Dilemma

Erland wendete sein Pferd.

»Borric!« schrie er in den immer noch heulenden Wind.

James und die Wachen beobachteten ihn von dem Punkt aus, an dem sie standen und ihre Pferde hielten. Der neuernannte Graf schrie: »Steig vom Pferd, bevor es mit dir durchgeht!«

Das bereits nervöse Tier schnaubte und wieherte bei dem furchterregenden Getöse und den stechenden Böen des Sandsturms, obwohl es gut ausgebildet war und Erland es mit fester Hand führte.

Der Prinz beachtete James’ Befehl nicht, entfernte sich in Kreisen immer weiter von den anderen und rief den Namen seines Bruders:

»Borric!«

Gamina stand neben ihrem Ehemann und sagte: »Bei diesem pfeifenden Wind kann ich meine Aufmerksamkeit nur schlecht auf etwas Bestimmtes richten, doch aus dieser Richtung erreichen mich Gedanken.« Sie bedeckte ihr Gesicht mit dem Unterarm, drehte sich um und zeigte nach Westen.

»Borric?« fragte Locklear, der mit dem Rücken zum beißenden Wind neben James stand.

Gamina hielt den Arm hoch und schützte ihr Gesicht mit dem Ärmel ihres Kleids. »Nein. Tut mir leid. Ich kenne diese Männer nicht, und keines der Gedankenmuster, die ich berührt habe, gehörte zu Borric. Wenn ich versuchen würde, meine Aufmerksamkeit auf die Gedanken zu richten, die er während des Kampfes hatte …«

»Nichts«, beendete James ihren Satz.

»Könnte er nicht bewußtlos sein?« Auf Locklears Gesicht spiegelte sich eine schwache Hoffnung.

Gamina sagte: »Wenn er betäubt oder weiter entfernt wäre, könnte ich ihn nicht spüren. Meine Fähigkeiten werden durch die Stärke der Gedanken des anderen begrenzt. Ich kann meinen Vater über Hunderte von Meilen erreichen, und er kann zu mir sprechen, selbst wenn die unglaublichsten Entfernungen zwischen uns liegen.

Diejenigen, die uns überfallen haben, sind kaum weiter als hundert Fuß von uns entfernt; mich erreichen Bilder und vereinzelte Worte über das Gefecht.« Mit Traurigkeit in der Stimme sagte sie: »Ich kann Borric nirgends erspüren.«

James streckte die Arme nach ihr aus, und sie schmiegte sich trostsuchend an ihn. James’ Pferd wieherte, als seine Zügel sich lockerten, und James riß ungeduldig an den Riemen, um das Tier zu beruhigen. Leise, so daß nur Gamina es hören konnte, sagte er.

»Hoffentlich haben die Götter ihn am Leben gelassen.«

 

Eine Stunde lang hatte der Sturm weitergetobt, und Erland war in Kreisen um seine Gefährten herumgeritten – immer an der Grenze der Sichtweite – und hatte den Namen seines Bruders gerufen. Dann hatte sich der Wind beruhigt, und in der anschließenden Stille war sein heiseres Geschrei über einer verwüsteten Landschaft verhallt.

»Borric.«

Locklear machte dem Hauptmann seiner Kompanie ein Zeichen, er solle Bericht erstatten. Der Offizier sagte: »Drei Männer sind tot oder werden vermißt, mein Lord. Zwei weitere sind schwer verletzt und sollten so bald wie möglich irgendwo geschützt untergebracht werden. Der Rest ist gesund und marschbereit.«

James dachte über ihre Möglichkeiten nach, dann entschied er sich. »Du bleibst hier bei Erland, und ihr sucht die Gegend ab, aber entfernt euch nicht zu weit. Ich werde mir zwei Männer nehmen und zum ›Gasthaus zu den Zwölf Stühlen‹ reiten, wo ich diese Patrouille aus Kesh fragen werde, ob sie uns helfen, Borric zu finden.« Er warf einen Blick auf die kahle Landschaft und fügte hinzu: »Ich habe leider überhaupt keine Ahnung, wo wir mit der Suche beginnen sollen.«

In den nächsten Stunden, den ganzen frühen Nachmittag lang, mußte Locklear dauernd auf Erland einreden und ihm manchmal sogar drohen, damit sich der Prinz nicht weiter in die Ödnis hineinwagte, als es dem jungen Baron sicher erschien. Der Prinz war nicht davon abzubringen, die Suche nach seinem Bruder fortzusetzen, denn dieser konnte schließlich bewußtlos in einem Graben oder einer Schlucht liegen und Hilfe brauchen, und noch dazu womöglich nur wenige Meter von ihnen entfernt. Locklear teilte die Männer auf, damit sie die Umgebung absuchten; sie sollten jedoch stets eine Kette bilden, an deren Ende eine der Wachen immer noch in Sichtweite des behelfsmäßig aufgeschlagenen Lagers blieb.

Gamina kümmerte sich inzwischen um die Verwundeten und versorgte sie so weit, daß sie, wenn James zurückgekehrt wäre, in den nächstgelegenen Schutz vor dem Sandsturm gebracht werden könnten.

Endlich kam James zurück und wurde von der Patrouille aus Kesh begleitet. Feldwebel Ras-al-Fawi fand die Unterbrechung seiner Rast ganz und gar nicht angenehm, und zwar nicht nur wegen des Wetters.

Womöglich würden ihm seine Vorgesetzten auch noch Vorwürfe machen, weil der Überfall in seinem Bereich passiert war. Er hätte sich am liebsten so weit wie nur irgend möglich von diesen verfluchten Leuten von den Inseln ferngehalten, doch die Möglichkeit einer kriegerischen Auseinandersetzung zwischen dem Kaiserreich und seinem größten Nachbarn, die aus seinem Fehlverhalten entstehen könnte, ließ ihn seinen Ärger schlucken und bei der Suche nach dem verschollenen Prinzen helfen.

Erfahrene Kundschafter entdeckten bald den Graben, in dem sich die Banditen versteckt gehalten hatten. Die ganze Kompanie versammelte sich am Rand des Grabens, in dem zwei Kundschafter einen kleinen Erdrutsch untersuchten. Einer stocherte weiter in dem Sand, während der zweite einen einzelnen Stiefel zu den Leuten aus dem Königreich brachte. Jeder Irrtum war ausgeschlossen, was das Scharlachrot und Gelb des Stiefels betraf. Der Mann zeigte auf den Felshaufen und sagte: »Herr, ich habe das gefunden. Der Stiefel steckte etwas tiefer unter den Steinen, Man kann sehen, was noch von dem Fuß übriggeblieben ist, der ihn getragen hat.«

Erland setzte sich schockiert hin, während James fragte: »Können wir ihn ausgraben?«

Der keshianische Kundschafter, der am Fuß des Geröllhaufens stand, schüttelte den Kopf. »Eine Kompanie Mineure würde wenigstens ein oder zwei Tage brauchen, Herr.« Er deutete auf die Stelle, wo der Erdrutsch losgebrochen war. »Allen Anzeichen nach ist es erst vor kurzem passiert. Wohl, um den Besitzer des Stiefels und andere zu verbergen.« Dann zeigte er auf die gegenüberliegende Seite des Grabens. »Und wenn man hier zuviel bewegt, könnte die andere Seite auch noch herunterkommen. Ich fürchte, es würde sehr gefährlich werden.«

Erland sagte: »Ich will ihn ausgegraben haben.«

James sagte: »Ich verstehe –«

Erland unterbrach ihn: »Nein, du verstehst mich nicht. Es könnte sich um jemand anderen als Borric handeln.«

Locklear wollte sich verständnisvoll zeigen. »Ich weiß, wie du dich fühlen mußt –«

»Nein«, fuhr Erland dazwischen, »weißt du nicht.« An James gewandt sagte er: »Wir können nicht wissen, ob es sich wirklich um Borric handelt. Er könnte im Kampf einen Stiefel verloren haben. Er könnte gefangengenommen worden sein. Wir wissen nicht sicher, ob er tatsächlich dort unter den Felsen liegt.«

James fragte: »Gamina, gibt es hier irgendein Zeichen von Borric?«

Gamina schüttelte den Kopf. »Die Gedanken, die mich vorhin erreicht haben, kamen aus diesem Graben. Aber keines der Gedankenmuster war mir vertraut.«

Erland blieb ungerührt. »Das beweist gar nichts.« An James gewandt, sagte er: »Du weißt, wie nahe er und ich uns sind. Wenn er tot wäre, … würde ich das irgendwie spüren.« Er ließ seinen Blick über die zerklüftete Landschaft des Wüstenplateaus schweifen. »Er ist irgendwo da draußen. Und ich beabsichtige, ihn zu finden.«

»Und wie wollt Ihr das tun, mein Lord?« fragte der Feldwebel aus Kesh. »Wollt Ihr allein auf das Hochplateau hinausreiten, allein und ohne Wasser und Proviant? Es sieht vielleicht nicht so aus, aber es ist genauso eine erbarmungslose Wüste wie die große Sandwüste der Jal-Pur. Jenseits der Bergkämme dahinten beginnt die richtige Sandwüste, und wenn man nicht weiß, wo die Oase der Gebrochenen Palmen liegt, lebt man nicht lange genug, um die Oase der Hungrigen Ziegen noch erreichen zu können. Es gibt vielleicht an die dreißig Stellen dort draußen, wo man Wasser und manchmal auch eßbare Pflanzen findet, doch man kann an manchen nur Meter entfernt vorbeigehen und sie trotzdem nicht entdecken. Ihr würdet zugrunde gehen, mein junger Lord.«

Er wendete sein Pferd in die Richtung, aus der sie gekommen waren, und fuhr fort: »Meine Lords, ich bedaure Euren Verlust, doch die Pflicht gebietet mir, weiterzureiten und andere aufzustöbern, die den Frieden im Kaiserreich brechen wollen. Ich werde einen Bericht verfassen, wenn ich meine Patrouille beendet habe. Falls Ihr wünscht, lasse ich einen meiner Kundschafter bei Euch, damit Ihr Eure Suche fortsetzen könnt. Wenn Ihr nichts weiter mehr tun könnt, begebt Euch wieder zurück auf die Straße.« Er zeigte nach Süden und sagte: »Die Straße führt an den Ausläufern der Sternenpfeiler vorbei bis nach Nar Ayab. Entlang dieser Route unterhalten wir viele Stützpunkte. Zwischen diesen Stützpunkten sind ständig Kuriere unterwegs, die bis in die Mitte des Kaiserreichs reiten. Meldet ihnen Eure Ankunft, und der Gouverneur von Nar Ayab wird Euch einen angemessenen Empfang bereiten. Von dort aus wird er Euch berittene Soldaten zur Seite stellen, die Euch bis zur Stadt Kesh beschützen werden.« Wenn dies von Anfang an geschehen wäre, wären die Leute von den Inseln gar nicht erst von den Banditen überrascht worden; doch der Feldwebel sah keine Veranlassung, dies offen auszusprechen. »Die Kaiserin – sie sei gesegnet – wird Mineure losschicken, um Euren jungen Prinzen auszugraben, und er wird dann zu einer angemessenen Beerdigung in seine Heimat gebracht werden. Bis dahin kann ich Euch nur den Segen der Götter für Eure Reise wünschen.«

Er machte seinen Leuten ein Zeichen und gab seinem Pferd die Sporen, und dann verschwanden der Feldwebel und seine Soldaten.

James ging um die Spitze des Erdrutsches herum und sah nach unten, wo der keshianische Kundschafter immer noch stand. »Was seht Ihr?«

Der Kundschafter betrachtete die Spuren einen Moment lang nachdenklich. »Viele Männer; sind viel herumgegangen. Ein Mord, dort.« Er deutete auf einen dunklen Fleck auf dem bereits wieder getrockneten Boden.

»Mord!« sagte Locklear. »Wie könnt Ihr da so sicher sein?«

»Blut, Herr«, erwiderte der Kundschafter. »Was nach einem Kampf nicht ungewöhnlich wäre, doch hier war eine große Lache, und es gibt keine Spuren eines Verwundeten, der sich dieser Stelle genähert hätte. Ich würde schätzen, ihm wurde die Kehle durchgeschnitten.« Er zeigte auf zwei feine Linien, die von dem Blutfleck zu den heruntergerutschten Felsen führten. »Zwei Schleifspuren, als ob jemand von dort zu der Stelle gezerrt wurde, wo die Steine herunterkamen.« Er zeigte auf die Seite des Grabens.

»Da ist einer hochgeklettert.« Er sah sich wieder um, dann stieg er nach oben zu seinem Pferd. »Sie reiten nach Süden, zur Oase der Gebrochenen Palmen.«

Locklear fragte: »Woher wißt Ihr das?«

Der Mann lächelte. »Das ist der einzige Ort, zu dem sie gehen können, Herr, denn sie haben sich in die Wüste aufgemacht, und ohne Packpferde können sie nicht genug Wasser mitnehmen, um bis Durbin durchzukommen.«

»Durbin!« Erland spuckte das Wort fast aus. »Dieses Rattennest.

Warum sollten sie die Gefahren der Wüste auf sich nehmen und dorthin reiten?«

»Weil«, mischte sich James ein, »es eine sichere Zuflucht für jeden Halsabschneider und Piraten aus jedem Land ist, das an das Bittere Meer grenzt.«

»Und dort gibt es auch den besten Sklavenmarkt im Kaiserreich«, sagte der Kundschafter. »Im Herzen des Kaiserreiches gibt es genug Sklaven, doch dort oben kann man sie nur schlecht bekommen. Nur Kesh und Queg haben freie Sklavenmärkte. In den freien Städten und im Königreich werden sie nicht gern gesehen.«

Erland sagte: »Ich kann nicht ganz folgen.«

James wendete sein Pferd in die Richtung, in die der Kundschafter gezeigt hatte, und meinte: »Wenn nur zwei Soldaten –« schnell fügte er hinzu: »Oder Borric und ein Soldat überlebt haben, würden sie auf dem Sklavenmarkt von Durbin genug Gewinn abwerfen, damit sich der Überfall gelohnt hätte. Wenn die Banditen sie ins Kaiserreich brächten, würden sie kaum ein Drittel des Geldes bekommen, das sie in Durbin einnehmen könnten; schließlich hat der Anführer eine verärgerte Bande bei sich, und das kann für ihn gefährlich werden.«

Erland fragte: »Aber warum sollte Borric ihnen nicht sagen, wer er ist? Als Geisel ist er doch viel wertvoller denn als Sklave.«

James sah nachdenklich hinaus auf das Ödland, das in der Sonne des späten Nachmittags lag. Dann meinte er: »Wenn er noch lebt, hätte ich eine Nachricht von den Banditen erwartet, etwas, damit wir wissen, daß es ihm gutgeht und daß wir ihnen nicht folgen sollen, und daß wir innerhalb kurzer Zeit eine Lösegeldforderung bekommen. Das hätte ich jedenfalls getan … Schließlich würde ich nicht gern eine Kompanie Soldaten auf den Fersen haben.«

Der keshianische Kundschafter wandte ein: »Diese Banditen sind vielleicht nicht so schlau wie Ihr, Herr. Vielleicht findet es Euer Prinz, so er denn noch lebt, weniger gefährlich, wenn er ihnen nicht erzählt, wer er ist. Sie könnten ihm ja schließlich einfach die Kehle durchschneiden und in die Wüste fliehen. Und womöglich sind da noch andere, Herr.«

Erland sagte: »Dann müssen wir uns beeilen.«

Der Kundschafter erwiderte: »Wir müssen vor allen Dingen vorsichtig sein, damit wir nicht in einen Hinterhalt geraten.« Er zeigte hinaus in die sandige Landschaft. »Wenn irgendwo auf dem Weg Sklavenhändler lauern, dann an den Oasen oder irgendwo in einem Wadi, wo sich eine Sklavenkarawane sammelt. Viele Banditen werden ihren Fang zusammen nach Durbin bringen – und zwar viel mehr, als wir überwältigen könnten. Vielleicht hundert Mann.«

Erland spürte, wie die schwere Last der Verzweiflung von ihm abfiel. »Wir werden ihn finden. Er ist nicht tot.« Doch die Worte klangen selbst in seinen eigenen Ohren leer.

Der Kundschafter sagte: »Wenn wir scharf reiten, Herr, erreichen wir die Oase der Gebrochenen Palmen bei Sonnenuntergang.«

James kommandierte zwei Männer ab, die die beiden Verwundeten zum ›Gasthaus zu den Zwölf Stühlen‹ begleiten sollten, wo sie sich erholen konnten, bis sie in der Lage wären, ins Königreich zu reiten. Er zählte kurz durch; er hatte nur noch ein Dutzend einsatzfähiger Soldaten. Er fühlte sich verwundbar und ein wenig wie ein Narr, als er der kleinen Truppe den Befehl zum Aufbruch in die Wüste erteilte.

 

Die Sonne berührte bereits den Horizont, als der Kundschafter im Galopp von seinem Erkundungsritt zu den Männern von den Inseln zurückkam. James gab das Zeichen zum Anhalten. Der Kundschafter zügelte sein Pferd und sagte: »Im Wadi al Sáfra sammelt sich eine Karawane – hundert Wächter, vielleicht mehr.«

James fluchte. Erland fragte: »Irgendeine Spur von meinem Bruder?«

»Ich konnte nicht nahe genug herankommen, mein Prinz.«

»Gibt es eine Stelle, an der wir noch näher an das Lager herankommen könnten?«

»An dem Wadi zieht sich eine schmale Schlucht entlang, und an ihrem Ende wird sie zu einem Graben, der nahe bis an das Lager heranführt. Vier, vielleicht fünf Männer könnten sich unbemerkt nähern, wenn sie sich leise verhalten und sich nicht blicken lassen.

Aber es ist gefährlich. Am hinteren Ende ist der Graben niedrig, und ein Mann könnte stehend ins Lager sehen, doch der Mann könnte auch vom Lager aus gesehen werden.«

Erland wollte absteigen, doch James sagte: »Nein, du machst in diesem Kettenhemd einen Lärm wie der Wagen eines Waffenschmieds. Warte hier.«

Gamina schlug vor: »Ich sollte gehen, James. Ich kann feststellen, ob Borric in der Karawane ist, wenn ich nur nahe genug herankomme.«

»Und wie nahe ist nahe genug?« fragte ihr frischgebackener Ehemann.

»Ein Steinwurf«, antwortete Gamina.

James fragte den Kundschafter: »Können wir so nahe herankommen?«

Der Kundschafter erwiderte: »Wir können; wir werden sogar erkennen können, ob eines dieser Schweine Eiterbeulen im Gesicht hat, Herr.«

»Gut«, meinte Gamina und hob den Saum ihres Reitkleides hoch, damit er nicht über den Boden schleifte. Sie steckte ihn in ihren breiten Ledergürtel, so wie es die Fischerfrauen machten, wenn sie durchs seichte Wasser wateten.

James beachtete diesen unziemlichen Anblick nicht, der zwei schlanke weiße Beine bis zu den Oberschenkeln hinauf entblößte, und suchte einen guten Vorwand, weshalb sie nicht mitkommen sollte; er fand keinen. Das hat man nun davon, wenn man logisch denkt und Frauen die gleiche Fähigkeit zugesteht, grübelte er, während er abstieg. Man hat keine Gründe mehr, warum man sie in der sicheren Etappe zurücklassen kann.

Locklear gab zwei Soldaten ein Zeichen, sie sollten James, Gamina und den Kundschafter begleiten, und die fünf machten sich zu Fuß auf den Weg. Sie gingen langsam, derweil die Sonne im Westen hinter dem Horizont verschwand. Als sie den Eingang zu der Schlucht erreichten, war der Himmel auf der einen Seite schon schiefergrau, und das von den Wolken auf der anderen Seite widergespiegelte, karmesinrote und violette letzte Sonnenlicht tauchte die Wüstenlandschaft in ein rosiges Zwielicht.

Der Lärm der Karawane hallte durch die sich senkende Dunkelheit, und James sah sich um, ob noch alle zusammen waren.

Gamina berührte ihn sachte am Arm, und ihre Gedanken drangen in seinen Kopf. Ich kann viele Gedanken im Wadi spüren, mein Geliebter.

Borric? fragte er schweigend.

Nichts, gestand sie ein. Aber wir müssen noch näher heran, um sicherzugehen.

James faßte den Kundschafter am Arm und fragte flüsternd:

»Können wir noch näher heran?«

Der antwortete ebenfalls flüsternd: »Vor uns liegt eine Biegung, und wenn wir ihr folgen, sind wir nahe genug an ihnen dran, daß wir ihnen auf die Köpfe pinkeln können. Aber seid vorsichtig, mein Lord, wahrscheinlich dient die Stelle am Ende des Grabens als Müllgrube und Abort, und vielleicht sind dort auch Wachen in der Nähe.«

James nickte, und der Kundschafter führte sie in die Dunkelheit.

 

James konnte sich an einige kurze Reisen erinnern, die er in der Vergangenheit unternommen hatte und die ewig gedauert zu haben schienen, doch keine war ihm so lang vorgekommen wie der kurze Weg bis zum Ende des Grabens. Als sie es erreicht hatten, konnten sie die Stimmen der Wachen hören, die sich leise unterhielten, während sie ihre Runden um das Lager drehten. Als hätte die Nervenanspannung allein nicht schon gereicht, wurde das Ende des Grabens außerdem tatsächlich als Abfallgrube benutzt, und zwar auch für die Abfälle von Menschen und Pferden. Und durch diesen Abfall und Unrat mußten die Gefährten jetzt schleichen.

James trat in etwas Weiches und Feuchtes, und bei dem Geruch, der wie ein widerlicher Nebel über dem Graben hing, wollte er gar nicht wissen, worum es sich dabei handelte. Er konnte es sich sowieso denken. Er machte dem Kundschafter ein Zeichen, und der antwortete ebenfalls mit einer Handbewegung: Sie waren so nah an der Karawane, wie sie nur wagen konnten.

Vorsichtig spähte James über die Kante des Grabens. Kaum zehn Schritte entfernt hoben sich die Silhouetten von zwei Männern gegen das Lagerfeuer ab. An ihm hatten sich der Wärme wegen wenigstens dreißig übel aussehende Gestalten niedergekauert, doch nirgends in der Gruppe konnte James Borric entdecken. Zwar konnte er nicht jedes Gesicht sehen, doch er war sich sicher, er würde das rote Haar des Prinzen in der Menge der schwarzen Köpfe sofort ausfindig machen, und das trotz des flackernden Lichts des Feuers.

Dann näherte sich den beiden Wachen ein Mann in einer purpurfarbenen Robe, und für einen Moment war James’ Kehle wie zugeschnürt. Doch auch das war nicht Borric. Der Träger der Robe hatte die Kapuze zurückgeworfen; darunter kam ein Gesicht mit einem dunklen Bart zum Vorschein, das James noch nie gesehen hatte. Der Mann, der an der Hüfte ein Schwert trug, warf den beiden Wachen einen bösen Blick zu und befahl ihnen, ihr Geschwätz zu unterlassen und weiterzugehen.

Der Mann in der Robe wollte sich gerade abwenden, als jemand zu ihm trat, ein großer Kerl mit einer Lederweste, der das Kastenzeichen der Sklavenhändler von Durbin auf dem Arm hatte.

Dieses Zeichen hatte James nicht mehr gesehen, seit er ein Junge gewesen war, doch wie alle anderen Mitglieder der Spötter, der Gilde der Diebe in Krondor, kannte er seine Bedeutung. Die Sklavenhändler von Durbin waren Männer, mit denen man sich besser nicht anlegte.

James wagte noch einen Blick auf das Lager, dann duckte er sich neben seiner Frau. Sie hatte die Augen geschlossen, und ihr Gesicht zeigte einen Ausdruck von Konzentration, während sie nach Borric suchte. Schließlich öffnete sie die Augen, und James hörte ihre Stimme in seinem Kopf. Es gibt kein Gedankenmuster, das ich als Borrics erkennen würde.

Bist du sicher? fragte er.

Traurig antwortete sie: Wenn er in dem Lager wäre, würde ich ihn finden, so nah, wie wir dran sind. Selbst wenn er schliefe, würde ich seine Gegenwart spüren. Sie seufzte leise, und er spürte ihre Sorge.

Es gibt keine andere Erklärung, als daß er unter dem Erdrutsch begraben liegt, unter dem wir auch den Stiefel gefunden haben. Sie schwieg einen Moment lang, dann sagte sie: Er ist tot.

James verharrte einen Augenblick bewegungslos, dann machte er dem Kundschafter ein Zeichen. Der Befehl, den Rückweg anzutreten.

Die Suche war vorüber.

 

»Nein!« Erland setzte eine ernste Miene auf und weigerte sich, Gaminas Erklärung Glauben zu schenken. »Du kannst es einfach nicht sicher wissen.«

James erzählte seine Beobachtungen zum dritten Mal, seit sie an die Stelle zurückgekehrt waren, wo Erland und der Rest der Kompanie gewartet hatten. »Wir haben einen Banditen gesehen, der die Robe getragen hat, und somit kann auch jemand seine Stiefel genommen haben, da stimme ich zu. Aber wir haben von ihm in dem Lager keine Spur gefunden.« Zu dem Kundschafter sagte er:

»Könnten die Banditen, die uns überfallen haben, vielleicht nicht zu dieser Sklavenkarawane gehören?«

Der Mann zuckte mit den Schultern, als wollte er die Möglichkeit einräumen. »Wahrscheinlich nicht, mein Lord. Da zwei Eurer Männer verschleppt wurden, war der Überfall auf Euch vermutlich kein Zufall. Alle Eure Männer, die überlebt haben, sind mit Sicherheit in diesem Lager.«

James nickte. »Wenn er noch lebte, Erland, hätte Gamina mit ihm sprechen können.«

»Wie kannst du da so sicher sein?«

Gamina sagte so, daß alle es hören konnten: Ich beherrsche meine Fähigkeiten, Erland. Ich kann bestimmen, zu wem und zu wie vielen ich sprechen möchte, und wenn ich einmal jemanden berührt habe, kann ich sein Gedankenmuster wiedererkennen. Borric war nicht unter den Menschen im Lager.

»Vielleicht war er nur bewußtlos.«

Gamina schüttelte traurig den Kopf. »Ich hätte seine Gegenwart trotzdem gespürt, selbst wenn er bewußtlos gewesen wäre. Es war einfach nur … seine Abwesenheit da. Ich kann es nicht besser erklären. Er war nicht unter ihnen.«

Der Kundschafter sagte: »Mein Lord, wenn ich heute nacht bei Euch bleiben dürfte, dann würde ich morgen nach meinem Feldwebel suchen. Er wird sicherlich darauf erpicht sein, von diesen Durbiniten zu hören. Der Gouverneur von Durbin ist selbst kaum besser als ein Pirat oder ein Abtrünniger, und früher oder später wird die Nachricht von seinem Treiben den Hof des Lichtes erreichen.

Wenn sich die Kaiserin – sie sei gesegnet – endlich zum Handeln entschließt, wird ihn die Strafe ereilen, die er verdient, und zwar eine schreckliche dazu. Natürlich kann das Eure Trauer um den Verlust nicht mindern, doch ein Überfall auf ein Mitglied einer königlichen Familie, noch dazu auf dem Weg zu ihrer Geburtstagsfeier, geht über jedes Maß an Beleidigung hinaus. Die Kaiserin – ihr Name sei gesegnet – wird es ohne Zweifel als persönliche Beleidigung auffassen und Eure Familie rächen.«

Erlands Zorn wurde durch diese Worte nicht im geringsten gemindert. »Was? Der Gouverneur von Durbin wird getadelt werden? Und dann wird er vermutlich als Antwort ein Entschuldigungsschreiben schicken.«

»Viel wahrscheinlicher wird sie die Stadt belagern und niederbrennen lassen, mit allen Einwohnern, die darin hocken, Sire.

Oder, wenn sie gnädig gestimmt ist, wird sie Eurem König allein den Gouverneur von Durbin mit seiner Familie zur Bestrafung schicken und die Stadt verschonen. Es wird von ihrer Laune abhängen.«

In Erland machte sich plötzlich Niedergeschlagenheit breit.

Offensichtlich war Borric tot, und der Schock, der mit dieser Erkenntnis verbunden war, überwältigte den Prinzen jetzt, während dieser Soldat ihm etwas über die Allmacht dieser alten Frau erzählen wollte.

James, der die fürchterlichen diplomatischen Verwicklungen, die sich aus Borrics Tod ergeben konnten, im Augenblick lieber nicht besprechen wollte, sagte: »Wir würden Euch bitten, Briefe mitzunehmen, die dem Prinzen von Krondor überbracht werden sollen, damit es zwischen unseren Völkern nicht zu ungewollten kriegerischen Auseinandersetzungen kommt.«

Der Kundschafter nickte. »Als jemand, der an der Grenze dient und weiß, was auf uns zukäme, bin ich gern dazu bereit, Herr.«

Daraufhin verließ er sie und sah nach seinem Pferd. James nickte Locklear zu, der sich wiederum Erland zuwandte. Die beiden jungen Adligen gingen davon, um sich unter vier Augen zu unterhalten.

Locklear meinte: »Das ist ja ein schöner Schlamassel.«

»Nun, wir haben auch früher schon vor großen Problemen gestanden. Schließlich wurden wir dazu ausgebildet, Entscheidungen zu treffen.«

Locklear sagte: »Ich denke, wir sollten darüber nachdenken, ob wir nach Krondor zurückkehren.«

James erwiderte: »Falls wir das tun, und falls Arutha Erland wieder zu der Geburtstagsfeier schickt, riskieren wir, die Kaiserin zu beleidigen, da wir dann sicherlich zu spät zu den Feierlichkeiten eintreffen.«

»Die Feierlichkeiten werden länger als zwei Monate dauern«, zeigte Locklear auf. »Wir wären dort, bevor sie zu Ende sind.«

»Ich wäre trotzdem lieber schon von Anfang an dabei.« Er sah sich in der Dunkelheit der Nacht um. »Da draußen geht etwas vor.

Ich kann nicht anders, ich fühle es einfach.« Er stieß Locklear einen Finger vor die Brust. »Das ist ein zu großer Zufall, daß ausgerechnet wir überfallen wurden.«

»Vielleicht.« Locklear konnte dem nur teilweise zustimmen.

»Aber wenn wir das Ziel des Überfalls waren, dann müßten diejenigen dahinterstecken, die Borric schon in Krondor ermorden wollten.«

»Wer auch immer das sein mag.« James schwieg eine Weile, dann sagte er. »Es ergibt keinen Sinn. Warum sollte jemand den Jungen umbringen wollen?«

»Um einen Krieg zwischen dem Königreich und dem Kaiserreich auszulösen.«

»Nein, das wäre zu offensichtlich. Ich meine, warum sollte jemand einen Krieg wollen?«

Locklear zuckte mit den Schultern. »Warum will überhaupt jemals jemand einen Krieg? Wir müssen herausfinden, wer im Kaiserreich den größten Vorteil aus einer unsicheren Lage an der nördlichen Grenze ziehen könnte, und der dürfte dann der wahrscheinlichste Schuldige sein.«

James nickte. »Das können wir allerdings von Krondor aus nicht erledigen.«

James wandte sich um, entdeckte Erland, der allein dastand, und ging zu ihm hinüber. Ruhig sagte er: »Du mußt rasch mit dieser Sache fertigwerden, Erland. Du mußt deinen Kummer schnell besiegen, und du mußt die Änderung der Umstände annehmen, die das Schicksal dir auferlegt hat.«

Erland blinzelte verwirrt, wie jemand, der überraschend von grellem Licht geblendet wird. »Was?«

James stellte sich vor ihn. Er legte dem jüngeren Mann die Hand auf die Schulter und sagte: »Jetzt bist du der Erbe. Du wirst unser nächster König werden. Und du trägst das Schicksal unserer Heimat auf den Schultern, wenn wir nach Kesh reiten.«

Erland schien ihn nicht zu hören. Der Prinz sagte nichts, er wandte nur den Blick nach Westen, dorthin, wo sich irgendwo in der Ferne die Karawane der Sklavenhändler befand. Endlich wendete er langsam sein Pferd und ritt zu der Stelle, wo die anderen warteten, um ihre Reise nach Süden wieder aufzunehmen, die Reise in das Herz von Groß-Kesh.