Willkommen

Die Trompeten erschollen.

Eintausend Soldaten nahmen Haltung an und präsentierten ihre Waffen. Einhundert Trommler auf den Rücken ihrer Pferde begannen mit einem Wirbel. Erland wandte sich James zu, der an seiner Linken ritt, und sagte: »Das ist unglaublich!«

Vor ihnen lag die Kaiserstadt Kesh. Vor einer Stunde hatten sie die ›Unterstadt‹ betreten und waren von einer Abordnung des Gouverneurs der Stadt und seinem Gefolge empfangen worden.

Diese Prozedur hatten sie in jeder Stadt von Nar Ayab bis zur Hauptstadt über sich ergehen lassen müssen. Als sie der Gouverneur von Nar Ayab am Rand seiner Stadt begrüßt hatte, war Erland erleichtert aus seiner düsteren Stimmung gerissen worden. Seit dem Tod von Borric eine Woche zuvor war er abgestumpft, hatte mit seiner Niedergeschlagenheit gerungen und war von Zorn über die Ungerechtigkeit der Welt erfüllt gewesen. Das prunkvolle Willkommen des Gouverneurs hatte ihn zum ersten Mal von der Grübelei über den hinterhältigen Überfall abgelenkt, und die Neuartigkeit des ihm gebotenen Schauspiels in Nar Ayab hatte seine Gedanken drei Stunden lang zerstreut.

Doch dieses Ritual raubte ihm jetzt den letzten Nerv. Denn in den Städten Kh’mrat, Khattara und einem halben Dutzend anderer hatte sich die Begrüßungszeremonie wiederholt, wenn auch nicht ganz so prunkvoll, dann jedenfalls genauso förmlich und weitschweifend.

Erland hatte die Reden vom örtlichen Gouverneur bis hin zum einfachen Ratsmitglied über sich ergehen lassen müssen.

Er blickte sich nach hinten um, wo Locklear zusammen mit dem Gesandten von Kesh ritt, der sie am Tor der Vorstadt erwartet hatte.

Der Prinz machte ihm ein Zeichen, und beide Männer spornten ihre Tiere an und ließen sie zu Erland trotten. Der Gesandte hieß Kafi Abu Harez, ein Adliger der Beni-Wazir, eines der Wüstenvölker der Jal-Pur. Viele der Wüstenbewohner waren während der letzten hundert Jahre in die Dienste des Kaiserreichs eingetreten, da sie bemerkenswert begabt für Diplomatie und Verhandlungen waren.

Der alte Botschafter im Westlichen Reich, Abdur Rachman Memi Hazara-Khan, der vor mittlerweile zehn Jahren verschieden war, hatte einmal zu Erland gesagt: »Wir sind ein Volk von Reitern, und deshalb sind wir auch so unerbittliche Pferdehändler.« Erland hatte seinen Vater oft genug mit grollender Achtung über diesen Mann fluchen hören, um den Spruch von Hazara-Khan glauben zu können.

Er wußte, wer auch immer dieser Protokollbeamte sein mochte, er war kein Dummkopf, und man mußte ihn im Auge behalten. Die Bewohner der Jal-Pur waren schreckliche Gegner, wenn man sie zum Feind hatte.

Kafi sagte: »Ja, Euer Hoheit. Womit kann ich Euch dienen?«

Erland sagte: »Das ist ein wenig anders als alles, was wir bisher gesehen haben. Was sind das für Soldaten?«

Kafi zog den Mantel ein wenig zusammen, während er ritt. Sein Äußeres glich in Kopfbedeckung, Rock, Hose, langer Weste, kniehohen Stiefeln und Gürtel dem, was Erland schon in Krondor zu sehen bekommen hatte. Doch in der Verworrenheit der Muster, die in den Stoff gestickt waren, unterschied sich seine Kleidung von allem, was Erland bisher jemals kennengelernt hatte. Die Repräsentanten des Hofes von Kesh zeigten oft eine übertriebene Vorliebe für Goldfäden und Perlen.

»Das ist die Kaiserliche Leibgarde, Hoheit.«

Erland fragte beiläufig: »So viele?«

»Ja, Hoheit.«

»Sieht fast aus wie die Garnison einer ganzen Stadt«, bemerkte Locklear.

Der Keshianer sagte: »Das hängt ganz davon ab, welche Stadt Ihr meint. Herr. Für eine Stadt des Königreichs sicherlich. Für eine Stadt in Kesh bestimmt nicht. Was die Stadt Kesh betrifft, ist es nur ein kleiner Teil.«

»Würdet Ihr mir ein militärisches Geheimnis anvertrauen, wenn Ihr mir verrietet, wie viele Soldaten die Kaiserin bewachen?« fragte Erland gleichgültig.

»Zehntausend«, erwiderte Kafi.

Erland und Locklear wechselten einen Blick. »Zehntausend!« sagte der Prinz.

»Die Palastwache stellt einen Teil der Leibgarde dar, welche wiederum einen Teil der Garnison der Stadt darstellt – und die bildet das Herz der Armee von Kesh. Innerhalb der Mauern von Ober- und Unterstadt stehen zehntausend Soldaten bereit, um Sie, Die Kesh Ist, zu verteidigen.«

Sie führten ihre Pferde an der langen Reihe von Soldaten entlang, vorbei an neugierigen Bürgern, die verhältnismäßig ruhig dastanden und die Männer von den Inseln betrachteten. Erland sah, wie sich die Straße vor ihm wand und einen Hang hinaufführte – eine riesige Hauptstraße, mit Stein gepflastert, die sich bis zum Plateau auf dem Berg hinaufschlängelte. Auf halber Höhe dieser Rampe wehte ein gold-weißes Banner, und Erland bemerkte, daß die Soldaten dahinter eine andere Uniform trugen. »Es sind also verschiedene Regimenter?« fragte er.

Kafi sagte: »In alten Zeiten war das ursprüngliche Volk von Kesh nur eines von vielen am Overnsee. Als es von Feinden bedrängt wurde, floh es auf das Plateau, auf dem der Palast steht. Aus Tradition leben deshalb alle, die dem Kaiserreich dienen, aber nicht vom ursprünglichen Volk von Kesh abstammen, in der Stadt unter dem Palast.« Er zeigte die Straße hinauf, dorthin, wo die Banner wehten. »Alle Soldaten, die Ihr in Kesh seht, gehören zur Kaiserlichen Garnison, doch die oberhalb der Kaiserlichen Banner sind reinblütige Soldaten.« Seine Stimme klang ein wenig schärfer, als er hinzufügte: »Niemand, der kein reinblütiger Keshianer ist, darf im Palast leben.« Erland sah dem Protokollbeamten ins Gesicht, doch der verriet durch kein Wimpernzucken seine Gefühle. Er lächelte einfach nur, als wäre das im Leben von Kesh etwas vollkommen Alltägliches. Sie näherten sich dem Anfang der Rampe, und die Männer, die hier entlang des Weges Wache standen, glichen jenen, die Erland bis dahin überall im Kaiserreich gesehen hatte: Sie entstammten allen möglichen Rassen; obwohl sich darunter mehr Männer mit dunklem Haar und dunkler Haut befanden als im Königreich, waren doch auch ein paar rothaarige und blonde darunter. Oberhalb des Banners glichen sich die Männer jedoch sehr: dunkle Haut, doch nicht schwarz oder dunkelbraun, allerdings fanden sich auch keine hellen Töne dazwischen. Ihr Haar war durchgehend schwarz oder dunkelbraun, gelegentlich hatte jemand einen Stich ins Rote, doch richtige Rot-, Blond- oder Braunschöpfe waren nicht zu sehen. Offensichtlich stammten die Soldaten dieser Kompanie aus Familien, die sich nur wenig mit Angehörigen anderer Völker von Kesh vermischt hatten.

Erland betrachtete die Mauer, die sich oben an der Kante des Plateaus entlangzog, und bemerkte die vielen Erker und Türmchen.

Er dachte über die Größe des Plateaus nach und fragte: »Also sind alle, die in der Stadt auf dem Plateau, aber außerhalb des Palastes wohnen, ›reinblütige‹ Keshianer?«

Kafi lächelte nachsichtig: »Auf dem Plateau gibt es keine Stadt, Euer Hoheit. Alles, was Ihr dort oben zu sehen bekommt, gehört zum Palast. Früher gab es auch andere Gebäude auf dem Plateau, doch da der Palast im Laufe der Jahrhunderte wuchs und wuchs, hat man sie abgerissen. Selbst die großen Tempel wurden in der Unterstadt angesiedelt, damit auch die, die nicht reinen Blutes sind, die Götter verehren können.«

Erland war beeindruckt. Unter der Herrschaft des wahnsinnigen Königs Rodric hatte die Stadt Rillanon eine Blüte erlebt und war die schönste Stadt von Midkemia geworden, oder zumindest war das Rodrics Ehrgeiz gewesen. Doch Erland mußte zugeben, selbst wenn Rodric alle seine Pläne verwirklicht hätte – marmorne Vertäfelungen aller Häuser der Stadt, Parkanlagen an den Fußwegen durch die Stadt, Kanäle um den Palast herum –, selbst mit all diesen Verschönerungen hätte Rillanon im Vergleich mit Kesh ärmlich ausgesehen. Dabei war Kesh keineswegs eine anziehende Stadt, nein.

In vielen der Straßen, durch die sie geritten waren, drängten sich kleine Gebäude dicht aneinander, und die Gerüche des Alltags hingen in ihnen. Kochdünste, der beißende Qualm von Schmieden, der stechende Gestank der Gerberei und der allgegenwärtige Geruch von ungewaschenen Körpern und menschlichen Abfällen.

Es gab eigentlich sogar wenig Anziehendes in der Stadt Kesh.

Immerhin war sie alt. Sie hallte von der Geschichte vergangener Jahrhunderte wider, von einem mächtigen Volk, welches ein riesiges Reich geschaffen hatte. Hier hatte es schon Kultur, Musik und Kunst gegeben, als Erlands Vorfahren noch Fischer waren, die nur die Hand rührten, um die benachbarten Inseln von ihrem sicheren Hafen aus zu überfallen. Das hatte ihm schon sein Geschichtslehrer beigebracht, doch jetzt konnte Erland endlich mit eigenen Augen sehen, was er damit gemeint hatte. Über die Steine unter den Hufen seines Pferdes waren schon Aufrührer, gefangene Stammesführer und triumphierende Heerführer gezogen, ehe Rillanon überhaupt unter die Herrschaft der conDoins gekommen war. Und von hier waren die legendären Generäle zu ihren Eroberungsfeldzügen aufgebrochen und hatten andere Völker unterjocht, als Rillanon und Bas-Tyra zum ersten Mal Krieg gegeneinander führten, zwei Stadtstaaten, die um die Vorherrschaft über das kämpften, was einmal die See des Königreichs genannt werden sollte. Kesh war alt.

Sehr alt.

Kafi sagte: »Natürlich, Euer Hoheit, werden alle Gäste der Kaiserin in einem besonderen Flügel des Palastes untergebracht, von wo aus man den Overnsee überblicken kann. Es wäre zu unhöflich, täglich diesen beschwerlichen Weg von jemandem zu verlangen.«

Erland erwachte aus seinen Träumereien und fragte: »Aber Ihr müßt diesen Weg jeden Tag zurücklegen, oder nicht?«

Der Mann verzog ein wenig den Mund und sagte: »Natürlich aber wir, die wir nicht reinblütig sind, kennen unseren Platz im Leben.

Wir sind glücklich, dienen zu dürfen, und wir halten uns nicht damit auf, über solche Unbequemlichkeiten zu reden.«

Erland verstand den Wink und verfolgte das Thema nicht weiter.

Eine Gruppe Beamter, einer bunter gekleidet als der andere kam vom Palast her nach unten, um den Prinzen zu begrüßen. Die donnernden Trommeln verstummten, und eine Gruppe Musiker spielte etwas, das entfernt wie die Hymne des Königreichs klang, jedoch so, als hätten die Musiker sie noch nie zuvor gehört.

Er sagte zu James: »Wir werden offenbar in großem Stil empfangen.«

James nickte abwesend. Seit sie die Stadt erreicht hatten, war seine alte Wachsamkeit wieder zur Stelle gewesen. Seine Blicke waren unablässig über die Menge geschweift und hatten nach Anzeichen gesucht, die Schwierigkeiten für Erland hätten bedeuten können. Sie hatten eine Botschaft nach Krondor gesandt und die Antwort bereits unterwegs bekommen, denn die berittenen Kuriere von Kesh waren erstaunlich schnell gewesen, und nachdem Arutha die Nachricht von Borrics Tod überbracht worden war, hatte er seinerseits von Krondor aus gleich einen eigenen Boten losgeschickt.

Dieser war vollkommen erschöpft bei ihnen angekommen, da er Befehl hatte, die Tasche mit den Briefen an niemanden außer Graf James, Baron Locklear oder Prinz Erland zu übergeben. Er war von wechselnden keshianischen Kurieren begleitet worden und hatte an den Streckenposten entlang des Weges die Pferde tauschen können.

Der Mann war ohne Unterbrechung drei Wochen geritten, hatte nur gerastet, wenn ihn die Erschöpfung übermannte, hatte sonst nur gelegentlich im Sattel ein Nickerchen gemacht und außerdem sogar seine Mahlzeiten während des Ritts zu sich genommen. James hatte den Mann gelobt, ihm weitere Nachrichten nach Krondor mit zurückgegeben und ihm befohlen, den Rückweg in mäßigerer Geschwindigkeit anzutreten: gleichzeitig hatte er ihn zur Beförderung empfohlen und eine entsprechende Belohnung für seinen heldenhaften Ritt gefordert.

Aruthas Antwort auf die Nachricht von Borrics Tod hatte so ausgesehen, wie James es erwartet hatte: sehr knapp und ohne jede persönliche Gefühlsregung. Der Prinz von Krondor ließ sich durch nichts von den harten Entscheidungen ablenken, die er als Herrscher des Westlichen Reiches treffen mußte. Er hatte Graf James angewiesen, sich um die Bergung von Borrics Leichnam zu kümmern, doch auf keinen Fall sollten sie eine sichtliche Änderung ihres Benehmens zur Schau tragen. Ihre Mission diente dazu, der Kaiserin den Respekt des Königreiches zu zollen, und zwar aus Anlaß ihres fünfundsiebzigsten Geburtstags, und nichts sollte dabei zu Spannungen zwischen den beiden Ländern führen. James roch Ärger. Borric war ermordet worden, um das Kaiserreich in einen Krieg mit dem Königreich zu verwickeln, doch Arutha hatte nicht angebissen. Das konnte noch weitere und stärkere Provokationen nach sich ziehen. Und das einzige, was eine noch größere Provokation als den Mord an einem Prinzen von königlichem Geblüt darstellen konnte, war die Ermordung auch noch des zweiten. Er fühlte sich persönlich für den Tod Borrics verantwortlich, und er hatte seine Trauer nur verdrängt, weil er Erland beschützen mußte.

Er warf einen Blick zur Seite und bemerkte, daß seine Frau ihn ansah. In Gedanken sagte er zu Gamina: Wie geht es dir, meine Liebe?

Ich wäre froh, wenn ich endlich von diesem Pferd absteigen könnte, mein Liebster, antwortete Lady Gamina, obwohl sie äußerlich kein Anzeichen des Unbehagens zeigte. Sie hatte die Anstrengungen der langen Reise ohne Klagen ertragen, und in den gemeinsam verbrachten Nächten hatte das Glück über ihr Zusammensein die Schwernisse des Tages vergessen gemacht. Doch auch das hatte weder James’ Schmerz über Borrics Tod lindern noch seine Sorgen um Erlands Wohlergehen ausräumen können. Sie deutete mit dem Kopf zur Spitze der Prozession. Das ist das bisher offiziellste Willkommen, Liebling.

Mindestens hundert Beamte standen nur wenig hinter dem gold-weißen Banner, um den Prinzen und sein Gefolge in der Oberstadt zu begrüßen. Erlands Augen wurden größer und größer, während er sich diese Leute ansah. Zuerst konnte er es überhaupt nicht glauben; es war, als würde jemand einen eigentümlichen Scherz mit ihm machen.

Denn die Menschen vor ihm trugen sehr wenig Stoff auf der Haut, dafür jedoch um so mehr Juwelen. Alle trugen einfache Röcke oder Kilts aus hauchdünner Seide, die einmal um die Hüften geschlungen waren und von der Taille bis zur Mitte des Oberschenkels reichten.

Verzierte Gürtel mit goldenen Schnallen, auf denen komplizierte Muster zu sehen waren, hielten die Röcke. Sowohl Männer als auch Frauen trugen den Oberkörper nackt. Die Fußbekleidung bestand aus schmucklosen Riemchensandalen. Die Männer hatten ihre Köpfe rasiert, die Frauen trugen die Haare bis zum Ohr oder bis auf die Schulter kurzgeschnitten, und in ihre Zöpfchen waren Edelsteine und Goldfäden eingeflochten.

Kafi beugte den Kopf leicht vor Erland und sagte: »Vielleicht wußtet Ihr das nicht, doch unter den reinblütigen Keshianern ist es nicht wie im Königreich oder auch in Teilen des Kaiserreichs verboten, nackt zu sein. Ich mußte mich auch erst an diesen Anblick gewöhnen – in meinem Volk bedeutet es den Tod, wenn man nur das Gesicht der Frau eines anderen sieht.« Und mit ironischem Unterton fügte er hinzu: »Diese Menschen stammen aus einem sehr heißen Land, Hoheit, jedoch nicht so heiß wie meine Heimat, wo jeder, der sich so kleiden würde, sein Leben verwirkt hätte. Wenn Ihr erst einige der heißen, windigen Nächte auf dem Plateau erlebt habt, werdet Ihr verstehen, warum Kleidung hier ausschließlich eine Frage der Mode ist. Und die Reinblütigen von Kesh haben sich nie um die Gefühle der von ihnen unterjochten Völker geschert. ›In Kesh benimmt man sich wie die Reinblütigen‹, heißt ein altes Sprichwort.«

Erland nickte und versuchte, nicht auf die viele nackte Haut zu gaffen. Ein Mann, nicht viel älter als Erland, der mit Muskeln bepackt war und einen Schäferstab und einen Bogen trug, trat vor.

Sein Kopf war wie der der anderen rasiert, abgesehen von einer Haarlocke, die mit Ringen aus kostbaren Steinen und Gold zusammengehalten wurde. Einen Augenblick später trat ihm ein zweiter zur Seite, ein wohlbeleibter Kerl, dem der Aufenthalt in der prallen Sonne offensichtlich wenig behagte. Dieser achtete nicht auf den Schweiß, der auf seine gerötete Haut trat, und sagte: »Wir heißen unsere Gäste willkommen.«

Kafi sagte zu dem schweren Mann: »Mein Lord Nirome. Ich habe die Ehre, Euch Seine Hoheit, Prinz Erland, Erbe des Throns der Inseln, Hauptmann der Armee des Westens, vorzustellen.«

»Euer Hoheit«, sagte der stämmige Nirome. »Um Eure Ankunft zu ehren, steht hier jemand von kaiserlichem Blute, um Euch zu begrüßen. Es ist mir eine große Ehre, Euch Prinz Awari, den Sohn von Ihr, Die Kesh Ist, vorzustellen.«

Der junge Mann trat noch einen Schritt vor und wandte sich an Erland: »Wir heißen unseren Bruder, den Prinzen, willkommen. Möge Euer Aufenthalt an diesem Ort glücklich sein und so lange dauern, wie Ihr es wollt, Prinz Erland. Es ist eine große Ehre für uns, daß der König der Inseln uns seinen Erben gesandt hat. Ihr, Die Uns Allen Eine Mutter Ist, gefällt dies sehr, und sie hat ihren armen Sohn gesandt, um Euch den Willkommensgruß zu entbieten. Ich darf Euch mitteilen, wie froh in diesem Moment, in dem Ihr zu uns kommt, alle Herzen in Kesh sind und wie froh sie bleiben werden, für die ganze Zeit, die Ihr bei uns verweilt. Eure Weisheit und Euer Mut sind unerreicht, und Sie, Die Kesh Ist, wartet mit Freude darauf, Euch an Ihrem Hof zu begrüßen.«

Nach diesen Worten drehte sich Prinz Awari um und ging die Straße hinauf. Die Männer und Frauen, die sie zur Begrüßung erwartet hatten, traten zur Seite und ließen den Prinzen und Lord Nirome passieren, dann deutete Kafi Baron Locklear an, er solle dem Prinzen folgen, und daraufhin schloß er sich selbst gemeinsam mit Graf James an.

Während sie die Auffahrt hinaufstiegen, wandte sich James an Kafi und sagte: »Wirklich, wir wissen so wenig über das Kaiserreich, und alles, was wir zu sehen bekommen, ist die Grenze im Norden. Es würde Seine Hoheit freuen, wenn Ihr mit uns essen und uns dabei vielleicht mehr über diesen wundersamen Ort erzählen könntet.«

Der Mann lächelte, und James spürte irgend etwas Verdächtiges in seinem Blick. »Euer Wunsch wurde erwartet. Ich werde beim ersten Licht jedes Tages vor Eurer Tür stehen und Euch nicht von der Seite weichen, bis Ihr mich entlassen habt. Die Kaiserin, sie sei gesegnet, hat mir das so befohlen.«

James lächelte und neigte den Kopf. Das ist also unser Wachhund.

Gamina lächelte die Umstehenden an und antwortete: Einer von vielen, da, bin ich sicher, Geliebter.

James wandte seine Aufmerksamkeit der Spitze der Gesellschaft zu, wo Erland der kaiserlichen Begrüßungsabordnung folgte. In den nächsten zweieinhalb Monaten würden sein Verstand und seine Begabungen hart auf die Probe gestellt werden, das wußte er. Und dabei hatte er eigentlich nur zwei Aufgaben: Erland vor dem Tod zu schützen und das Königreich aus einem Krieg herauszuhalten.

 

Erland suchte vergeblich nach Worten. Sein »Gemach« bestand aus sechs Zimmern, die in diesem »Flügel« des Palastes für sie bereitgehalten worden waren – dieser Flügel allein war schon fast so groß wie der Palast seines Vaters in Krondor. Der kaiserliche Palast selbst war tatsächlich eine Stadt für sich. Und die Gästezimmer waren unglaublich großzügig. Die steinernen Wände waren durchgehend mit Marmor verkleidet, der so auf Glanz poliert war, daß er das Licht der Fackeln wie tausend Juwelen spiegelte. Im Gegensatz zur Bauweise im Königreich, wo man viele kleine Zimmer einrichtete, waren hier alle Räume der Zimmerflucht groß, konnten jedoch durch Vorhänge in kleinere unterteilt werden. In diesem Zimmer waren die Vorhänge durchsichtig und erlaubten ihm einen Blick auf die abgeteilte Ecke mit Diwanen und Sesseln, wohin man sich zu Beratungen und Besprechungen zurückziehen konnte.

Und zu seiner Linken hatte man von einer Terrasse aus einen atemberaubenden Blick über den Overnsee, den riesigen Süßwassersee, der das Herz des Kaiserreichs bildete. Das Schlafgemach war durch eine zweiflügelige Tür vom Audienzzimmer getrennt.

Erland machte einem der beiden Soldaten, die er von seiner Truppe als Diener mitgenommen hatte, ein Zeichen, er sollte die große Tür öffnen. Noch ehe der Mann reagieren konnte, erschien an Erlands Seite eine junge Frau. »Herr«, sagte sie und klatschte einmal laut in die Hände.

Die Türen schwangen auf, und Erland nickte abwesend, während er in sein Schlafzimmer trat. Doch bei dem Anblick, der ihn empfing, blieb der Prinz stehen. Überall, wo er auch hinsah, erblickte er Gold.

Tische, Diwane, Hocker und Stühle, die im Zimmer angeordnet waren – hier gab es alles, was man brauchte, um sich anzukleiden, Botschaften zu verfassen oder ein einsames Mahl einzunehmen.

Hoch oben an der Wand hörte der Marmor auf und wurde von Sandstein ersetzt, auf den in hellen Farben Wandgemälde gemalt waren, um das stumpfe Ocker des Steins zu überdecken. Nach keshianischer Art zeigten sie Krieger, Könige und Götter, von denen viele mit Tierköpfen dargestellt waren; die Eigenschaften, die man den Göttern in Kesh zuschrieb, unterschieden sich stark von denen im Königreich.

Erland stand stumm da und bestaunte den Prunk des Zimmers.

Das Gemach wurde von einem riesigen Bett beherrscht, das an drei Seiten von durchsichtigen Seidenvorhängen umgeben war, die von der zwanzig Fuß hohen Decke herabhingen. Das Bett selbst war doppelt so groß wie sein eigenes daheim, und das war ihm schon riesig erschienen, als er vor kurzem zusammen mit Borric aus den Diensten beim Lord von Hohe Burg zurückgekehrt war, wo sie mit den engen Kojen in der Kaserne hatten vorlieb nehmen müssen.

Der Gedanke an Borric ließ für einen Moment Wehmut in ihm aufsteigen, denn wie gern hätte er dieses Staunen mit seinem Bruder geteilt. Wieder konnte er kaum glauben, daß Borric bei dem Überfall wirklich ums Leben gekommen war. Irgendwie fühlte es sich nicht so an, als sei Borric tot. Er war irgendwo dort draußen, dessen war sich Erland sicher. Die junge Frau, die mit ihm eingetreten war, klatschte abermals in die Hände, und plötzlich füllte sich das Zimmer mit Leben.

Die Soldaten des Prinzen standen in stiller Verwunderung vor der scheinbar endlosen Parade von Dienern, die durch die Gemächer marschierten und geschickt die Koffer des Prinzen auspackten und die offiziellen Gewänder auf eine Truhe legten – am meisten erstaunte die Soldaten jedoch, daß es alles Frauen waren, die noch dazu schön und genauso sparsam bekleidet waren wie die Abordnung zur Begrüßung. Nur die Juwelen fehlten. Ihre einfachen Kilts wurden in der Taille von einem Ledergürtel gehalten. Abgesehen davon waren die Frauen nackt.

Erland ging zu den beiden Soldaten hin und sagte: »Geht etwas essen. Wenn ich euch brauche, lasse ich euch rufen.«

Die beiden salutierten und drehten sich um, offensichtlich unsicher, wohin sie gehen sollten, doch als hätte sie die Gedanken des Prinzen gelesen, sagte eine junge Frau: »Hier entlang« und führte sie hinaus.

Eine zweite junge Frau mit mahagonifärbenen Augen trat vor Erland. »Wenn es Euch gefällt, Herr, Euer Bad ist bereit.« Erland bemerkte, daß ihr Gürtel rot war und eine goldene Schnalle hatte, während die der anderen Frauen nur weiß gewesen waren, und er nahm an, sie müsse die Oberste dieses Heeres von jungen Frauen sein.

Plötzlich fiel Erland auf, wie warm er hier in der stehenden heißen Luft des Palastes angezogen war und wie sehr der Staub der letzten zwei Tage zu Pferde an ihm klebte, daher nickte er und folgte der Frau ins nächste Zimmer. Dort stand er vor einem Becken von wenigstens zwanzig Meter Länge. Am gegenüberliegenden Ende hielt die Goldstatue irgendeines Wassergeistes eine Vase, aus der Wasser in das Becken floß. Erland sah sich um, denn im Wasser erwarteten ihn fünf Frauen, alle ohne Kleidung.

Zwei weitere traten ihm zur Seite, während seine Führerin sich zu ihm umdrehte und ihm den Rock aufknöpfte. »Ah«, setzte Erland an und trat unwillkürlich einen Schritt zurück.

»Ist etwas nicht in Ordnung, Herr?« fragte die junge Frau mit den mahagonifärbenen Augen. Erland bemerkte mit einem Mal die verschiedenen Abstufungen ihrer dunklen Haut: ein warmes Rot vom Sonnenbrand hatte sich an einigen Stellen über die olivfarbene Bräune gelegt. Ihr dunkles Haar war zu einem strengen Zopf geflochten, und Erland sah, wie lang ihr Hals war.

Er wollte etwas sagen, hielt wieder inne, wußte nicht, wie er sich ausdrücken sollte. Wäre Borric bei ihm gewesen, hätten sie beide sicherlich im Becken herumgespritzt und die Grenzen ihrer Rechte bei den lieblichen Dienstmädchen ausprobiert. Doch allein … er kam sich wie ein Tölpel vor. »Wie heißt du?«

»Miya, Herr.«

»Ach, Miya…« Er betrachtete die hübschen Mädchen, die darauf warteten, daß er sein Begehr kundtat. »… In meiner Heimat ist es nicht Sitte, mit so vielen Dienerinnen … man braucht nicht so viele.«

Die junge Frau blickte ihn einen Moment lang fragend an. Leise erwiderte sie: »Wenn mir der Herr zeigen würde, welche der Dienerinnen ihm gefallen, würde ich die anderen fortschicken.« Sie zögerte, dann fügte sie hinzu: »Oder falls Ihr nur eine wünscht, so fühlte ich mir sehr geehrt, mich … Eurer Bedürfnisse anzunehmen, Herr.« So, wie sie das gesagt hatte, war ihm klar, was sie gemeint hatte.

Erland schüttelte den Kopf. »Nein, ich meine …« Er seufzte.

»Macht nur einfach weiter.«

Gewandte Hände zogen ihm seine Kleider aus, und als er nackt war, stieg er schnell in das Becken und fühlte sich unbeholfen und unsicher. Das Wasser war heiß, was ihn überraschte, als er die Treppe in das schmale Becken hinunterstieg. Er kam sich dumm vor, setzte sich auf die unterste Stufe, wo ihm das Wasser bis an die Brust reichte. Dann öffnete Miya ihren Gürtel und ließ ihren Rock zu Boden fallen. Selbstbewußt stieg sie ins Wasser und setzte sich auf die Stufe genau hinter Erland. Sie klatschte einmal in die Hände, womit sie den Dienerinnen am Beckenrand bedeutete, sie sollten Öl, Seife und Salben bringen.

Mit leichtem Druck auf den Schultern zog Miya seinen Kopf zurück, bis er an ihren weichen Brüsten ruhte. Dann spürte er wie ihre Finger seine Kopfhaut bearbeiteten, derweil sie ihm duftendes Öl in die Haare massierte. Zwei weitere Dienerinnen waren an seine Seite gekommen und rieben seine Brust mit Seife ein, die schwach nach Blumen roch. Noch zwei weitere säuberten und feilten seine Fingernägel, während zwei andere seine müden Beinmuskeln kneteten.

Nachdem die erste Anspannung darüber, von sieben fremden Frauen so vertraulich berührt zu werden, verflogen war, konnte er sich schließlich ganz dem Genuß hingeben. Eigentlich war es doch gar nicht so viel anders als mit dem einen Diener, der ihn zu Hause abschrubbte, sagte er sich. Dann betrachtete er das Dutzend junger Frauen, die draußen am Beckenrand standen, und die sieben, die bei ihm im Wasser waren, und kicherte in sich hinein; natürlich, es war ganz wie zu Hause.

»Herr?« fragte Miya.

Erland seufzte tief. »Daran muß man sich erst einmal gewöhnen.«

Die Frau hörte auf, ihm die Haare zu waschen und spülte sie mit Wasser aus einer goldenen Schüssel aus. Trotz der Unsicherheit, die die Anwesenheit der nackten Frauen im Becken bei ihm hervorrief, spürte er, wie seine Lider schwer wurden. Während er den süßen Duft von Miyas feuchter, sonnengebräunter Haut roch, der sich mit den sanften Aromen des Öls vermischte, schloß er die Augen und spürte, wie die Müdigkeit und die Sorgen von ihm abfielen.

Er seufzte abermals tief, und Miya fragte leise: »Verlangt es meinen Herrn noch nach etwas?«

Zum ersten Mal seit dem Überfall der Banditen lächelte Erland und sagte: »Nein, aber an das hier könnte ich mich schon gewöhnen.«

»Dann ruht Euch aus, mein stattlicher junger Lord mit den feurigen Haaren«, flüsterte sie ihm ins Ohr. »Ruht und erfrischt Euch für heute abend, denn Sie, Die Kesh Ist, wird Euch empfangen.«

Erland lehnte sich an den weichen Körper der Dienerin und überließ sich der Wärme des Wassers und den knetenden Händen der Frauen, während sie die müden Muskeln massierten und seine Verspannungen lösten. Bald dämmerte er sinnlich dahin und döste ein, und während er sich entspannte, fühlte er, wie er auf das sanfte Streicheln der Frauen ansprach. Durch die gesenkten Lider blickte er in lächelnde Gesichter, die ihn erwartungsvoll ansahen, und zwei der Dienerinnen tuschelten miteinander und kicherten verstohlen. Ja, dachte er, daran könnte ich mich gewöhnen.

 

Eine der Dienerinnen schüttelte seinen Fuß und flüsterte: »Herr!«

Erland stützte sich auf die Ellbogen, um nachzusehen, was es gab, und blinzelte mit schläfrigen Augen. Schließlich wurde er wach und fragte: »Was ist?«

»Lord James hat überbringen lassen, er würde in einer halben Stunde hier erscheinen, Herr. Er rät Euch, dann fertig zu sein, um der Kaiserin vorgestellt zu werden. Ihr müßt Euch anziehen.«

Erland sah zuerst nach rechts, dann nach links und fand sich zwischen zwei regungslosen Körpern eingeklemmt. Zu seiner Rechten atmete die schlafende Miya tief und regelmäßig, während ihn zu seiner Linken eine andere Dienerin durch die halbgeschlossenen Lider beobachtete – die mit den funkelnden grünen Augen; er konnte sich an sie erinnern, wußte aber ihren Namen nicht mehr. Er klatschte Miya spielerisch auf den bloßen Po und sagte: »Zeit, sich fertig zu machen, meine Lieblinge.«

Miya erwachte und erhob sich mit einer fließenden Bewegung aus dem riesigen Bett. Sie klatschte in die Hände, und augenblicklich erschien ein weiteres halbes Dutzend Sklaven mit Erlands Garderobe, die inzwischen gesäubert worden war. Erland sprang aus dem Bett, bedeutete ihnen zu warten und eilte in das Zimmer mit dem Becken. Er stieg die drei Stufen hinunter und tauchte einmal unter. Zu Miya, die ihm gefolgt war, sagte er »Ich war durchgeschwitzt. Und das war genau das Richtige für mich.«

Die Frau lächelte milde. »Ihr wart … eine Zeitlang sehr rege, Herr.«

Erland erwiderte das Lächeln. »Ist es hier immer so heiß?«

Das Mädchen antwortete: »Es ist Sommer, und dann ist es eben so. Wer es wünscht, kann einen Fächer bekommen, um sich abzukühlen. Im Winter ist es nachts wirklich kalt, und man braucht im Bett viele Pelze, damit es warm bleibt.«

Erland konnte sich das jetzt, als er aus dem Becken stieg, kaum vorstellen. Drei Frauen trockneten ihn rasch ab, und er kehrte in sein Schlaf gemach zurück.

Es war schwieriger, sich in die Kleider helfen zu lassen, als er gedacht hatte. Er wollte immer wieder selbst irgend etwas machen, und das störte die Frauen, die gerade Knöpfe oder Schnallen schlossen. Doch als Graf James angekündigt wurde, war er fertig angekleidet.

James erschien und sagte: »Nun, du siehst besser aus. Hast du ein Nickerchen gehalten?«

Erland warf einen Blick auf die Frauen, die überall im Zimmer standen, und sagte: »Doch, sehr angenehm, wirklich.«

James lachte: »Gamina war gar nicht begeistert, als sie so viele hübsche junge Frauen in unseren Gemächern vorfand. Und sie wurde sehr ungnädig, als sie ihr beim Baden helfen wollten.« Er sah sich um. »Man möchte sie für leichtfertig halten, aber für sie ist das alltäglich. Ihnen müssen wir erscheinen wie … ich weiß nicht, wie wir ihnen erscheinen müssen.«

Der Graf machte Erland ein Zeichen, er solle mitkommen, und führte den jungen Mann hinaus auf den großen Gang, wo sich Locklear und Gamina unterhielten. Als sie den Gang betraten, sagte Gamina in Gedanken zu Erland: Erland, James bat bereits zwei Lauscher in deinem Gemach entdeckt. Paß auf, was du laut sagst.

Ich würde annehmen, zumindest eine von meinen Dienerinnen ist eine Spionin, dachte er zurück.

Sie schwiegen, während ein Beamter des Hofes von Kesh zu ihnen trat, der die gleiche Kleidung trug, wie man sie überall zu sehen bekam: weißer Kilt und Sandalen. Doch er trug zusätzlich noch einen Halsring aus Gold, der mit Türkisen besetzt war, und einen Amtsstab. »Hier entlang, Euer Hoheit, meine Herren, meine Dame.«

Er führte sie einen langen Korridor entlang, in dem sich die Eingänge zu großen Gemächern mit offenen Säulengängen abwechselten. In den Säulengängen wurden Brunnen und kleine Gärten mit Fackeln erleuchtet. Wahrend sie an mehreren solcher Gärten vorbeigingen, sagte James: »Du kannst dich ruhig an diese Nickerchen gewöhnen, Hoheit. Es ist Sitte hier. Morgens hält die Kaiserin mit ihren vertrautesten Offizieren hof, am späten Mittag wird gespeist, von da an bis zum Sonnenuntergang ist Ruhezeit, und abends bis zur neunten Stunde wird wieder hofgehalten, danach gibt es dann Abendessen.«

Erland betrachtete mehrere Dienerinnen, die vorbeikamen und nichts als den schmalen Kilt trugen. »Das werde ich schon schaffen«, sagte er.

Von Gamina kam ein Gedanke, kein ausgesprochenes Wort, nur ein Gefühl, und es war ganz und gar ablehnend.

Am Ende des Ganges bogen sie ab und betraten einen noch größeren Gang. Steinerne, mit Marmor verkleidete Säulen erhoben sich drei Stockwerke hoch über ihre Köpfe. Die Wände an beiden Seiten waren stilvoll mit legendären Schlachten zwischen Göttern und Dämonen und mit Szenen aus anderen großen Ereignissen bemalt. Die Mitte des Ganges war mit einem Teppich ausgelegt, der ein märchenhaftes Muster trug, von feinster Webart und unglaublich lang war und der dennoch keinen einzigen Makel zu haben schien.

Alle paar Meter stand eine keshianische Wache auf Posten. Erland bemerkte, wie wenig diese Männer den berühmten Hundesoldaten ähnelten, die an der Grenze zum Königreich eingesetzt wurden.

Diese Soldaten hier waren offensichtlich wegen ihres Äußeren ausgewählt worden, und weniger wegen ihrer Erfahrung, dachte Erland. Jeder trug nur den kurzen Kilt, wenn auch in etwas anderem Schnitt, da er vorn jeweils einen Schlitz hatte, damit er dem Träger mehr Beinfreiheit gewährte. Darunter trugen die Männer Lendenschurze aus dem gleichen weißen Leinen wie der Kilt, und ein verzierter, bunter Gürtel um den Kilt wurde mit einer Silberschnalle verschlossen. Dazu hatte natürlich auch jeder Soldat die kreuzweise gebundenen, schlichten Riemchensandalen an. Auf den Köpfen saßen Helme unterschiedlicher Machart, die Erland begeisterten, weil sie so barbarisch und primitiv aussahen. Einer hatte den Schädel eines Leoparden über den Kopf gestülpt, und das Fell des Tieres fiel ihm über die Schulter. Ein paar andere trugen Hirsch- oder Bärenköpfe auf ähnliche Weise. Viele hatten Bussard-oder Adlerfedern an eisernen Ringen befestigt, die sie sich auf den Kopf gesetzt hatten, oder ihre Helme mit den bunten Federn von Papageien verziert, und einige hohe, spitz zulaufende Helme waren aus Schilf geflochten, das in grellen Farben gefärbt war. Insgesamt machten die Kopfbedeckungen nicht den Eindruck, als würden sie in der Schlacht viel Nutzen bringen.

James sagte laut: »Ein großartiger Anblick, nicht wahr?« Erland nickte. Nichts, was er bisher in der Oberstadt von Kesh gesehen hatte, war nicht auch gleichzeitig bis ins Übermaß übertrieben gewesen. Im Gegensatz zu dem, was er in der Unterstadt kennengelernt hatte, wirkte das alles hier noch überwältigender.

Selbst die alltäglichsten Gegenstände bezeugten Überfluß und Reichtum. Wo etwas Einfaches reichen würde, wurde etwas Edles benutzt: Gold anstelle gewöhnlichen Eisens, Edelstein anstelle von Glas, Seide, wo man sonst Baumwolle erwartet hätte. Und das gleiche galt auch für die Diener und Dienerinnen, wurde Erland klar, nachdem er durch weitere Säle und Gänge geschritten war. Wenn ein Mann gebraucht wurde, mußte er nicht nur gesund und fähig sein, er mußte auch stattlich aussehen. Wenn eine Frau auf den Gang trat, dann war sie hübsch und jung. Noch ein paar Tage hier, dachte Erland, und ich sehne mich nach dem Anblick eines einfachen Gesichtes.

Sie erreichten eine massive, riesige zweiflügelige Tür, die mit Gold beschlagen war, und der Beamte, der sie davor erwartete, pochte mit der Metallspitze seines Stabs auf den Boden und verkündete: »Prinz Erland, Graf James, Gräfin Gamina und Baron Locklear!«

Die Tür schwang weit auf, und durch sie hindurch konnte Erland in einen riesigen Saal blicken, der von dieser Wand bis zur gegenüberliegenden leicht hundert Meter maß, und dort, am anderen Ende, erhob sich ein hohes Podest, auf dem ein goldener Thron stand.

Erland zischte James verstohlen zu: »Du hast mir nicht gesagt, daß es sich um einen fröhlichen Empfang handelt.«

James erwiderte: »Tut es nicht. Es ist nur ein zufälliges, intimes Abendessen.«

»Dann kann ich das offizielle Hofhalten gar nicht mehr erwarten.«

Erland holte tief Luft und meinte: »Gut, wollen wir also erst einmal einen Happen mit Ihrer Majestät essen.« Prinz Erland trat ein und führte seine Berater in den Saal der Kaiserin von Groß-Kesh.

 

Erland marschierte zielstrebig auf die Mitte des Saals zu. Seine Stiefeltritte auf dem Fußboden klangen, als würden sie nicht an diesen Ort gehören, wo jedermann nur weiche Sandalen oder Pantoffeln trug. Stille saugte den Lärm auf, da niemand in dem Saal sprach und alle Augen auf die Gesandten aus dem Königreich der Inseln gerichtet waren.

Auf dem Podest, vor dem Thron, waren Kissen und Polster aufgestapelt worden. Und auf ihnen lag eine alte Frau. Erland versuchte, sie direkt anzusehen, dabei jedoch nicht zu gaffen, und er fand diese Aufgabe unmöglich zu lösen. Hier lag auf Kissen vor dem erhabensten Thron der bekannten Welt die mächtigste Herrscherin der bekannten Welt. Und sie war eine kleine, verdorrte Frau, die vollkommen unauffällig erschien. Ihre Bekleidung glich dem üblichen weißen Kilt, nur reichte ihrer über die Knie. Und ihr Gürtel war mit prachtvollen Edelsteinen besetzt, die das Licht der Fackeln auffingen und kleine Lichtpunkte an Wände und Decke zurückwarfen. Sie trug eine lockere Weste aus weißem Stoff, die vorne von einer Brosche mit einem riesigen Rubin zusammengehalten wurde. Auf ihrem Kopf saß ein Diadem aus Gold, das mit Saphiren und Rubinen geschmückt war, die alles übertrafen, was der Prinz jemals gesehen hatte. Und in den Händen dieser alten Frau lag das Schicksal eines riesigen Reiches.

Ihre dunkle Haut konnte die Blässe des Alters nicht verbergen, und sie bewegte sich wie eine Frau, die zehn Jahre älter war als fünfundsiebzig. In ihren Augen konnte Erland jedoch Größe spüren, in ihnen loderte ein helles Feuer.

Mit dunklen Augen, die funkelten wie die Saphire und Rubine ihres Diadems, betrachtete sie den Prinzen, während er durch den Gang zwischen den Gästen schritt, die den heutigen Abend mit der Kaiserin verbrachten. Um das Podest herum war in einem Halbkreis ein Dutzend Tische aufgestellt, und an jedem Tisch ruhten auf Kissen diejenigen, die die Kaiserin dieser Ehre für würdig befunden hatte.

Erland blieb vor der Kaiserin stehen und neigte den Kopf, doch nicht tiefer, als er es vor seinem Onkel, dem König, getan hätte.

James, Gamina und Locklear beugten die Knie, wie sie der Protokollbeamte angewiesen hatte, und warteten auf das Zeichen, mit dem sie sich wieder erheben durften.

»Wie ist es unserem jungen Prinzen von den Inseln ergangen?«

Die Stimme der Frau brach wie der Donner über einen Sommernachmittag herein, und Erland wäre fast zusammengezuckt.

Diese einfache Frage enthielt Feinheiten und Untertöne, die der junge Mann niemals hätte zum Ausdruck bringen können. Erland antwortete so ruhig wie möglich: »Gut, Euer Majestät, und mein Onkel, der König der Inseln, läßt Euch die besten Wünsche für Eure Gesundheit und Euer Wohlergehen übermitteln.«

Kichernd erwiderte sie: »Das sollte er auch, mein Prinz. Ich bin hier am Hof sein bester Freund, daran solltet Ihr keinen Zweifel haben.« Sie seufzte und fuhr fort: »Wenn diese Feierlichkeiten zu Ende sind, überbringt die innigsten Wünsche zu den Inseln, auf daß es ihnen weiterhin wohl ergehen möge. Wir haben viel gemeinsam. Nun, wer sind Eure Begleiter?«

Erland stellte sie vor, und danach überraschte die Kaiserin alle, als sie sich leicht aufrichtete und sagte: »Gräfin, würdet Ihr mir die Liebenswürdigkeit erweisen näherzutreten.«

Gamina warf James einen raschen Blick zu, dann stieg sie die zehn Stufen hoch, die auf das Podest führten. »Ihr aus dem Norden seid oft so blond, doch Euresgleichen habe ich noch nie gesehen«, sagte die alte Frau. »Ihr stammt nicht zufällig aus der Gegend um Stardock?«

»Nein, Euer Majestät«, entgegnete Gamina. »Ich wurde in den Bergen nördlich von Romney geboren.«

Die Kaiserin nickte, als erklärte das alles. »Kehrt zu Eurem Gemahl zurück, meine Liebe. Auf Eure fremdländische Art seid Ihr sehr schön anzusehen.«

Während Gamina die Stufen vom Podest herabstieg, sagte die Kaiserin: »Euer Hoheit, für Euch wurde ein Tisch gedeckt. Ihr werdet mir doch den Gefallen erweisen und mit mir speisen.«

Der Prinz verneigte sich und sagte: »Es ist mir eine Ehre, Eure Majestät.«

Als sie sich an dem ihnen zugewiesenen Tisch niedergelassen hatten, der nur durch einen anderen von der Kaiserin getrennt war, erschien ein Höfling und verkündete: »Prinz Awari, Sohn von Ihr, Die Kesh Ist!« Der Prinz, den Erland schon am Nachmittag kennengelernt hatte, trat durch eine Seitentür ein, hinter der, wie Erland vermutete, ein weiterer Flügel des Palastes lag, der sich mit Sicherheit von dem unterschied, in dem seine Gesellschaft untergebracht war.

»Wenn ich Euer Hoheit darauf hinweisen dürfte«, hörte Erland zu seiner Rechten eine Stimme, wandte sich um und sah Kafi Abu Harez, der sich zwischen ihn und Graf James gedrängt hatte. »Ihre Majestät, möge es Ihr wohl ergehen, hat die Möglichkeit Eurer Unkenntnis in vielerlei für Euch neuen Dingen in Betracht gezogen und mich an Eure Seite befohlen, damit ich Euch alle Fragen beantworte, die sich Euch stellen mögen.«

Und die Dinge herausbekomme, auf die wir neugierig sind, hörte Erland Gaminas Gedanken.

Der Prinz nickte leicht, was Kafi für bloßes Nachdenken über sein Angebot hielt, während Gamina wußte, er stimmte ihr zu. Dann rief der Höfling: »Prinzessin Sharana!« Hinter Awari trat eine junge Frau ein, die ihrem Äußeren nach ungefähr in Erlands Alter sein mußte.

Erland blieb angesichts der Enkelin der Kaiserin die Luft weg. In diesem Palast der Schönheit war sie die bezaubernde Krone. Sie war gekleidet wie alle anderen, doch gleich der Kaiserin trug sie eine Leinenweste – und wirkte dadurch noch anziehender, weil diese ihren Körper verhüllte. Ihre Arme und ihr Gesicht hatten die blasse Farbe von Mandeln, und die keshianische Sonne hatte ihrer Haut einen goldenen Schimmer verliehen. Das Haar trug sie in der Stirn kurzgeschnitten, ansonsten reichte es bis auf die Schulter, gerade und ohne Schmuck, abgesehen von einem langen Zopf, in den Edelsteine und Gold eingeflochten waren. Dann rief der Höfling: »Prinzessin Sojiana!«

Locklear wäre fast aufgesprungen. Wenn Prinzessin Sharana die Schönheit in ihrer ersten Blüte verkörperte, so stellte ihre Mutter, Sojiana, ihren Höhepunkt dar. Sie war hochgewachsen, von athletischer Statur, und bewegte sich wie eine Tänzerin, so daß jeder Schritt ihren Körper im besten Licht zeigte. Und ihr Körper war etwas Außergewöhnliches: mit langen Gliedmaßen, flachem Bauch und stattlichen Brüsten. Sie zeigte eine Üppigkeit, der jedoch kein Quentchen Fett anzusehen war, eine Weichheit, wie sie nur von festen Muskeln herrühren konnte. Sie trug nur einen weißen Kilt, um den statt des Gürtels eine goldene Kordel geschlungen war. Um ihre Arme wanden sich zwei goldene Schlangen, und um den Hals hing ein Halsring, der mit feurigen Opalen besetzt war, die sich von ihrer dunklen Haut leuchtend abhoben. Ihr Haar war so braun wie weingetränktes Holz, und unter dem Braun schimmerte Rot durch.

Ihr Gesicht war so eindrucksvoll wie ihr Körper, und sie sah ihre Mutter mit funkelnden grünen Augen an.

»Götter«, sagte Locklear, »sie ist umwerfend.«

Der Wüstenbewohner stimmte zu. »Die Prinzessin gilt als die größte Schönheit der Reinblütigen, Herr.« In seiner Stimme schwang ein zurückhaltender Unterton mit.

James sah Kafi mit einem eigentümlichen, fragenden Gesichtsausdruck an, doch der Beni-Wagir wollte nichts weiter sagen. Nachdem er James’ Blick einen Moment lang standgehalten hatte, bemerkte er Locklears hingerissene Bewunderung für die Prinzessin, die derweil vor ihrer Mutter stehengeblieben war, und sagte schließlich: »Lord Locklear, ich möchte Euch bitten, Euch ein wenig zurückhaltender zu benehmen.« Er warf einen weiteren Blick auf Prinzessin Sojiana, die vor dem Podest stand, und flüsterte: »Sie ist nach der Kaiserin die gefährlichste Frau des ganzen Hofes. Und das macht sie zur zweitgefährlichsten Frau der Welt.«

Mit höhnischem Grinsen erwiderte Locklear: »Das kann ich mir wohl vorstellen. Sie ist atemberaubend. Doch ich schätze, ich würde die Herausforderung annehmen.«

Gamina warf ihm des groben Scherzes wegen einen bösen Blick zu, doch der Wüstensohn lächelte breit. »Sie wird Euch vielleicht Gelegenheit dazu geben. Es heißt, ihr Geschmack sei … abenteuerlich.«

James entging nicht, was Kafi damit eigentlich sagen wollte, im Gegensatz zu Locklear, der viel zu begeistert war. James nickte Kafi dankbar für die Warnung zu.

Anders als Awari und Sharana verneigte sich Sojiana nicht einfach nur vor der Kaiserin und zog sich dann an den für die kaiserliche Familie gedeckten Tisch zurück, sondern sie unterhielt sich mit ihr. »Geht es meiner Mutter gut?« fragte sie förmlich.

»Mir geht es gut, meine Tochter. Heute ist ein weiterer Tag, an dem Wir in Kesh herrschen.«

Die Prinzessin verneigte sich und sagte. »Dann wurden meine Gebete erhört.« Daraufhin ging sie zu ihrem Bruder und ihrer Tochter, setzte sich, und die Diener betraten den Saal.

Speisen von bemerkenswerter Vielfalt wurden nacheinander aufgetragen, und alle ein oder zwei Minuten mußte sich Erland entscheiden, was er als nächstes versuchen wollte. Dazu wurden Weine gereicht, trockene und liebliche, rote und weiße, wobei letztere mit Eis gekühlt wurden, das von den Gipfeln der Wächter, einem Gebirge am südwestlichen Ufer des Overnsees, herbeigebracht worden war.

An den Keshianer gewandt, sagte Erland: »Könnt Ihr mir sagen, warum die Mitglieder der kaiserlichen Familie als letzte eingetreten sind?«

Kafi antwortete: »Es ist in Kesh Sitte – auch wenn Euch das seltsam erscheinen mag –, daß diejenigen von niederstem Range zuerst eintreten, die Sklaven, die Diener und die unteren Hofbeamten, die alles für die Hochwohlgeborenen vorbereiten. Dann betritt Sie, Die Kesh Ist, den Saal und nimmt ihren Platz auf dem Podest ein, und daraufhin kommen die anderen, Adlige oder jene mit hohen Verdiensten, und erst danach schließlich die wichtigsten Gäste. Ihr seid heute neben der kaiserlichen Familie der höchste Adlige, deshalb durftet Ihr vor Prinz Awari eintreten.«

Erland nickte, dann fiel ihm etwas Seltsames auf. »Danach wäre seine Nichte, Sharana …«

»Von höherem Rang an diesem Hof als der Prinz«, beendete Kafi den Satz und sah sich in dem Raum um. »Das ist sozusagen der Familienstreit, mein Prinz.«

Und etwas, worüber er hier nicht sprechen möchte, fügte Gamina hinzu. Erland warf ihr einen Blick zu, und sie fuhr fort: Ich lese seine Gedanken nicht, Hoheit. Ich würde das bei niemandem tun, der mir nicht seine Erlaubnis dazu gegeben hat, doch er … verkündete es selbst. Ich kann es nicht besser ausdrücken, aber er bemüht sich, über viele Dinge nicht zu reden.

Erland ließ das Thema fallen und stellte Fragen zum Leben am Hof. Kafi antwortete, wie es ein gelangweilter Geschichtslehrer vielleicht getan hätte, außer wenn die Fragen mit lustigen, peinlichen oder skandalösen Anekdoten zu beantworten waren. Er enthüllte einen ausgesprochenen Hang zum Klatsch.

James ließ die anderen reden, während er sich Kafis Antworten genau anhörte. Während das Essen seinen Lauf nahm, sammelte er Stückchen um Stückchen alles, was er erfahren hatte, und baute es in das Bild von Kesh ein, das er sich schon gemacht hatte. Kesh war ein so unübersichtliches Gebilde wie ein Ameisenhaufen, und nur die Gegenwart der Ameisenkönigin, der Kaiserin, garantierte die Ordnung. Politische Parteien, alte Zwiste zwischen den Völkern und jahrhundertealte Fehden bestimmten das Leben am Hof, und die Kaiserin hielt ihr Reich zusammen, indem sie alle Parteien gegeneinander ausspielte.

James nippte an einem guten trockenen Rotwein und dachte darüber nach, welche Rolle sie in diesem Spiel übernehmen sollten, denn so sicher, wie seine Stiefel drückten, wußte er, irgend jemand würde ihre Anwesenheit hier ausnutzen wollen, um seine politische Karriere voranzutreiben. Die Frage war nur, wer, und aus welchen Gründen.

Und, so fügte er in Gedanken hinzu, es war ganz offensichtlich, daß auch jemand versuchen würde, Erlands Anwesenheit am Hofe für andere Zwecke auszunutzen. Ganz deutlich wollte wenigstens eine Partei den Prinzen tot und Krieg zwischen dem Königreich und dem Kaiserreich sehen. James blickte sich im Saal um und nippte nochmals an dem trockenen Rotwein. Wahrend er ihn genoß, dachte er daran, daß er hier ein Fremder in einem sehr fremdartigen Land war und daß er sich schnellstens mit den hiesigen Gepflogenheiten vertraut machen mußte. Er ließ seinen Blick schweifen, betrachtete hier und dort ein Gesicht und entdeckte dabei mehr als ein halbes Dutzend Gesichter, die ihrerseits ihn musterten.

Er seufzte. Es war noch Zeit, denn er bezweifelte, daß es gleich in der ersten Nacht im Palast Ärger geben würde. Wenn er die Aufgabe des Mordes an Erland übernehmen müßte, würde er warten, bis weitere Gäste und somit weitere Verdächtige eingetroffen waren und der Mord die Feierlichkeiten zum Geburtstag der Kaiserin nachhaltiger stören würde. Solange jedenfalls, fügte er hinzu, nicht die Kaiserin selbst Erlands Tod wünschte.

Er nahm sich ein Stück reifer und köstlicher Melone von seinem Teller und aß es. Er genoß den Geschmack und entschied sich, die Staatsangelegenheiten für ein paar Stunden Staatsangelegenheiten sein zu lassen. Doch schon eine Minute später ertappte er sich dabei, wie sein Blick wieder durch den Saal schweifte und er irgendwelche Fingerzeige und Hinweise auf den nächsten Anschlag ausfindig zu machen versuchte.