Entkommen

Borric zeigte auf etwas.

»Was, in aller Welt, ist das?« fragte Ghuda.

Die Karawane zog auf der vielbenutzten Hauptstraße des Kaiserreichs von Faráfra nach Kesh, und die Reise führte meilenweit durch Bauernland. Bisher war die Fahrt ereignislos verlaufen, doch das sollte sich jetzt ändern.

Im Norden der Straße versuchten drei Männer auf Pferden einen Mann gefangenzunehmen; es war ein seltsam aussehender Kerl, der eine knielange, schlichte gelbe Robe trug. Sein Kopf war wie der eines Mönchs geschoren, doch seine Kleidung hatte Borric noch bei keinem Orden im Königreich gesehen. Und er schien viel zuviel Spaß zu haben und wesentlich mehr Lärm zu machen als jeder andere Mönch, den Borric jemals zu Gesicht bekommen hatte. Denn jedesmal, wenn die Reiter nach seiner Robe griffen, duckte er sich weg und tauchte unter den Hälsen der Pferde durch, wobei er die ganze Zeit ausgelassen lachte.

Dieser Anblick wurde dadurch noch gesteigert, daß der Mann einen Rucksack, dessen breite Stoffriemen quer über die Brust verliefen, auf dem Rücken und einen Holzstab in der Hand trug. Er rannte herum, lachte und redete Unsinn, womit er seine Möchtegernjäger noch mehr aufbrachte. Diese verrückten Freudensprünge brachten auch Ghuda und Borric zum Lachen. Einer der Reiter drehte sich bei ihrem Gelächter zu ihnen um, und ihre Erheiterung schien ihn noch wütender zu machen.

Der Reiter holte eine exotische Keule hervor, ritt auf den herumtanzenden Mann zu und wollte ihn schlagen, doch der Kerl duckte sich unter dem Hieb weg, wälzte sich über den Boden, stand, noch ehe der erste Reiter sein Pferd hatte wenden können, schon wieder auf den Beinen und tanzte weiter. Er kehrte den drei Reitern das Hinterteil zu und wackelte damit, wobei er ein Furzgeräusch nachahmte und den dreien seine Verachtung zeigte.

»Was sind das denn für welche?« fragte Borric und lachte bei der Komödie, die sich vor seinen Augen abspielte.

Ghuda sagte: »Dieser herumhüpfende Kerl ist seiner Kleidung nach ein Isalani. Das ist ein Volk aus Shing Lai, südlich des Rings von Kesh. Ein seltsamer Haufen.

Die anderen sind Präriebewohner aus Ashunta. Das erkennt man daran, wie sie ihr Haar tragen, und an der zeremoniellen Schlachtkeule, mit der der eine versucht, dem Isalani den Kopf einzuschlagen.« Borric bemerkte erst jetzt, daß alle drei Männer ihr Haar auf ähnliche Weise trugen, derweil sich ihre Kleidung stark voneinander unterschied; einer trug eine Kniebundhose aus Wildleder und eine Lederweste ohne Hemd darunter, der zweite einen Lederharnisch, während der dritte Reitstiefel, ein verziertes Hemd und einen Hut mit Feder bevorzugte. Jeder der Männer hatte sein Haar zurückgebunden, und es fiel jeweils als langer Pferdeschwanz bis zur Mitte des Rückens hinunter, wobei zwei Locken über den Ohren frei herabhingen.

»Was meinst du, was sie da treiben?«

Ghuda zuckte mit den Schultern. »Wer soll das wissen, wenn ein Isalani dabei ist? Sie sind Mystiker – Seher, Schamanen und Weissager; aber gleichzeitig sind sie auch die größte Bande von Dieben und Gaunern, die es in Kesh gibt. Wahrscheinlich hat er die drei irgendwie betrogen.«

Mit einem verdrossenen Ruf zog einer der Männer sein Schwert und schlug bitterernst nach dem Isalani. Borric sprang vom Wagen, der sich nur langsam voranbewegte, denn die Straße führte bergauf in die Ausläufer des Gipfels des Lichts, und aus diesem Grund ließ Janos Saber, der Karawanenmeister, die Tiere langsam laufen, um sie zu schonen. Saber schrie: »Verrückter, willst du wohl wieder auf deinen Wagen klettern! Laß sie in Ruhe.«

Borric winkte nur vage und beruhigend und eilte auf das eigentümliche Fangspiel zu. »Was geht hier vor?«

Der seltsam aussehende Mann zu Fuß hüpfte weiter herum und duckte sich, doch einer der Reiter – der mit dem Federhut – wandte sich Borric zu und schrie: »Halt dich da raus, Fremder.«

»Ich weiß wohl, Eure Geduld ist am Ende, Freundchen, doch es erscheint mir ein wenig übertrieben, wenn man sein Schwert gegen einen unbewaffneten Mann zieht.«

Der Reiter beachtete ihn nicht, sondern spornte sein Pferd mit einem Ruf an und hielt genau auf den Isalani zu. Einer der beiden anderen Reiter hatte einen ähnlichen Angriff gestartet, und augenblicklich bewegte sich der Isalani zwischen den beiden. Der erste Reiter fuhr herum und erkannte zu spät, daß er die falsche Entscheidung getroffen hatte. Während der Isalani davontanzte, rannten die beiden Pferde aneinander, und wie Pferde das nun mal machen, meinte das eine, es müsse das andere beißen, woraufhin das andere entschied, es müsse das erste treffen, wobei dieses wiederum seinen Reiter abwarf. Mit einem Fluch auf den Lippen winkte der erste Reiter dem dritten zu, damit sich dieser Zusammenstoß wenigstens nicht wiederholte. Dann drehte er sich um, und der Stab des Isalani traf ihn im Gesicht, und einen Moment später lag er ebenfalls auf dem Boden.

Der dritte Reiter – derjenige mit der Lederweste – zögerte nicht, kam jedoch ebenfalls in das Getümmel und konnte im letzten Augenblick gerade noch zur Seite ausweichen. Er duckte sich im Sattel, aus dem ihn der Isalani mit seinem Stab herausholen wollte.

Doch plötzlich spürte der Reiter starke Hände an seinem Jagdrock, die von der rechten Seite zu ihm hochgriffen. Borric zog den Reiter aus dem Sattel und stieß ihn halb, halb schleuderte er ihn dorthin, wo die anderen beiden versuchten, wieder auf die Beine zu kommen.

»Das war ein Fehler«, sagte der erste Reiter, der das Langschwert gezogen hatte. Seinem Gesichtsausdruck nach wollte er Blut sehen.

»Also«, meinte Borric, der sich bereit machte, während die anderen Reiter ihre Aufmerksamkeit auf den bewaffneten Söldner richteten, »es ist nicht der erste Fehler, den ich gemacht habe.« Und in sich hinein murmelte er: »Und hoffentlich nicht der letzte.«

Der erste Krieger stürmte vor und versuchte Borric zu überwältigen. Borric trat geschickt zur Seite, schlitzte dem Mann, während er vorbeirannte, von hinten den Oberschenkel auf – eine der wenigen Stellen, die nicht von seiner Lederrüstung geschützt wurde –, brachte ihn dadurch zu Fall und machte ihn mit dieser schmerzhaften Wunde, die allerdings wieder heilen würde, erst einmal kampfunfähig.

Der zweite und der dritte Reiter erkannten, daß sie hier einem erfahrenen Gegner gegenüberstanden. Sie teilten sich auf, der Mann mit dem Federhut umkreiste Borric nach rechts, und der Mann in der Lederweste bewegte sich nach links, weshalb der Prinz sich nach zwei Seiten verteidigen mußte. Borric fing an, mit sich selbst zu sprechen, eine Eigenart, über die Erland sich lustig gemacht hatte, seit sie noch Jungen gewesen waren. »Wenn sie nur das Gehirn eines Pfunds Pfeffer besitzen, wird der Kerl zu meiner Rechten einen Angriff antäuschen, während der zur Linken ihn wirklich durchführt.«

Plötzlich ging Borric auf sie los, zog seinen Parierdolch und sprang nach links. Er wandte dem Mann, der zu seiner Rechten gestanden hatte, den Rücken zu, und dieser versuchte die Gelegenheit auszunutzen. Doch in dem Moment, als er zuschlagen wollte, wirbelte Borric herum, parierte den Hieb mit dem Dolch und stieß eine Sekunde später mit dem Schwert zu, wobei er dem Mann in dem verzierten Hemd und den Reitstiefeln eine üble Wunde im Bauch zufügte.

Während der Mann mit einem gurgelnden Schmerzensschrei auf den Lippen zu Boden ging, wirbelte Borric abermals herum und sah, wie sich der verbliebene Reiter vorsichtig näherte. Borric fluchte vor sich hin: »Verdammt. Dieser Kerl weiß, was er tut.« Der Prinz hatte gehofft, der Mann in der Lederweste würde den gleichen Fehler machen wie die anderen beiden.

Aufmerksam kam er auf den Prinzen zu. Nach dem, was er gesehen hatte, wußte er, hier stand er einem sehr erfahrenen Fechter gegenüber. Die beiden Männer schlichen umeinander herum, und keiner ließ den anderen nur einen Moment lang aus den Augen. Dann bemerkte der Prinz, wie sich der Mann nach einem bestimmten Muster bewegte. Leise sagte Borric zu sich selbst: »Komm schon, mein Lieber, mach’s noch einmal. Schritt, den Fuß nachziehen, Schritt, den Fuß nachziehen, und dann diesen Fuß vor den anderen setzen.« Borric grinste, und als der Mann die Schrittfolge noch einmal wiederholte, sprang er vor und griff an. Eine leichte Drehung des Körpers war genau die Eröffnung, die Borric brauchte. Mit einer wütenden Kombination von Hieben trieb er den Mann zurück.

Dann ging der Reiter zur Riposte über und griff an, und jetzt wurde Borric seinerseits zurückgedrängt. Er verfluchte das Schicksal, welches ihm statt eines Rapiers ein Langschwert in die Hand gegeben hatte, und versuchte zu parieren und seine Stellung wieder zu sichern. »Der Bastard ist gut«, murmelte er vor sich hin.

Vielleicht fünf Minuten lang, die Borric allerdings wie Stunden vorkamen, schlugen die Männer abwechselnd zu, parierten und starteten Riposten. Der Schweiß stand beiden auf der Stirn, während sie unter der heißen Sonne fochten. Borric versuchte jede Kombination, die er gelernt hatte, doch sein Gegner war ihm stets ebenbürtig.

Dann trat eine Pause ein, in der die beiden Männer in der Sonne standen und versuchten, wieder zu Atem zu kommen, und die einzigen Geräusche waren das Summen der Fliegen und das Rauschen des Windes im hohen Gras der Steppe. Borric faßte den Griff seines Schwertes fester und spürte, wie er zunehmend erschöpfter wurde. Jetzt wurde der Kampf noch gefährlicher, denn neben den Fähigkeiten und der Aufmerksamkeit der beiden Fechter kam nun auch noch die wachsende Ermüdung ins Spiel, die leicht zu einem tödlichen Fehler führen konnte. Borric wollte dem Ganzen endlich ein Ende machen, setzte vor, schlug zuerst nach dem Kopf und ließ dann einen Hieb auf die Beine des anderen Mannes folgen.

Doch selbst, als er mit dem Dolch parieren konnte und sich von der Notwendigkeit freimachte, seine Linke mit dem Schwert zu schützen, konnte er die Auseinandersetzung nicht zum Ende bringen.

Jeder der beiden errang Vorteile, zuerst Borric, dann der Präriebewohner, doch jeder konnte die Klinge des anderen wiederum erfolgreich abwehren. Der Schweiß rann dem Präriebewohner über die nackte Brust, während er Borrics Hemd tränkte, und beide konnten die Hefte ihrer Waffen nicht mehr so sicher wie vorher halten. Ihr Atem ging keuchend, während die Sonne für beide zum gnadenlosesten Gegner wurde. Aufgewirbelter Staub drang in die Nasen und machte die Kehlen rauh, und immer noch konnte keiner der Männer den Kampf beenden. Borric hatte es mit jeder Finte versucht, die er seit seiner Kindheit gelernt hatte, und manchmal war er nahe daran, seinen Gegner zu verletzen. Doch mehr war nicht drin.

Und bei genauso vielen Gelegenheiten konnte er gerade noch verhindern, verletzt zu werden. Dann wurde es Borric mit schaudererregender Deutlichkeit klar: Er hatte sich selbst überschätzt; hier stand er einem Fechter gegenüber, der vielleicht kein so großes angeborenes Talent wie der Prinz besaß, jedoch wesentlich mehr Erfahrung.

Einen Moment lang hielten sie inne, jeder Mann faßte den anderen ins Auge, schnappte nach Luft, derweil die erschöpften Körper vor Müdigkeit und Anspannung zitterten. Beiden war klar, wer von ihnen zuerst einen Fehler machen würde, wäre tot. Borric atmete heftig und versuchte, die letzten Kräfte aus sich herauszuholen. Er starrte seinen Gegner an und wußte, der versuchte das gleiche. Keiner der beiden Männer verschwendete Luft mit Reden, und jeder wartete auf den Augenblick, in dem er genug Kraft gesammelt hätte und abermals angreifen könnte. Dann holte der Präriebewohner laut Luft, stieß einen wütenden Schrei aus und rannte auf Borric zu. Der machte einen Schritt zur Seite, kreuzte Schwert und Dolch, riß die Waffen hoch, um den Hieb abzuwehren, und trat dem Mann mit dem Knie in den Magen. Dem Präriebewohner blieb die Luft weg, und Borric setzte ihm den Fuß in die Seite und stieß ihn fort, wobei er ihm das Schwert aus der Hand schlug. Der Präriebewohner fiel rücklings zu Boden, Borric setzte ihm nach und richtete sein Schwert nach unten, als sich sein Gegner davonrollte. Dann spürte er etwas an seiner Ferse und verlor das Gleichgewicht.

Borric war zu nahe herangetreten, und der Mann hatte seine Hacke mit Borrics Fuß verhakt. Jetzt wälzte sich Borric über den Boden und versuchte, wieder auf die Beine zu kommen. Er fuhr herum, kam auf die Knie, doch in diesem Moment näherte sich schon die Spitze eines Schwertes seinem Gesicht. Dann drängte sich eine weitere Klinge dazwischen, und die erste wurde fortgeschlagen.

Borric sah zum strahlenden Himmel auf und entdeckte Ghuda, der mit gezogenem Schwert zwischen den beiden Kampfhähnen stand.

»Wenn ihr beiden Jungs jetzt vielleicht endlich fertig wärt… ?« sagte er.

Der Präriebewohner sah hoch, und die finstere Grimasse des Kämpfers löste sich auf. Denn offensichtlich hatte er hier einen frischen Gegner vor sich, wenn er sich weiter kämpferisch gebärden wollte, und – nach Ghudas Aussehen und der Länge seines Schwertes zu urteilen – auch noch einen, der sowohl willens als auch fähig war, einen Mann übel zuzurichten. Borric gab auf, indem er einfach die Hände in die Höhe hielt. Der andere Mann wich ein paar Schritte zurück und schüttelte den Kopf. »Genug«, krächzte er aus staubiger Kehle.

Suli spähte hinter dem großen Söldner hervor und reichte Borric einen Wasserschlauch.

An den Präriebewohner gewandt, sagte Ghuda: »Deine beiden Freunde brauchen Hilfe. Einer von ihnen kann unter Umständen verbluten. Es wäre vielleicht besser, wenn ihr ihm einen Arzt holt.

Und du«, meinte er und drehte sich zu Borric um, »hättest lieber auf die Straße sehen sollen, wie man es von dir erwartet, anstatt dich mit diesen dummen Kindern einzulassen.«

Der andere Mann wandte sich seinen Freunden zu. Demjenigen mit der Wunde am Bein half er auch, und beide untersuchten gemeinsam den Mann, der die Bauchwunde davongetragen hatte.

»Wo ist dieser herumhüpfende Irre?« fragte Borric und nahm noch einen Schluck Wasser.

»Ich weiß nicht«, antwortete Ghuda spöttisch. »Ich habe ihn aus den Augen verloren, als ich euch zwei Wunderkinder auseinandergebracht habe.«

»Also, er wird sich doch nicht aus dem Staub gemacht haben?« fragte Borric.

»Bei der Wahrheit der Götter, Verrückter, ich weiß es nicht. Und es interessiert mich auch nicht. Janos Saber war wenig begeistert, als du dich davongemacht hast. Was, wenn uns das nur ablenken sollte, weil irgendwer auf der anderen Seite dieses Berges im Hinterhalt lag? Dann hätte die Sache ziemlich böse ausgesehen, das kannst du mir glauben.«

Er steckte sein langes Schwert ein, reichte dem jüngeren Fechter die Hand und half Borric auf – doch dann traf Borric eine von Ghudas großen, behandschuhten Fäusten an der Schläfe und schickte ihn gleich wieder zu Boden.

Borric schüttelte den brummenden Kopf und sagte: »Wofür war das denn?«

Ghuda drohte Borric mit der Faust. »Dafür, daß du dich wie der dumme Sohn allen Elends benommen hast. Verdammt, Junge, du mußt wie ein Karawanenwächter handeln, du mußt deine Arbeit machen! Es hätte schließlich wirklich ein Hinterhalt sein können, oder?«

Borric nickte und meinte: »Ja, ich denke schon.«

Ohne weitere Hilfe kam Borric auf die Beine, und Ghuda machte dem Prinzen und dem Jungen ein Zeichen, sie sollten mitkommen.

Als sie die Straße wieder erreichten, sagte Borric: »Ich wünschte, die Leute würden endlich aufhören zu glauben, ich würde am besten lernen, wenn sie mir ihre Lektionen einprügeln.«

Ghuda beachtete die Bemerkung nicht und sagte: »Du hast zu lange mit dem Rapier gekämpft, Verrückter.«

»Häh?« fragte der erschöpfte Prinz. »Was meinst du damit?«

»Du hast die ganze Zeit versucht, den Kerl aufzuspießen, und mit einem Langschwert hast du da einiges zu tun. Das hat keine vernünftige Spitze, und solange du nicht auch noch mit der anderen Hand zupackst und mit beiden Händen richtig zustichst, erreichst du bei einem Gegner in Rüstung lediglich, daß du ihn verwirrst. Du hast dir mindestens ein halbes Dutzend Gelegenheiten durch die Lappen gehen lassen, um dem Kerl seinen Kopf abzuschlagen, wenn du mich fragst. Falls du vorhast, noch ein bißchen älter zu werden, solltest du besser lernen, wie man mit einem Schwert umgeht, das eine Schneide an der Kante hat. Mit diesem Spieß aus Krondor kannst du das ja schon.«

Borric lächelte. Das Rapier war keine beliebte Waffe gewesen, bis sein Vater, der beste Fechter, der jemals ein Schwert gehalten hatte, Prinz geworden war. Danach war es in Mode gekommen, doch offensichtlich nicht hier unten, südlich des Tals der Träume. »Danke. Ich werde damit üben.«

»Aber such dir beim nächsten Mal einen Gegner, der es nicht ganz so verbissen auf dein Leben abgesehen hat.« Er sah die Straße hinunter, dorthin, wo Janos Sabers Wagen Staub aufwirbelten, und fügte hinzu: »Jetzt geht es wieder bergab, und wir brauchen wahrscheinlich einen ganzen Tag, um sie wieder einzuholen. Laßt uns mal einen Schritt zulegen.«

»Oh, lieber nicht«, erwiderte Borric, der von der Anstrengung in der Hitze erschöpft war. Er hatte sich zwar schon ein wenig an die brütende Mittagssonne von Kesh gewöhnt, doch er konnte sie natürlich noch lange nicht so gut aushalten wie diejenigen, die unter ihr geboren waren. Er trank viel Wasser und Fruchtsaft, genauso wie Suli und Ghuda, doch immer noch wurde er in der Hitze schnell müde. Er fragte sich, wie nahe er bei den Sklavenhändlern in der Jal-Pur-Wüste wohl dem Tod gewesen war.

Als sie den Kamm des Berges erreicht hatten, sahen sie, wie Janos Sabers Karawane rasch den Hügel hinunterrollte. Und auf der hinteren Kante des letzten Wagens saß der Isalani und ließ die Beine baumeln, während er eine große Orange aß. Ghuda zeigte auf ihn, und Borric schüttelte den Kopf. »Der ist nicht dumm.«

Ghuda trottete weiter die Straße entlang, und Borric zwang sich, das gleiche zu tun, obwohl sich seine Glieder wie feuchte Baumwolle anfühlten. Nach ein paar Minuten hatten sie den letzten Wagen eingeholt, und Borric zog sich hinten hinauf, während Ghuda neben dem Kutscher aufstieg und Suli zum Küchenwagen hastete.

Borric seufzte tief, dann sah er sich den Mann an, den er vor den drei Präriebewohnern gerettet hatte. Der Isalani bot keinen besonders schönen Anblick: ein o-beiniger, kleiner Kerl mit einem Gesicht wie ein Geier. Sein Kopf war fast viereckig und zuckte auf einem schlaksigen Hals hin und her, wodurch er sehr komisch wirkte. Aus dem Hinterkopf sproß ihm ein Büschel Haare, und offensichtlich brauchte er der Natur nur wenig nachzuhelfen, wenn er seinen Kopf schor.

Die Augen hatte er zu schmalen Schlitzen zusammengekniffen, während er Borric angrinste, und seine Haut hatte einen goldenen Ton, eine Farbe, die Borric zuvor nur einige Male bei den Bürgern von LaMut gesehen hatte, bei jenen, die von den Tsurani abstammten. Mit freundlichem Unterton in der schnarrenden Stimme fragte der Isalani: »Willste ‘ne Orange?«

Borric nickte, und der seltsam aussehende Mann holte eine aus dem Rucksack, den er während der Auseinandersetzung mit den drei Reitern so wild über die Schulter hängen gehabt hatte. Borric schälte die Orange, brach ein Stück davon ab und saugte den Saft heraus, während der alte Mann Ghuda ebenfalls eine reichte. Der alte Karawanenwächter fragte: »Worum ist es denn eben dahinten gegangen?«

Der Mann zuckte mit den Schultern und grinste weiter. »Sie dachten, ich hätte sie beim Kartenspielen betrogen. Sie waren sehr wütend.«

»Und hast du?« fragte Borric.

»Vielleicht, aber nicht viel. Sie haben mich betrogen.«

Borric nickte, als würde das alles einen Sinn ergeben. »Die Leute nennen mich meist den Verrückten.«

Der Mann grinste noch breiter. »So nennt man mich auch manchmal. Sonst heiße ich Nakor, der Blaue Reiter.«

Ghuda fragte: »Der Blaue Reiter?«

Der Mann nickte heftig. »Beizeiten hat man mich auf einem schönen schwarzen Roß herumreiten sehen, und dann habe ich die feinste blaue Robe getragen. In einigen Gegenden bin ich sehr berühmt.«

»Aber diese Gegend gehört nicht dazu«, meinte Ghuda.

»Leider, leider nicht. Hier bin ich eher unbekannt. Wie auch immer, zu jenen Zeiten, als ich noch meine hübschen Kleider und mein wunderbares Roß besaß, bin ich in jeder Gegend, durch die ich kam, immer schnell berühmt geworden, da mich, was die Schönheit betraf, niemand schlagen konnte.«

Borric betrachtete den verblichenen orangefarbenen Umhang.

»Ich nehme an, der hier stammt nicht aus jenen Zeiten.«

»Wieder einmal muß ich sagen leider, leider, denn du hast recht. Mein Pferd ist gestorben, und damit wurde es schwierig, darauf zu reiten, und den Mantel habe ich an einen Mann verloren, der beim Kartenspiel besser betrügen konnte als ich.«

Bei den letzten Worten lachte Borric. »Nun, zumindest bist du ein freimütigerer Betrüger als jene, auf die ich gewöhnlich treffe.«

Nakor lachte mit. »Ich betrüge nur die, die mich zu betrügen versuchen. Ich bin ehrlich zu denen, die mir gegenüber ehrlich sind. Es ist nur meistens schwierig, ehrliche Männer zu finden.«

Borric nickte; der seltsame kleine Mann amüsierte ihn. »Und mit wie vielen ehrlichen Männern hast du es in letzter Zeit zu tun bekommen?«

Nakor zuckte mit den Schultern, wobei er sie fast bis zu den Ohren hochzog und mit dem Kopf leicht hin und her wackelte.

»Keinen, bislang. Doch ich habe immer noch große Hoffnung: Eines Tages werde ich einen treffen.«

Borric schüttelte den Kopf und lachte, sowohl über diesen Irren als auch über sich selbst, der er sich für so jemanden auf solche Schwierigkeiten eingelassen hatte.

 

Als es Abend wurde, stellten sie die Wagen im Kreis um das Lagerfeuer auf, so wie es Karawanen machten, seit es Karawanen gab. Janos Saber hatte Borric in unmißverständlichen Worten wissen lassen, was er von einem Wächter hielt, der sich in Händel einmischte, die ihn nichts angingen, und er fragte Ghuda, ob der wohl nicht ganz gescheit sei, wenn er da auch noch mitmachte. Dem Jungen verzieh er, weil er eben noch ein Junge war und weil Jungen eben immer für solch dumme Sachen gut waren.

Aus irgendeinem Grund schien ihn der Isalani, der sich ungebeten der Karawane angeschlossen hatte, nicht im geringsten zu stören.

Borric war sich ziemlich sicher, der seltsame Mann müsse den sonst strengen Karawanenmeister irgendwie verwirrt haben, doch in diesem Falle hätte der kleine Kerl über magische Kräfte oder etwas Ähnliches verfügen müssen. Jedenfalls würde der kleine selbstzufriedene Gauner die Beine nur so lange hinten aus dem letzten Wagen baumeln lassen, wie er den Anführer fünf Wagen weiter vorn nicht gegen sich aufbrachte. Selbst sein Onkel Jimmy würde nicht von sich behaupten können, so gut zu sein, dachte Borric.

Beim Gedanken an Jimmy fühlte sich Borric erneut und nicht zum ersten Mal niedergeschlagen. Seine Lage war einfach hoffnungslos.

Wie sollte er bloß den Palast der Kaiserin sicher erreichen und James die Nachricht überbringen lassen, daß er noch am Leben war? Nach allem, was er beim Gouverneur von Durbin erfahren hatte, waren in dieses Komplott auch wichtige Männer von hohem Rang im kaiserlichen Palast verwickelt. Und je mehr er sich dem Palast näherte, desto klarer wurde ihm, wie schwierig es werden würde, hineinzugelangen.

Er legte sich in der Nähe des Feuers nieder und beschloß, er könne auch während der Reise noch über dieses Problem nachdenken. Im Moment lag schließlich noch ein gutes Stück Wegs zwischen ihm und den Toren des Palastes. So döste er nach dem Essen in der Wärme des Abends vor sich hin, bis Ghuda kam und ihn weckte.

»Deine Wache, Verrückter.«

Borric erhob sich und nahm mit zwei weiteren Wächtern seinen Posten ein, wobei die drei vor sich hin murmelten und fluchten, wie es Männer in ähnlichen Lagen schon immer getan hatten, seit es Karawanen gab.

 

»Jeeloge!« rief Ghuda.

Borric drückte sich hoch, spähte zwischen Ghuda und dem Fuhrmann, der den Wagen lenkte, hindurch und blickte in die Richtung, in die der ältere Wächter zeigte. Als zusätzliche Wache am Ende der Karawane konnte er es sich auf Seidenballen aus den Freien Städten gemütlich machen und in der Nachmittagssonne dösen. Sie hatten die Kuppe eines Hügels erreicht, und nun tauchte vor ihnen am Horizont ein Ort auf. Er schien gar nicht so klein zu sein. Im Königreich hätte man ihn vielleicht als kleine Stadt bezeichnet, doch Borric hatte schon lange bemerkt, daß das Königreich im Gegensatz zu Kesh nur spärlich besiedelt war. Der Prinz döste weiter. Sie würden in Jeeloge für die Nacht Station machen, und die meisten der Karawanenfuhrleute und -wächter planten für den Abend eine schöne Feier und ein gutes Spielchen.

Am Tag zuvor hatten sie den nördlichen Rand des Gebirges umrundet, welches man hier die Wächter nannte. Diese Bergkette begrenzte den Overnsee im Westen. Danach waren sie dem Fluß Sarne in Richtung der Stadt Kesh gefolgt. Die Landschaft war von kleinen Städten und Bauerndörfern gesprenkelt. Borric verstand jetzt, warum das Karawanengeschäft im Inneren von Kesh mit wenig Gefahren verbunden war. So dicht an der Hauptstadt des Kaiserreichs war das Leben ruhig.

»Ich frage mich, was das da sein soll?« sagte Ghuda nachdenklich.

Borric sah auf und erblickte eine Kompanie Reiter, die an einem Wachposten in der Nähe der Stadt wartete. Der Prinz bewegte sich ganz nach rechts, damit der Fuhrmann nicht verstehen konnte, was er Ghuda ins Ohr flüsterte. »Vielleicht suchen sie nach mir.«

Ghuda drehte sich zu dem jüngeren Karawanenwächter um und blitzte ihn voller Wut an. »Nein, wie interessant. Hast du etwa noch mehr solch netter Dinge auf Lager, die ich wissen sollte, bevor sie mich vor den kaiserlichen Gerichtshof zerren?« Obwohl er flüsterte, konnte Borric deutlich den Zorn aus seiner Stimme heraushören.

»Und was hast du angestellt?«

»Sie behaupten, ich hätte die Frau des Gouverneurs von Durbin umgebracht«, flüsterte Borric.

Als einzige Reaktion darauf rieb sich Ghuda einen Moment lang die Augen. »Warum gerade ich? Was habe ich getan? Warum hassen mich die Götter so?« Er sah Borric in die Augen. »Und hast du es getan, Verrückter?«

»Nein, natürlich nicht.«

Ghuda kniff die Augen zusammen und blickte Borric kurz forschend an, dann sagte er: »Natürlich hast du das nicht.« Er seufzte tief. »Wir könnten es mit einer Bande lausiger Banditen aufnehmen, wenn es sein müßte, doch diese Kaiserlichen würden uns wie Jagdvögel zusammengeschnürt haben, ehe wir noch Pieps gesagt hätten. Ich sag dir was: Wenn dich jemand fragt, bist du mein Cousin aus Odoskoni.«

»Wo liegt Odoskoni?« fragte Borric, während sich die Wagen den Reitern näherten.

»Das ist eine kleine Stadt in den Gipfeln der Ruhe, und die nächste Stadt ist Kampari. Man muß sich Hunderte von Meilen durch die Grünen Weiten schleppen, um dorthin zu gelangen, und das machen die wenigsten. Höchstwahrscheinlich ist im letzten Jahr keiner von diesen Burschen dort hingekommen.«

Der erste Wagen wurde langsamer und blieb stehen, und die anderen ebenso, doch zu diesem Zeitpunkt war Borric zusammen mit den übrigen Wächtern bereits von den jeweiligen Wagen gesprungen und nach vorn zu ihrem Meister gegangen, so wie es von ihnen erwartet wurde, denn schließlich konnten diese Soldaten auch falsch sein. Doch der Art nach, wie sich ihr Offizier Janos Saber näherte, war klar: Hier handelte es sich tatsächlich um kaiserliche Truppen; dieser Offizier verlangte Gehorsam, und zwar augenblicklich. Jeder Mann der Kompanie trug einen prächtigen Rock aus roter Seide, einen Eisenhelm mit Fellband – bei dieser Kompanie war er aus Leopardenfell gemacht. Dazu trug jeder eine Lanze und an der Seite ein Schwert, und hinter den Sätteln hing jeweils ein Bogen. Borric stimmte Ghudas Einschätzung zu. Die Männer der Kompanie sahen aus wie erfahrene Veteranen. Borric flüsterte Ghuda ins Ohr: »Gibt es in Kesh eigentlich überhaupt keine jungen Rekruten?«

Ghuda flüsterte zurück: »Viele, Verrückter. Die Friedhöfe sind voll von ihnen.«

Der Offizier wandte sich an Saber. »Wir suchen zwei entlaufene Sklaven aus Durbin. Ein junger Mann, vielleicht zwanzig Jahre alt, und einen Jungen von elf oder zwölf.«

Janos erwiderte: »Herr, meine Männer sind alle Karawanenwächter oder Fuhrleute, und entweder kenne ich sie, oder es haben sich Leute für sie verbürgt, die ich kenne, und der einzige Junge, den wir bei uns haben, ist der Küchenjunge.«

Der Offizier nickte, als wäre das, was der Karawanenmeister zu sagen hatte, von wenig Bedeutung. Ghuda strich sich über das Kinn, als dächte er nach, doch hinter vorgehaltener Hand zischelte er Borric zu: »Interessant, sie durchsuchen die Wagen ausgerechnet hier. Warum sollte sich ein Sklave, der in Durbin entflohen ist, ausgerechnet ins Innere des Kaiserreichs aufmachen, anstatt daraus abzuhauen?«

Falls Janos Borric und Suli für das Paar hielt, nach dem die Soldaten suchten, so sagte er jedenfalls nichts. Einer der Kaiserlichen kam zu Ghuda und Borric. Er sah Ghuda kaum an, doch bei der Untersuchung von Borric ließ er sich Zeit. »Wo kommst du her?«

fragte er. Seine Frage klang, als müsse er so tun als ob, denn da er die Wahrheit nicht kannte, mußte er annehmen, daß er tatsächlich nach einem entlaufenen Sklaven suchte. Zwar würde ein Sklave nicht in aller Seelenruhe bewaffnet vor ihm stehen, doch immerhin hatte der Soldat seine Pflicht zu erfüllen und zu fragen.

Borric sagte: »Hier und da. Ich bin in Odoskoni geboren.«

Irgend etwas an dem, was Borric gesagt hatte, oder auch nur die Art, wie er dastand, erregte das Interesse des Soldaten. »Du sprichst mit einem seltsamen Akzent.«

Borric zögerte keine Sekunde mit seiner Antwort. »Du klingst mir auch fremd, Soldat. In meinem Volk sprechen alle so wie ich.«

»Du hast grüne Augen.«

Plötzlich riß der Soldat Borric die Kopfbedeckung herunter und enthüllte das schwarzgefärbte Haar. »He!« beschwerte sich Borric.

Suli hatte sein Haar vor einigen Tagen nochmals mit den Resten der Tinktur gefärbt, und Borric hoffte, die roten Haaransätze wären noch nicht so lang herausgewachsen, um ihn zu verraten.

»Hauptmann!« rief der Soldat. »Auf diesen hier paßt die Beschreibung.«

Vielleicht hatten diejenigen, die seinen Tod wünschten, seine Beschreibung nach den Angaben der Seeleute, die ihn vor dem Hafen verfolgt hatten, geändert. Was für ein Dummkopf bin ich doch, dachte er. Ich hätte mir die Haare anders färben sollen.

Der Hauptmann kam herangeschlendert und fragte: »Dein Name.«

Borric erwiderte: »Alle nennen mich den Verrückten.«

Der Hauptmann zog eine Augenbraue hoch und sagte: »Eigentümlich. Und warum?«

»Aus meinem Dorf gehen nicht viele Leute fort, und ehe ich dort abgehauen bin, war ich bekannt, weil ich –«

»Dumme Sachen hat er gemacht«, mischte sich Ghuda ein. »Er ist mein Cousin.«

»Du hast grüne Augen«, sagte der Hauptmann.

»Hat seine Mutter auch«, antwortete Ghuda.

Der Hauptmann wendete sich Ghuda zu. »Sprichst du immer für ihn?«

»Sooft es geht, Herr. Wie ich sagte, manchmal macht er dumme Sachen. Die Leute aus Odoskoni haben ihn nicht nur aus einer Laune heraus den Verrückten genannt.« Er machte eine Grimasse wie ein Geisteskranker, verdrehte die Augen zu einem Schielen und ließ die Zunge auf einer Seite des Mundes heraushängen.

Ein weiterer Soldat kam näher, der Suli am Arm mit sich zog.

»Wen haben wir denn da?« fragte der Hauptmann.

»Das ist der Küchenjunge«, antwortete Janos.

»Wie heißt du, Junge?«

Ghuda sagte: »Suli aus Odoskoni.«

Der Hauptmann drehte sich zu Ghuda um. »Ruhe!«

Borric sagte: »Er ist mein Bruder.«

Der Hauptmann schlug zu und traf Borric mit der Rückseite seiner behandschuhten Hand im Gesicht. Die Tränen traten Borric in die Augen, doch er riß sich zusammen, obwohl er den plötzlichen Drang verspürte, diesen Hauptmann der Kaiserlichen Wache von Kesh aufzuspießen.

Der Hauptmann faßte Suli am Kinn und betrachtete sein Gesicht.

»Du hast dunkle Augen.«

Suli stotterte: »Meine … Mutter hatte dunkle Augen.«

Der Hauptmann blickte Ghuda scharf an. »Du hast doch gesagt, seine Mutter hätte grüne Augen.«

Ohne zu zögern meinte Ghuda: »Nein, seine« – er deutete auf Borric – »Mutter hatte grüne Augen.« Er zeigte auf Suli und fuhr fort: »Seine Mutter hatte dunkle Augen. Sie haben verschiedene Mütter, aber denselben Vater.«

Ein weiterer Soldat trat dazu und meldete: »Sonst paßt die Beschreibung auf niemanden, Herr.«

Der Soldat, der Suli festhielt, wollte wissen: »Wer ist dein Vater?« Suli sah Borric an, doch der Soldat sagte: »Antworte!«

»Suli aus Odoskoni«, piepste Suli. »Ich bin nach meinem Vater benannt worden.«

Der Hauptmann stieß den Soldaten an. »Idiot.« Er zeigte auf Borric. »Der andere kann den Namen doch hören.«

Borric sagte: »Hauptmann, nehmt den Jungen doch zur Seite und fragt ihn nach dem Namen unseres anderen Bruders.«

Der Hauptmann wies das mit einer Geste an, während Borric Ghuda zuflüsterte: »Er wird uns festhalten.«

»Und was soll der ganze Blödsinn dann?« fragte Ghuda leise.

»Weil wir in dem Augenblick sterben, in dem er sicher ist, daß er die Richtigen hat.«

»Bei Festnahme töten?« zischte Ghuda.

Borric nickte zustimmend, während der Hauptmann sich vor ihnen aufbaute. »Nun, wer ist also dieser geheimnisvolle Bruder von euch beiden Lügnern.«

»Wir haben noch einen Bruder, Rasta, ein Trunkenbold«, antwortete Borric. Im stillen betete er, Suli würde sich noch an das Stegreifgespräch erinnern, das die beiden auf der Flucht aus dem Gouverneurspalast geführt hatten, kurz bevor sie Salaya in Durbin auf der Straße getroffen hatten.

Einen Augenblick später kehrte der Soldat zurück und sagte: »Der Junge meint, sie hätten noch einen älteren Bruder, der Rasta heißt und ein Trunkenbold ist.«

Borric hätte den Jungen küssen können, aber er unterdrückte das Lächeln. Der Hauptmann sagte: »Irgend etwas an euch beiden gefällt mir ganz und gar nicht.« Er sah hinüber zu Janos Saber. »Du und der Rest deiner Männer können gehen, aber diese beiden nehme ich fest.« Dann blickte er Ghuda an und meinte: »Den hier nehmt ihr auch mit.«

Ghuda sagte: »Wunderbar«, derweil ihn die Soldaten entwaffneten und an den Handgelenken fesselten. Borric und Suli wurden genauso gefesselt, nachdem ihnen die Waffen abgenommen worden waren, und bald wurden die drei an der Leine hinter den Pferden hergezogen.

 

Die Stadt Jeeloge hatte eine Wachtmeisterstube, und in der fand sich eine armselige Zelle, in der meist Bauern und Hirten festgehalten wurden, die bei Schlägereien Ärger gemacht hatten. Und jetzt wollte der kaiserliche Hauptmann sie für seine Gefangenen benutzen, was dem Wachtmeister des Ortes gar nicht behagte. Er war Soldat im Ruhestand, sein Bart wurde bereits grau, und der Bauch quoll über den Gürtel; er war genau der Richtige, um mit pöbelnden Bauernburschen fertigzuwerden, doch für einen ernsthaften Kampf würde es bei ihm kaum mehr reichen. So hatte er der Aufforderung des Hauptmanns, er solle sich entfernen, sofort Folge geleistet.

Borric hatte mitbekommen, wie der Hauptmann seinen Feldwebel angewiesen hatte, einen berittenen Boten zur Stadt Kesh zu schicken, der fragen sollte, was mit den drei Gefangenen zu geschehen hatte.

Auch wenn Borric nicht das ganze Gespräch hatte verfolgen können, so kamen die Befehle doch offensichtlich von einem hohen Offizier der Armee, und sicherlich waren Vorkehrungen getroffen worden, damit die Suche nicht übermäßig viel Aufmerksamkeit erregte. So war das eben in Kesh, dachte Borric, es war ein Reich mit vielen Völkern, und eine Suche wie diese konnte lange Zeit vor sich gehen und wurde vielleicht nur von einem von hundert Leuten bemerkt. Der Tag war vorüber, und die Nacht zog herauf. Vor einer Stunde war Suli eingeschlafen, und mit dem Wachtmeister hatte sich auch jede Hoffnung auf ein Abendessen verabschiedet. Der kaiserliche Offizier schien sich mit so einfachen Dingen wie dem Hunger seiner Gefangenen nicht abgeben zu wollen.

»Hallo!« rief eine vergnügte Stimme durch das Fenster. Suli zuckte zusammen und wachte auf.

Alle drei sahen auf und erblickten ein grinsendes Gesicht in dem kleinen Fenster oben in der Wand der Zelle, in der sie saßen.

»Nakor!« flüsterte Borric.

Borric bedeutete Ghuda, er solle ihm eine Räuberleiter machen, und er kletterte auf Ghudas Schultern und hielt sich an den Gitterstäben fest. »Was machst du denn hier?«

»Ich dachte, du hättest vielleicht gern noch eine Orange«, meinte der grinsende kleine Mann. »Das Essen im Gefängnis ist ja nie besonders gut.«

Borric konnte nur nicken, während ihm der kleine Mann durch das Gitter eine Orange reichte. Der Prinz warf sie Suli zu, der hungrig hineinbiß und die Schale ausspuckte. »Damit dürftest du sogar mehr als recht haben, Nakor«, meinte Borric. »Das Essen ist nicht nur schlecht, sie haben noch dazu vergessen, es uns überhaupt zu bringen.«

Dann fiel ihm plötzlich etwas auf. »Aber wie bist du denn so hoch gekommen?« Das Fenster saß immerhin gute zwei Meter fünfzig hoch in der Wand, und der kleine Mann schien nicht an den Gitterstäben zu hängen.

»Mach dir darüber keine Gedanken. Wollt ihr vielleicht da raus?«

Ghuda, der unter Borrics Gewicht zu wanken begann, sagte: »Das ist ja wohl die dümmste Frage, die in den vergangenen tausend Jahren irgendwer gestellt hat. Natürlich wollen wir hier raus!«

Breit grinsend sagte der Isalani: »Dann stellt euch gegenüber in die Ecke und haltet euch die Hände vor die Augen.«

Borric sprang von Ghudas Schultern herunter. Sie gingen in die Ecke und bedeckten die Augen. Einen Moment lang war alles ruhig, und es passierte nichts, dann traf Borric plötzlich ein Schlag, als würde ihn eine riesige Hand gegen die Wand werfen, und er wurde von einem lauten Knall fast taub. Er zuckte zusammen und öffnete die Augen. Die Wand hatte ein Loch. Im Gefängnis des Wachtmeisters schwebte feiner Staub, und es roch nach Schwefel.

Einige Wachen hielten sich an dem fest, was ihnen gerade Halt bieten mochte, während andere auf dem Boden lagen und von dem, was auch immer die Mauer gesprengt hatte, geblendet waren.

Nakor stand neben vier Pferden, deren Sättel alle das kaiserliche Wappen trugen. »Sie werden sie nicht mehr brauchen, schätze ich«, meinte er und reichte die Zügel Borric.

Suli stand ängstlich auf und meinte: »Meister, ich kann nicht reiten.«

Ghuda hob den Jungen hoch und setzte ihn auf das nächststehende Pferd. »Dann solltest du es besser schnell lernen. Wenn du herunterrutschen solltest, halt dich einfach an der Mähne des Pferdes fest und bleib oben!«

Borric saß ebenfalls bereits im Sattel und sagte: »Sie werden augenblicklich hinter uns her sein. Laßt uns –«

»Nein«, meinte Nakor. »Ich habe ihre Sattelgurte und Zügel durchgeschnitten.« Scheinbar aus dem Nichts holte er ein garstig aussehendes Messer, als wollte er zeigen, wie er es gemacht hatte.

»Doch wir sollten trotzdem besser verschwinden, ehe Leute kommen, die nachschauen wollen, was hier so geknallt hat.«

Darüber wollte sich niemand streiten, und sie ritten los, wobei Suli es kaum schaffte, sich im Sattel zu halten. Nachdem sie ein Stück Wegs zurückgelegt hatten, stieg Borric ab und stellte Sulis Steigbügel höher ein. Sulis Pferd, das einen unerfahrenen Reiter spürte, machte allerlei gemeine Sachen, und Borric konnte nur hoffen, daß der Junge einen möglichen Fall, der bei ihrer Geschwindigkeit kaum zu vermeiden war, überleben würde.

Während sie die nun aus dem nächtlichen Schlaf erwachte Stadt Jeeloge hinter sich ließen, fragte Borric: »Was war denn das?«

»Ach, ein kleiner magischer Trick, den ich irgendwann einmal gelernt habe«, erwiderte der keine Mann.

Ghuda machte eine abwehrende Geste und sagte: »Bist du ein Zauberer?«

Nakor lachte. »Natürlich. Alle Isalanis sind der Magie fähig, wußtest du das nicht?«

Borric meinte: »Konntest du deshalb durch das Fenster sehen?

Hast du mit Hilfe von Magie davor geschwebt?«

Nakor lachte noch lauter. »Nein, Verrückter. Ich hab auf einem der Pferde gestanden.«

Wegen der gelungenen Flucht erleichtert und gleichermaßen erheitert, spornte Borric sein Pferd an, und das Tier fiel in leichten Galopp. Einen Augenblick später hörte er die anderen hinter sich, bis ihnen ein Schrei und ein unangenehm klingender Plumps verrieten, daß Suli abgeworfen worden war.

Borric drehte sich um, sah nach, ob Suli ernstlich verletzt war, und sagte: »Das wird wahrscheinlich die langsamste Flucht der Geschichte.«