dann sitzt du sicherer, als wenn du dich mit den Knien festklammerst. Verstanden?«

Der Junge nickte, doch seinem Gesichtsausdruck nach erschien es ihm offensichtlich kaum weniger abschreckend, auf diesem Pferd schnell reiten zu müssen, als noch einmal mit Soldaten zusammenzutreffen. Borric wandte sich von ihm ab und sah, wie Nakor die Sättel aus der Scheune brachte. »Wohin bringst du sie?«

Der grinsende Isalani sagte: »Hinten ist ein alter Komposthaufen. Da werden sie bestimmt nicht suchen, würde ich meinen.«

Borric mußte lachen, und einen kurzen Moment später war der ständig glückliche Mann zurück und sprang trotz des Rucksacks und des Stabs, die er immer dabei hatte, geschickt auf das Pferd. Borric bekam den Geruch verfaulenden Abfalls in die Nase und meinte: »Puh! Wenn der Haufen so stinkt, dann behältst du sicherlich recht. Die werden darin so bald nicht herumstochern.«

Ghuda sagte: »Los. Wir sollten bis zur Morgendämmerung soviel Weg wie möglich hinter uns gebracht haben.«

Borric machte ein Zeichen, und der Söldner schob das Scheunentor auf und sprang dann auf sein Pferd. Er trat ihm fest in die Flanken und ließ es in Trab fallen, derweil Borric, Suli und Nakor ihm folgten. Borric verdrängte den schaurigen Gedanken, hinter jeder Biegung der Straße könnte ein Hinterhalt auf sie warten.

Etwas anderes war viel wichtiger: Jede Minute, die verstrich, brachte ihn Kesh und damit Erland und den anderen näher.

In der Stadt Páhes herrschte reges Treiben, denn sie lag an der Brücke über den Sarne, an der Stelle, wo sich die Straße von Faráfra nach Khattara, welches weiter im Nordosten lag, mit dem Fluß kreuzte. Im Osten der Brücke, am Südufer des Flusses, war über die Jahre ein Hafenviertel mit vielen Lagerhäusern gewachsen, wo Fuhrleute ihre Wagen dicht an die Lastkähne und Flußschiffe brachten, mit denen die Waren bis ins Herz des Kaiserreichs befördert wurden. Zudem waren auch einige Segelboote zu sehen, denn hier wehte der Wind meist aus Westen. Deswegen war es den größten Teil des Jahres über möglich, von Kesh aus nach Jamila und den anderen Orten flußaufwärts zu segeln, außer zu den Zeiten der Überflutung. Und auf dem riesigen Overnsee war so viel Schiffsverkehr wie auf jedem anderen größeren Gewässer in Midkemia.

Borric sah sich um, wobei er sich in seinem neuen Gewand immer noch sehr dumm vorkam. Er trug ein dahá, die traditionelle Kleidung der Bendrifí, eines Bergvolks aus dem Regenschattengebirge. Das gute Stück bestand aus einem buntgefärbten Tuch, welches zuerst um die Taille gewickelt und dann wie eine Toga über die Schulter gelegt wurde. Sein Schwertarm war nackt, genauso wie seine Beine.

Anstelle der Stiefel trug er jetzt kreuzweise geschnürte Sandalen.

Borric kam sich ohne seinen Harnisch sowohl lächerlich als auch verletzlich vor. Doch es war eine gute Wahl, denn die Bendrifí waren eine der hellhäutigen eingeborenen Rassen von Kesh. Borrics Haar war bis auf den Schädel kurzgeschnitten und mit einer übelriechenden Tinktur gefärbt, die Nakor am Abend zuvor aufgetrieben hatte, und nun war der Prinz beinahe weißblond; dazu standen die Haare mit Hilfe einer süßlich riechenden Pomade fast aufrecht, während sie über den Ohren abrasiert waren. Die Bendrifí waren unnahbare, zurückhaltende Menschen, deshalb würde sich niemand über Borrics Schweigsamkeit wundern; Borric betete nur, daß er hier niemandem von diesem Volk begegnen würde, denn die Sprache dieser Leute war mit keiner der anderen in Kesh verwandt, und Borric konnte kein einziges Wort in ihr sprechen. Doch während Borric seiner Verwandlung unterzogen worden war, hatte Suli ihm verraten, er könne ein wenig in Ghendrifí, der Sprache der Bendrifí, fluchen, und er hatte Borric ein paar Sätze beigebracht.

Borric hatte keine Ahnung, wo Nakor diese ausländische Verkleidung aufgetrieben hatte, doch wie bei allem anderen, was der Isalani anfing, kam auch diesmal ein erstaunliches Ergebnis heraus.

Der kleine Mann hatte beim Verkauf der Pferde doppelt soviel herausgeholt, wie sie wert waren, und es war ihm gelungen, in der kleinen Stadt ein Rapier für den Prinzen aufzutreiben, welches Borric selbst in Faráfra, einer der größten Städte des Kaiserreichs, nicht hatte finden können.

Suli war jetzt wie ein Junge der Beni-Sherín gekleidet, einem großen Stamm von Bewohnern der Jal-Pur, und er besaß nun ebenfalls ein Schwert. Darüber trug er einen weiten Mantel und eine Kopfbedeckung, welche nur die Augen frei ließ. Wenn er immer daran denken würde, sich aufrecht zu halten, könnte er durchaus als kleiner Erwachsener durchgehen. Der Junge hatte seine alten Lumpen nicht hergeben wollen, bis Ghuda ihm gedroht hatte, ihn mit dem Schwert aus ihnen herauszupellen. Und da Ghuda sich seit ihrer Festnahme in Jeeloge die ganze Zeit sehr ungeduldig benommen hatte, war Borric sich nicht sicher gewesen, ob er nur scherzte.

Ghuda hatte seinen Harnisch verkauft und sich etwas Feineres, einen fast neuen Lederharnisch und die dazu passenden Armbänder, zugelegt. Seinen alten verbeulten Helm hatte er abgelegt und durch einen ersetzt, wie ihn die Hundesoldaten trugen, einen Eisentopf mit einem spitzen Stachel oben und einem schwarzen Fellkranz und einem Kettennackenschutz, der bis auf die Schultern reichte. Wenn man das Visier vors Gesicht klappte, konnte man nur noch die Augen sehen, und genauso trug Ghuda ihn im Moment.

Nakor war es irgendwie gelungen, seine zerschlissene, fleckige gelbe Robe loszuwerden, und er trug nun eine, die genauso verrufen aussah, nur pfirsichfarben – und fleckig – war. Und er sah keinen Deut weniger lächerlich aus als Borric. Doch der Isalani hielt das Ganze für einen hinlänglichen Wechsel seiner Kleidung, und wegen seiner Findigkeit wollte sich Borric auch nicht mit ihm streiten.

Nakor hatte ihnen einen Platz auf einem Kahn besorgt, der in die Stadt Kesh fuhr. Sie würden vier unter insgesamt hundert Passagieren sein.

Wie Borric es erwartet hatte, waren überall Soldaten. Sie versuchten, unauffällig zu wirken, doch da sie in großer Zahl auftraten und ihre Zeit damit verbrachten, praktisch jedem Passagier ins Gesicht zu sehen, war es natürlich klar, daß sie nicht ohne einen bestimmten Grund unterwegs waren.

Die vier bogen um eine Ecke und wollten zu einem Wirtshaus, das sich nur wenige Meter vom Hafen entfernt befand. Borric und Suli gingen ein paar Schritte vor Nakor und Ghuda. Das Boot würde erst in zwei Stunden ablegen. Sie würden sich wie Reisende benehmen, die ihre Zeit in der Gegenwart von Fremden totschlagen mußten.

Sie kamen an einer offenstehenden Tür vorbei, und Suli wäre fast gestolpert. Er zischte Borric leise zu: »Meister, ich kenne diese Stimme.«

Borric schob den Jungen in den nächsten Eingang und machte Ghuda und Nakor ein Zeichen, sie sollten an ihnen vorbeigehen.

»Was meinst du?« fragte Borric.

Suli zeigte zurück zu der Tür. »Ich habe nur ein paar Worte gehört, aber ich habe die Stimme erkannt.«

»Wer war es?«

»Ich weiß es nicht. Ich muß noch einmal zurückgehen, vielleicht kann ich mich dann erinnern.« Der Junge wandte sich um und ging erneut an der Tür vorbei, dann schlich er vor ihr herum und sah zu Boden, als würde er etwas suchen. Schließlich gab er vor zu warten, drehte sich um, zuckte mit den Schultern und kam wieder zu Borric.

»Das war eine der Stimmen, die ich im Palast des Gouverneurs von Durbin gehört habe, in der Nacht, als ich das Komplott über Euren Tod belauschte.«

Borric zögerte. Wenn sie noch einmal vorbeigingen und in den Eingang hineinsahen, mochten sie unerwünschte Aufmerksamkeit auf sich ziehen, aber andererseits wollte er auch wissen, welcher Bluthund ihm auf der Spur war. »Bleib hier«, meinte Borric, »und halte Ausschau, wer herauskommt. Dann kommst du ins Wirtshaus und sagst es uns.«

Borric ließ den Jungen allein und eilte zu seinen Gefährten, die bei einem Bier auf ihn warteten. Er blieb einen Moment lang an ihrem Tisch stehen und sagte: »Es könnte jemand in der Stadt sein, der mich kennt«, dann setzte er sich an den Tisch neben ihnen.

Kurze Zeit später kam Suli und setzte sich zu Borric. »Es war der Mann in dem schwarzen Mantel. Er trägt ihn immer noch, Meister.

Und es war seine Stimme«, flüsterte der Junge.

»Hast du ihn dir ansehen können?«

Der Junge antwortete: »Lange genug, um ihn wiederzuerkennen.«

»Gut«, flüsterte Borric. »Wenn du ihn noch einmal siehst, sag uns Bescheid.«

»Meister, da ist noch etwas.«

»Was denn?«

»Ich habe genug gesehen, um zu wissen, daß er ein Reinblütiger ist.«

Borric nickte. »Das überrascht mich nicht.«

»Aber das ist nicht alles. Als sein Mantel vorn auseinander fiel, konnte ich an seinem Hals Gold schimmern sehen.«

Borric fragte: »Was bedeutet das?«

Es war Ghuda, der antwortete. Ärgerlich zischte er über die Schulter: »Es bedeutet, du ochsenhirniger Irrer, dieser Reinblütige ist nicht nur ein einfacher Reinblütiger, sondern er gehört zum kaiserlichen Haus von Kesh! Das sind die einzigen, die den goldenen Halsring tragen dürfen! Vielleicht ist er nur ein entfernter Cousin der Kaiserin, aber sie wird ihm dennoch jedesmal zum Geburtstag ein Geschenk schicken! Zur Hölle, in was für einen Schlamassel hast du uns da eigentlich reingezogen?«

Borric schwieg, da eine große, derbe Kellnerin an ihre Tische kam. Mit krächzender Stimme bestellte er zwei Krüge Bier, und als sie gegangen war, wandte er sich halb Ghuda zu. »Es ist ein ziemlich verworrener Schlamassel, mein Freund. Wie gesagt, es geht um hohe Politik.«

Als die Kellnerin das Bier gebracht hatte und wieder verschwunden war, sagte Ghuda: »Meine liebe tote Mutter wünschte sich immer, ich sollte einem ehrenhaften Beruf nachgehen, so etwas wie Grabräuber. Warum habe ich nicht auf sie gehört? Nein. Werde doch ein Assassine wie dein Onkel Gustav, hat sie immer gesagt.

Und habe ich auf sie gehört? Nein. Ich hätte bei einem Geisterbeschwörer in die Lehre gehen können –«

Borric versuchte, Ghudas Galgenhumor zu genießen, doch er mußte immer wieder an die neuesten Verwicklungen denken. Wer wollte ihn und Erland umbringen? Und warum? Es war offensichtlich, dieses Komplott wurde in den höchsten Rängen des Kaiserreiches geschmiedet, doch reichten die Verbindungen dieser Leute sogar bis in die kaiserliche Familie? Er seufzte und trank sein bitteres Bier, dann versuchte er, die dunklen Gedanken aus seinem Kopf zu vertreiben, während sie auf das Signal warteten, welches das Ablegen ihres Bootes verkünden würde.

 

Die Glocke klang durch den ganzen Hafen, und Borric und seine Gefährten sowie ein halbes Dutzend weiterer Leute in dem Gasthaus suchten ihre Bündel zusammen und drängten sich durch die Tür.

Draußen sah Borric eine Kompanie kaiserlicher Soldaten am Bootssteg stehen. Sie gehörten zur Inneren Legion, die vor allem im Herzen von Kesh großen Einfluß hatte. Jeder Mann trug einen Eisenhelm und einen tellerförmigen Brustpanzer, der schwarz emailliert war. Kurze schwarze Kilts und schwere Beinschienen und Armbänder ließen sie ausgesprochen einschüchternd erscheinen. Der Offizier der Truppe trug einen Helm, der mit einem roten Pferdeschweif geschmückt war, und ein weiterer – sein eigener – Pferdeschwanz fiel ihm lang den Rücken hinunter.

Borric sagte: »Ruhig jetzt, und benehmt euch so, als hättet ihr nichts zu verbergen.« Er gab Suli einen leichten Stoß, um ihm zu bedeuten, er solle allein weitergehen, dann winkte er Ghuda und Nakor nach vorn.

Borric selbst blieb zurück und beobachtete alles.

Die Soldaten warfen von Zeit zu Zeit einen Blick auf ein Pergament, vermutlich eine Beschreibung der drei Gesuchten. Sie ließen Suli an Bord gehen, ohne ihn ein zweites Mal anzusehen.

Ghuda wurde kurz angehalten und befragt. Was auch immer er antwortete, sie waren damit zufrieden und winkten ihn an Bord.

Dann wäre Borric fast das Herz stehengeblieben, als Nakor sich umdrehte und mit einem der Soldaten zu sprechen begann. Der Soldat sagte etwas und nickte, dann wandte er sich an einen zweiten.

Borric merkte, wie sein Mund trocken wurde, als drei Soldaten den Anleger verließen und zielstrebig auf ihn zukamen. Da er vielleicht Platz zum Kämpfen brauchen würde, ging Borric nur sehr langsam auf den Anleger zu, als wäre nichts Besonderes vorgefallen.

Er versuchte, den Soldaten auszuweichen, doch einer legte ihm die Hand auf den Arm. »Warte mal einen Moment, Bendrifí.« Die Aufforderung hörte sich nicht gerade wie eine Bitte an.

Borric tat sein Bestes, um überrascht und verachtungsvoll um sich zu blicken. Er sah dorthin, wo der Offizier auf dem Anleger stand und den Wortwechsel beobachtete. »Was ist?« fragte Borric und ließ seine Stimme so mürrisch wie möglich klingen.

»Wir haben von dem Streit gehört, den du auf der Straße von Khattara nach hier vom Zaun gebrochen hast. Vielleicht konnten dich die Karawanenwächter dort nicht zurückhalten, aber auf diesem Boot werden auch sechs Legionäre mitfahren. Und wenn du noch mehr solchen Ärger machst, werden sie dich einfach in den Fluß werfen.«

Borric starrte dem Mann an und fauchte leise, während er die Lippen verzog. Daraufhin sagte er einen der Sätze, die Suli ihm beigebracht hatte. Er entriß seinen Arm dem Griff des Legionärs, doch als die drei ihre Hände an die Hefte ihrer Schwerter legten, hielt er seine nur besänftigend in die Höhe, als wollte er zeigen, daß er keinen Ärger machte.

Borric wandte ihnen den Rücken zu und versuchte, sich wie ein reizbarer, rauher Mann aus den Bergen zu benehmen, wobei er hoffte, seine Knie würden nicht so zittrig aussehen, wie sie sich anfühlten. Er ging als einer der letzten an Bord und suchte sich auf dem breiten Boot einen Platz, der von seinen Gefährten möglichst weit entfernt war. Die sechs Legionäre kamen als letzte an Bord und gingen zusammen zum Heck, wo sie sich miteinander unterhielten.

Schweigend schwor sich Borric, dem Isalani an die Gurgel zu gehen, wenn sie in Kesh landeten.

 

Anderthalb Tage später, nachdem das Boot unterwegs dreimal angelegt hatte, sahen sie die Silhouette der Stadt Kesh vor sich auftauchen. Borric hatte sich von dem Schrecken erholt, den ihm der Isalani eingejagt hatte, und er war in ein dumpfes Brüten verfallen, eine Haltung, die ihm wenigstens keine weitere Anstrengung abverlangte. Die Lage sah hoffnungslos aus, und dennoch mußte er sich irgendwie dazu zwingen, weiterzumachen. Wie ihr Vater ihm und Erland schon beigebracht hatte, als sie noch klein gewesen waren, war es ohne weitere Schwierigkeiten immer möglich zu versagen; wollte man Erfolg haben, mußte man hingegen etwas riskieren. Borric hatte damals nicht wirklich verstanden, wovon sein Vater redete – Erland und er selbst waren Prinzen von königlichem Blute, und es gab nichts, was sie nicht hätten tun können, aber das lag nur an dem, was sie darstellten.

Jetzt verstand Borric, was sein Vater ihm hatte erklären wollen, und jetzt war der Einsatz sogar sein eigenes Leben, das seines Bruders, und vielleicht ging es sogar um den Fortbestand des Königreiches.

Während sie sich dem oberen Hafen von Kesh näherten, entdeckte Borric jede Menge Soldaten an der Anlegestelle. Womöglich wollten sie sich nur einschiffen, um den Overnsee zu überqueren oder flußaufwärts zu fahren, sie konnten aber auch dazu abgestellt sein, die in der Stadt eintreffenden Reisenden zu überprüfen, und dann würden sie für ihn ein weiteres Hindernis auf dem Weg zu seinem Bruder darstellen.

Das Boot legte an, und Borric ging nach hinten zu den Legionären. Die Soldaten machten sich bereit, an Land zu gehen, sobald das Boot vertäut war. Borric stellte sich neben den Kerl, der ihn angesprochen hatte, bevor sie in Páhes an Bord gegangen waren.

Der Soldat warf ihm einen Blick zu und wandte sich dann ab.

Die ersten Reisenden verließen das Schiff, doch Borric blieb stehen, wo er war. Er sah zu, wie alle, die ausstiegen, angehalten und überprüft wurden, und er wußte, dabei würde er keine Ausnahme bilden. Als er an der Reihe war, von Bord zu gehen, wandte er sich an den Soldaten und sagte mit harscher Stimme: »Ich habe da etwas sehr Unfreundliches in Páhes zu dir gesagt, Soldat.«

Der Legionär kniff die Augen zusammen und sagte: »Das habe ich mir schon gedacht, obwohl ich dein Kauderwelsch nicht verstehe.«

Borric betrat mit dem Soldaten zusammen die Planke und sagte: »Ich bin hier, um den Geburtstag der Kaiserin zu feiern und um im Tempel von Tith-Onaka Opfer darzubringen.« Borric hatte bemerkt, daß der Mann wie die meisten dieser Soldaten den Talisman des Kriegsgottes mit den zwei Gesichtern trug. »Zu so heiligen Anlässen möchte ich mir keinen Streit mit irgendeinem Soldaten erlauben. Der Isalani hatte mich beim Kartenspiel betrogen. Deshalb war ich ziemlich aufgebracht. Willst du nicht meine Hand nehmen und mir meine Beleidigung verzeihen?«

Der Soldat erwiderte: »Kein Mann soll den Tempel der Schlachten betreten, wenn er noch einen Handel mit einem Soldaten offen hat.« Am Ende der Planke, vor den Soldaten, die die Reisenden überprüften, faßten sich der Legionär und Borric gegenseitig am rechten Unterarm und schüttelten so die Hände. »Mögen deine Feinde niemals deinen Rücken sehen.«

Borric sagte: »Mögest du noch viele Jahre lang die Lieder des Sieges singen, Legionär.«

Als wären sie alte Freunde, die sich voneinander verabschiedeten, schüttelten sie sich nochmals die Hände, und Borric drehte sich um und drängte sich zwischen zwei Soldaten an Land. Der eine hatte beobachtet, wie sich die beiden voneinander verabschiedet hatten, und er wollte etwas zu Borric sagen, überlegte es sich jedoch anders und wandte seine Aufmerksamkeit einem anderen Mann zu, einem seltsamen kleinen Isalani aus Shing Lai, der sich an ihm vorbeidrängen wollte.

Borric überquerte die Straße, blieb stehen und sah sich an, was mit den anderen war. Nakor und der Soldat schienen in einen Streit verwickelt zu sein, und verschiedene andere Soldaten drehten sich um und wollten wissen, worum es dabei ging. Ghuda tauchte neben Borric auf – er hatte bei der Überprüfung offensichtlich Glück gehabt. Ein paar Augenblicke später stand auch Suli bei ihnen. Nakor hatte jetzt einige Soldaten um sich herum versammelt und zeigte dauernd auf den Rucksack, den er ständig auf dem Rücken trug.

Endlich, als würde er nachgeben, reichte der Isalani seinen Rucksack dem ersten Soldaten, der seine Hand hineinsteckte. Nach einem Moment drehte der Soldat den Rucksack um und schüttelte ihn. Es fiel nichts heraus.

Ghuda pfiff leise. »Wie, in aller Welt, hat er das hingekriegt?«

Borric meinte: »Vielleicht kann er doch ein paar magische Tricks mehr.«

Ghuda sagte: »Also, Verrückter, wir sind in Kesh. Wie geht’s weiter?«

Borric sah sich um und sagte: »Geh rechts rum und am Hafen entlang. An der dritten Straße biegst du wieder nach rechts ab und gehst weiter, bis du ein Wirtshaus findest. Dort treffen wir uns.«

Ghuda nickte und machte sich davon. »Suli«, flüsterte Borric, »du wartest auf Nakor und sagst es ihm.«

Der Junge sagte: »Ja, Meister«, und Borric ließ ihn stehen und ging langsam und mit Muße hinter Ghuda her.

 

Das Gasthaus war eine schäbige Hafentaverne mit dem grandiosen Namen »Des Kaisers Banner und Juwelenkrone«. Borric hatte keine Ahnung, welches Ereignis in der Geschichte von Kesh für diesen Namen Pate gestanden hatte, doch in dem Lokal gab es weder etwas Kaiserliches noch etwas, das an Juwelen erinnerte. Es war einfach ein dunkles und verrauchtes Wirtshaus, wie es sie zu Hunderten in Hunderten von Städten auf Midkemia gab. Die Sprachen und die Sitten mochten sich unterscheiden, doch die Gäste waren alle aus dem gleichen Holz geschnitzt: Banditen, Diebe, Halsabschneider, Spieler, Huren und Trunkenbolde. Zum ersten Mal, seit er Kesh betreten hatte, fühlte sich Borric zu Hause.

Er blickte sich um; auch hier kümmerte sich jeder nur um seine eigenen Angelegenheiten, so wie das in den Wirtshäusern gewesen war, denen Erland und er im Königreich häufig einen Besuch abgestattet hatten. Borric sah in seinen Krug und sagte beiläufig: »Hier treibt sich mindestens ein kaiserlicher Spion herum, oder wenigstens jemand, der alles irgendwem berichtet.«

Ghuda nahm seinen Helm ab, kratzte sich am Kopf, der von Schweiß juckte, und meinte: »Darauf kannst du wetten.«

»Wir werden hier nicht lange bleiben«, sagte Borric.

»Wie beruhigend«, erwiderte Ghuda, »obwohl ich gern noch etwas trinken würde, ehe wir uns nach einer Unterkunft umsehen.«

Borric stimmte dem zu, und der große Mann winkte den Jungen herbei, der die Gäste bediente, und der kam mit vier kalten Bieren zu ihnen. Borric nippte an seinem und sagte: »Überraschenderweise ist es kalt.«

Ghuda reckte sich. »Wenn du das nächste Mal draußen bist und dich vielleicht mal ein wenig umschaust, Verrückter, wirst du dieses winzige Gebirge bemerken, das man die Gipfel des Lichts nennt. Sie werden so genannt, weil die höchsten Spitzen von ewigem Eis bedeckt sind und das Sonnenlicht sehr beeindruckend spiegeln. Hier in der Stadt wird viel mit Eis gehandelt. Die Gilde der Eishauer ist eine der reichsten Gilden in Kesh.«

»Man lernt doch jeden Tag etwas Neues«, meinte Borric.

Nakor sagte: »Ich mag es nicht. Bier sollte warm sein. Von diesem hier tut mir der Kopf weh.«

Borric lachte. Ghuda sagte: »Also dann, wir sind in Kesh. Wie willst du jetzt zu deinen Freunden kommen?«

Borric senkte die Stimme. »Ich …«

Ghuda kniff die Augen zusammen. »Was jetzt?«

»Ich weiß, wo sie sind. Ich bin mir nur nicht sicher, wie ich dorthin kommen soll.«

Ghuda sah ihn verärgert an. »Wohin?«

»Sie sind im Palast.«

»Bei den Zähnen der Götter!« platzte Ghuda heraus, und einige der Gäste drehten sich nach ihm um. Er senkte seine Stimme und flüsterte Borric verärgert zu: »Du machst einen dummen Scherz, nicht wahr? Bitte sag, daß du nur einen Scherz machst.«

Borric schüttelte den Kopf. Ghuda stand auf, schob seinen langen Dolch in den Gürtel und nahm seinen Helm. »Wo gehst du hin?« fragte Borric.

»Irgendwohin, wohin du nicht gehst, Verrückter.«

Borric sagte: »Aber du hast mir dein Wort gegeben!«

Ghuda sah ihn von oben herab an und meinte: »Ich hab versprochen, ich würde dich nach Kesh bringen. Du bist in Kesh.

Vom Palast hast du nichts erwähnt.« Er richtete den Zeigefinger anklagend auf Borric: »Du schuldest mir fünftausend ecu, und ich fürchte, ich werde nicht einmal eine einzige Kupfermünze von dir bekommen.«

Borric sagte: »Du kriegst dein Geld. Du hast mein Wort. Aber ich muß meine Freunde finden.«

»Im Palast«, zischte Ghuda.

»Setz dich, die Leute schauen schon.«

Ghuda setzte sich hin. »Sollen sie doch. Ich werde mit dem ersten Boot, das ich finde, nach Kimri fahren. Von dort gehe ich nach Hansulé und nehme ein Schiff ins östliche Königreich. Doch werde ich für den Rest meines Lebens als Karawanenwächter in einem fremden Land arbeiten, aber wenigstens werde ich leben, was ich von dir kaum glaube, falls du wirklich versuchen solltest, in den Palast hineinzukommen.«

Borric lächelte. »Ich kenne da den einen oder anderen Trick. Wieviel verlangst du, um bei uns zu bleiben?«

Das konnte Borric doch nicht tatsächlich ernst meinen. Ghuda wollte es einfach nicht glauben. Nachdem er einen Moment überlegt hatte, sagte er: »Verdopple das, was du mir versprochen hast. Zehntausend ecu.«

Borric sagte: »Abgemacht.«

»Ha!« schnauzte Ghuda. »Du kannst mir alles versprechen, wenn ich in ein oder zwei Tagen tot bin.«

Borric wandte sich an Suli und meinte: »Wir müssen bestimmte Leute treffen.«

Suli blinzelte fragend. »Meister?«

Flüsternd sagte Borric: »Die Gilde der Diebe. Die Spötter. Die Zerlumpte Bruderschaft, oder wie auch immer sie in dieser Stadt genannt wird.«

Suli nickte, als würde er verstehen, doch seinem Gesichtsausdruck nach hatte er keine Ahnung, was Borric von ihm wollte. »Meister?«

Borric sagte: »Was für eine Art von Bettler bist du eigentlich?«

Suli zuckte mit den Schultern. »Einer aus einer Stadt, in der es so eine Gilde nicht gibt.«

Borric schüttelte den Kopf. »Also, du verschwindest hier und suchst den nächsten Markt. Dort findest du sicherlich einen Bettler – das wirst du doch wohl hinbekommen, oder?« Suli nickte. »Dem drückst du eine Münze in die Hand und sagst ihm, da wäre ein Reisender, der wegen einer dringenden Angelegenheit mit jemandem sprechen müßte, und daß sich die Zeit für Leute, die bestimmte Dinge erledigen können, lohnen würde. Verstanden?«

»Ich glaube, Meister.«

»Wenn der Bettler dir noch mehr Fragen stellt, sagst du einfach …« Borric erinnerte sich einen Moment lang an die Geschichte, die ihm James aus seiner Kindheit erzählt hatte, und fuhr schließlich fort: »… es wäre jemand in der Stadt, der keine Schwierigkeiten machen möchte, doch er würde gern eine Abmachung treffen, von der alle ihren Vorteil hätten. Kannst du dir das merken?«

Suli wiederholte die Anweisungen, und nachdem Borric zufrieden war, schickte er den Jungen los. Sie tranken schweigend ihr Bier weiter, bis Borric sah, wie Nakor in seinen Rucksack griff und etwas Käse und Brot hervorholte. Er blickte den Isalani durchdringend an und fragte: »Hey, warte mal. Als der Soldat den Rucksack durchsucht hat, war er da nicht leer?«

»Das stimmt«, sagte Nakor, und seine weißen Zähne schienen ihm aus dem Gesicht wachsen zu wollen.

»Wie hast du das gemacht?« fragte Ghuda.

»Ach, nur ein kleiner Trick«, antwortete der lachende kleine Mann, als würde das alles erklären.

 

Als die Sonne unterging, kam Suli zurück. Er setzte sich neben Borric und sagte: »Meister, ich habe eine Weile gebraucht, doch schließlich habe ich so jemanden gefunden, wie Ihr sucht. Ich habe ihm eine Münze gegeben und das gesagt, was Ihr mir aufgetragen habt. Der Kerl stellte mir jede Menge Fragen, doch ich wiederholte nur das, was Ihr mir gesagt habt, und weigerte mich, mehr preiszugeben. Er bat mich zu warten und verschwand. Voller Angst wartete ich, aber als er zurückkam, war alles gut. Er sagte, diejenigen, mit denen Ihr sprechen wolltet, würden sich mit Euch treffen, und er nannte mir Zeit und Ort.«

»Wo und wann?« fragte Ghuda.

An Borric gewandt, sagte Suli: »Das Treffen findet beim zweiten Läuten der Wachglocke nach Sonnenuntergang statt. Der Ort ist nicht weit von hier entfernt. Ich weiß, wo es ist, weil der Junge mir die Anweisungen mehrere Male wiederholt hat. Doch wir müssen auf den Markt gehen und ihn von dort aus suchen, weil ich diesem Bettler nicht erzählen wollte, wo wir untergekommen sind.«

»Gut«, meinte Borric. »Wir sind sowieso schon zu lange hier in diesem Wirtshaus geblieben. Gehen wir.«

Sie erhoben sich und folgten Suli zu dem Marktplatz. Borric war abermals über die Masse und die Verschiedenartigkeit der Menschen um ihn herum erstaunt. Auch wenn er sich selbst reichlich komisch vorkam, seine Aufmachung als Bendrifí wurde von niemandem besonders beachtet. Die Hauptstadt des Kaiserreichs schien, wie es aussah, noch mehr unterschiedliche Rassen und Menschen zu beherbergen als Faráfra. Ein paar vorbeigehende Löwenjäger aus den Grassteppen hatten die dunkelste Haut, die Borric je gesehen hatte, und dann wiederum gab es auch viele hellhäutige Leute, die offensichtlich im Laufe der Jahre vom Königreich nach Kesh gezogen waren. Manche Leute hatten so gelbliche Haut und so schlitzförmige Augen wie Nakor, doch ihre Kleider unterschieden sich von denen des Isalani – einige trugen Seidenjacken und Kniehosen, andere eine Rüstung, und wieder andere den einfachen Mantel der Mönche. Frauen gingen vorüber, teilweise in einfachsten Kleidern, teilweise fast nackt, und trotzdem wurden letztere kaum beachtet, obwohl einige von ihnen atemberaubend schön waren.

Zwei Männer aus der Prärie von Ashunta schlenderten vorbei, und jeder führte zwei Frauen an Ketten – die Frauen waren nackt und hatten die Augen niedergeschlagen. Eine Gruppe muskulöser Männer mit roten und blonden Haaren, der Hitze ungeachtet in Pelz und Rüstung, tauschten Beleidigungen mit den Leuten aus Ashunta aus.

Borric wandte sich an Ghuda und fragte: »Was waren das für welche?«

»Brijaner – Seeleute aus Brijané und den Städten entlang der Küste unter dem Hartsteingebirge. Sie sind Banditen und Händler, die das Große Meer von Kesh bis hin zum östlichen Königreich mit ihren langen Booten befahren – und sie wagen sich selbst auf die Endlose See, wenn man den Geschichten über sie Glauben schenken darf. Sie sind stolze, gewalttätige Männer, und sie verehren die Geister ihrer toten Mütter. Alle Brijanerinnen sind Seherinnen und Priesterinnen, und die Männer glauben, ihre Geister kämen auf die Schiffe und würden sie führen, und deshalb sind ihnen die Frauen heilig. Die Ashuntai behandeln ihre Frauen hingegen wie Hunde.

Wenn die Kaiserin nicht das Siegel des Friedens über die Stadt verhängt hätte, wären sie schon längst übereinander hergefallen und hätten sich gegenseitig umgebracht.«

Borric fragte: »Wunderbar. Gibt es viele solcher Fehden in Kesh?«

Ghuda sagte: »Nicht mehr als sonst auch. Vielleicht so um die hundert. Deshalb sind die Palastwachen und die Innere Legion so stark hier vertreten. Die Legion sorgt im inneren Reich für Ordnung, und dazu gehört alles, was um den Overnsee herum liegt, also alles zwischen dem Gebirge der Mutter des Wassers, den Gipfeln des Lichts, den Wächtern und dem Hartsteingebirge. Außerhalb dieses Bereichs haben verschiedene Lords das Sagen. Nur auf kaiserlichen Hauptstraßen und bei solchen Feierlichkeiten wird der Friede gewahrt. Zu anderen Zeiten« – er machte eine wegwerfende Geste mit der Hand – »wird gewöhnlich eine Seite zu Hundefutter, wenn sich zwei so unterschiedliche Volksgruppen gegenüberstehen.«

Kesh erschien Borric wie ein Wunder. Vieles im Gedränge der Straßen war ihm zwar von zu Hause vertraut, doch anderes wiederum offenbarte die jahrhundertealte Tradition einer anderen Kultur.

Als sie den Markt erreichten, sagte Borric: »Das ist ja alles ziemlich eindrucksvoll.«

Ghuda schnaubte. »Dieser Markt hier ist nur klein, Verrückter. Der große Hauptmarkt liegt auf der anderen Seite des Amphitheaters. Dort treiben sich auch die meisten Fremden herum.«

Borric schüttelte den Kopf. Während er sich weiterhin umsah, meinte er zu Suli: »Wann sollen wir zu diesem Treffpunkt gehen?«

»Wir haben noch etwas Zeit, Meister.« Genau in diesem Moment begannen ein Dutzend Glocken und Gongs um sie herum zu läuten.

»Wir wollten uns erst zur zweiten Glocke treffen, also in einer Stunde.«

»Dann sollten wir zwischendurch vielleicht noch etwas essen gehen.«

Diesem Vorschlag stimmten alle zu, und sie suchten nach einem Straßenverkäufer, dessen Angebot nicht allzu teuer war.

 

Als die zweite Glocke erklang, betraten sie eine kleine Gasse.

»Hier entlang, Meister«, sagte Suli mit gedämpfter Stimme.

Obwohl es noch früh am Abend war, lag die Gasse verlassen da.

Der schmale Gang war mit Abfällen und Müll überhäuft, und der Gestank war atemberaubend. Borric versuchte, das fette Fleisch und das Fladenbrot, das er gegessen hatte, bei sich zu behalten, und meinte: »Ein Freund hat mir einmal erzählt, Diebe würden oft Abfall und« – er trat auf einen toten Hund – »andere Sachen auf ihren Fluchtwegen verstreuen, um eine zufällige Entdeckung zu vermeiden.«

Am Ende der Gasse befand sich eine Holztür, deren Schloß mit einer Eisenplatte verstärkt worden war. Borric versuchte, die Tür aufzumachen, doch sie war abgeschlossen. Dann sagte eine Stimme hinter ihnen: »Guten Abend.«

Borric und Ghuda drehten sich um und schoben Suli und Nakor hinter sich. Ein halbes Dutzend bewaffneter Männer kam durch die Gasse auf sie zu. Ghuda zischte Borric zu: »Ich habe bei dieser Sache überhaupt kein gutes Gefühl, Verrückter.«

Borric sagte: »Guten Abend. Seid ihr diejenigen, mit denen wir ein Treffen verabredet haben?«

»Das hängt davon ab«, antwortete der Anführer, ein dünner Mann, dessen Grinsen für das kleine Gesicht einfach zu groß war. Seine Wangen waren über und über mit Pockennarben gezeichnet, so sehr, daß es selbst im dämmerigen Licht der Gasse zu erkennen war. Von den anderen hinter ihm waren nur schattenhafte Schemen zu erkennen. »Was für einen Vorschlag willst du uns machen?«

»Ich muß in den Palast hinein.«

Einige der Männer lachten. »Das ist einfach«, sagte der Anführer.

»Laß dich verhaften, und sie bringen dich vor den Kaiserlichen Gerichtshof, vorausgesetzt, du hast ein kaiserliches Gesetz gebrochen. Bring einfach einen Soldaten um – das reicht immer.«

»Ich muß ungesehen hineinkommen.«

»Unmöglich. Außerdem, warum sollten wir dir helfen? Vielleicht bist du nur ein kaiserlicher Agent, was wissen wir schon. Du sprichst nicht wie ein Bendrifí, obwohl du so aussiehst. Die Stadt ist voll von Spionen, die jemanden suchen – den wir allerdings nicht kennen, also könntest du das vielleicht sogar sein. Auf jeden Fall«, sagte er und zog ein Langschwert, »hast du genau zehn Sekunden, um mir zu erklären, warum wir dich nicht einfach töten und dein Gold nehmen sollten.«

Während er und Ghuda ebenfalls die Schwerter zogen, sagte Borric: »Aus einem Grund. Ich kann euch tausend ecu versprechen, wenn ihr uns sagt, wie man hineinkommt, doppelt soviel, wenn ihr uns hinbringt.«

Der Anführer winkte mit seiner Klinge, und seine Kumpane verteilten sich und bildeten eine Mauer aus Schwertern. »Und?«

»Und außerdem bringe ich Grüße vom Aufrechten aus Krondor.«

Der Anführer zögerte einen Moment lang und meinte dann: »Sehr beeindruckend.«

Borric holte angespannt tief Luft. Der Anführer der Diebe sagte: »Wirklich sehr beeindruckend. Denn der Aufrechte ist seit sieben Jahren tot, und die Spötter in Krondor werden jetzt vom Rechtschaffenen angeführt. Deine Empfehlung hinkt der Zeit ein wenig hinterher, Spion.« An seine Männer gewandt, sagte er: »Tötet sie!«

Die Gasse war zu eng, als daß Ghuda sein langes Bastardschwert hätte ziehen können, deshalb zog er nur die beiden Dolche, während Borric zu seinem Rapier und Suli zu seinem Kurzschwert griff. Sie stellten sich nebeneinander, und Borric nahm sich die Zeit und fragte Nakor: »Kannst du die Tür aufmachen?«

Der Isalani sagte: »Aber es dauert einen Moment«, und dann waren die Angreifer schon bei ihnen.

Borric traf den ersten in die Kehle, derweil Ghuda seine beiden Dolche nur zum Parieren benutzen konnte, weil sein Gegner ein längeres Schwert hatte. Suli hatte noch nie ein Schwert benutzt, doch er fuchtelte wild damit herum, und der Mann ihm gegenüber wollte sich nicht an der Waffe vorbeitrauen.

Die Angreifer wurden einen Schritt zurückgedrängt, da Borric bereits einen von ihnen erledigt hatte. Keiner von ihnen wollte sich gern Borrics Schwertspitze aussetzen. Die Abfälle auf dem Boden der Gasse boten weder der einen noch der anderen Partei einen Vorteil. Aber die angreifenden Diebe hatten Zeit, soviel sie wollten.

Sie konnten sich zurückfallen lassen und abwarten, bis Borric und seine Gefährten ermüdet waren, und sie daraufhin fertigmachen.

Deshalb gaben sich die Diebe mit ein paar Finten zufrieden und wichen weiter zurück.

Nakor wühlte in seinem Rucksack und fand das, wonach er gesucht hatte. Borric blickte einen Augenblick über die Schulter und sah, wie der Isalani den Deckel eines flachen Glases aufmachte.

»Was …?« setzte er an, dann mußte er den Preis für diesen Moment der Unaufmerksamkeit bezahlen, denn einer der Männer hätte ihm beinahe den linken Arm abgeschlagen. Er duckte sich und konterte mit einem Hieb, und der zweite Angreifer war außer Gefecht gesetzt.

Nakor schüttete ein kleines Häuflein weißes Pulver in seine linke Hand, dann setzte er den Deckel wieder auf das Glas. Er kniete sich vor dem Schloß hin und blies das Pulver darauf. Anstatt sich zu verteilen, verließ das Pulver seine Hand in einer dünnen Linie, die genau ins Schlüsselloch zog. Als das Puder im Schloß war, konnte man es deutlich klicken hören. Nakor stand mit einem zufriedenen Lächeln auf, steckte das Glas ein und öffnete die Tür. »Wir können gehen«, verkündete er leise.

Augenblicklich schob sich Ghuda durch die Tür und folgte dem Isalani, während Borric die Diebe noch mit ein paar heftigen Hieben zurücktrieb, damit auch Suli durch die Tür konnte. Dann war auch Borric hindurch, und Ghuda warf die Tür zu. Nakor nahm einen großen Stuhl, und drückte ihn unter den Türgriff, um die Tür für einen Moment zu verbarrikadieren.

Borric drehte sich um und wurde sich plötzlich zweier Dinge bewußt: Das erste war ein nacktes Mädchen, das ihn aus Augen ansah, die älter waren als der Rest der jungen Frau. Sie saß vor einer weiteren, offenstehenden Tür und erwartete offensichtlich von irgend jemandem einen Befehl. Das zweite war der süße Geruch, der in der Luft hing, unverkennbar, wenn man ihn auch nur ein einziges Mal gerochen hatte. Es war Opium, gemischt mit anderen Düften wie Haschisch und süßriechenden Ölen. Sie waren durch die Hintertür in ein Freudenhaus eingedrungen.

Wie Borric erwartet hatte, tauchten kurz nach ihrem Eindringen drei riesige Kerle auf – die Wächter dieses Hauses –, und jeder hatte einen Knüppel in der Hand und Messer und ein Schwert im Gürtel.

»Was geht hier vor?« schrie der erste, der vor Erwartung auf ein bißchen Blutvergießen große Augen bekommen hatte. Borric war sofort überzeugt, egal was dieser Mann sagen würde, er würde auf jeden Fall Blut sehen wollen.

Borric drängte sich an Ghuda vorbei und drückte die Dolchspitze des Söldners nach unten, womit er ihm deutlich zu verstehen gab, er solle keinen Ärger anfangen. Mit einem Blick über die Schulter sagte Borric: »Die Stadtwache! Sie versuchen, die Tür aufzubrechen.«

Er glitt an dem ersten Mann vorbei, gerade als es den Dieben draußen gelang, die Tür einen Spalt aufzuschieben.

»Diese habgierigen Halunken!« sagte der erste Kerl. »Wir haben für diesen Monat schon bezahlt.«

Borric gab dem Mann einen freundlichen Schubs zur Tür und meinte: »Diese schmierigen Schweine wollen eben noch mehr aus dir herauspressen.« Der zweite Wächter wollte Borric aufhalten, der Prinz ergriff allerdings einfach den Ellbogen des Mannes und drehte den Kerl zum ersten hin um. »Da draußen sind zehn Mann, und zwar bewaffnet! Sie behaupten, ihr hättet das Extrageld für den Geburtstag der Kaiserin nicht bezahlt.«

Jetzt kamen auch die ersten Kunden aus den geöffneten Türen und spähten in den Flur, um zu erfahren, was los war. Beim Anblick der bewaffneten Männer wurden einige Türen wieder zugeschlagen, dann kreischte ein Mädchen, und plötzlich herrschte wildes Durcheinander.

Der dritte Kerl sagte: »Wart mal, du« zu Borric und holte mit dem Knüppel aus.

Borric konnte gerade noch seinen linken Arm heben und den Schlag mit dem breiten Lederarmband abfangen, doch der Hieb betäubte seinen Arm bis zum Ellbogen. Da ihm nichts anderes einfiel, rief der Prinz aus Leibeskräften: »Überfall!«, und alle Türen im Gang wurden aufgerissen. Der dritte Kerl versuchte noch einmal, Borric zu schlagen, doch Ghuda versetzte ihm mit dem Heft eines Dolchs einen Hieb hinter das Ohr.

Borric stieß den dritten Schläger hart gegen einen fetten Händler, der mit seinen Kleidern in der Hand zu entkommen suchte. »Es ist der Vater des Mädchens! Er will dich umbringen, Mann!«

Der Händler riß vor Schreck die Augen weit auf und stürmte durch die Vordertür nach draußen, wobei er immer noch nackt war und seine Kleider zusammengeknäult im Arm hielt. Eine verschlafen aussehende Frau, die vielleicht in den Vierzigern sein mochte, fragte:

»Mein Vater?«

In diesem Moment schrie Suli so laut er konnte: »Die Stadtwache!«

Dann flog die Hintertür auf, und die Diebe stürzten herein und stießen mit nackten Mädchen und Jungen, berauschten Männern und zwei sehr zornigen Aufpassern zusammen. Der Aufruhr wurde noch größer, als zwei weitere große Männer am Ende des Hausflurs erschienen und wissen wollten, was hier denn vor sich ging. Borric schrie: »Religiöse Fanatiker! Die wollen eure Sklaven befreien. Eure Männer werden angegriffen, dahinten. Los, ihr müßt ihnen helfen!«

Irgendwie gelang es Ghuda, Suli und Nakor, sich dem Durcheinander zu entziehen, und sie rannten auf die Vordertür des Gebäudes zu. Der nackte Händler, der die Straße entlanggelaufen war, hatte die Neugier der Stadtwache geweckt, und zwei bewaffnete Wächter des Friedens standen vor der Tür, als Borric sie aufriß. Ohne Zögern sagte er: »Oh, Herren! Es ist schrecklich! Die Haussklaven haben einen Aufstand gemacht und töten die Kunden. Sie sind vom Opium völlig durchgedreht und haben übermenschliche Kräfte. Bitte, holt Hilfe!«

Der eine Wächter zog sein Schwert und stürmte ins Haus, während der andere eine Pfeife von seinem Gürtel nahm und hineinstieß. Innerhalb von Sekunden nach dem Pfiff tauchten zehn weitere Stadtwachen auf, die durch die Tür auf den angeblichen Aufstand zustürmten.

Zwei Häuserblocks weiter, in einem dunklen Wirtshaus, setzten sich Borric und seine Gefährten an einen Tisch. Ghuda nahm seinen Helm ab und knallte ihn auf den Tisch. Er zeigte mit dem Finger auf Borric und meinte: »Der einzige Grund, weshalb ich dir den Kopf nicht abschlage, besteht darin, daß wir dann alle ins Gefängnis kämen.«

»Warum willst du mich eigentlich immer schlagen?« fragte Borric.

»Weil du immer so dumme Sachen machst, bei denen ich leicht draufgehen könnte, Verrückter!«

Nakor sagte: »Hat doch Spaß gemacht.«

Ghuda und Borric starrten ihn erstaunt an. »Spaß?« fragte Ghuda.

»Das Aufregendste, was ich seit Jahren erlebt habe«, meinte der grinsende Mann.

Suli sah aus, als würde er gleich vor Erschöpfung zusammenbrechen. »Meister, was werden wir denn jetzt machen?«

Borric dachte einen Moment lang nach, schüttelte den Kopf und sagte: »Ich weiß es nicht.«