Freudenfest

Erland stand schweigend da.

Sosehr er es auch versuchte, er konnte die Größe dessen, was er da sah, schlichtweg kaum begreifen: Der erste Tag der Feierlichkeiten zum fünfundsiebzigsten Geburtstag der Kaiserin überstieg einfach alles, was er je gesehen hatte. Seit Jahrhunderten hatten Baumeister den Palast verschönert, vergrößert und immer wieder etwas daran angebaut, bis er das beeindruckendste Bauwerk darstellte, das Erland je gesehen hatte. Doch der Teil, in dem sich der Prinz jetzt befand, schien das noch zu übertreffen. Ein riesiges Amphitheater war aus der Seite des Plateaus gehauen worden, auf dem die Oberstadt stand, und seine Errichtung wäre ohne das Können der Baumeister, den Schweiß der Handwerker und das Blut der Sklaven nicht möglich gewesen. Ohne Probleme würden hier fünfzigtausend Menschen Platz finden, mehr als die Bevölkerung von Rillanon und Krondor zusammen.

Erland machte seinen Gefährten ein Zeichen, mit ihm zu gehen, denn es würde noch eine Stunde dauern, bis seine eigene Rolle in diesem formellen Hofspiel beginnen würde. Kafi Abu Harez, sein allgegenwärtiger Führer, war an seiner Seite, um alle Fragen zu beantworten.

Schließlich wollte Erland wissen: »Kafi, wie lange haben sie daran gebaut?«

»Jahrhunderte, Hoheit«, antwortete der Wüstenbewohner. Er zeigte auf eine entfernte Stelle am Fuße des riesigen Keils, der aus dem Plateau gehauen worden war. »Dort, am Rand der Unterstadt, hat vor vielen, vielen Jahren einer der Kaiser von Kesh, Sujinrani Kanafi – den man den Gütigen nannte – folgendes beschlossen: Wenn es den Nicht-Reinblütigen versagt ist, über Nacht auf dem Plateau zu bleiben, so werden sie von vielen Angelegenheiten des kaiserlichen Hofes ausgeschlossen, wozu natürlich an erster Stelle Sujinranis Wohltätigkeit gehörte, und in gleicher Weise die Hinrichtung von Verrätern. Er glaubte, viele, die es brauchen könnten, würden solche Lektionen dann nicht aus erster Hand mitbekommen.

Also verfügte er, alles, was zum Plateau gehört, bis hin zum niedrigsten Teil, solle zur Oberstadt gezählt werden. Sodann ließ er ein kleines Amphitheater bauen, welches vielleicht drei Meter höher lag als das heutige.« Mit einer Handbewegung verdeutlichte Kafi seine nächste Erklärung. »Daraufhin wurde ein Keil aus den Felsen gehauen, wodurch auch jene an den Geschäften des Hofes teilhaben konnten, denen der Zugang zur Oberstadt nicht gestattet ist.«

»Und seitdem ist es mehrere Male vergrößert worden«, sagte Locklear.

»Ja«, erwiderte Kafi. »Allein der Eingang wurde fünfmal vergrößert. Die kaiserliche Loge wurde dreimal versetzt.« Er zeigte auf einen großen Bereich, der von einem Baldachin aus feinster Seide überdacht war und sich in der Mitte des Halbkreises befand, auf dem Erland und seine Gesellschaft gerade gingen. Kafi brachte den Prinzen mit einer sachten Berührung am Arm zum Stehen und zeigte auf den Platz der Kaiserin. »Von dort aus verfolgt Sie, Die Kesh Ist – Sie sei für alle Zeiten gesegnet –, die Feierlichkeiten. Ihr goldener Thron steht auf einem kleinen Podest, um welches herum ihre Familie und ihre Diener und jene von kaiserlichem Blute ihre Plätze haben. Nur der höchste Adel des Kaiserreichs hat Zugang zu diesem Bereich. Wer ohne die Erlaubnis der Kaiserin eindringen will, wird getötet, denn an jedem Eingang stehen die Izmaliwachen Ihrer Majestät.«

Er zeigte auf eine Reihe von Logen, von denen jede ein wenig kleiner war als die vorhergehende. »Diejenigen, die am nächsten zur Loge Ihrer Majestät sind, gehören den Höchstgeborenen des Kaiserreiches, aus denen sich die Galerie der Herren und Meister zusammensetzt.«

Erland meinte: »Allein auf dieser Ebene könnten fünf- oder sechstausend Menschen Platz finden, Kafi.«

Der Wüstensohn nickte. »Vielleicht mehr. Diese Ebene senkt sich nach unten und umfaßt die darunterliegende wie Arme, die einen Körper umgreifen. Am vorderen Ende ist sie dreißig Meter tiefer als dort, wo der Thron der Kaiserin steht. Kommt, ich will Euch noch mehr zeigen.«

Der Wüstenbewohner, der für die Zeremonie dunkelblaue und weiße Festkleider trug, führte sie zum Geländer, von wo man auf die darunterliegende Ebene sehen konnte. Während sie dorthin gingen, eilten Adlige, die der Kaiserin vor Erlands Gesellschaft vorgestellt werden würden, an ihnen vorbei, und nur wenige nahmen sich einen Augenblick Zeit, um sich vor dem Prinz aus dem Königreich der Inseln zu verneigen. Erland bemerkte ein halbes Dutzend unterirdischer Gänge, die auf dem breiten Gang hinter den Logen endeten. »Diese ganzen Menschen hier können doch nicht alle aus dem Palast kommen?«

Kafi nickte. »Doch, sie kommen alle von dort.«

»Man möchte meinen, die Sicherheit der Kaiserin hätte Vorrang vor der Bequemlichkeit des Adels, der sich ein- oder zweimal im Jahr hierherbegibt. Die Gänge sind doch eine Einladung an jeden Eindringling, der den Palast erobern will.«

Kafi zuckte mit den Schultern. »Das wird allerdings kaum vorkommen, mein junger Freund. Denn Ihr müßt verstehen, jeder, der die Sicherheit dieser Gänge bedrohen würde, müßte bereits die Unterstadt halten, und in diesem Fall wäre es längst um das Reich geschehen. Sollte irgend jemand die Unterstadt besetzt haben, so ist die Macht von Kesh Vergangenheit. Hier liegt das Herz des Kaiserreichs, und ehe eine feindliche Armee auch nur in Sichtweite der Stadt käme, würden hunderttausend keshianische Soldaten tot auf den Schlachtfeldern liegen müssen. Versteht Ihr?«

Erland dachte darüber nach und nickte schließlich. »Ich denke, Ihr habt recht. Ich wurde als Angehöriger eines Volks geboren, das auf einer Insel lebt, und diese Insel liegt in einem Meer, welches auch von einem weiteren Dutzend Völker befahren wird … man betrachtet die Dinge mit anderen Augen.«

»Ich verstehe«, sagte Kafi. Er zeigte auf den Bereich zwischen den Logen und dem Boden des Amphitheaters. Der Stein war nach unten abfallend in ineinandergreifenden halbmondförmigen Abschnitten herausgehauen worden, so daß aus dem Fels des Plateaus eine Bühne entstanden war. Die Ebene unter den Logen war bereits mit Bürgern in bunter Kleidung gefüllt. »Dort sitzen die niedrigen Adligen, die Meister der Gilden und die einflußreichen Händler der Stadt. In der Mitte bleibt noch Platz für diejenigen, die der Kaiserin vorgestellt werden.«

Kafi fuhr fort: »Ihr werdet mit Eurem Gefolge dort eintreten, Hoheit, nach den Adligen von Kesh und vor den einfachen Bürgern und den Gesandten aller anderen Nationen. Die Kaiserin bevorzugt Euch, denn sie hat Eure Abordnung vor alle anderen gesetzt, ein Zugeständnis, demzufolge sie das Königreich der Inseln als nächstgrößte Macht auf Midkemia nach dem Kaiserreich ehrt.«

Erland warf James bei diesem offenen Kompliment einen gleichgültigen Blick zu, sagte aber: »Wir danken Ihrer Majestät für Ihre Höflichkeit.«

Falls Kafi die Ironie in dieser Bemerkung verstanden hatte, so verbarg er das jedenfalls gut. Er ging weiter, als wäre nichts Undiplomatisches gesagt worden. »Die einfachen Leute von Kesh dürfen die Feierlichkeiten von gegenüber dem Eingang, von den Dächern und anderen geeigneten Punkten aus mit verfolgen.«

Erland ließ seinen Blick über die Unterstadt schweifen, wo Tausende von einfachen Bürgern hinter einer Reihe von Soldaten zurückgehalten wurden. Jenseits der Straße, die vor dem Amphitheater vorbeiführte, hatten sich die Menschen auf den Dächern von Gebäuden und in den Fenstern der Häuser versammelt.

Erland fand allein ihre große Anzahl atemberaubend.

Gamina, die schweigend neben ihrem Mann gegangen war, sagte: »Ich glaube, sie werden kaum viel sehen können.«

Kafi schüttelte den Kopf. »Vielleicht; doch früher, vor der Herrschaft von Sujinrani Kanafi, haben sie überhaupt nichts von den Zeremonien des Hofes mitbekommen.«

»Mein Lord Abu Harez«, sagte Locklear, »ehe wir fortfahren, könntet Ihr vielleicht mit mir die Rede besprechen, die mein Prinz für diesen Tag vorbereitet hat, damit sie nicht irgendwelche versehentlichen Kränkungen enthält?«

Kafi durchschaute die offensichtliche Frage, mit der man ihn fortlocken wollte, doch da er keinen verständlichen Einwand dagegen zusetzen hatte, willigte er ein und ließ sich von Locklear zur Seite nehmen. James, Gamina und Erland blieben somit allein.

Einige keshianische Diener huschten in ihrer Nähe herum, um die vielen Kleinigkeiten zu erledigen, die noch vorzubereiten waren. Ein paar von ihnen waren ohne Zweifel Agenten des kaiserlichen Hofes.

Erland sah James an. »Was ist?«

James wandte sich um und stützte sich auf das marmorne Geländer des Balkons, als würde er das riesige Amphitheater betrachten. »Gamina?« sagte er leise.

Gamina schloß die Augen, dann hörte Erland ihre Stimme in seinem Kopf. Wir werden beobachtet.

Erland mußte sich zusammenreißen, damit er sich nicht umsah.

Wir haben das ja erwartet, erwiderte er.

Nein, wir werden mit magischen Mitteln überwacht.

Erland hätte am liebsten laut geflucht. Können sie uns verstehen, wenn wir uns auf diese Art und Weise unterhalten?

Ich weiß es nicht, antwortete sie. Mein Vater könnte das, doch es gibt nur wenige, die solche Fähigkeiten haben wie er. Ich glaube nicht.

James sagte: »Umwerfend, nicht wahr?«, derweil er in Gedanken hinzufügte: Ich würde annehmen, sie können es nicht, oder wenn, dann würdest du es spüren. Und ich glaube, wir werden in nächster Zeit kaum weniger gut bewacht werden, deshalb können wir genausogut hoffen, daß wir recht haben.

Ja, stimmte Gamina zu. Ich war mir dieser Magie nicht bewußt, ehe ich nicht danach gesucht habe. Sie ist sehr schwierig. Und gut.

Ich glaube, wer auch immer sie benutzt, kann hören, was wir sagen, und sehen, was wir tun. Doch wenn sie unsere Gedanken lesen könnten, würde ich das sicherlich bemerken.

Gamina schloß die Augen einen Moment lang, als wäre ihr von der Hitze ein wenig schwindelig. James stützte sie kurz. Ich glaube, es ist kein Mensch, sonst würde ich eine bestimmte Absicht festgestellt haben.

Was meinst du damit? fragte Erland.

Ich glaube, wir stehen unter der Aufsicht eines magischen Gegenstandes. Vielleicht ein Kristall oder ein Spiegel. Mein Vater hat so etwas oft bei seinen Studien benutzt. Falls das so sein sollte, dann können wir dort mit Sicherheit gesehen werden, und entweder werden uns unsere Worte von den Lippen abgelesen, oder jemand ist sehr geübt und kann uns hören. Unsere Gedanken sind jedoch nicht bedroht.

Gut, sagte James. Ich habe endlich eine Nachricht von unseren Spionen hier bekommen. Es hat fürchterlich lange gedauert, bis ich Kontakt mit ihnen aufnehmen konnte.

»Ich frage mich, wie lange wir wohl bei dieser Zeremonie stehen müssen?« sagte Gamina abwesend.

»Stundenlang, ohne Zweifel«, meinte James. An Erland gewandt, sagte er: Wir sind mitten im Hexenkessel gelandet, und langsam fängt er an zu brodeln. Es gibt ein Komplott, das die Herrschaft der Kaiserin beenden soll, das nehmen jedenfalls unsere Spione an.

Der Prinz täuschte ein gelangweiltes Gähnen vor und sagte: »Ich hoffe, ich werde währenddessen nicht einschlafen.« In Gedanken sagte er: Und wieso sollen Kesh und das Königreich deshalb in einen Krieg gestürzt werden?

Wenn wir das wüßten, wäre uns auch klarer, wer hinter dem Komplott steht. Ich habe bei dieser Sache ein schlechtes Gefühl, Erland.

Warum?

Neben den auf der Hand liegenden Gefahren wird es zusätzlich heute nachmittag noch einen Haufen Soldaten in der Stadt geben.

Jeder unterworfene Herrscher wird eine Kompanie von Ehrenwachen mitbringen. Tausende von Soldaten werden sich in den nächsten zwei Monaten in den Mauern der Stadt befinden, ohne jedoch dem direkten Befehl der Kaiserin zu unterstehen.

Wie schön, erwiderte Erland. »Nun, vielleicht sollte ich noch ein wenig ruhen, bevor diese Nervenprobe beginnt.«

James meinte: »Ja, das wäre wohl das beste, denke ich.«

Gamina sagte in Gedanken: Was sollen wir machen, James?

Warten. Das ist alles, was wir tun können, kam seine Antwort. Und wachsam bleiben.

Kafi kommt zurück, bemerkte Gamina.

Der Wüstensohn sagte: »Hoheit, Eure Rede wird gleich doppelt begrüßt werden, einmal wegen ihrer Aufrichtigkeit, und dann wegen ihrer Kürze. Eine solche Sparsamkeit mit Worten ist im Kaiserreich nicht üblich, wie Ihr sicherlich am Ende dieses Tages nach den Zeremonien gesehen haben werdet.«

Erland wollte gerade antworten, als Kafi sagte: »Seht! Es beginnt.«

Ein hochgewachsener Mann, alt, doch immer noch muskulös, betrat die kaiserliche Loge und ging an ihren vordersten Rand. Er war wie alle Reinblütigen mit Kilt und Sandalen bekleidet, doch er trug dazu einen goldenen Halsring, der so schwer sein mochte wie ein Lederharnisch. Er hielt etwas in der Hand, das wie ein mit Blattgold belegter Holzstab aussah, der an der Spitze seltsam geschmückt war – es war ein Falke, der auf einer goldenen Scheibe thronte.

Kafi flüsterte, obwohl es Erland nicht möglich schien, daß sie jemand hören konnte: »Der Falke von Kesh, die kaiserliche Insignie.

Man bekommt ihn nur bei den allerhöchsten Festen zu sehen. Der Falke, der die Sonnenscheibe hält, ist den Reinblütigen heilig.«

Der alte Mann hob den Stab und stieß ihn auf den Boden; Erland staunte, wie laut das Pochen war. Da sagte der Mann: »Oh Kesh, größtes aller Völker, horche auf!«

Die Akustik im Amphitheater war vollkommen, Selbst jene die auf der anderen Seite der Prachtstraße auf den Gebäuden hockten, konnten den Mann vernehmen. Derweil erstarben die Geräusche der Menge.

»Sie ist gekommen! Sie ist gekommen! Sie, Die Kesh Ist, ist gekommen, und sie ehrt euer Leben mit ihrer Gegenwart!« Bei diesen Worten betrat eine Prozession von Hunderten von Reinblütigen gemessen die kaiserliche Loge. »Sie geht, und die Sterne scheinen zu ihrem Glänze, denn sie ist das Herz unseres Ruhms! Sie spricht, und die Vögel halten in ihrem Gesänge inne, denn ihre Worte sind das Wissen! Sie denkt nach, und die Gelehrsamen weinen, denn ihre Weisheit ist groß! Sie fällt ihr Urteil, und die Schuldigen verzweifeln, denn ihr Blick sieht den Menschen tief ins Herz!« Die Aufzählung der wunderlichen Eigenschaften der Kaiserin ging auf ähnliche Weise weiter, während mehr und mehr Reinblütige jeden Alters und Ranges die kaiserliche Loge betraten.

Erland dachte, er hätte bereits viele der wichtigen Leute des Kaiserreichs kennengelernt, doch allein in der kaiserlichen Gesellschaft entdeckte er Dutzende von fremden Gesichtern. Und der einzige, mit dem er bei mehr als einer Gelegenheit gesprochen hatte, war Lord Nirome, der wohlbeleibte und unabsichtlich komische Adlige, der ihn an der Grenze der Oberstadt als Adjutant von Prinz Awari begrüßt hatte. Erland war überrascht, denn Nirome war anscheinend mit der kaiserlichen Familie verwandt. Bedachte man diese Tatsache, war es nicht weiter verwunderlich, wenn dieser so offensichtlich ungeschickte Mann einen solch hohen Posten in der Regierung einnahm. Immer mehr Männer und Frauen von kaiserlichem Blute betraten die Loge und nahmen ihre Plätze ein, während der Zeremonienmeister mit seinen Lobgesängen auf die Tugenden der Kaiserin fortfuhr. Beeindruckend, dachte Erland und versuchte, mit Gamina Kontakt aufzunehmen.

James’ Ehefrau berührte ihn leicht am Arm und antwortete: Das denkt James auch.

»Kafi«, sagte Erland.

»Euer Hoheit?«

»Wäre es uns erlaubt, noch eine Weile hierzubleiben?«

»Solange Ihr zur rechten Zeit zu Eurer Rede eintretet, gibt es keinen Grund, der dagegen spräche, Hoheit.«

»Gut«, sagte Erland und lächelte den Beni-Wazir gewinnend an.

»Würdet Ihr mir einige Fragen beantworten?«

»Wenn ich dazu in der Lage bin«, antwortete der.

Und könntest du beisteuern, was du weißt, James, fügte Erland hinzu.

Gamina gab das weiter, und James nickte kaum merklich.

»Wieso sind schon so viele Menschen in der kaiserlichen Loge, obwohl ich noch keinen von den großen Lords gesehen habe?«

Kafi sagte: »Nur diejenigen, die mit der Kaiserin blutsverwandt sind, dürfen sich bei ihr in der kaiserlichen Loge aufhalten – abgesehen von Dienern und Wachen, natürlich.«

»Natürlich«, erwiderte Erland.

Und somit gibt es also wenigstens hundert Leute, die einen anerkannten, legitimierten Anspruch auf den Thron haben, fügte James hinzu.

Vorausgesetzt, in der Erbfolge sterben einige Leute vor ihnen, ergänzte Erland trocken.

So ist das, antwortete James.

Als alle Verwandten eingetreten waren, gab es den ersten Mißklang. Plötzlich erschienen schwarzgekleidete Krieger. Jeder trug einen schwarzen Turban, und jeder hatte das Gesicht bis auf einen Sehschlitz verhüllt. Lange, fließende Umhänge erlaubten den Männern leichte und rasche Bewegungen, und jeder trug in einer schwarzen Scheide einen Krummsäbel am Gürtel. Erland hatte von ihnen gehört: Es waren Izmalis, die fast schon legendären Schattenkrieger von Kesh. In den Erzählungen waren sie immer großartiger geworden, bis man ihnen fast übernatürliche Kräfte zusprach. Nur die Höchsten des Kaiserreichs konnten sie sich als Leibwache leisten. Sie wurden als hervorragende Kämpfer betrachtet, und genauso hervorragend sollten sie als Spione sein – und auch als Assassinen, falls es notwendig sein sollte, wie man sich hinter vorgehaltener Hand erzählte.

James versuchte, seine Frage zufällig klingen zu lassen: »Mein Lord Kafi, würde sich die Kaiserin nicht normalerweise von ihrer Kaiserlichen Wache beschützen lassen?«

Der Wüstenbewohner kniff die Augen leicht zusammen, doch ohne seinen Tonfall zu verändern, sagte er: »Es gilt als umsichtiger, wenn man die Izmalis wählt. Sie sind ohnegleichen.«

Anscheinend, ließen sich James’ Gedanken über Gamina vernehmen, kann die Kaiserin selbst ihren eigenen Wachen nicht mehr vertrauen.

Als die Izmalis angetreten waren, folgte ein Dutzend stämmiger Sklaven mit geölten Körpern, welche die Sänfte trugen, auf der die Kaiserin saß. Die ganze Zeit, während die kaiserliche Gesellschaft eingetreten war, hatte der alte Mann mit dem goldenen Stab seine langen Lobgesänge fortgeführt und die Großtaten gepriesen, welche unter Lakaisha, der Kaiserin, vollendet worden waren. Plötzlich bemerkte Erland einen leichten Wechsel im Tonfall des Mannes und hörte genauer hin.

»… und hat die Rebellion in Niederkesh niedergeschlagen«, leierte der alte Mann. Ungefähr zur Zeit von Erlands Geburt waren alle Volker südlich der beiden Gebirgsketten – dem sogenannten Ring von Kesh, der sich quer durch den Kontinent zog – nach zwanzigjähriger Revolte unterworfen worden, daran erinnerte sich der Prinz noch aus dem Geschichtsunterricht über Kesh. Tausende von Menschen waren getötet worden, und den wenigen Berichten nach, die das Königreich erreicht hatten, war das Land in einer Weise verwüstet worden, wie man es aus der Geschichte des Königreichs nicht kannte – ganze Städte waren niedergebrannt und dem Erdboden gleichgemacht worden, während man ihre Bevölkerung als Sklaven verkaufte. Ganze Völker, Rassen, Sprachen und Kulturen hatten aufgehört zu existieren, außer vielleicht unter Sklaven. Und dem verärgerten Gemurmel nach, welches sich bei dieser Verkündung im Amphitheater erhob – und zwar nicht nur unter dem gemeinen Volk, sondern auch bei den niedrigeren Adligen –, gab es noch immer böses Blut zwischen den unterworfenen Völkern und ihrer Herrscherin.

Gamina wurde blaß, und Kafi fragte: »Ist meiner Dame nicht wohl?«

Gamina griff nach James’ Arm und wankte einen Moment lang.

Sie schüttelte den Kopf und sagte: »Die Hitze, mein Lord. Wenn ich bitte etwas Wasser bekommen könnte.«

Kafi machte nur eine kleine Bewegung, und sofort kam ein Diener zu ihnen. Kafi gab ihm eine Anweisung, und einen Augenblick später bot der Diener Gamina einen Becher mit kühlem Wasser an.

Sie nippte daran, während sie sich in Gedanken mit James, Locklear und Erland unterhielt. Das hat mich etwas unvorbereitet getroffen.

Dieser plötzliche Anflug von Zorn und Haß. Viele der Anwesenden würden die Kaiserin mit Freude ermorden. Und viele, viele dieser zornigen Menschen sitzen in der kaiserlichen Loge.

James tätschelte seiner Frau beruhigend den Arm, und Locklear sagte: »Wenn du glaubst, es würde dir zuviel werden, den restlichen Tag hier zu verbringen, Gamina …«

»Nein, Locky. Mir geht es wieder gut. Ich mußte nur einen Schluck Wasser trinken, glaube ich.«

Kafi sagte: »Das ist sehr weise.«

Erland wandte seine Aufmerksamkeit der nächsten Gruppe zu, die eintrat. Der Prinz und die beiden Prinzessinnen von Kesh waren hinter ihrer Mutter hereingekommen, und jetzt wurden die mächtigsten Lords und Meister des Kaiserreiches angekündigt.

Lord Jaka, der Kommandant der Kaiserlichen Streitwagenkrieger, erschien. »Wie bedeutend sind die Streitwagenkrieger, Kafi?« fragte Erland.

»Ich weiß nicht, ob ich die Frage richtig verstanden habe, Hoheit.«

»Ich meine, ist ihr Rang nur noch Tradition, oder bilden sie tatsächlich den harten Kern der Armee? Bei jenen Auseinandersetzungen in der Vergangenheit, als unsere beiden Länder … Meinungsverschiedenheiten hatten, haben wir immer nur Euren furchterregenden Hundesoldaten gegenübergestanden.«

Kafi zuckte mit den Schultern. »Die Streitwagenkrieger haben in der ersten Reihe gegen die gekämpft, die die Konföderation zerschmettern wollten, Hoheit. Aber Eure Grenzen liegen doch im Norden, und die Streitwagen würden nur im äußersten Falle so weit von der Hauptstadt entfernt eingesetzt werden.«

Jaka ist der Mann, der jeden Versuch, die Kaiserin zu stürzen, zum Erfolg bringen oder niederschlugen kann, meinte James.

Erland nickte, als würde er über Kafis Worte nachdenken. In Gedanken sagte er zu Gamina, Locklear und James: Er scheint dem Äußeren nach ziemlich zuverlässig zu sein.

Er ist ein wichtiger Mann, Erland, antwortete James. Kein Staatsstreich würde gelingen, wenn er nicht mitmachen oder zumindest stillhalten würde.

Kafi berührte Erland am Arm. »Wo wir gerade von den Hundesoldaten sprechen, dort ist ihr Meister. Sula Jafi Butar, der Prinzregent der Armeen – er wird die Throne von Kristan, Isan, Paji und den anderen Ländern, in denen wir unsere Truppen rekrutieren, erben.«

Der Mann, der eintrat, war schwer zu beschreiben, abgesehen davon, daß er wie ein schwarzer Reinblütiger aussah. Er trug ebensolche Kleidung, einen weißen Kilt, Sandalen und einen rasierten Kopf, doch seine Haut glänzte in der Sonne wie Ebenholz.

Die meisten seines Gefolges waren ähnlich schwarz, obwohl einige in Erlands ungeübten Augen, was das betraf, auch als Reinblütige durchgegangen wären.

Erland warf James einen Blick zu, und der antwortete: Er ist eine unbekannte Figur in diesem Spiel, Erland. Offensichtlich ist er loyal.

Seine Völker waren die ersten, die von ihren Nachbarn erobert wurden, deshalb gehören sie zu den ältesten Linien von Kesh und stehen im Range gleich hinter den Reinblütigen. Abar Bukar, der Lord der Armeen, ist der eigentliche Befehlshaber, doch dieser Mann hat in der Armee eine Menge Einfluß.

Kafi sagte: »Vielleicht sollten wir langsam hinuntergehen, Prinz Erland. Dann kommen wir nicht in die Verlegenheit, die Hofzeremonie zu unterbrechen.«

Erland sagte: »Bitte, geht voran.«

Eine Gruppe Wachen nahm Erland und seine Gefährten in die Mitte, und der Prinz erschrak ein wenig. Er hatte sie nicht kommen sehen. Die Wachen brauchten nicht zu schreien, um ihnen den Weg freizumachen, denn die Menschen auf dem breiten Gang hinter den Logen schienen ihr Näherkommen zu spüren und traten rasch zur Seite. James meinte: »In dieser Gesellschaft bemerken die Leute offensichtlich auch ohne hinzusehen, ob sich jemand von höherem Range nähert.«

Kafi zuckte nur mit den Schultern, breitete hilflos die Arme aus und sagte: »Ma’lish«, was Erland als Beni – Kafis Muttersprache – erkannte, in der das Wort soviel wie »Entschuldigung« hieß, aber auch bedeutete: »Solche Sachen kommen vor.« Es war das, was andere Völker Kismet, Schicksal oder den Willen der Götter nannten.

Der Name Lord Ravi erregte Erlands Aufmerksamkeit, und er blickte nach hinten, wo er eine weitere bunte, nur aus Männern bestehende Gruppe eintreten sah. Jeder der Männer in der vordersten Reihe dieser Gruppe hatte einen rasierten Schädel, abgesehen von der einzelnen Locke in der Mitte, die hochgekämmt und mit Pomade oder Haarwachs zum Stehen gebracht worden war. In der natürlichen Farbe der Träger gefärbtes Pferdehaar war mit Hilfe eines Lederbands mit der Skalplocke verbunden. Die Männer trugen nur einen Lendenschurz, und ihre Körper waren mit Öl eingerieben und glänzten. Ihre Haut war gebräunt, aber heller als die der meisten Keshianer, und hatte einen rötlichen Ton. Die meisten von ihnen hatten schwarze Haare. Dahinter folgten jüngere Männer, deren Haar lang und im Nacken zusammengebunden war. Diese Männer trugen helle, m den Schultern übertrieben breite Lederharnische. Dazu waren sie ebenfalls mit Lendenschurzen bekleidet. Alle hatten weiche Lederstiefel an den Füßen, die an der Wade zusammengeschnürt waren.

Erland hielt seine Gesellschaft für einen Moment an. »Kafi, wer ist das?«

Kafi konnte seine Geringschätzung kaum verbergen. »Das sind Ashuntaireiter, mein Prinz. Lord Ravi ist der Meister der Bruderschaft des Pferdes. Sie sind eine Abordnung der Reiterei, die von den besten Kriegern des Ashuntaivolkes abstammt. Allerdings sind es sehr schwierige Leute –« Kafi bemerkte, wie ihm beinahe seine persönliche Meinung entschlüpft wäre. »Es war sehr schwierig, sie zu erobern, Lord, und sie halten sich immer noch streng an die Gepflogenheiten ihres Volkes. Sie sind dem Kaiserreiche nur treu, weil man sie am Hofe in einen so hohen Rang hat aufsteigen lassen.«

Und weil ihr Stadtstaat sich auf der falschen Seite des Rings von Kesh befindet, fügte James mit leichtem Humor hinzu. Aber Bukar, der General der Kaiserin, mußte sie unseren Berichten nach mit härtesten Strafmaßnahmen bedrohen, damit sie ihre Reiterei gegen die Abtrünnigen der Konföderation ins Feld schickten.

Die Gruppe setzte ihren Weg zum unteren Teil des Amphitheaters fort, und Erland sagte: »Ich sehe keine Frauen bei ihnen. Gibt es dafür einen Grund?«

Kafi sagte: »Die Ashuntai sind ein seltsames Volk. Ihre Frauen« – er sah Gamina an, als wollte er sich für eine mögliche Kränkung im voraus entschuldigen – »werden als Eigentum betrachtet. Sie sind Tauschwaren, sie werden gekauft und verkauft. Die Ashuntai halten sie nicht für Menschen.« Falls Kafi dies geschmacklos fand, verbarg er es jedenfalls.

Erland wollte sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen.

»Aber in Eurem Volk läßt man den Frauen auch nicht sehr viel Freiheit?«

Kafis dunkle Haut wurde noch dunkler, als ihm das Blut in den Kopf schoß. »Es mag Euch vielleicht so erscheinen, Hoheit, und wir haben es so von unseren Vorvätern gelernt. Doch wir haben ebenfalls von unseren Nachbarn gelernt, und so tauschen wir unsere Töchter nicht mehr gegen Kamele.« Er sah zurück über die Schulter, dorthin, wo sich Lord Ravis Gesellschaft niedergelassen hatte.

»Doch jene verkaufen schon ihre kleinen Mädchen, und wenn eine Frau ihren Mann ärgert, kann er mit ihr tun und lassen, was er will, er kann sie sogar töten. Sie werden gelehrt, Gefühle zu verachten, und wer eine Frau liebt, gilt als Schwächling. Verlangen und Lust ist für sie notwendig, um Söhne zu bekommen, doch Liebe ist …« Kafi zuckte mit den Schultern. »In meinem Volk sagen wir:

›Selbst der höchstgeborene Mann ist in seinem Schlafzimmer nur ein Diener.‹ Die besten unserer Herrscher haben in den Armen ihrer Frauen Rat gesucht, zum Wohle unseres ganzen Volkes.

Aber diese –« Kafi sah nach unten. »Vergebt mir. Ich wollte Euch keinen Vortrag halten.«

»Nein«, meinte Gamina. »Überhaupt nicht. Ich finde es sehr interessant.« Zu den anderen sagte sie: Er hat eine persönliche Abneigung gegen die Ashuntai, die über alle Bedenken gegen ihre gesellschaftliche Ordnung hinausgeht. Er haßt sie.

Kafi sagte: »Vor langer Zeit, als ich noch ein Junge war, hat mein Vater Ihr, Die Kesh Ist – Ehre sei ihrer Familie –, als mein Vorgänger gedient. Hier habe ich jemanden kennengelernt, der Lord Ravis Sohn war. Wir waren Jungen im Palast, das war alles, was wir wußten. Ravis Sohn, Ranavi, war ein netter Junge, und wir ritten gewöhnlich zusammen aus. Es ist die ewige Streitfrage, wer die besten Reiter im Kaiserreich sind, die Ashuntai oder wir aus der Jal-Pur. Wir haben unsere Pferde oft über die Grassteppen jenseits der Stadttore getrieben, er sein Ashuntaipony und ich mein Wüstenpferd.

Nach einer Weile wurden wir Freunde.

Und dann war da ein Mädchen. Ein Ashuntaimädchen, das ich kennenlernte.« Kafis Gesicht war starr wie eine Maske, als er fortfuhr: »Ich versuchte, um sie zu handeln, so wie es Art der Ashuntai ist, doch Ravi machte sie zum Preis auf einem ihrer Feste.

Sie wurde von einem ihrer Krieger gewonnen, und er nahm sie mit nach Hause. Ich glaube, es war die dritte oder vierte Frau dieses Kriegers.« Er machte eine Handbewegung, als liege dies alles lange zurück und als hätte er die Geschichte schon fast vergessen. »Sie binden ihren Frauen Halsbänder aus Leder um und führen sie in der Öffentlichkeit an Ketten herum. Sie lassen sie nichts außer einem Lendenschurz tragen, selbst bei kaltem Wetter. Für die Reinblütigen spielt es keine Rolle, wenn sie keine Kleidung tragen, doch die Kaiserin findet es geschmacklos, wie diese Frauen von ihren Ehemännern, Söhnen und Vätern behandelt werden. Lord Ravi und die anderen haben genug politischen Scharfsinn, um nicht die Mißbilligung der Kaiserin auf sich zu ziehen, also bringen sie ihre Frauen niemals mit in den Palast. Das war allerdings nicht immer so.

Der Großvater der Kaiserin, so wird gesagt, hatte eine deutliche Vorliebe für junge Ashuntaimädchen. Es wird erzählt, er habe die Willigkeit der Ashuntai erproben wollen, indem er sie aufforderte, ihm so viele Mädchen er wollte zu seinem … Vergnügen zur Verfügung zu stellen, und dadurch konnte die Bruderschaft des Pferdes am Hof des Kaiserreichs so hoch aufsteigen.«

»Auf solchen Dingen wird also die Macht eines Volkes begründet«, bemerkte Locky trocken.

»So ist es«, erwiderte Kafi.

Sie erreichten das untere Ende der langen Rampe, und an jeder Seite stand eine Reihe Wachen, die die Menge von der Bühne fernhielt, damit diejenigen durchkamen, die sie betreten wollten, um am Hofe vorgestellt zu werden. Erlands Wachen warteten dort unten auf ihn, sie trugen die volle Uniform des Königreichs und auf der Brust das Wappen der Fürstlichen Palastwache von Krondor. Erland bemerkte mit einiger Belustigung, daß der queganische Abgesandte hinter seinen Männern stand und wütend war, weil dem Königreich der Inseln der Vorzug vor seinem eigenen Volk gegeben wurde.

Erland wandte seine Aufmerksamkeit wieder Kafis Geschichte zu.

»Ranavi wollte das Mädchen für mich stehlen, als Geschenk. Es ist bei ihnen durchaus erlaubt, einem Rivalen die Frau zu stehlen – wenn man sie erfolgreich bis zu seinem eigenen Haus bringt, kann man sie behalten. Ranavi war noch nicht einmal siebzehn Jahre alt, als er seine eigene Schwester jenem Mann stehlen wollte, der sie auf dem Fest gewonnen hatte. Er starb bei diesem Versuch.«

Ohne einen Hauch von Verbitterung fuhr Kafi fort: »Nun werdet Ihr verstehen, weshalb ich einige Schwierigkeiten damit habe, selbst die besseren Eigenschaften der Ashuntai zu mögen.« Leise fügte er hinzu: »Worin auch immer sie bestehen mögen.«

Gamina sah den Beni-Wazir voller Mitgefühl an, sagte jedoch nichts.

 

Sie waren an dieser Stelle etwa zehn Minuten stehengeblieben und hatten darauf gewartet, zum Eingang des Amphitheaters hinaufzugehen. Niemand hatte etwas gesagt, seit Kafi die Geschichte über seinen Freund beendet hatte. Locklear entschied, es sei an der Zeit, das Gesprächsthema zu wechseln. »Mein Lord Kafi, wo sind die Abgesandten von den Freien Städten?«

»Abwesend, mein Lord«, erwiderte Kafi. »Sie wollten niemanden zu dieser Geburtstagsfeier schicken. Dieses Volk, welches einst das kaiserliche Bosania war, hat bis heute noch keine diplomatischen Beziehungen mit dem Kaiserreich aufgenommen.«

»Alter Groll sitzt meistens tief«, meinte James.

Erland sagte: »Das verstehe ich nicht. Solange ich lebe, haben Queg und das Kaiserreich dreimal Krieg gegeneinander geführt, und zwischen den Inseln und Kesh hat es verschiedene Grenzzwischenfälle gegeben. Was ist anders mit den Freien Städten?«

Während sie sich auf ihren Platz in der Prozession stellten, sagte Kafi: »Die Leute in den sogenannten Freien Städten waren früher unsere treuen Untergebenen. Als es zur ersten großen Rebellion in Kesh kam, wurden alle Garnisonen nördlich der Jal-Pur abgezogen, und die Siedler wurden sich selbst überlassen. Queg seinerseits hatte zehn Jahre zuvor selbst erfolgreich revoltiert. Euer Königreich hatte nie zu unserem Besitz gehört. In den Freien Städten war nun das Volk von seinen eigenen Herrschern im Stich gelassen worden. Sie waren Bauern und Gastwirte, die sich nun völlig auf sich selbst gestellt verteidigen sollten.«

Erland dachte darüber nach, während sie sich in Erwartung, angekündigt zu werden, ein paar Schritte vorwärts bewegten. Er sah hinauf zur oberen Galerie und bemerkte, daß sie sich rasch füllte, während die letzten der Lords und Meister eintraten. Bonsania, von dem heute ein Teil zu Crydee, einem Herzogtum des Königreichs gehörte – Erlands Urgroßvater hatte das Gebiet erobert –, war ein rauhes Land, das von Gnomen, Trollen und der Bruderschaft des Dunklen Pfades bewohnt wurde. Ohne die Soldaten mußten die Menschen dort jahrelang harte Kämpfe geführt haben, um sich allein durchzuschlagen. Erland konnte verstehen, warum die Freien Städte noch immer einen Groll gegen das Kaiserreich hegten.

Dann hörte er, wie sein Name verkündet wurde, und Kafi sagte: »Hoheit, es ist an der Zeit.«

Wie ein Mann machte sich die ganze Gesellschaft auf, nur Gamina fiel nicht in den militärischen Gleichschritt ein, und sie trotteten über den flachen Steinboden des Amphitheaters. Sie brauchten fünf Minuten, um die riesige Schüssel zu durchqueren, doch endlich wurde der Prinz von den Inseln unter der brennenden Sonne von Kesh der Kaiserin offiziell vorgestellt. Bis zu diesem Augenblick hatte Erland noch nicht wirklich begriffen, was eine Tatsache war, seit sein Bruder verschwunden war. Denn jetzt stand er, und nicht sein Bruder, vor der mächtigsten Herrscherin der Welt, und er war es, der vielleicht eines Tages in ihrem Nachfolger seinen tödlichsten Feind finden würde, wenn er, und nicht Borric, eines Tages den Thron des Königreichs der Inseln bestiegen hatte. Und seit der Zeit, als er noch ein kleiner Junge gewesen und in die Arme seiner Mutter geflüchtet war, hatte Erland vor nichts mehr so große Angst gehabt.

 

Die Zeremonie rauschte an ihm vorbei. Erland konnte es kaum fassen, daß er formell dem kaiserlichen Hofe vorgestellt worden war, und er hatte auch die Worte seiner Rede vergessen, die er sich so mühevoll eingeprägt hatte. Da niemand eine Bemerkung machte oder lachte, glaubte er, er habe sie ordentlich aufgesagt, aber er konnte sich anschließend auch nicht mehr daran erinnern, was die Abordnungen nach ihm gesagt hatten. Jetzt saß er auf der untersten Ebene des Amphitheaters, auf einer Steinbank, die für die Abgesandten, welche der Kaiserin Gesundheit und Wohlergehen zu ihrem fünfundsiebzigsten Geburtstag wünschten, bereitgestellt worden war. Er versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen, und trotz dieser unerwarteten Angst, die ihn überfallen hatte, fragte er:

»Kafi, warum werden die Feierlichkeiten so spät nach Banapis abgehalten?«

Kafi sagte: »Anders als bei Eurem Volk gilt bei uns in Kesh nicht das Mittsommerfest als Geburtstag. Hier feiert jeder, der ihn weiß, den Tag seiner Geburt eben am Tag seiner Geburt. So, und da nun Sie, Die Kesh Ist, am fünfzehnten Tag des Monats Dzanin das Licht der Welt erblickte, wird ihre Geburt an diesem Tag gefeiert. Und das wird der letzte Tag der Feierlichkeiten sein.«

Erland meinte dazu: »Wie seltsam. Ihr feiert den Tag Eurer Geburt an dem Tag, an dem sie tatsächlich stattfand. Dann muß es hier ja jeden Tag Dutzende kleiner Feste geben. Ich würde mich betrogen fühlen, wenn ich nicht am großen Banapisfest teilnehmen dürfte.«

»Das sind eben unterschiedliche Sitten«, merkte Locklear an.

Ein Diener, der die Kleidung der Reinblütigen trug, erschien vor dem Prinzen und verbeugte sich tief. Er hielt ihm eine Rolle hin, die von einem goldenen Band zusammengehalten wurde. Kafi, der als Führer und Protokollbeamter auftrat, nahm die Rolle an. Er betrachtete das Wachssiegel und sagte: »Ich vermute, hierbei handelt es sich um etwas Persönliches.«

Erland fragte: »Warum?«

»Die Rolle trägt das Siegel der Prinzessin Sharana.«

Er überreichte die Rolle Erland, der am Band zog und das Siegel brach. Er mußte die makellose Schrift langsam lesen, da er die geschriebene Hochsprache von Kesh noch nie besonders gut beherrscht hatte. Während er las, begann Gamina zu lachen.

James drehte sich abrupt um, weil er für einen Augenblick fürchtete, seine Frau würde versehentlich ihre Fähigkeit des Gedankenlesens preisgeben, doch Gamina sagte nur: »Was ist denn, Erland, ich könnte schwören, du bist rot geworden.«

Erland lächelte und schob die Rolle in seinen Gürtel. »Ach … das kommt nur von der Sonne«, entgegnete er, doch er konnte eine Spur von Verlegenheit in seinem Lächeln nicht verbergen.

»Was ist es denn?« fragte Locklear schelmisch.

»Eine Einladung«, erwiderte Erland.

»Wozu?« fragte Locklear weiter. »Wir sind doch heute zum Essen beim abendlichen Empfang der Kaiserin eingeladen.«

Erland konnte nicht aufhören zu grinsen. »Sie ist … für nach dem Essen.«

James und Locklear wechselten einen wissenden Blick. Dann sagte Locklear: »Kafi, treffen die Reinblütigen auf diese Weise ihre … Verabredungen? Wenn … sie sich gegenseitig besuchen wollen, meine ich.«

Kafi zuckte mit den Schultern. »Man hat schon von solchen Dingen gehört, obwohl die Prinzessin, da sie so hochgeboren ist, die Grenzen der Schicklichkeit nach Belieben verschieben kann, wenn Ihr mir folgen könnt.«

»Was ist mit Prinzessin Sojiana?« fragte Locklear.

James grinste. »Ich habe mich schon gefragt, wann du darauf zu sprechen kommst.«

Gamina kniff die Augen ein wenig zusammen. »›Darauf‹?«

»Nun, ja, meine Liebe. Locky ist am Hof dafür bekannt… äh, er versucht jedenfalls, jede hübsche Frau, die er zu Gesicht bekommt, kennenzulernen.«

Kafi sagte: »Wenn Ihr der Prinzessin eine Botschaft mit der Bitte um ein Treffen schickt, solltet Ihr damit rechnen, nicht der einzige zu sein, der dies tut. Außerdem wird erzählt, sie würde im Moment ihre Zeit mit Lord Ravi verbringen, weshalb Euer Brief wahrscheinlich höflichst … unbeachtet bliebe.«

Locklear lehnte sich zurück und versuchte, auf dem Stein eine bequemere Position zu finden, denn die Bank war trotz der verzierten Kissen darauf sehr hart. »Nun, ich muß einfach einen anderen Weg finden, wie ich sie kennenlernen kann. Wenn ich erst einmal mit ihr gesprochen habe …«

Kafi breitete hilflos die Arme aus, eine Geste, mit der er sagen wollte: Vielleicht, vielleicht auch nicht. »Ma’lish.«

James sah Erland an, der war jedoch nicht mehr ansprechbar. An Gamina gewandt, sagte James in Gedanken: Kafi sagt nichts über Prinzessin Sojiana. Kannst du mir sagen, warum?

Nein, antwortete sie. Aber ich hatte so ein Gefühl, als er ihren Namen erwähnt hat.

Und was für eins?

Allergrößte Gefahr.