119
Als Delta-1 mit dem Kiowa übers Hinterdeck der Goya schwenkte, bot sich seinen Augen ein unerwartetes Bild.
Neben dem kleinen Tauchboot stand Michael Tolland. Wie in den Klauen eines Rieseninsekts zappelte Delta-2 in den Greifarmen des Unterwasserfahrzeugs und versuchte vergeblich, sich zu befreien.
Was war passiert?
Nicht minder haarsträubend war, Rachel Sexton in diesem Moment erscheinen zu sehen, die sich vor dem Tauchboot über einen gefesselten blutenden Mann stellte, bei dem es sich nur um Delta-3 handeln konnte. Sie hielt ihm eine Delta-Force-Maschinenpistole an den Kopf und blickte nach oben zum Kiowa. Die Warnung war eindeutig.
Delta-1 war perplex. Wie war das möglich? Der Fehlschlag auf dem Milne-Eisschelf war ein seltenes, aber erklärbares Ereignis gewesen. Doch was hier geschah, durfte es einfach nicht geben.
Schon unter normalen Umständen wäre die Demütigung unerträglich gewesen. Aber hier und jetzt steigerte sich die Schande ins Unermessliche – durch die Anwesenheit einer Person im Hubschrauber, deren Gegenwart höchst ungewöhnlich war.
Die Person des Einsatzleiters.
Nach dem Einsatz am FDR Memorial war Delta-1 zu einem verlassenen Park in der Nähe des Weißen Hauses bestellt worden. Delta-1 hatte kurz zwischen ein paar Bäumen auf einer Wiese aufgesetzt, der Einsatzleiter war aus der Dunkelheit getreten und eingestiegen. In Sekundenschnelle befanden sie sich wieder in der Luft und auf dem Weg zum Ziel.
Die unmittelbare Beteiligung eines Einsatzleiters an Operationen war sehr selten, doch Delta-1 konnte sich schlecht darüber beschweren. Unzufrieden mit dem Vorgehen der Delta Force auf dem Milne-Eisschelf hatte der Einsatzleiter, der zudem den wachsenden Argwohn und die erhöhte Wachsamkeit bestimmter Kreise befürchten musste, Delta-1 darüber informiert, dass die letzte Phase der Operation unter seiner persönlichen Überwachung stattfinden werde.
Nun saß der Einsatzleiter Delta-1 auf der Pelle und bekam aus erster Hand eine Pleite mit, wie Delta-1 sie noch nie erlebt hatte.
Es muss endlich Schluss sein. Sofort!
Der Einsatzleiter schaute aufs Deck der
Goya hinunter. Wie konnte das nur wieder
passiert sein? Bislang war aber auch alles schief gelaufen – der
Meteorit war im Zwielicht, der Anschlag der Delta Force auf dem Eis
hatte nicht geklappt, eine hochrangige Persönlichkeit musste am
FDR-Memorial eliminiert werden.
»Einsatzleiter…« Delta-1 zeigte sich erstaunt und betreten über die Lage auf dem Deck der Goya. »Ich kann mir nicht vorstellen…«
Ich auch nicht, dachte der Einsatzleiter. Wir haben die Ziel-Personen offensichtlich sehr unterschätzt.
Der Einsatzleiter schaute hinunter zu Rachel Sexton. Sie blickte gleichmütig zum verspiegelten Cockpit herauf und hielt sprechbereit ein CrypTalk-Gerät an ihren Mund. Der Einsatzleiter erwartete, dass die synthetische Stimme, die im Kiowa aus dem Lautsprecher zwitscherte, den Rückzug des Hubschraubers oder das Abschalten des Störschirms fordern würde. Doch was er von Rachel Sexton zu hören bekam, war weitaus bestürzender.
»Sie kommen zu spät«, sagte sie. »Wir sind nicht mehr die Einzigen, die Bescheid wissen.«
Der Satz hing unheilvoll in der Luft. So unwahrscheinlich es war, dass die Behauptung stimmte, der Einsatzleiter durfte es nicht darauf ankommen lassen. Der Erfolg des gesamten Projekts stand und fiel mit der Eliminierung sämtlicher Mitwisser.
Die Eindämmung der Wahrheit hatte schon genug Blutvergießen gekostet. Der Einsatzleiter musste die Gewissheit haben, dass es mit der jetzigen Operation sein Bewenden hatte.
Jemand anders weiß Bescheid?
Rachel Sexton war dafür bekannt, strikte Geheimhaltung zu wahren. Es war schwer vorstellbar, dass sie sich entschlossen hatte, einem Außenstehenden Einblick zu gewähren. Rachel war wieder am Sprechfunk. »Wenn Sie sich zurückziehen, verschonen wir Ihre Leute. Wenn Sie näher kommen, müssen sie sterben. Egal wie, die Wahrheit ist nicht mehr aufzuhalten. Riskieren Sie keine unnötigen Verluste. Hauen Sie ab!«
»Sie wollen mir etwas vormachen«, sagte der Einsatzleiter, der wusste, dass seine Stimme elektronisch zu einem androgynen Roboterton verfälscht wurde. »Sie haben mit niemandem Kontakt aufgenommen, sonst…«
»Können Sie es sich leisten, sich auf dieses Risiko einzulassen?«, fiel Rachel ihm ins Wort. »Als die Kontaktaufnahme mit William Pickering mehrfach fehlgeschlagen ist, wurde mir mulmig, und ich habe eine Sicherheitsmaßnahme ergriffen.«
Der Einsatzleiter runzelte die Stirn. Möglich war es schon.
»Sie fallen nicht darauf herein«, sagte Rachel mit einem Blick zu Tolland.
Der in den Greifarmen hängende Kämpfer grinste mit schmerzverzerrtem Gesicht. »Der Kiowa wird euch von der Bildfläche pusten. Eure Waffe ist leer, ihr werdet beide krepieren.
Für euch gibt es nur Hoffnung, wenn ihr uns laufen lasst.«
Von wegen!, dachte Rachel, während sie den nächsten Schachzug überlegte. Sie betrachtete den gefesselten und geknebelten Mann zu ihren Füßen. Der Blutverlust machte ihm offensichtlich schwer zu schaffen. Sie kauerte sich neben ihn und blickte ihm direkt in die harten Augen. »Ich werde Ihnen jetzt den Knebel abnehmen und Ihnen das Sprechfunkgerät hinhalten. Sie werden denen im Hubschrauber begreiflich machen, dass sie verschwinden sollen. Ist das klar?«
Der Mann nickte.
Rachel zog ihm den Knebel aus dem Mund. Ohne zu zögern spie der Mann Rachel blutigen Speichel ins Gesicht. »Miststück!«, stieß er hustend hervor. »Ich werde genüsslich zuschauen, wie sie dich abstechen…«
Während Rachel sich noch den heißen Speichel aus dem Gesicht wischte, wurde sie von einem bebenden Tolland mit starker Hand beiseite geschoben. Unverkennbar war in ihm eine Sicherung durchgebrannt. Er riss Rachel die Maschinenpistole aus der Hand, machte einige entschlossene Schritte zu einer Armaturentafel, legte die Hand an einen Hebel und warf dem auf Deck liegenden Mann einen eisigen Blick zu. »Zweiter Streich«, zischte er. »Für dich ist auf meinem Schiff kein Platz mehr.«
Zornbebend riss Tolland den Hebel nach unten. Wie die Falltür eines Galgens ging unter dem Tauchboot eine riesige Klappe auf. Mit einem gellenden Aufschrei rutschte der gefesselte Mann in die gähnenden Öffnung und klatschte nach einem Fall von neun Metern ins rot aufschäumende Meer. Noch im Aufschlagen fielen die Haie über ihn her.
Vom Hubschrauber herab sah der Einsatzleiter in stummer Wut die Überreste von Delta-3 hinter der Goya in der starken Strömung treiben. Das von den Scheinwerfern erleuchtete Wasser war rosa. Ein paar Haie balgten sich um etwas, das wie ein Arm aussah.
Um Gottes willen!
Er schaute wieder auf das Achterdeck. Delta-2 zappelte immer noch in den Klauen des Tauchboots, das nunmehr über einem gähnenden Loch im Deck hing. Tolland brauchte nur den Griff der Klauen zu lockern, und Delta-2 war als Nächster geliefert.
»Okay«, brüllte er ins CrypTalk. »Genug jetzt!
Genug!«
Rachel schaute vom Deck zum Hubschrauber herauf. Sogar von hier oben konnte der Einsatzleiter die Entschlossenheit in ihrem Blick spüren. Sie sprach wieder ins Gerät. »Glauben Sie immer noch, dass wir Ihnen etwas vormachen?«, sagte sie. »Rufen Sie die Vermittlung des NRO an. Fragen Sie nach Jim Samiljan. Er hat Nachtdienst in der P&A-Abteilung. Ich habe ihn über den Meteoriten von A bis Z ins Bild gesetzt. Er wird es Ihnen bestätigen.«
Sie nennt einen konkreten Namen? Das verhieß nichts Gutes. Rachel Sexton war nicht dumm. Allerdings ließ sich in kürzester Zeit klären, ob ihre Behauptung erfunden war. Bevor er den Befehl zu ihrer Eliminierung gab, musste er wissen, ob es ein Bluff war oder nicht.
Delta-1 schaute über die Schulter. »Soll ich den Störschirm deaktivieren, damit Sie anrufen können?«
Der Einsatzleiter schaute hinunter zu Rachel und Tolland. Sie standen beide mitten im Blickfeld. Falls sie ein Handy hervorziehen oder zum Funkgerät rennen wollten, konnte Delta-1 den Störschirm sofort wieder einschalten. Das Risiko war minimal.
»Störschirm abschalten«, sagte der Einsatzleiter und griff zu seinem Handy. »Ich will mir nur bestätigen lassen, dass die da unten lügt. Dann überlegen wir uns, wie wir Delta-2 raushauen, und bringen die Sache hier zu Ende.«
Die Dame in der Vermittlung des NRO in Fairfax wurde allmählich ungeduldig. »Ich habe Ihnen doch gesagt, dass ich in der Plan- und Analyseabteilung keinen Jim Samiljan finden kann.«
»Vielleicht schreibt er sich anders, vielleicht mit Z? Haben Sie das schon überprüft? Vielleicht ist er auch in einer anderen Abteilung?«
Die Vermittlerin hatte schon alles überprüft, sah aber trotzdem noch einmal nach. »Wir haben hier keinen Mitarbeiter namens Jim Samiljan«, sagte sie nach einer Weile. »Egal, wie er sich schreibt.«
Der Anrufer schien die Auskunft erstaunlicherweise zu begrüßen. »Sie sind ganz sicher, dass kein Jim Samil…« Im Hörer gab es ein plötzliches Durcheinander von Stimmen und Zurufen.
Der Anrufer fluchte und hängte ein.
Mit einem wütenden Aufschrei warf Delta-1 die Schalter des Störsenders wieder auf »An«. Zu spät hatte er unter all den leuchtenden Anzeigen in seinem Cockpit das kleine blinkende Lämpchen gesehen. Die Goya funkte ein satellitengestütztes Kommunikationssignal. Aber wie? Niemand hatte das Deck verlassen! Der Störschirm war noch nicht wieder richtig aufgebaut, als die Verbindung von der Goya beendet wurde.
Das Faxgerät im Hydrolab gab einen zufriedenen Piepton von sich und druckte den Sendebericht aus.
VERBINDUNG: OK
ÜBERTRAGENE SEITEN: 7
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Töten oder getötet werden. Rachel hatte einen Charakterzug an sich entdeckt, von dessen Existenz sie bislang nichts gewusst hatte. Überleben – eine unbändige Kraft erfüllte sie, deren Triebfeder die Angst war.
»Was war das für ein Fax?«, verlangte die Stimme aus dem CrypTalk zu wissen.
Erleichtert vernahm Rachel die Bestätigung, dass das Fax abgegangen war. »Verlassen Sie das Gebiet! Es ist vorbei«, rief sie in das Sprechfunkgerät. »Ihr Geheimnis ist keins mehr.« Sie nannte die Informationen, die soeben das Schiff verlassen hatten: Ein halbes Dutzend Seiten Text und Bilder, eindeutiges Beweismaterial, dass der Meteorit eine Fälschung war. »Wenn Sie uns etwas antun, wird Ihre Situation nur schlimmer.«
Eine bedeutungsschwere Pause entstand. »An wen haben Sie die Informationen geschickt?«
Rachel hatte nicht die Absicht, die Frage zu beantworten. Es galt, auf Zeit zu spielen. Rachel und Tolland hatten sich vor der Öffnung im Deck in einer Linie mit dem Tauchboot postiert.
Wenn der Hubschrauber schoss, würde er unvermeidlich auch den Mann in den Klauen des Tauchbootes treffen.
»An William Pickering?«, riet die Roboterstimme. Es klang merkwürdig hoffnungsfroh. »Sie haben an Pickering gefaxt.«
Falsch!, dachte Rachel. Pickering wäre ihre erste Wahl gewesen, doch sie musste befürchten, dass ihre Angreifer ihn schon umgebracht hatten. In einem verzweifelten Entschluss hatte sie das Fax an die einzige Nummer geschickt, die sie auswendig im Kopf hatte.
An das Büro ihres Vaters.
Senator Sextons Büro-Faxnummer hatte sich nach dem Tod ihrer Mutter schmerzlich in Rachels Gedächtnis gebrannt, als ihr Vater es damals vorzog, die Einzelheiten des Grundstücksverkaufs ohne Rachels persönliches Beisein auszuarbeiten. Es wäre ihr niemals in den Sinn gekommen, sich in einem Augenblick der Bedrängnis an ihren Vater zu wenden, aber in dieser konkreten Situation hatte der Mann zwei entscheidende Eigenschaften: Motivation in Hülle und Fülle, die Meteoritengeschichte unverzüglich an die Öffentlichkeit zu bringen und genug politischen Einfluss, um das Weiße Haus anrufen und dort Druck ausüben zu können, dass dieses Killerkommando nach Hause geschickt wurde.
Sexton war mit aller Wahrscheinlichkeit zu dieser Stunde nicht in seinem Büro, doch Rachel wusste, dass er das Büro verschlossen hielt wie eine Schatzkammer. Sie hatte ihre Daten sozusagen in einen Safe mit Zeitschloss versenkt. Selbst wenn die Angreifer herausbekamen, wohin das Fax gegangen war, dürften sie es kaum schaffen, die scharfen Sicherheitsmaßnahmen des Philip-A.-Hart-Bürogebäudes des Senats zu unterlaufen und unbemerkt in Sextons Büro einzubrechen.
»Wer immer der Empfänger war«, sagte die Roboterstimme von oben, »durch Sie ist er jetzt in Gefahr.«
Rachel wusste, dass sie aus einer Position der Stärke sprechen musste, auch wenn ihr vor Angst beinahe übel war. Sie deutete auf den Mann in den Klauen des Triton. Seine Beine baumelten über dem Abgrund, sein Blut tropfte ins Meer. »Der Einzige, der in Gefahr ist, ist Ihr Agent!«, rief sie ins CrypTalk. »Es ist vorbei.
Die Information ist raus. Sie haben verloren. Verschwinden Sie, oder Ihr Mann stirbt.«
»Miss Sexton, Sie verstehen nicht, worum es hier…«
»Was soll ich verstehen?«, rief Rachel. »Soll ich verstehen, dass Sie unschuldige Menschen umbringen? Soll ich verstehen, dass Sie einen Lügenmeteoriten in die Welt gesetzt haben? Ich verstehe jedenfalls, dass Sie sich gewaltig geschnitten haben. Selbst wenn Sie uns auch noch umbringen, Ihr Spiel ist aus! Verschwinden Sie, oder Ihr Mann stirbt!«
Es gab eine lange Pause, bis es wieder im Sprechgerät knackte.
»Ich komme runter«, sagte die Roboterstimme.
Rachel fuhr es eiskalt in die Glieder.
»Ich bin unbewaffnet«, sagte die Stimme. »Tun Sie nichts Unüberlegtes. Wir müssen unter vier Augen sprechen.«
Bevor Rachel reagieren konnte, hatte der Hubschrauber schon auf dem Heck der Goya aufgesetzt. Die Schiebetür an der Seite wurde geöffnet. Eine unscheinbare Gestalt in schwarzem Mantel und Krawatte kletterte aufs Deck.
Rachel konnte es nicht fassen.
Es war William Pickering.
Pickering stand auf dem Deck der Goya und schaute Rachel bedauernd an. Er hätte nie gedacht, dass der Tag diese Wendung nehmen würde. Während er auf Rachel zuging, konnte er in den Augen seiner Mitarbeiterin eine brisante Mischung aus Schock, Verwirrung, Enttäuschung und Wut erkennen. Nur zu verständlich, dachte er. Es gibt so viel, wovon sie keine Ahnung hat. Einen Moment schweiften seine Gedanken zurück zu seiner Tochter Diana. Er fragte sich, was sie wohl kurz vor ihrem Tod empfunden hatte.
Diana und Rachel waren beide Opfer des gleichen Krieges, von dem nicht abzulassen Pickering sich geschworen hatte. Manchmal mussten schreckliche Opfer gebracht werden.
»Rachel«, sagte Pickering. »Noch ist es für eine Einigung nicht zu spät. Ich muss Ihnen viel erklären.«
Rachel schaute ihn fassungslos an. Abscheu lag
in ihrem Blick.
Tolland hatte die Maschinenpistole an sich genommen und zielte auf Pickerings Brust. »Keinen Schritt weiter!«, rief er.
Pickering blieb anderthalb Meter vor Rachel stehen und starrte sie eindringlich an. »Rachel, Ihr Vater will die NASA zerschlagen und den Weltraum für den privaten Sektor öffnen! Er ist korrupt. Er nimmt Schmiergelder von der privaten Raumfahrtindustrie an. Es ist eine Frage der nationalen Sicherheit, dass ihm Einhalt geboten wird!«
Rachel schaute Pickering mit ausdruckslosem Gesicht an.
Pickering seufzte. »Trotz all ihrer Fehler muss die NASA die staatliche Behörde bleiben, die sie ist!« Das muss diese Frau doch begreifen. »Eine Privatisierung würde die hellsten Köpfe und die besten Ideen der NASA in den privaten Sektor treiben. Die Leute würden sich in alle Winde zerstreuen. Das Militär hätte keinen Zugang mehr. Private Weltraumunternehmen würden zur Beschaffung von Kapital für das beste Angebot einen weltweiten Ausverkauf von NASA-Patenten betreiben!«
Rachels Stimme zitterte. »Sie haben den Meteoriten gefälscht und unschuldige Menschen umbringen lassen… im Namen der nationalen Sicherheit?«
»Die Sache sollte ganz anders laufen«, sagte Pickering. »Der Plan sollte eine wichtige staatliche Behörde am Leben erhalten. Der Tod unschuldiger Menschen war nicht vorgesehen.«
Pickering wusste, der Meteoritenbetrug war wie alle nachrichtendienstlichen Manöver ein Produkt der Angst. Vor drei Jahren hatte er ein Programm vorangetrieben, um die Unterwassermikrofone in größere Tiefen verlegen zu können, wo sie vor feindlichen Saboteuren sicher waren. Dabei war ein von der NASA entwickeltes, revolutionäres Keramikmaterial für den Bau eines geheimen Tiefseetauchboots zum Einsatz gekommen, in dem Menschen sicher bis in die tiefsten Tiefen des Ozeans vordringen konnten – bis hinab zum Grund des Marianengrabens.
Das Boot für zwei Mann Besatzung wurde nach Konstruktionszeichnungen gebaut, die man von Hackern aus dem Computer eines kalifornischen Ingenieurs namens Graham Hawkes entwenden ließ, eines genialen U-Boot-Konstrukteurs, der den Lebenstraum hatte, ein Tiefseetauchboot mit der Bezeichnung »Deep Flight II« zu bauen. Im Gegensatz zu Hawkes, der keine Kapitalgeber für den Bau eines Prototyps finden konnte, hatte Pickering Zugriff auf unbegrenzte Mittel.
Pickering schickte mit dem geheimen Keramik-Tauchboot ein Team in den Marianengraben, das an den Grabenwänden neue Hydrophone installieren sollte – tiefer, als je ein Feind sich tummeln würde. Im Verlauf der Bohrarbeiten stieß das Team auf geologische Strukturen, die sich mit nichts vergleichen ließen, was die Wissenschaft bisher gesehen hatte. Die Entdeckungen umfassten auch Gesteine mit Chondreneinschlüssen und einige bislang unbekannte Tierarten. Da die NRO-Aktion geheim war, ließ man natürlich nichts von den Entdeckungen verlauten.
Erst neulich, und wieder getrieben von Angst, hatten Pickering und sein schweigsames NRO-Team aus wissenschaftlichen Beratern den Entschluss gefasst, ihr Wissen von der einzigartigen Geologie des Marianengrabens als Schützenhilfe für die bedrängte NASA einzusetzen. Einen Gesteinsbrocken aus dem Marianengraben in einen Meteoriten zu verwandeln, hatte sich als verblüffend einfach erwiesen. Mit dem Abgasstrahl eines Slush-Wasserstofftriebwerks hatte das NRO-Team dem Brocken eine überzeugende Schmelzrinde verpasst und ihn dann mit einem Mini-U-Boot von unten in den Milne-Eisschelf eingebracht. Als das Wasser im Einführungsschacht wieder gefroren war, sah es aus, als hätte der Brocken über dreihundert Jahre im Eis gesteckt.
Wie so oft bei gut geplanten Geheimoperationen konnte der großartigste Plan an lächerlichen Kleinigkeiten scheitern. Gestern war die sorgfältig aufgebaute Illusion wegen ein bisschen Leuchtplankton aufgeflogen…
Delta-1 beobachtete aus dem Cockpit des mit laufendem Rotor wartenden Kiowa die Entwicklung der Dinge auf dem Deck.
Rachel und Tolland glaubten, die Situation voll im Griff zu haben, doch Delta-1 musste über die Dürftigkeit ihrer Illusion beinahe lachen. Die Maschinenpistole in Tollands Hand war vollkommen wertlos. Selbst aus dieser Entfernung konnte Delta-1 sehen, dass der Spannschieber zurückgeschnappt und das Magazin leer war.
Ein Blick zu seinem Partner, der in den Klauen des Triton zappelte, gemahnte Delta-1 zur Eile. Pickering hatte sämtliche Aufmerksamkeit an Deck auf sich gezogen.
Delta-1 konnte eingreifen.
Während er Maschine und Rotor weiterlaufen ließ, schlüpfte er aus der Heckklappe. Vom Rumpf des Hubschraubers gedeckt, gelangte er ungesehen auf den Steuerbordumgang der Goya. Die Maschinenpistole im Anschlag lief er zum Bug. Vor der Landung auf dem Deck hatte ihm Pickering genaue Anweisungen erteilt. Delta-1 hatte nicht vor, diese einfache Aufgabe zu vermasseln. In ein paar Minuten ist alles vorbei.
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Herney war immer noch im Morgenmantel. Er saß im Oval Office an seinem Schreibtisch und dachte intensiv nach.
Ein neues Teilstück des Puzzles war soeben aufgetaucht.
Marjorie Tench ist tot.
Laut Herneys Mitarbeitern war sie zu einem vertraulichen Treffen mit William Pickering zum FDR Memorial gefahren. Da von Pickering ebenfalls jede Spur fehlte, wurden im Präsidentenstab Befürchtungen laut, dass auch er getötet worden sein könnte.
Der Präsident und Pickering hatten in letzter Zeit einige Auseinandersetzungen ausgefochten. Vor ein paar Monaten hatte Herney erfahren, dass Pickering zur Unterstützung von Herneys glücklosem Wahlkampf illegale Maßnahmen ergriffen hatte.
Unter Einsatz der Mittel des NRO hatte er sich diskret genügend Munition besorgt, um die Kampagne Senator Sextons in Grund und Boden zu kartätschen – skandalöse Sexfotos des Senators mit seiner Assistentin Gabrielle Ashe und belastendes Material über den Empfang von Schmiergeldzahlungen seitens der privaten Raumfahrtindustrie. Pickering hatte das Material anonym Marjorie Tench zukommen lassen und darauf gebaut, dass das Weiße Haus es in seinem Sinne einsetzen würde. Doch nach einem Blick auf das Material hatte Herney die Benutzung untersagt. Sex- und Korruptionsskandale wucherten in Washington wie Krebs. Noch einen Fall auszupacken und dem Publikum vor die Nase zu halten würde lediglich die Politikverdrossenheit im Lande steigern.
Der Zynismus zieht unser Land in den Sumpf.
Herney hätte Sexton zwar fertig machen können,
aber nur um dem Preis einer Herabwürdigung des Senats, und dieser
Preis war ihm zu hoch.
Keine Negativ-Schlagzeilen mehr! Herney wollte Sexton auf dem Gebiet der Sachfragen schlagen.
Pickering hatte sich über die ablehnende Haltung des Weißen Hauses geärgert und versucht, mit Gewalt einen Skandal vom Zaun zu brechen, indem er Gerüchte über Sextons Sexaffäre mit Gabrielle Ashe ausstreute. Sexton hatte daraufhin empört und mit solcher Überzeugungskraft seine Unschuld beteuert, dass der Präsident sich am Ende öffentlich beim Senator entschuldigen musste. Herney hatte Pickering informiert, er würde ihn im Falle einer nochmaligen Einmischung in die Wahlkampagne seines Amtes entheben. Ironischerweise war Pickering keineswegs ein Parteigänger Präsident Herneys. Seine Versuche, Herneys Wahlkampagne auf die Beine zu helfen, erklärten sich schlicht aus Pickerings Befürchtungen um die NASA. Er sah in Zach Herney das geringere Übel.
Pickering soll umgebracht worden sein?
Herney konnte es sich nicht vorstellen.
»Mr President«, sagte ein Mitarbeiter, »wie von Ihnen gewünscht, habe ich Lawrence Ekstrom angerufen und ihn über den Tod von Marjorie Tench unterrichtet.«
»Danke.«
»Mr Ekstrom wünscht selbst mit Ihnen zu sprechen.«
Herney war noch wütend über Ekstroms Lüge in Sachen PODS. »Sagen sie ihm, dass ich am Vormittag mit ihm sprechen werde.«
»Sir, Mr Ekstrom möchte jetzt gleich mit Ihnen sprechen.« Der Mitarbeiter machte ein betretenes Gesicht. »Er ist am Boden zerstört.«
Ekstrom – am Boden zerstört? Herney spürte, dass er nahe daran war, die Geduld zu verlieren. Während er sich Ekstroms Anruf ins Büro durchstellen ließ, fragte er sich, was noch alles schief gegangen sein mochte.
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Rachels Verwirrung legte sich. Sie konnte wieder klar denken. Der Mann, der vor ihr stand, war ihr fremd geworden.
Sie fühlte sich von ihm angewidert.
»Wir mussten das Image der NASA aufpolieren«, sagte Pickering. »Der Verfall ihrer Popularität und der damit verbundene Rückgang der finanziellen Mittel wurden auf allen möglichen Ebenen zur Gefahr.« Pickerings graue Augen suchten Rachels Blick. »Rachel, die NASA brauchte einen großen Erfolg wie ein Verdurstender einen Schluck Wasser. Es musste etwas geschehen, damit sie ihren Triumph bekam.«
Es musste wirklich etwas geschehen, dachte Pickering.
Der Meteorit war ein Akt der Verzweiflung gewesen. Pickering und ein paar andere hatten sich hinter den Kulissen darum bemüht, die Weltraumbehörde ins Spektrum der Nachrichtendienste einzubeziehen, wo eine verbesserte Finanzierung und Geheimhaltung die Lage der NASA nur verbessern konnte, doch das Weiße Haus stellte sich unentwegt quer und sprach von einem Angriff auf die Freiheit der Wissenschaft.
Kurzsichtiger Idealismus. Als Sextons NASA-feindliche Rhetorik auf immer fruchtbareren Boden fiel, wussten Pickering und seine Gesinnungsgenossen aus dem militärischen Lager, dass die Zeit allmählich knapp wurde. Sie kamen zu dem Ergebnis, dass sich der Ausverkauf der NASA nur verhindern ließ, wenn es gelang, sie wieder positiv in der Wahrnehmung der Steuerzahler und des Kongresses zu verankern. Wenn die Weltraumbehörde überleben sollte, musste sie zu ihrer alten Größe zurückfinden, musste die Erinnerung an die Tage der Apollo-Unternehmen geweckt werden. Zach Herney würde Hilfe brauchen, wollte er Senator Sexton schlagen.
Ich habe weiß Gott versucht, ihm zu helfen, sagte Pickering zu sich selbst und dachte an all das belastende Material, das er Marjorie Tench zugespielt hatte. Unbegreiflicherweise hatte Zach Herney untersagt, damit zu operieren. Pickering sah sich zu drastischeren Maßnahmen gezwungen.
»Rachel«, sagte er, »Sie haben mit Ihrem Fax sehr gefährliche Informationen in die Welt hinausposaunt. Wenn es an die Öffentlichkeit kommt, stehen das Weiße Haus und die NASA als Komplizen da. Der Präsident und die NASA sind vollkommen ahnungslos, sie gehen davon aus, dass der Meteorit echt ist. Aber sie werden einen schlimmen Rückschlag hinnehmen müssen.
Rachel, der Präsident und die NASA sind völlig unschuldig.«
Pickering hatte von Anfang an darauf verzichtet, Herney oder Ekstrom mit ins Boot zu nehmen. Sie waren viel zu idealistisch gesinnt, um einem Betrug zuzustimmen, selbst wenn er die Rettung der Präsidentschaft oder der NASA bedeutete. NASA-Chef Ekstroms einziges Vergehen hatte darin bestanden, den Projektleiter von PODS zur Lüge über die Detektor-Software zu überreden, was er zweifellos in dem Moment schon wieder bedauerte, als ihm klar wurde, wie sehr gerade dieser Satellit in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rücken würde.
Da Zach Herney von seiner Idee eines sauberen Wahlkampfs nicht ablassen wollte, hatte Marjorie Tench aus Verärgerung mit Ekstrom konspiriert in der Hoffnung, ein kleiner PODS-Erfolg könnte den erdrutschartigen Erfolg Sextons eindämmen helfen.
Hätte Tench die Fotos und das andere belastende Material benutzt, wäre das alles nicht passiert!
Marjorie Tenchs Beseitigung war zwar bedauerlich, war aber in dem Moment unvermeidlich geworden, als Rachel vor ihr am Telefon von Betrug gesprochen hatte. Pickering kannte Marjorie gut genug, um zu wissen, dass sie nicht ruhen würde, bis sie den Hintergrund dieser ungeheuerlichen Behauptung aufgedeckt hatte, und dazu durfte es selbstverständlich nicht kommen. Ironischerweise diente Marjorie Tench ihrem Präsidenten durch ihren Tod am besten, denn ihr gewaltsames Ende brachte dem Weißen Haus einen Sympathiebonus und lenkte einen vagen Verdacht auf Senator Sexton, der von dieser Frau im Fernsehen so gnadenlos vorgeführt worden war.
Rachel schaute ihren Chef unbeeindruckt an.
»Verstehen Sie doch«, sagte Pickering, »wenn der Meteoritenbetrug bekannt wird, haben Sie einen unschuldigen Präsidenten und eine unschuldige NASA auf dem Gewissen. Außerdem haben Sie einen sehr gefährlichen Mann ins Oval Office gebracht.
Ich muss wissen, wohin Sie ihr Fax geschickt haben.«
Delta-1 ging um den Bug herum und kam an der
Backbordseite wieder ein Stück zurück. Er stand jetzt am Eingang
zum Hydrolab, aus dem er Rachel beim Anflug hatte herauskommen
sehen.
Auf einem Computerbildschirm des Labors war ein beunruhigendes Bild zu sehen – eine polychromatische Abbildung des pulsierenden Tiefseewirbels, der offensichtlich unter der Goya am Meeresboden brodelte.
Ein Grund mehr, schleunigst von hier zu verschwinden, dachte er, während er auf sein Ziel zuschritt.
Das Faxgerät stand auf einer Arbeitsplatte an der gegenüberliegenden Wand. Einige Blatt Papier steckten im Schacht – genau wie Pickering vermutet hatte. Delta-1 nahm die Blätter heraus.
Eine Botschaft von Rachel lag obenauf. Nur zwei Zeilen. Er las.
Das trifft den Nagel genau auf den Kopf, dachte er.
Er blätterte die übrigen sechs Seiten durch. Mit Bestürzung nahm er zur Kenntnis, wie vollständig Rachel und Tolland dem Meteoritenbetrug auf die Spur gekommen waren. Keinem, der diese Blätter sah, konnte ihre Bedeutung verborgen bleiben. Um den Faxempfänger herauszubekommen, musste Delta-1 nicht einmal die Wahlwiederholungstaste drücken. Die zuletzt gewählte Nummer stand noch auf dem Display.
Eine Nummer mit der Vorwahl von Washington, D. C.
Delta-1 notierte die Nummer, griff sich die Blätter und verschwand aus dem Labor.
Mit schweißnassen Händen hielt Tolland die Maschinenpistole auf Pickerings Brust gerichtet. Der NRO-Chef versuchte immer noch aus Rachel herauszubekommen, wohin sie die Informationen gefaxt hatte. Tolland bekam allmählich das ungute Gefühl, dass Pickering lediglich Zeit zu schinden versuchte. Zeit wofür?
»Das Weiße Haus und die NASA sind unschuldig«,
wiederholte Pickering zum x-ten Mal. »Arbeiten Sie mit mir
zusammen. Lassen Sie es nicht dazu kommen, dass durch meinen Fehler
auch noch der letzte Rest Glaubwürdigkeit der NASA zerstört
wird.
Die NASA wird als Schuldiger dastehen, wenn die Sache auffliegt. Wir können uns bestimmt einigen. Unser Land braucht diesen Meteoriten. Nun sagen Sie schon, wohin Sie die Unterlagen gefaxt haben, bevor es zu spät ist.«
»Damit Sie noch jemand umbringen können?«, sagte Rachel. »Sie machen mich krank!«
Tolland staunte über Rachels Stehvermögen. Sie hielt zwar nichts von ihrem Vater, war aber offensichtlich nicht bereit, ihn irgendeiner Gefahr auszusetzen. Leider war Rachels Plan höchst fragwürdig. Selbst wenn der Senator umgehend in sein Büro kam, das Fax sah und den Präsidenten mit der Geschichte vom Meteoritenbetrug anrief und ihn um sein Eingreifen bat, würde das Weiße Haus so schnell nicht begreifen, wovon der Senator sprach – und wo seine Tochter steckte, wusste auch niemand.
»Ich sage es zum letzten Mal«, sagte Pickering und fixierte Rachel drohend. »Die Situation ist viel zu komplex, als dass Sie sie verstehen könnten. Es war ein gewaltiger Fehler von Ihnen, das Fax mit den Informationen von diesem Schiff abzusenden. Sie gefährden unser Land.«
Wie Tolland jetzt bemerkte, spielte Pickering tatsächlich auf Zeit. Der Grund dafür kam in aller Ruhe an Backbord auf ihn zugeschritten. Tolland erschrak bis ins Mark, als er den Kämpfer mit seiner Maschinenpistole und den Papieren in der Hand auf sich zukommen sah.
Er reagierte mit einer Entschlossenheit, die ihn selbst erstaunte.
Er fuhr herum, richtete die Waffe auf den Mann
und riss den Abzug durch.
Es klickte.
»Ich habe die Faxnummer«, sagte der Kämpfer und hielt Pickering einen Zettel hin. »Und Mr Tolland hat keine Munition.«
123
Sedgewick Sexton stürmte durch die Flure des Philip-A.-Hart-Senatsgebäudes. Er hatte keine Ahnung, wie Gabrielle es geschafft hatte, aber sie war offenbar in sein Büro eingedrungen.
Als er am Telefon mit ihr sprach, hatte er im Hintergrund deutlich das unverwechselbare Ticken seiner Jourdain-Standuhr gehört. Er musste befürchten, dass Gabrielle auf die Jagd nach Beweisen gegangen war, nachdem sie bei ihrer Lauschaktion beim Treffen der SFF-Leute vermutlich das Vertrauen in ihn verloren hatte.
Wie ist sie in mein Büro gekommen?
Sexton war unendlich erleichtert, dass er sein Passwort geändert hatte.
An seiner Bürotür angelangt, tippte er die Pinnummer zum Abschalten der Alarmanlage ein. Er suchte den Schlüsselbund aus der Tasche, betätigte die komplizierte Schließanlage mit zwei Schlössern, riss die Türflügel auf und erwartete, Gabrielle auf frischer Tat zu ertappen.
Das Büro war leer. Lediglich der Bildschirmschoner leuchtete matt.
Er knipste das Licht an. Seine Blicke huschten
durch den Raum. Alles war an seinem Platz. Totenstille bis auf das
charakteristische Ticken seiner Standuhr.
Wo steckt das Miststück?
Er hörte im Bad etwas rascheln, riss die Tür auf, knipste das Licht an. Das Bad war leer. Er schaute hinter die Tür. Nichts.
Verunsichert betrachtete Sexton sein Konterfei im Spiegel.
Hatte er heute Nacht mehr als ein Glas zu viel getrunken? Ich habe doch etwas gehört! Verwirrt ging er in sein Büro zurück.
»Gabrielle?«, rief er. Er ging den Flur hinunter zu ihrem Büro.
Dort war sie auch nicht. Das Büro war dunkel.
In der Damentoilette wurde die Spülung betätigt. Sexton fuhr herum und lief dorthin. Als er die Toilettentür erreichte, trat im selben Moment Gabrielle heraus, noch damit beschäftigt, sich mit einem Papierhandtuch die Hände zu trocknen. Sie zuckte vor Schreck zusammen.
»Mein Gott, haben Sie mich erschreckt!«, rief sie aus. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. »Was tun Sie denn hier?«
»Sie haben gesagt, Sie wollten NASA-Unterlagen aus Ihrem Büro holen. Wo sind die Akten?«, fragte Sexton und schaute auf Gabrielles leere Hände.
»Ich habe überall gesucht, aber ich habe sie nicht finden können. Deswegen hat es so lange gedauert.«
Sexton blickte Gabrielle scharf an. »Waren Sie in meinem Büro?«
Das Faxgerät hat mir das Leben gerettet, dachte Gabrielle.
Vor wenigen Minuten noch hatte sie vor Sextons Computer gesessen und versucht, Ausdrucke der in seinem Computer abgespeicherten illegalen Schecks zu machen, doch die Dateien waren geschützt. Die Dateiensicherungen zu knacken und das Ausdrucken hätten wohl noch eine Weile gedauert. Vermutlich würde sie immer noch am Computer sitzen, hätte nicht das Faxgerät gepiepst und sie aus ihrer Arbeit gerissen. Gabrielle hatte das Signal als Aufforderung genommen, umgehend zu verschwinden.
Ohne sich mit dem eingehenden Fax aufzuhalten, hatte sie den Computer heruntergefahren, alles in Ordnung gebracht und war auf dem gleichen Weg verschwunden, den sie gekommen war.
Als sie Sexton das Büro aufschließen hörte, war sie gerade dabei, aus dem Badezimmer zu klettern.
Sexton stand vor ihr, starrte auf sie hinunter und suchte in ihren Augen nach dem Eingeständnis der Lüge. Gabrielle kannte niemand, der es an Sensibilität für Unwahrheiten mit Sedgewick Sexton hätte aufnehmen können. Sexton würde sofort erkennen, wenn sie log.
»Sie haben getrunken«, sagte sie und wandte sich ab. Woher weiß er, dass ich in seinem Büro war?
Sexton packte sie an den Schultern und wirbelte sie herum.
»Waren Sie in meinem Büro?«
Gabrielle bekam es mit der Angst zu tun. »Ich, in Ihrem Büro?«
Sie lachte gekünstelt. »Wie denn? Warum denn?«
»Vorhin, als ich Sie anrief, habe ich im Hintergrund meine Jourdain-Uhr gehört!«
Gabrielle zuckte innerlich zusammen. Die Uhr! Darauf wäre sie nie gekommen. »Wissen Sie eigentlich, wie absurd Ihr Vorwurf ist?«
»Ich sitze den ganzen Tag in diesem Büro. Ich weiß, wie meine Uhr klingt!«
Gabrielle spürte, dass sie sofort einen Riegel vorschieben musste. Angriff ist die beste Verteidigung, hatte Yolanda Cole immer gesagt. Sie baute sich vor Sexton auf, stemmte die Fäuste in die Hüften und schaute ihm furchtlos in die Augen. »Senator, lassen Sie mich eines klarstellen: Es ist vier Uhr früh, und Sie haben getrunken. In Ihrem Telefon hat es getickt, und deshalb sind Sie hier?« Sie zeigte empört den Flur hinunter auf Sextons Bürotür.
»Nur damit wir uns richtig verstehen: Wollen Sie allen Ernstes behaupten, ich hätte eine Alarmanlage außer Gefecht gesetzt, zwei Sicherheitsschlösser aufgebrochen, wäre dann in Ihr Büro eingedrungen, hätte dabei auch noch die Blödheit besessen, mich mitten in einer kriminellen Handlung per Handy anrufen zu lassen, hätte beim Rausgehen wieder abgeschlossen und die Alarmanlage scharf gemacht, wäre dann in aller Seelenruhe aufs Damenklo gegangen, um mit leeren Händen abzuhauen, einfach so?
Wollen Sie das behaupten?«
Sexton blinzelte verdutzt.
»Es heißt nicht umsonst, man soll nicht alleine trinken«, sagte Gabrielle. »Wollen Sie jetzt mit mir über die NASA reden oder nicht?«
Sexton wusste nicht mehr, was er denken sollte. Er ging geradewegs zur Bar in seinem Büro und schenkte sich eine Cola ein.
Er fühlte sich weiß Gott nicht betrunken. Sollte er sich wirklich sosehr getäuscht haben? An der Wand gegenüber tickte spöttisch die Standuhr. Sexton schüttete die Cola hinunter und schenkte sich ein zweites Glas ein, dazu eines für Gabrielle.
»Möchten Sie was trinken?«, sagte er und drehte sich um. Gabrielle stand immer noch ostentativ an der Schwelle. »Mein Gott, nun lassen Sie’s gut sein und kommen Sie rein! Erzählen Sie schon, was haben Sie bei der NASA erreicht?«
»Ich glaube, ich habe genug für heute«, winkte
sie ab. »Lassen Sie uns morgen darüber sprechen.«
Sexton war nicht in der Stimmung für beleidigte Spielchen. Er brauchte die Informationen jetzt sofort. Er seufzte müde. Die Hand zur Versöhnung hinstrecken. Es geht immer nur um Vertrauen.
»Tut mir Leid, ich habe Mist gebaut«, sagte er. »Heute war ein harter Tag. Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist.«
Gabrielle stand noch auf der Schwelle.
Sexton ging zu seinem Schreibtisch und stellte die Cola für Gabrielle auf dem Drucker ab. Er deutete auf seinen ledernen Schreibtischsessel – das Machtzentrum im Raum. »Setzen Sie sich. Trinken Sie einen Schluck. Ich halte rasch den Kopf ins kalte Wasser.« Er machte sich auf ins Badezimmer.
Gabrielle rührte sich immer noch nicht.
»Ich glaube, ich habe ein Fax im Gerät gesehen«, rief Sexton ihr über die Schulter zu, während er ins Bad ging. Zeig ihr, dass du ihr vertraust. »Schauen Sie doch mal nach, was es ist.«
Er schloss die Tür hinter sich und ließ Wasser ins Waschbecken laufen. Er schaufelte sich das kalte Wasser ins Gesicht, sein Kopf wurde aber trotzdem nicht klarer. So etwas war ihm noch nie passiert – noch nie war er sich einer Sache so sicher gewesen und hatte trotzdem so falsch gelegen. Sexton war ein Mann, der auf seinen Instinkt vertraute, und der sagte ihm, dass Gabrielle Ashe in seinem Büro gewesen war.
Aber wie? Es war völlig unmöglich.
Sexton beschloss, die Sache vorerst zu vergessen und sich auf das aktuelle Problem zu konzentrieren. Die NASA. Dazu brauchte er Gabrielle. Jetzt war nicht der Moment, sie zu vergraulen. Er musste wissen, was sie in Erfahrung gebracht hatte.
Vergiss deinen Instinkt. Du
hast dich vertan.
Während er sich das Gesicht abtrocknete, warf er den Kopf zurück und atmete tief durch. Ruhig Blut, ermahnte er sich, Druck machen bringt nichts.
Als er aus dem Bad kam, hatte Gabrielle sich zu seiner Erleichterung beruhigt und war in sein Büro gekommen. Sie stand beim Telefaxgerät mit integriertem Anrufbeantworter und blätterte in den angekommenen sieben Seiten. Verwirrung und Angst standen in ihrem Gesicht.
»Was ist gekommen?«, fragte Sexton und ging auf sie zu.
Gabrielle wankte. »Der Meteorit…«, stieß sie hervor. Ihre Hand zitterte, als sie Sexton die Blätter entgegenhielt. »Und Ihre Tochter… ist in Lebensgefahr.«
Sexton nahm Gabrielle die Papiere aus der Hand. Das oberste Blatt war eine handschriftliche Notiz. Sexton erkannte die Schrift sofort. Die Mitteilung war schnörkellos und erschreckend einfach.
Meteorit ist gefälscht. Nachweis anbei.
NASA/Weißes Haus wollen mich umbringen – Hilfe! – R. S.
Es kam selten vor, dass der Senator überhaupt nichts verstand.
Er las Rachels Mitteilung ein zweites Mal und wusste immer noch nicht, was er damit anfangen sollte.
Der Meteorit ist gefälscht? Die NASA und das Weiße Haus versuchen Rachel umzubringen?
Sexton blätterte in dem halben Dutzend Seiten. Auf der ersten Seite war eine Computerabbildung mit der Überschrift »Ground Penetrating Radar (GPR)«. Das Bild schien eine Art Röntgenaufnahme vom Gletscher zu sein. Sexton sah den Bergungsschacht, von dem im Fernsehen die Rede gewesen war. Sein Blick blieb am undeutlichen Umriss einer im Schacht schwebenden, vermutlich menschlichen Gestalt haften.
Dann sah er etwas noch Schockierenderes – den deutlichen Umriss eines zweiten Schachts direkt unter dem Meteoriten, als wäre der Brocken von unten ins Eis eingebracht worden.
Was, um alles in der Welt…?
Er blätterte weiter. Von der nächsten Seite blickte ihn das Foto eines Meereslebewesens mit der Bezeichnung Bathynomous giganteus an. Er betrachtete erstaunt das Bild. Das ist doch das Fossil aus dem Meteoriten! Hastig schlug er die nächste Seite auf, eine grafische Darstellung des Wasserstoffgehalts der Schmelzrinde des Meteoriten. Ein handschriftlicher Vermerk stand darunter.
»Verbrennung durch Slush-Wasserstoff Triebwerk der NASA?«
Sexton traute seinen Augen nicht. Er betrachtete die letzte Seite, das Foto eines Gesteinsbrockens mit kleinen metallischen Einschlüssen, die denen des Meteoriten haargenau glichen. Dem Begleittext war zu entnehmen, dass es sich bei dem Brocken um das Produkt von Tiefsee-Tektonik handelte. Ein Brocken aus der Tiefsee? Aber die NASA hat doch behauptet, Chondren bilden sich nur im Weltraum!
Sexton legte die Blätter auf den Schreibtisch und ließ sich in seinen Sessel fallen. Er brauchte nur eine halbe Minute, um aus den Bruchstücken das ganze Bild zu gewinnen. Die Implikationen dieser Mitteilungen waren kristallklar. Man musste schon ein Trottel sein, um nicht sofort zu begreifen, was diese Bilder bedeuteten.
Der Meteorit der NASA – ein
Schwindel!
An keinem Tag seiner Karriere hatte Sexton höchste Höhen und tiefste Tiefen in so dichter Folge durchlebt. Seine Verblüffung über diesen gigantischen Betrug wich schnell der Erkenntnis, dass er für ihn ein Geschenk des Himmels war.
Wenn ich mit diesen Informationen an die Öffentlichkeit gehe, bin ich der neue Präsident!
Vor Vorfreude dachte Sexton schon nicht mehr an den Hilferuf seiner Tochter.
»Rachel ist in Gefahr!«, sagte Gabrielle. »Die NASA und das Weiße Haus versuchen…«
Unvermittelt begann das Telefax zu piepsen. Gabrielle fuhr herum und starrte das Gerät an. Auch Sexton konnte nicht anders. Wollte Rachel ihm noch mehr Beweismaterial senden? Wie viel hatte sie denn in petto? Als ob das nicht schon genügte!
Als das Gerät anlief, kamen keine Blätter. Der Apparat schaltete auf den Anrufbeantworter um.
»Hallo«, war Sextons Ansage zu hören, »hier ist das Büro von Senator Sedgewick Sexton. Wenn Sie mir ein Fax senden möchten, drücken Sie bitte auf den Startknopf, oder hinterlassen Sie mir nach dem Signalton eine Nachricht.«
Bevor Sexton abheben konnte, piepste es, und der Anrufbeantworter lief an. »Senator Sexton?«, sagte eine männliche Stimme. Sie klang klar und direkt. »Hier William Pickering, Chef des NRO. Vermutlich befinden Sie sich derzeit nicht in Ihrem Büro, ich muss mich sofort an Sie wenden.« Der Sprecher machte eine Pause, als würde er erwarten, dass doch jemand abnimmt.
Gabrielle wollte nach dem Hörer greifen.
Sexton schlug ihre Hand derb beiseite.
»Aber das ist doch der Chef von…«
»Herr Senator«, fuhr Pickering fort, und es klang beinahe, als wäre er erleichtert, dass niemand abgehoben hatte. »Ich fürchte, mein Anruf bringt Ihnen schlechte Nachrichten. Ich wurde soeben davon in Kenntnis gesetzt, dass Ihre Tochter Rachel in höchster Lebensgefahr schwebt. Leider kann ich am Telefon nicht in Einzelheiten gehen, aber man hat mich informiert, dass sie Ihnen vermutlich einiges an Datenmaterial über den NASA-Meteoriten gefaxt hat. Ich habe das Material nicht gesehen und weiß auch nicht, worum es sich handelt, aber die Leute, die Ihre Tochter bedrohen, haben mich eindringlich gewarnt, dass Ihre Tochter sterben wird, wenn Sie oder jemand anders mit diesem Material an die Öffentlichkeit gehen. Sir, ich bedaure, so direkt sein zu müssen, aber ich möchte, dass Klarheit herrscht. Das Leben Ihrer Tochter ist bedroht. Falls sie Ihnen etwas gefaxt hat, beschwöre ich Sie, niemand davon Kenntnis zu geben. Jedenfalls nicht bis auf weiteres. Das Leben Ihrer Tochter hängt davon ab.
Ich werde in Kürze bei Ihnen sein.« Pickering schob eine Pause ein. »Mit etwas Glück, Herr Senator, ist die ganze Sache bereits erledigt, wenn Sie heute früh aufwachen. Sollte diese Nachricht Sie erreichen, bevor ich Sie in Ihrem Büro aufsuche, bleiben Sie bitte, wo Sie sind, und vor allem, sprechen Sie mit niemand darüber. Ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, um Ihre Tochter in Sicherheit zu bringen.«
Pickering hängte ein.
Gabrielle zitterte. »Rachel wurde als Geisel genommen!«
Sexton spürte, dass Gabrielle ein schmerzliches Mitgefühl für die in Gefahr schwebende junge Frau empfand. Er selbst allerdings hatte Schwierigkeiten, ähnliche Empfindungen aufzubringen. Er befand sich in der Gefühlslage eines kleinen Jungen, der sich das ersehnte Weihnachtsgeschenk wieder abnehmen lassen soll.
Pickering verlangt von dir, dass du den Mund halten sollst?
Sexton stand einen Moment unentschlossen da und überlegte.
In einer von kalter Berechnung beherrschten Kammer seines Hirns knipsten sich die Schaltkreise eines politischen Computers an, der sämtliche Möglichkeiten und jedes erdenkliche Ergebnis durchspielte. Die Faxe in der Hand, wurde ihm die brutale politische Durchschlagkraft der Bilder bewusst. Die NASA hatte mit ihrem Meteoriten seinen Traum von der Präsidentschaft zerstört.
Jetzt würde er diejenigen, die ihm ein Bein stellen wollten, dafür bezahlen lassen. Der Meteoritenschwindel, mit dem seine Feinde ihn erledigen wollten, würde ihn in genau jene Machtposition tragen, die man ihm verbauen wollte. Dafür hatte seine Tochter gesorgt.
Es gibt nur ein akzeptables Ergebnis, nur einen Kurs, den ein echter politischer Führer in dieser Situation einschlagen kann.
Von den Bildern seiner strahlenden politischen Wiedergeburt wie hypnotisiert, schritt Sexton durchs Zimmer zu dem Kopierer. Er schaltete ihn ein und begann, die Papiere einzulegen.
»Was tun Sie da?«, fragte Gabrielle irritiert.
»Das wird Rachel schon nicht umbringen«, gab Sexton zurück.
Selbst wenn er seine Tochter an den Feind verlor, würde das seiner Macht allemal zugute kommen. Er konnte nur gewinnen.
Das Risiko musste eingegangen werden.
»Für wen machen Sie die Kopien?«, wollte Gabrielle wissen.
»Pickering hat doch darauf bestanden, dass niemand etwas erfahren darf!«
Sexton blickte vom Gerät auf und schaute Gabrielle an. Wie unattraktiv sie ihm auf einmal vorkam! Sedgewick Sexton verwandelte sich zusehends in eine unerreichbare Insel. Alles, was er für die Verwirklichung seines Traums brauchte, hielt er in Händen. Jetzt konnte ihn nichts mehr aufhalten, keine Bestechungsvorwürfe und kein Sexskandal.
Nichts mehr.
»Gabrielle, gehen Sie nach Hause. Ich kann Sie hier nicht brauchen.«
124
Es ist aus, dachte Rachel.
Sie saß neben Tolland auf Deck und starrte in die Mündung der Maschinenpistole von Delta-1. Pickering wusste jetzt, wohin das Fax gegangen war.
Rachel bezweifelte, dass ihr Vater jemals die telefonische Nachricht bekommen würde, die Pickering ihm soeben übermittelt hatte. Es war durchaus möglich, dass Pickering noch vor allen anderen im Büro des Senators aufkreuzte. Wenn er es schaffte, vor Eintreffen des Senators hineinzukommen, das Fax verschwinden zu lassen und seine Nachricht zu löschen, gab es keinen Anlass, dem Senator irgendetwas anzutun. Pickering war möglicherweise einer von den ganz wenigen Leuten in Washington, die sich ohne jedes Aufsehen Zutritt zum Büro eines Senators verschaffen konnten. Rachel hatte schon immer gestaunt, was im Namen der »nationalen Sicherheit« alles möglich war.
Wenn das nicht klappt, kann Pickering immer noch
vorbeifliegen und durchs Bürofenster eine
Hellfire-Rakete ins Faxgerät schießen. Doch Rachel hatte das
starke Gefühl, dass so etwas nicht nötig war.
Erstaunt spürte sie Tollands Hand in die ihre gleiten. Seine Berührung war zärtlich und fest zugleich. Ihre Hände verschränkten sich ineinander, so selbstverständlich, dass es Rachel vorkam, als hätten sie sich schon ein Leben lang gehalten. Sie wünschte sich nichts so sehr, wie in Tollands Armen zu liegen, beschützt vor dem strudelnden Rauschen der schrecklichen nächtlichen See. Zu spät, dachte sie. Es sollte nicht sein.
Michael Tolland kam sich vor wie ein Mann, dem auf dem Weg zum Galgen noch einmal das Glück lacht.
Das Leben macht sich lustig über mich.
In den Jahren nach Celias Tod hatte Tolland viele Nächte überstehen müssen, in denen er am liebsten gestorben wäre, viele schlimme Stunden des Schmerzes und der Einsamkeit, aus denen zu entkommen nur durch ein schnelles Ende möglich schien.
Dennoch hatte er das Leben gewählt und sich gesagt, er würde es alleine schaffen. In der heutigen Nacht hatte er zum ersten Mal begriffen, was seine Freunde ihm schon die ganze Zeit gesagt hatten.
Mike, du musst nicht alles alleine schaffen. Du wirst wieder eine Frau finden, die du lieben kannst.
Das Gefühl von Rachels Hand in der seinen machte es ihm schwerer, die Ironie des Schicksals zu ertragen. Das Leben hatte ein miserables Timing. Wie schon so oft auf den Decks der Goya hatte er das Empfinden, Celias Geist würde auf ihn hinunterschauen. Ihre Stimme vermischte sich mit dem Rauschen des Wassers. Sie sprach die Worte, die sie kurz vor ihrem Tod zu ihm gesagt hatte.
»Du bist ein Überlebenskünstler«, flüsterte die Stimme. »Versprich mir, dass du wieder jemand lieben wirst.«
»Ich will niemand mehr lieben«, hatte er geantwortet.
Celia hatte ihn voll Weisheit angelächelt. »Du wirst es lernen.«
Jetzt, auf dem Deck der Goya, hatte er es gelernt. Eine Woge tiefen Gefühls wallte warm in seinem Herzen auf. Tolland spürte, dass er glücklich war.
Ein übermächtiger Überlebenswille keimte in ihm auf.
Pickering fühlte sich merkwürdig unbeteiligt, als er auf die beiden Gefangenen zuging. Vor Rachel blieb er stehen, überrascht, dass ihm alles so leicht fiel.
»Manchmal verlangen die Umstände Entscheidungen, die keine sind«, sagte er.
Rachel bedachte ihn mit einem unbeugsamen Blick. »Sie haben die Umstände selbst geschaffen.«
»Der Krieg verlangt Opfer«, sagte Pickering. Seine Stimme war fester geworden. Fragt Diana Pickering und all die anderen, die jedes Jahr bei der Verteidigung unserer Nation ihr Leben lassen. »Rachel, gerade Sie sollten das verstehen.« Sein Blick bohrte sich in ihre Augen, »lactura paucorum servat multos.«
Pickering wusste, dass Rachel den Spruch kannte, der in Geheimdienstkreisen eine typische Redewendung war. Die wenigen opfern, um die Vielen zu retten.
Rachel betrachtete ihn mit unverhohlener Abscheu. »Und Michael und mir haben Sie die Rolle der wenigen zugedacht?«
Pickering bedachte noch einmal die Situation. Es gab keine andere Wahl. Er wandte sich an Delta-1. »Befreien Sie Ihren Partner, und dann bringen Sie die Sache zu Ende.«
Delta-1 nickte.
Pickering bedachte Rachel mit einem langen Blick; dann ging er zur Backbordreling und starrte aufs Meer. Bei dem, was jetzt kam, wollte er lieber nicht zusehen.
Im Gefühl der Macht packte Delta-1 die Waffe. Er schaute hinauf zu seinem Partner, der in den Klauen der Greifarme hing. Es gab nichts mehr zu tun, außer die Falltür unter den Füßen seines Partners zu schließen, ihn aus den Greifern zu befreien und Rachel Sexton und Michael Tolland zu eliminieren. Delta-1 hatte die unübersichtliche Schalttafel für die Deckklappe mit ihren unmarkierten Hebeln und Anzeigern bereits in Augenschein genommen. Er hatte nicht die Absicht, das Leben seines Partners aufs Spiel zu setzen, indem er am falschen Hebel zog.
Kein Risiko eingehen. Niemals überstürzt handeln.
Er würde Tolland zwingen, die Handgriffe zur Befreiung des Partners selbst vorzunehmen. Und damit Tolland nicht auf die Idee kam, ihm einen Streich zu spielen, würde er die »biologische Kollateralsicherung« einsetzen, wie man in seinen Kreisen sagte.
Die Gegner gegeneinander ausspielen.
Delta-1 hielt Rachel die Maschinenpistole vors Gesicht. Sie schloss die Augen. Delta-1 sah Tolland die Fäuste ballen.
»Miss Sexton, stehen Sie auf!«
Rachel stellte sich hin. Die Mündung der Waffe im Rücken wurde sie von Delta-1 zu einer mobilen Alustiege geschoben, die von hinten zum Tauchboot hinaufführte. »Steigen sie hoch, und stellen Sie sich aufs Boot.«
Rachel schaute Delta-1 unschlüssig und
ängstlich an.
»Los, voran!«, brüllte Delta-1.
Rachel hatte das Gefühl, in einem Albtraum zu sein, als sie zum Triton hinaufkletterte. Oben an der Stellage angekommen zögerte sie, auf das über dem Abgrund hängende Tauchboot zu steigen.
»Stellen Sie sich oben aufs Boot!«, rief Delta-1 zu ihr hinauf. Er war inzwischen hinter Tolland getreten und presste ihm die Maschinenpistole in den Rücken.
Mit einem ziehenden Gefühl im Bauch, als müsste sie auf einen Felsvorsprung über einer Schlucht hinausklettern, machte Rachel einen mutigen Schritt nach vorn auf den hohen Maschinenaufbau des Triton.
Der Kämpfer schubste Tolland mit der Waffe voran. »Bewegung! Rüber zur Schalttafel. Klappe schließen!«
Während Tolland sich auf die Schalttafel zubewegte, bemerkte Rachel, dass er ihr mit den Augen ein Zeichen zu geben versuchte. Er blickte sie an – und gleich darauf das Tauchboot mit dem nach vorn hochgeklappten Lukendeckel vor ihr. Rachel konnte von oben in das einsitzige Cockpit schauen. Da soll ich rein? Tolland war inzwischen fast an der Schalttafel angelangt. Sein Blick bohrte sich beschwörend in Rachels Augen.
Seine Lippen formten ein Wort. »Rein!«
Aus dem Augenwinkel sah Delta-1 Rachels plötzliche Bewegung.
Instinktiv fuhr er herum und feuerte. Während Rachel durch die Luke in den Sitz fiel, pfiffen die Kugeln über sie hinweg. Querschläger prallten funkenstiebend von dem hochgeklappten runden Deckel ab, dann schlug er über Rachel zu.
Kaum dass Tolland die Waffe nicht mehr im
Rücken spürte, machte er einen Hechtsprung nach links zur
Heckankerwinde der Goya. Der Kämpfer
wirbelte mit Feuer speiender Waffe herum. Tolland warf sich im
Kugelhagel hinter der Seiltrommel in Deckung, einem gewaltigen
Stahlzylinder mit Maschinenantrieb, auf dem über tausend Meter
Stahltrosse aufgewickelt waren.
Tollands Plan verlangte rasches Handeln. Während der Kämpfer schon auf ihn losstürmte, riss Tolland mit beiden Händen an dem großen Sperrhebel der Ankerwinde. Sofort begann die Goya in der starken Strömung heftig zu schlingern. Meter um Meter wickelte sich das Ankertau von der Trommel ab. Taumelnd kämpfte der Angreifer um das Gleichgewicht. Die unkontrollierten Bewegungen der Goya wurden stärker.
Brav, altes Mädchen!, ermunterte Tolland sein Schiff.
Der Kämpfer hatte sich wieder gefangen. Er rannte auf Tolland zu. Tolland wartete bis zum letzten Moment; dann riss er wieder am Hebel. Krachend blockierte die einrastende Sperrklinke die Ankerwinde. Die Ankertrosse fierte straff wie eine Gitarrensaite.
Ein gewaltiger Ruck lief durchs Schiff. Was an Deck nicht niet- und nagelfest war, flog durch die Luft. Der Delta-Kämpfer wurde gegen die Ankerwinde geschleudert. Pickering strauchelte und fiel rückwärts aufs Deck. Der neun Tonnen schwere Triton schaukelte wie ein Spielzeug an seiner Aufhängung hin und her.
Aus dem Unterbau der Goya drang das markerschütternde Knirschen und Krachen von berstendem Metall. Während der beschädigte Träger mit den Erschütterungen eines Erdbebens zusammenbrach, sank vom Heck ausgehend die gesamte Steuerbordseite unter ihrem eigenen Gewicht ächzend in die Tiefe, als hätte ein riesiger Couchtisch ein Bein verloren. Der Lärm des berstenden Metalls und des in den Engpass rauschenden Wassers waren ohrenbetäubend.
Rachel hielt sich verbissen im Tauchboot fest, das über dem jetzt steil abfallenden Deck über der gähnenden Öffnung der Falltür pendelte. Unter sich konnte sie das Meer schäumen sehen. Als sie den Blick hob, um nach Tolland zu sehen, wurde sie Zeugin eines bizarren Dramas, das sich in Sekundenschnelle auf dem abschüssigen Deck entwickelte.
Nicht einmal einen Meter von ihr entfernt wurde der in den Klauen der Greifarme gefangene Delta-Kämpfer wie eine Stockpuppe herumgewirbelt. Er brüllte vor Schmerz. Pickering kroch unterdessen quer durch Rachels Blickfeld zu einer Klampe im Deck, um dort Halt zu finden. Tolland hatte sich am Ankerwindenhebel festgeklammert.
Rachel sah den Kämpfer mit der Maschinenpistole wieder auf die Beine kommen, doch er kümmerte sich nicht um Tolland.
Starr vor Schreck schaute er zu seinem mit laufenden Rotoren hinter dem Triton geparkten Kampfhubschrauber zurück, der mit seinen langen Landekufen auf dem schrägen Deck wie ein Schlitten ins Rutschen kam. Rachel sah die massige Maschine langsam dem Triton entgegenschlittern.
Delta-1 kroch hastig das schräge Deck hinauf und warf sich ins Cockpit. Das Fluchtvehikel durfte auf keinen Fall verloren gehen. Er jagte die Turbine auf Vollgas und riss am Knüppel.
Donnernd kamen die Rotoren auf Touren und zerrten an dem schwer bewaffneten Kampfgerät. Zunehmend schneller glitt der Hubschrauber auf das Tauchboot und den in seinen Klauen zappelnden Kämpfer zu. Nun heb schon ab!
Immer noch vorwärts gleitend begann der Hubschrauber mit steil nach unten zeigender Nase abzuheben. Delta-1 drückte den Knüppel auf höchste Steigleistung. Wenn er nur die halbe Tonne Raketenwaffen loswerden könnte, die ihn herunterzog! Wie eine riesige Kreissäge segelte er dem Triton entgegen. Die Rotorblätter verfehlten um Haaresbreite den Kopf von Delta-2. Die Kranaufhängung des Tauchboots verfehlten sie nicht.
Aus seinem gepanzerten Cockpit sah Delta-1 die Rotorblätter in das armierte Kranseil jagen. Ein blendender Funkenregen explodierte über ihm, während der Rotor kreischend in Stücke ging. Delta-1 spürte den Kiowa durchsacken. Die Landekufen polterten zweimal hintereinander hart auf das abschüssige Deck, bevor eine Schlittenfahrt die Schräge hinunter begann. Knirschend wurde sie von der stabilen Metallkonstruktion der Reling abgefangen.
Dann hörte Delta-1 das berstende Krachen. Der waffenstarrende Kampfhubschrauber neigte sich, kippte über die Deckkante und stürzte ins Meer.
Rachel Sexton presste sich wie gelähmt in den Sitz des Triton.
Der Rotor hatte wie durch ein Wunder das U-Boot verfehlt, jedoch schweren Schaden an der Aufhängung angerichtet. Rachel hatte nur noch den einen Gedanken, schleunigst aus dem Tauchboot herauszukommen.
Wo ist Michael? Rachel konnte ihn nicht sehen. Ihre Panik dauerte nur Sekunden, da legte sich schon eine neue Angst darüber.
Das angeschlagene Kranseil über ihr gab Unheil verkündende Geräusche von sich. Eine Drahtseilader nach der anderen riss.
Dann gab das Seil mit einem lauten Peitschenknall nach. Für Augenblicke schwerelos, schwebte Rachel im Sitz des nach unten fallenden Bootes. Das Deck verschwand über ihr, die Laufstege unter dem Schiff rasten vorbei. Der Mann in den Greiferklauen starrte mit aschfahlem Gesicht zu Rachel herein. Der Fall schien endlos.
Rachel wurde in die Polsterung des Sitzes geschleudert, als das Tauchboot unter der Goya in die aufschäumende See stürzte. Es tauchte einige Meter tief ins beleuchtete Wasser, das über der Glaskuppel zusammenschlug, um dann wie ein Korken wieder nach oben zu steigen.
Von ihrem Fensterplatz aus sah Rachel die Haie augenblicklich angreifen. Erstarrt in ihren Sitz gepresst wurde sie Zeugin, wie Delta-2 keinen Meter von ihr entfernt in einem grausamen Schauspiel in Stücke gerissen wurde.
Als die Rammstöße der knorpeligen Hammerköpfe gegen den Glasdom endlich erstarben, öffnete Rachel wieder die Augen.
Die Greifarme waren leer. Blutrotes Wasser spülte gegen die Kuppel.
Innerlich und äußerlich gebeutelt kauerte Rachel mit an die Brust gezogenen Knien in ihrem Sitz. Das Boot schrammte am Anlegesteg des Tauchdecks der Goya entlang. Es war nicht die einzige Bewegung, die Rachel spürte.
Das Boot bewegte sich auch nach unten.
Langsam kroch das Wasser an der Glaskuppel höher. Aus den Ballasttanks kam ein unüberhörbares Gurgeln.
Wie ein elektrischer Schlag jagte der Schreck durch Rachels Körper. Sie sprang auf und griff nach dem Handrad für die Verriegelung der Einstiegsluke. Wenn es ihr gelang, oben aufs Boot zu klettern, konnte sie leicht den halben Meter zum Tauchdeck der Goya hinüberspringen.
Rachel wuchtete in der angegebenen Richtung am
Handrad. Es ließ sich keinen Millimeter bewegen. Sie versuchte es
erneut. Der Mechanismus war offensichtlich blockiert. Nichts rührte
sich.
Der Triton sank wieder ein paar Zentimeter tiefer, rumpelte noch einmal gegen die Goya und trieb dann unter dem abgesackten Heck hervor ins offene Meer hinaus.
125
Senator Sexton war mit dem Kopieren fertig.
»Bitte, tun Sie das nicht!«, flehte Gabrielle ihn an. »Sie setzen das Leben Ihrer Tochter aufs Spiel.«
Sexton schien sie gar nicht zu hören. Mit zehn identischen Stößen von Fotokopien in der Hand ging er zu seinem Schreibtisch.
Jeder Stoß bestand aus Kopien der Blätter, die Rachel ihm per Fax geschickt hatte, einschließlich ihrer Notiz, in der sie den Meteoriten als Betrug bezeichnet und NASA und Weißes Haus beschuldigt hatte, sie töten zu wollen.
Die schockierendste Pressemappe, die je zusammengestellt wurde, dachte Sexton, während er die Stöße einzeln in große weiße Umschläge steckte. Jeder Umschlag trug seinen Namen, seine Büroadresse und sein Senatsemblem. Über die Herkunft dieser unglaublichen Enthüllungen konnten keine Zweifel aufkommen. Das wird der politische Skandal des Jahrhunderts, und du hast ihn aufgedeckt.
Gabrielle bedrängte ihn immer noch wegen Rachels Sicherheit, doch Sexton hatte Wachs in den Ohren. Beim Zurechtmachen der Umschläge hatte er sich in seiner eigenen Welt abgekapselt.
Jede politische Karriere
hat einen entscheidenden Moment, und heute ist der deinige.
William Pickering hatte Sexton wegen der Gefahr für Rachels Leben vor der Veröffentlichung des Materials gewarnt. Zu Rachels Pech wusste Sexton aber auch, dass ihn die Veröffentlichung des Betrugs der NASA mit einer in der amerikanischen Politik nie da gewesenen Bravour ins Weiße Haus tragen würde.
Das Leben ist voller schwieriger Entscheidungen. Wer zu den Gewinnern gehören will, muss sich entscheiden können.
Gabrielle Ashe fürchtete den Ausdruck von blindem Ehrgeiz in Sextons Augen mit gutem Grund, wie sie wieder einmal feststellen musste. Sexton scheute offenbar nicht davor zurück, den Betrug der NASA gegebenenfalls auch um den Preis des Lebens seiner Tochter an die große Glocke zu hängen.
»Sehen Sie denn nicht, dass Sie schon gewonnen haben?«, gab Gabrielle eindringlich zu bedenken. »Weder die NASA noch Zach Herney werden diesen Skandal überleben, egal, wer ihn an die Öffentlichkeit bringt, und egal wann. Warten Sie, bis Sie wissen, dass Rachel in Sicherheit ist! Warten Sie, bis Sie mit Pickering gesprochen haben!«
Sexton nahm Gabrielle nicht mehr wahr. Er zog die Schreibtischschublade auf und entnahm ihr eine Trägerfolie mit Dutzenden darauf haftender münzgroßer Wachssiegel, die seine Initialen trugen. Gabrielle wusste, dass er die Siegel normalerweise nur für formelle Einladungsschreiben benutzte, aber er war augenscheinlich der Meinung, dass der siegelrote Wachsklecks, den er von der Trägerfolie abzog, um damit die Lasche der Kuverts wie eine vertrauliche Mitteilung zu verschließen, seiner Enthüllung eine besonders dramatische Note verlieh.
Gabrielle dachte zornig an die digital
abgespeicherten illegalen Schecks in Sextons Computer, doch damit
zu drohen verbot sich von selbst, denn Sexton würde die Beweise
sofort löschen.
»Gehen Sie nicht an die Öffentlichkeit«, sagte sie, »sonst mache ich unsere Sexaffäre publik.«
Sexton lachte laut auf. »Das würden Sie tun? Glauben Sie denn, jemand würde Ihnen auch nur ein Wort glauben – einer rachsüchtigen machtgeilen Hilfskraft, die in meinem Regierungsteam keinen Job bekommen hat? Ich habe unsere Affäre abgestritten, und alle Welt hat mir geglaubt. Ich werde einfach wieder alles abstreiten.«
»Das Weiße Haus hat Fotos«, erklärte Gabrielle.
Sexton, der immer noch Umschläge siegelte, hob nicht einmal den Blick. »Die haben keine Fotos, und wenn sie welche hätten, sind sie wertlos.« Er klebte das letzte Siegel auf. »Ich genieße Immunität. Diese Umschläge sind meine Trumpfkarte. Daran prallt alles ab, egal wer oder womit man mir am Zeug flicken will.«
Gabrielle wusste, dass er Recht hatte. Mit dem Gefühl völliger Hilflosigkeit sah sie Sexton sein Werk bewundern. Auf seinem Schreibtisch lagen zehn elegante Umschläge mit roten Wachssiegeln. Sie sahen aus wie königliche Depeschen.
Sexton ergriff den Stapel Umschläge und machte sich auf den Weg zur Tür. Gabrielle vertrat ihm den Weg. »Sie machen einen Fehler. Das hat noch Zeit.«
Sextons Blick war stechend. »Gabrielle, ich habe Sie aus dem Nichts geholt, und jetzt lasse ich Sie wieder dorthin zurückfallen.«
»Rachels Fax macht Sie zum Präsidenten. Sie
stehen in ihrer Schuld!«
»Ich bin ihr nichts schuldig.«
»Und wenn ihr etwas passiert?«
»Dann treibt sie mir die Sympathiewähler zu.«
Gabrielle wollte nicht glauben, dass er sich diesen Gedanken zu Eigen machen, geschweige denn aussprechen würde. Angeekelt griff sie nach ihrem Telefon. »Ich rufe jetzt das Weiße…«
Sexton holte aus und schlug sie mit der flachen Hand ins Gesicht. Gabrielle taumelte rückwärts gegen die Wand. Ihre Lippe war aufgeplatzt. Fassungslos betrachtete sie den Mann, den sie einst bewundert hatte.
In Sextons Augen glühte ein gefährliches kaltes Feuer. Die versiegelten Umschläge unter dem Arm, hatte er sich in Positur geworfen. Er musterte Gabrielle mit kaltem Blick. »Wenn Sie auch nur im Traum daran denken, mir Knüppel zwischen die Beine zu werfen, mache ich Sie so fertig, dass es Ihnen für den Rest Ihres Lebens Leid tun wird.«
Als Gabrielle aus dem Bürogebäude in die kalte Nachtluft trat, blutete ihre Lippe immer noch. Sie winkte ein Taxi heran. Nachdem sie in den Sitz gesunken war, brach sie weinend zusammen – das erste Mal seit ihrer Ankunft in Washington.
126
Michael Tolland rappelte sich auf dem abgesackten Deck der Goya auf die Knie hoch. Über die Ankerwinde hinweg sah er 588
dort, wo eigentlich der Triton hängen sollte, aufgespleißte Drahtseilenden. Er schnellte herum und suchte das Wasser ab. In diesem Moment trieb das Tauchboot unter der Goya hervor. Erleichtert stellte Tolland fest, dass es noch intakt war. Er wünschte sich nichts sehnlicher, als die Luke aufklappen und Rachel unversehrt heraussteigen zu sehen. Doch der Lukendeckel blieb geschlossen. Tolland fragte sich, ob Rachel bei dem heftigen Absturz vielleicht ohnmächtig geworden war.
Das Tauchboot lag ein ganzes Stück tiefer im Wasser als sonst.
Der Triton sinkt! Tolland konnte sich nicht vorstellen, weshalb, aber das war im Moment auch unerheblich.
Du musst Rachel herausholen, und zwar sofort.
Als Tolland sich aufrichten wollte, um zum Heck zu eilen, explodierte ein Kugelhagel über seinem Kopf. Er ließ sich wieder auf die Knie fallen und spähte hinter der Ankerwinde hervor. Er sah Pickering mit der Maschinenpistole, die der Delta-Kämpfer bei seinem Sprint zum Hubschrauber weggeworfen hatte, auf dem Oberdeck stehen. Wie ein Jäger auf dem Hochsitz nahm er Tolland ins Visier.
Tolland war hinter der Ankerwinde festgenagelt. Er schaute hinter sich zum sinkenden Tauchboot. Rachel, nun komm schon raus! Er wartete darauf, den Lukendeckel hochklappen zu sehen.
Nichts rührte sich.
Er schätzte die Entfernung zwischen seinem Versteck und der Heckreling. Sechs Meter. Ohne Deckung ein sehr langer Weg.
Tolland legte sich einen Plan zurecht. Er holte tief Luft, riss sich das Hemd vom Leib und schleuderte es aufs offene Deck.
Während Pickering das Hemd mit Kugeln durchsiebte, stürmte Tolland zur anderen Seite die Schräge des Decks hinab. Mit einem kühnen Sprung hechtete er über die Reling ins Meer. Während er noch durch die Luft flog, hörte er um sich herum die Geschosse pfeifen. Der kleinste Streifschuss würde ihn zum Festmahl für die Haie machen.
Rachel Sexton kam sich vor wie ein Tier im Käfig. Wieder und wieder hatte sie vergebens versucht, die Luke aufzubekommen.
Sie spürte, wie das Tauchboot allmählich schwerer wurde. Irgendwo hinter sich konnte sie Wasser in einen Tank plätschern hören. Draußen stieg die Dunkelheit des Ozeans wie ein sich langsam hochrollender schwarzer Vorhang zentimeterweise an der Glaskuppel empor.
Durch die untere Hälfte des Glases starrte Rachel in die Leere des tiefen Wassers, die sie zu verschlingen drohte. Noch einmal packte sie das Handrad und versuchte es aufzudrehen, doch es klemmte nach wie vor. Das Atmen wurde allmählich mühsam, und der schwere, feuchtnasse Geruch der mit Kohlensäure übersättigten Luft stach ihr in der Nase.
Du wirst mutterseelenallein unter Wasser sterben.
Sie probierte sämtliche Hebel und Schalter des Armaturenbretts, doch die Anzeigen blieben dunkel. Das Boot hatte keinen Strom. Rachel war in einem toten Stahlgehäuse eingeschlossen, das langsam zum Meeresgrund sank.
Das Gurgeln in den Tanks schien sich zu verstärken. Der Wasserspiegel stand nur noch ungefähr einen knappen halben Meter unter der höchsten Stelle der Glaskuppel. In der Ferne kroch über der endlosen Wasserfläche ein rotes Band über den Horizont. Die Morgendämmerung begann. Rachel musste befürchten, dass es das letzte Licht sein würde, das sie zu sehen bekam.
Sie schloss die Augen vor dem unabwendbar
drohenden Schicksal, doch die schrecklichen Bilder aus der Kindheit
brachen sich Bahn.
Der Fall durchs Eis. Unter das Eis gezogen werden. Keine Luft. Nicht mehr hochkommen. Sinken. Die Rufe der Mutter. »Rachel! Rachel!«
Ein Pochen an der Außenwand des Tauchboots riss Rachel aus ihrem Tagtraum. Sie schlug die Augen auf.
»Rachel!« Die Stimme klang fern und gedämpft. In der Dunkelheit kaum zu erkennen, schaute ein geisterhaftes Gesicht, von dunklem Haar umwallt, von oben verkehrt herum zu ihr in die Glaskuppel herab.
»Michael!«
Tolland tauchte auf. Erleichtert holte er Luft. Rachel bewegt sich noch. Sie lebt! Mit kräftigen Zügen schwamm er zum Heck des Triton und kletterte auf das Maschinengehäuse. Er klammerte sich mit den Füßen fest. Tief geduckt packte er das Handrad des Lukenverschlusses. Hoffentlich war er inzwischen außer Schussweite von Pickerings Waffe.
Das Tauchboot lag nun schon fast ganz unter Wasser. Tolland wusste, dass er sich beeilen musste, wenn er die Luke öffnen und Rachel herausziehen wollte. Das Cockpit ragte nur noch fünfundzwanzig Zentimeter aus dem Wasser. Sobald die Luke sich unter der Oberfläche befand, würde beim Öffnen sofort Wasser einströmen und das Boot mit der dann gefangenen Rachel in die Tiefe sinken lassen.
Jetzt oder nie! Tolland wuchtete am Handrad. Es rührte sich nicht. Er probierte es noch einmal mit aller Kraft, aber wieder vergeblich.
Er konnte Rachels gepresste Stimme hören. Sie war gedämpft, doch ihre Angst war unüberhörbar. »Ich habe alles versucht«, rief sie, »aber ich kann das Rad nicht drehen.«
Das Wasser schwappte schon über die Luke. »Zusammen!«, rief Tolland. Die Drehrichtung war innen und außen markiert. »Und jetzt!«
Tolland konnte hören, dass Rachel sich genauso verbissen anstrengte wie er selbst. Das Rad drehte sich ein paar Zentimeter, dann blockierte es endgültig.
Jetzt konnte Tolland den Grund dafür erkennen. Der Lukendeckel saß nicht symmetrisch in seinem Sockel. Er hatte sich wie ein mit Gewalt schief zugeschraubter Dosendeckel verklemmt.
Die Gummidichtung hielt zwar das Wasser ab, aber die Halteklauen hatten sich beim Zuschlagen des schweren Deckels verbogen. Hier konnte nur noch ein Schweißbrenner helfen.
Der Triton war inzwischen ganz unter die Wasseroberfläche gesunken. Die Angst, Rachel würde nicht mehr aus dem Tauchboot herauskommen, drohte Tolland zu überwältigen.
Als Gefangener der Schwerkraft und des mächtigen Sogs des Tiefenwirbels war der schwer bewaffnete Kiowa-Kampfhubschrauber auf einer spiralförmigen Bahn schon sechshundert Meter in die Tiefe gesunken. Der vom zerstörerischen Wasserdruck deformierte Leichnam im ebenfalls deformierten Cockpit hatte jede Ähnlichkeit mit Delta-1 verloren.
Auf dem Meeresgrund wartete der Magmadom wie ein rot glü-
hender Hubschrauberlandeplatz auf das Fluggerät mit seinen feuerbereiten Hellfire-Raketen. Unter einer drei Meter dicken Gesteinskruste kochte die eintausend Grad heiße Lava wie ein Vulkan vor dem Ausbruch.
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Tolland stand auf dem Maschinengehäuse des sinkenden Tauchboots. Das Wasser reichte ihm schon bis an die Knie. Er zermarterte sich das Hirn, wie er Rachel retten könnte.
Er schaute zurück zur Goya und überlegte, ob er irgendwie eine Trosse am Tauchboot festmachen könnte, um es wenigstens nahe an der Wasseroberfläche zu halten. Bis zur Goya waren es inzwischen über hundert Meter. Unmöglich. Außerdem stand Pickering hoch oben auf der Brücke und schaute dem Spektakel von seinem Logenplatz aus zu wie ein römischer Kaiser einer blutigen Darbietung im Kolosseum.
Denk nach! Warum sinkt das Boot?
Waren die Flutventile aus irgendeinem Grund nicht geschlossen? Tolland tauchte und fühlte einen der beiden Ballasttanks ab.
Die Ventile waren geschlossen, aber er fühlte etwas anderes.
Einschusslöcher. Dutzende. Der Triton ging auf Tauchfahrt, ob es Tolland passte oder nicht.
Das Boot lag jetzt knapp einen Meter unter der Wasseroberfläche. Tolland schwamm zum Bug, presste das Gesicht gegen das Glas und schaute hinein. Rachel trommelte schreiend mit den Fäusten gegen die Wände ihres Gefängnisses. Die Angst in ihrer Stimme verstärkte Tollands Gefühl der Machtlosigkeit. Schlagartig war er wieder in einer Klinik und sah der Frau, die er liebte, beim Sterben zu, wohl wissend, dass er nichts dagegen tun konnte. Das würde er kein zweites Mal ertragen können. Du bist ein Überlebenskünstler, hatte Celia zu ihm gesagt, doch Tolland wollte nicht alleine überleben… nicht wieder.
Seine Lungen schrien nach Luft, aber er blieb
bei Rachel. Bei jedem ihrer Schläge gegen das Glas hörte Tolland
Luftblasen blubbern; das Boot sank tiefer. Rachel schrie etwas von
eindringendem Wasser. Als Tollands Hand über den Rand der großen
Acrylkuppel glitt, fühlte er ein loses Stück der Abdichtung. Die
vorn aufgesetzte Glashalbkugel hatte sich vermutlich beim Sturz ins
Meer verschoben, sodass jetzt Wasser ins Cockpit des Triton
eindrang. Eine Katastrophenmeldung
mehr.
Tolland tauchte hastig auf, holte dreimal tief Luft und versuchte seine Gedanken zu ordnen. Das eindringende Wasser würde das Sinken beschleunigen. Der Triton lag jetzt schon so tief im Wasser, dass Tolland ihn mit den Füßen kaum noch erreichen konnte.
Eines hätte er tun können. Wenn er tauchte und die Pressluftflasche im Maschinengehäuse fand, konnte er den durchlöcherten Ballasttank mit Luft füllen. Das wäre zwar letzten Endes vergeblich, aber das Tauchboot könnte sich vielleicht ein paar Minuten länger in der Nähe der Wasseroberfläche halten.
Und was dann!
Tolland wollte es versuchen. Während er die Lungen bis zur Schmerzgrenze voll pumpte, kam ihm plötzlich ein verwegener Gedanke.
Und wenn er den Druck im Cockpit erhöhte? Die Acrylkuppel hatte eine beschädigte Dichtung. Wenn es möglich war, den Innendruck ausreichend zu erhöhen, konnte er vielleicht die ganze Kuppel absprengen und Rachel auf diese Weise befreien.
Wassertretend bedachte er den Plan. Er war logisch. Ein Tauchboot muss dem Druck nur in einer Richtung widerstehen können, nämlich von außen. Druck von innen braucht es nicht auszuhalten. Wegen der vereinfachten Ersatzteilhaltung war der Triton mit einheitlichen Schnappverschlüssen für sämtliche Druckluftsysteme ausgerüstet. Die Pressluftflasche ließ sich mit ihrem Druckschlauch an das Notbelüftungssystem an der Steuerbordseite des Tauchboots anschließen! Tolland wusste, dass das Experiment für Rachel sehr schmerzhaft werden würde, aber es war seine letzte Hoffnung, sie aus dem Boot zu bekommen.
Er holte tief Luft und tauchte.
Das Boot hing jetzt auf knapp zwei Meter Tiefe. Obwohl Dunkelheit und Strömung die Orientierung erschwerten, fand Tolland den Druckzylinder ziemlich schnell. Er nahm den Druckschlauch und schloss ihn an der Cockpitnotbelüftung an.
Als er nach dem Handrad des Druckventils griff, erinnerte ihn die gelbe Leuchtschrift auf der Pressluftflasche an die Gefährlichkeit seines Vorhabens: VORSICHT. PRESSLUFT. 200 BAR.
Tolland musste sich darauf verlassen, dass der Druck die Kuppel löste, bevor Rachels Lungen Schaden nahmen. Auf dem Maschinengehäuse liegend drehte er vorsichtig, aber entschlossen das Ventil auf. Der Druckschlauch wurde sofort hart. Tolland hörte die Luft mit enormer Kraft ins Cockpit zischen.
In Rachels Ohren explodierte ein stechender Schmerz. Sie öffnete den Mund, um zu schreien, doch der Druck verstopfte ihr die Kehle. Sie hatte das Gefühl, die Augäpfel würden ihr ins Hirn gepresst. Instinktiv schloss sie die Augen und drückte die Handflächen gegen die Ohren. Der stechende Schmerz nahm weiter zu. Sie spürte die nahende Ohnmacht.
Vor sich hörte sie ein Klopfen. Mit größter Anstrengung öffnete sie die Augen. Michael Tollands Silhouette schwebte im dunklen Wasser, sein Gesicht war ans Glas gepresst. Er gab ihr aufgeregt Zeichen, etwas Bestimmtes zu tun.
Aber was?
Rachel konnte in der Finsternis so gut wie nichts mehr erkennen, zumal der Druck ihr Sehvermögen zusätzlich einschränkte.
Der letzte Schimmer der Unterwasserscheinwerfer der Goya war verblasst. Rachel schwebte in einen bodenlosen Abgrund.
Tolland hatte sich an die Kuppel geklammert und pochte dagegen. Seine Brust brannte vor Luftmangel. In ein paar Sekunden musste er wieder zur Oberfläche.
Stemm dich gegen das Glas, Rachel! Er hörte irgendwo Luft aus der Kuppeldichtung zischen und als Blasen in die Höhe blubbern.
Die Dichtung saß nicht mehr fest. Tolland versuchte eine Kante zu ertasten, wo er die Finger dazwischenbekommen und ziehen konnte, doch erfolglos.
Sein Sauerstoff war verbraucht. Während schon der Tunnelblick einsetzte, pochte er ein letztes Mal ans Glas. Er konnte Rachel vor Dunkelheit inzwischen nicht einmal mehr sehen. Mit dem letzten Rest Luft in den Lungen schrie er ins Wasser:
»Stemm… dich… gegen… das… Glas!«
Seine Worte waren ein unverständliches Blubbern.
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Rachel hatte das Gefühl, der Kopf würde ihr auf einer mittelalterlichen Folterbank zerquetscht. Halb aufgerichtet neben dem Sitz stehend, spürte sie den nahenden Tod. Das halbkugelige Blickfeld der Beobachtungskuppel vor ihr war leer. Das Pochen hatte aufgehört. Tolland war fort. Er hatte sie verlassen.
Die über ihrem Kopf zischende Pressluft erinnerte sie an den Fallwind auf dem Milne-Gletscher. Auf dem Boden des Cockpits stand das Wasser dreißig Zentimeter hoch. Ich will raus! Tausende von Gedanken und Erinnerungsfetzen schossen ihr wie violette Lichtblitze durch den Kopf.
Unvermutet krängte das Boot. In der Finsternis verlor Rachel das Gleichgewicht. Sie fiel nach vorn, streifte den Sitz und prallte mit der Schulter schmerzhaft gegen die Glaskuppel. Völlig unerwartet minderte sich schlagartig der Druck im Cockpit. Rachels Trommelfelle registrierten dankbar eine spürbare Entlastung. Sie hörte, wie gurgelnd ein Luftschwall entwich.
Rachel begriff augenblicklich, was geschehen war. Die Dichtung der Glaskuppel saß nicht mehr fest! Die Kuppel hatte sich gelockert. Plötzlich verstand sie, warum Tolland den Innendruck erhöht hatte. Der Druck stieg wieder; diesmal aber war es Rachel willkommen, auch wenn sie sich der Ohnmacht gefährlich nahe fühlte. Sie rappelte sich hoch und stemmte sich mit aller Kraft gegen das Glas. Diesmal aber gurgelte nichts; der Glasdorn bewegte sich kaum.
Noch einmal warf sie sich mit der Schulter dagegen. Wieder nichts. Die Wunde am Oberarm schmerzte, aber das Blut fühlte sich trocken an. Als sie es noch einmal versuchen wollte, begann das manövrierunfähige Boot ohne Vorankündigung nach hinten zu kippen. Die voll gelaufenen Trimmtanks hatten dem Gewicht der hinten liegenden Maschinerie nichts mehr entgegenzusetzen.
Der Triton sank mit dem Heck voraus.
Rachel fiel mit dem Rücken gegen die Rückwand
des Cockpits.
Vom Bilgenwasser umströmt, starrte sie nach oben in die Nachtschwärze der leckgeschlagenen Kuppel. Ihr Körper war schwer und leblos. Sie zwang sich aufzustehen und in den Sitz zu klettern. Wieder rasten ihre Gedanken in die Vergangenheit zur eisigen Umklammerung des zugefrorenen Flusses.
»Nicht aufgeben, Rachel«, rief ihre Mutter, die sie gepackt hatte und aus dem Wasser zu ziehen versuchte.
Rachel schloss die Augen. Ich sinke. Die Schlittschuhe zogen sie wie Bleigewichte herunter. Sie sah ihre Mutter auf dem Eis liegen, Arme und Beine von sich gestreckt, um das Gewicht zu verteilen.
»Stoß dich ab, Rachel! Stoß mit den Füßen!«
Rachel stieß sich ab, so gut sie konnte. Sie hob sich ein winziges Stück aus dem eisigen Loch. Ein Hoffnungsfunke blitzte auf.
Die Mutter packte sie fester.
»Ja!«, rief die Mutter. »Hilf mir, dich zu heben! Stoß mit den Füßen!«
Während die Mutter von oben zog, stieß Rachel sich mit letzter Kraft unten vom Grund ab. Es war gerade so viel, dass ihrer Mutter es schaffen konnte, das Mädchen aus der Gefahr zu ziehen. Sie schleppte die tropfnasse Rachel bis zum verschneiten Ufer. Erst dort fing sie zu weinen an.
In der Finsternis des sinkenden Tauchboots glaubte Rachel deutlich die Stimme ihrer Mutter zu hören.
Stoß mit den Füßen!
Rachel zog die Knie an, so stark sie konnte, und ließ die Füße mit einem verzweifelten Schrei der Anstrengung nach oben gegen die Mitte der Glaskuppel schnellen. Der Schmerz des Aufpralls schoss wie ein Lanzenstich durch ihre Beine bis in den Kopf. Es donnerte in ihren Ohren. Heftig rauschend entwich der Überdruck. An der linken Seite löste sich die Kuppel von ihrer Dichtung und schwang auf wie ein Scheunentor.
Eine Sturzflut toste auf Rachel hinunter, presste sie in den Sitz, packte sie aber sogleich von unten und wirbelte sie im Cockpit umher wie einen Socken in der Waschtrommel. Sie spürte das Tauchboot in den freien Fall übergehen. Ihr Körper wurde nach oben geschleudert, doch sie hing irgendwo fest. Von einem Strudel aus Luftblasen umspült, gewann sie Auftrieb. Ein harter Acrylglasrand schlug gegen ihre Hüfte.
Plötzlich war sie frei.
In einem Purzelbaum torkelte sie in die endlose schwarze Wärme des Ozeans. Ihre Lungen schrien jetzt schon nach Luft. Nach oben! Ans Licht! Rachels Augen suchten die Helligkeit, sahen aber keine. Die Welt war in jeder Richtung von gleichmäßigem nassem Schwarz. Keine Schwerkraft, kein Oben, kein Unten…
In diesem furchtbaren Augenblick wurde Rachel klar, dass sie nicht wusste, in welche Richtung sie schwimmen musste.
Mehr als fünfzehnhundert Meter unter Rachel wurde der sinkende Kampfhubschrauber vom gnadenlosen Druckanstieg schrecklich zugerichtet. Die stromlinienförmige Kupferummantelung der Aufschlagzünder der fünfzehn noch nicht verschossenen panzerbrechenden AGM 114 Hellfire-Raketen beulte sich gefährlich ein.
Dreißig Meter über dem Grund packte der kraftvolle Zentralwirbel des Megaplumes die Überreste des Hubschraubers und schleuderte sie auf die rot glühende Kruste des Magmadoms. Die Raketen explodierten wie Streichhölzer in einer Schachtel. Die Kettenexplosion riss ein großes Loch in den Magmadom.
Michael Tolland war zum Luftholen an die Oberfläche gekommen und sofort wieder abgetaucht. Fünf Meter unter Wasser spähte er verzweifelt nach dem Tauchboot in die Dunkelheit, als die Raketen explodierten. Ein weißer Explosionsblitz flammte tief unter ihm auf und lieferte eine Momentaufnahme, die Tolland sein Lebtag nicht vergessen würde.
Wie eine Marionette an verhedderten Schnüren hing Rachel drei Meter unter ihm im Wasser. Der Triton fuhr mit dem Heck voran und mit offener Kuppel rasch in die Tiefe. Die Haie schienen Gefahr zu wittern und waren rudelweise auf der Flucht ins offene Meer.
Tollands Freude, dass Rachel dem Tauchboot entkommen war, wurde augenblicklich von der Vorahnung überschattet, was unmittelbar bevorstand. Er prägte sich Rachels Position ein und tauchte ihr mit kräftigen Schwimmstößen entgegen.
In der Tiefe zerbarst die Kruste des Magmadoms. Eine Unterwassereruption spie zwölfhundert Grad heißes Magma in die See.
Alles Wasser, das mit der glühenden Lava in Berührung kam, verdampfte augenblicklich und schoss als Dampfsäule durch die Mittelachse des Megaplumes der Oberfläche entgegen. Der entweichende Dampf erzeugte ein gewaltiges Vakuum, das Millionen von Kubikmetern Meerwasser nach unten saugte, wo es am Grund mit der glühenden Lava in Verbindung kam und ebenfalls verdampfte. Die hochschießende Dampfsäule versorgte sich selbst mit Nachschub, wuchs und wuchs und zog noch mehr Wasser nach unten. Der durchs nachströmende Wasser verstärkte Unterwasserwirbel baute sich von Sekunde zu Sekunde höher auf und schob seinen oberen Rand langsam der Oberfläche entgegen.
Ein ozeanisches schwarzes Loch war geboren.
Von der warmen nassen Dunkelheit umhüllt, fühlte Rachel sich wie im Mutterleib. In ihrem Kopf wirbelte alles durcheinander.
Atmen. Noch widersetzte sie sich dem Reflex. Der Lichtblitz, den sie soeben gesehen hatte, konnte nur von der Oberfläche gekommen sein, auch wenn er von merkwürdig weit herzukommen schien. Bestimmt eine Täuschung. Los, zur Oberfläche! Sie schwamm in Richtung des Lichts. Jetzt sah sie noch mehr Licht in der Ferne, ein gespenstisch rotes Glühen. Morgenrot?
Eine Hand packte sie am Fußknöchel und zog sie rückwärts.
Sie wurde umgedreht und an der Hand genommen. Sie kannte die Hand. Michael Tolland war gekommen und zog sie in die andere Richtung.
Rachels Verstand sagte, dass er sie in die falsche Richtung zog.
Ihr Herz aber sagte, dass er wusste, was er tat.
Stoß mit den Füßen!, flüsterte die Stimme ihrer Mutter.
Rachel ruderte mit den Beinen, so kräftig sie konnte.
129
Tolland und Rachel durchstießen die Wasseroberfläche.
Tolland wusste, dass es trotzdem vorbei war. Der Magmadom ist explodiert. Sobald der Unterwasserwirbel zur Oberfläche durchgebrochen war, würde ein riesiger Wassertornado alles nach unten ziehen. Seltsamerweise war es hier oben nicht mehr so ruhig wie noch vor ein paar Minuten. Es herrschte ohrenbetäubender Lärm. Wind peitschte das Wasser. War in den wenigen Minuten, die er unter Wasser war, ein Sturm ausgebrochen?
Tolland war vom Sauerstoffmangel völlig benommen. Er versuchte Rachel über Wasser zu halten, doch sie wurde aus seinen Armen gerissen. Die Strömung! Tolland versuchte Rachel festzuhalten, aber die unsichtbare Kraft, die sie ihm zu entreißen drohte, wurde rasch stärker. Rachel entglitt ihm nun völlig – aber nach oben!
Fassungslos sah Tolland, wie Rachel sich aus dem Wasser erhob.
Das Osprey-Schwenkflügelflugzeug der Küstenwache schwebte über dem Wasser und zog Rachel mit der Rettungswinde an Bord. Vor zwanzig Minuten war der Küstenwache eine Explosion auf offener See gemeldet worden. Da der Kontakt zum Dolphin-Hubschrauber abgerissen war, der sich irgendwo in dem angegebenen Gebiet befinden sollte, hatte man einen Unfall befürchtet. Die Männer hatten die letzten Positionskoordinaten des Hubschraubers in ihr Navigationssystem eingegeben und waren auf gut Glück losgeflogen.
Einen knappen Kilometer von der beleuchteten
Goya entfernt hatten sie ein Feld
brennender Wrackteile in der Strömung treiben sehen, die nach einem
Schnellboot aussahen. In der Nähe schwamm ein Mann im Wasser und
winkte wie besessen. Die Retter hatten ihn mit der Winde an Bord
geholt. Er war splitternackt; nur ein Bein war mit Aluband
umwickelt.
Tolland schaute erschöpft zu dem Rettungsflugzeug hinauf, dessen waagerecht gestellte Propeller wütende Böen herunterfegen ließen. Rachel war von zahllosen entgegengestreckten Händen ins Flugzeuginnere geholt worden. Tolland sah eine vertraute Gestalt halb nackt aus der Luke herunterschauen.
Corky! Er lebt!
Von oben wurde Tolland das Rettungsgeschirr zugeworfen. Es klatschte drei Meter neben ihm aufs Wasser. Tolland versuchte hinzuschwimmen, doch der gnadenlose Sog des Wasserwirbels hatte ihn gepackt und zog ihn unter Wasser.
Er kämpfte sich zurück zur Oberfläche, doch das Rettungsgeschirr war nach wie vor außer Reichweite. Die Erschöpfung drohte ihn zu überwältigen. Beim Blick hinauf zur rettenden Maschine sah er Rachel zu sich herunterschauen. Ihre Augen hatten sich an ihm festgesaugt und schienen ihn zu sich heraufziehen zu wollen.
Tolland fand die Kraft zu vier mächtigen Schwimmschlägen.
Unter Aufbietung der allerletzten Energie wand er sich in die Schlaufe; dann verließen ihn die Kräfte.
Während Tolland nach oben schwebte, öffnete sich im Wasser ein gähnendes Loch. Der Siphon des Megaplumes war bis zur Oberfläche durchgestoßen.
William Pickering stand auf der Brücke der
Goya. Mit fassungslosem Entsetzen verfolgte
er das Naturschauspiel, das sich um ihn herum entfaltete. Ein Stück
hinter dem Heck der Goya bildete sich an
Steuerbord eine Senke von mehreren hundert Metern Durchmesser in
der Wasseroberfläche, die rasch größer wurde.
Das Meerwasser strömte in enger werdenden Kreisen der Senke zu und floss mit gespenstischer Geschwindigkeit über den Rand in die Vertiefung. Aus der Tiefe erklang ein mächtiges, dumpfes Brausen. Verständnislos sah Pickering den Rand der Senke auf sich zugleiten wie die Lippe des aufklappenden Mauls eines hungrigen Gottes, der sich ein Opfer holt, während sich in der Mitte gleich einem Schlund ein Siphon öffnete.
Das musst du träumen, dachte Pickering.
Da brach aus der Mitte des Strudels explosionsartig ein gigantischer zischender Dampfpilz und riss mit einem Donnerschlag einen kolossalen Geysir in die Höhe, dessen Spitze in der Düsternis nicht mehr auszumachen war.
Der Trichter wurde schlagartig tiefer und steiler, sein Umfang immer größer. Die Trichterkante fraß sich über das Wasser der Goya entgegen. Das Heck schwang hart herum. Pickering verlor das Gleichgewicht und fiel auf die Knie. Wie ein Kind vor seinem Schöpfer starrte er in den gähnenden Schlund.
Seine letzten Gedanken weilten bei seiner Tochter Diana. Er betete darum, dass sie vor ihrem Tod nicht so viel Angst auszustehen gehabt hatte wie er.
Die Druckwelle des Dampfausbruchs schleuderte den Osprey-Schwenkflügler aus der Bahn. Tolland und Rachel hielten sich aneinander fest, während der Pilot die Maschine stabilisierte und in einer tiefen Kurve über die Goya hinwegzog. Sie sahen William Pickering – den Quäker – in schwarzem Mantel und Krawatte an der obersten Reling des dem Untergang geweihten Schiffes knien.
Als das Heck der Goya über die Kante des riesigen Trichters kippte, riss das Ankertau. Den Bug in die Höhe gereckt, glitt das Schiff rückwärts über die wässrige Schwelle und begann eine steile Fahrt die rotierende Wasserwand hinab, bis es vom Meeresstrudel verschluckt wurde. Als die Goya im Wasser verschwand, brannten ihre Lichter noch immer.
130
Der Morgen in Washington war frisch und klar. Die Brise fegte einen Blätterwirbel um das Fundament des Washington Monument. Normalerweise erwachte der größte Obelisk der Welt angesichts seines friedlichen Spiegelbilds im Teich der Mall, doch der heutige Morgen hatte ihm ein Getümmel emsiger Journalisten beschert, die sich aufgeregt und gespannt vor seinem Sockel drängten.
Als Senator Sedgewick Sexton aus seiner Limousine stieg und zum Podium schritt, das für ihn am Fuß des Denkmals aufgebaut worden war, kam er sich größer und bedeutender vor als George Washington selbst. Er hatte die zehn größten Fernsehsender der Nation eingeladen und ihnen den Skandal des Jahrzehnts versprochen.
Die Geier wittern das Aas, dachte Sexton.
Er trug den Stapel der zehn weißen, mit seinem
eleganten wächsernen Monogrammsiegel versehenen Umschläge vor sich
her. Wenn Information Macht bedeutete, hielt Sexton einen
Atomsprengkopf in Händen.
Wie im Rausch schritt er zum Podium. Erfreut stellte er fest, dass zur Ausstattung der improvisierten Bühne auch drei »Fame Frames« gehörten – große, frei stehende Stellwände aus marineblauem Tuch im Hintergrund und rechts und links vom Rednerpult. Es war ein alter Trick aus dem Repertoire von Ronald Reagan, der dafür sorgte, dass der Redner sich deutlich und vorteilhaft abhob.
Sexton stieg von rechts aufs Podium. Wie ein Schauspieler trat er aus der Gasse auf die Bühne. Die Journalisten nahmen eilig Platz auf den Reihen der vor dem Podium aufgestellten Klappstühle. In diesem Moment erhob sich im Osten die Sonne über der Kuppel des Kapitols. Ihre rosa und goldenen Strahlen tauchten Sexton in ein himmlisches Licht.
Genau der richtige Tag, um der mächtigste Mann der Welt zu werden.
»Guten Morgen, meine Damen und Herren«, sagte Sexton und legte die Umschläge auf das Rednerpult vor sich. »Ich werde die Sache so kurz wie möglich machen. Was ich Ihnen bekannt zu geben habe, ist leider nicht erfreulich. Diese Umschläge, die ich Ihnen gleich übergeben werde, enthalten den Beweis für einen infamen Schwindel auf höchster Ebene unserer Regierung. Es bedrückt mich, dass mich der Präsident vor einer halben Stunde angerufen und angebettelt hat – jawohl, angebettelt –, mit diesem Material nicht an die Öffentlichkeit zu gehen.« Sexton schüttelte betrübt den Kopf. »Aber ich bin ein Mann der Wahrheit, so bitter diese manchmal auch sein mag.«
Sexton verstummte und hielt den Reportern die
verlockenden weißen Umschläge vor die Nase wie einer Meute Hunde,
die mit dem Geruch der Beute scharf gemacht werden soll.
Der Präsident hatte Sexton vor einer halben Stunde angerufen und die Lage erklärt, nachdem er zuvor mit Rachel gesprochen hatte, die an Bord eines Flugzeugs in Sicherheit war. Das Weiße Haus und die NASA schienen tatsächlich unschuldige Nebenfiguren jener Katastrophe zu sein, zu der sich ein von William Pickering ausgeheckter Plan entwickelt hatte.
Aber das kann mir egal sein, dachte Sexton. Zach Herney wird so oder so gewaltig auf die Nase fallen.
Sexton hätte gern im Weißen Haus Mäuschen gespielt und Herneys dummes Gesicht gesehen, wenn ihm klar wurde, dass Sexton die Katze aus dem Sack ließ. Sexton hatte mit Herney für eben diese Stunde ein Treffen vereinbart, um gemeinsam zu besprechen, wie man die Wahrheit über den gefälschten Meteoriten am besten an die Nation herantragen könnte. Vermutlich stand Herney in diesem Moment sprachlos vor Schreck vor dem Fernseher, unfähig, dem Rad des Schicksals in die Speichen zu greifen.
»Liebe Freunde«, sagte Sexton und suchte wie immer Blickkontakt mit seinen Zuhörern und Zuhörerinnen, »ich habe mir die Entscheidung nicht leicht gemacht. Ich habe mit dem Gedanken gespielt, dem Wunsch des Präsidenten nachzukommen, der dieses Material geheim halten wollte, aber ich kann meine Natur nicht verleugnen.« Sexton ließ gedankenschwer den Kopf hängen wie ein Mann, dem die Geschichte eine unmögliche Entscheidung abfordert. »Die Wahrheit ist nun mal die Wahrheit. Ich werde Ihrer Interpretation dieses Materials in keiner Weise vorgreifen. Deshalb werde ich es Ihnen ohne jede weitere Bemerkung oder Bewertung übergeben.«
Sexton hörte näher kommendes Rotorengeräusch. Einen Moment lang fragte er sich, ob der Präsident vielleicht in Panik aus dem Weißen Haus herbeigeflogen kam, um die Pressekonferenz in letzter Sekunde zu verhindern. Das wäre der Schlag Sahne obendrauf, dachte Sexton hoffnungsfroh.
»Sie dürfen mir glauben, dass mir das Ganze kein Vergnügen macht«, fuhr er fort. Er spürte, dass sein Timing nicht besser hätte sein können. »Ich halte es jedoch für meine Pflicht, das amerikanische Volk darüber aufzuklären, dass es belogen wurde.«
Ein Flugzeug schwebte ein und setzte auf der rechter Hand gelegenen Promenade auf. Sexton registrierte überrascht, dass es nicht der Präsidentenhelikopter war, sondern ein großes Osprey-Schwenkflügelflugzeug mit der Aufschrift »United States Coast Guard« am Rumpf.
Sexton sah die Kabinentür aufgehen und eine Frau in einem orangenen Küstenwachtparka aussteigen. Sie sah mitgenommen aus, als käme sie direkt aus dem Krieg. Die Frau ging auf das Podium zu. Sexton erkannte sie anfangs nicht, doch plötzlich ging ihm ein Licht auf.
Rachel? Die Kinnlade fiel ihm herunter.
Irritiertes Gemurmel erhob sich in der Menge.
Sexton rang sich ein Lächeln ab. Er wandte sich wieder den Presseleuten zu und hob um Nachsicht bittend die Hände. »Wären Sie so nett, mich für meine Tochter eine Sekunde zu entschuldigen? Es tut mir furchtbar Leid.« Er stieß einen tiefen Seufzer aus. »Aber die Familie kommt zuerst.«
Aus dem Publikum kamen ein paar Lacher.
Sexton sah seine Tochter entschlossen von
rechts heranschreiten. Er hatte den Eindruck, dass diese
Vater-Tochter-Wiederbegegnung am besten unter Ausschluss der
Öffentlichkeit stattfinden sollte. Leider war das zum gegebenen
Zeitpunkt schwierig. Sextons Blick huschte zu der großen Stellwand
zu seiner Rechten.
Immer noch mit einem Lächeln im Gesicht winkte Sexton seiner Tochter und trat vom Mikrofon zurück. Hinter der Stellwand, vor den Augen und Ohren der Medien verborgen, ging er ihr ein kleines Stück entgegen. Sie trafen sich auf halber Strecke.
Sexton öffnete lächelnd die Arme. »Liebling!«, sagte er, »was für eine Überraschung!«
Rachel trat zu ihm und verpasste ihm eine schallende Ohrfeige.
Rachel musterte ihren Vater mit verächtlichen Blicken. Bei ihrer Ohrfeige hatte er kaum mit der Wimper gezuckt. Sein falsches Lächeln wich einer finsteren Miene. »Was hast du hier zu suchen?«, zischte er empört.
Rachel sah ihm an, dass er wütend war. Zum ersten Mal in ihrem Leben fürchtete sie sich nicht vor ihm. »Ich habe mich an dich gewandt, weil ich Hilfe brauchte, aber du hast mich hängen lassen! Ich wäre fast umgebracht worden!«
»Aber du bist offensichtlich wohlauf.« Es klang beinahe enttäuscht.
»Die NASA ist unschuldig in die Sache hineingeraten«, sagte Rachel. »Das hat der Präsident dir doch gesagt! Was soll das hier alles?« Rachel hatte von Bord der Osprey auf ihrem kurzen Flug nach Washington eine ganze Reihe von Telefonaten geführt, mit dem Weißen Haus, mit ihrem Vater und sogar mit einer aufgelösten Gabrielle Ashe. »Du hast Zach Herney versprochen, ins Weiße Haus zu gehen.«
»Das werde ich auch.« Er grinste schief. »Am Tag nach der Wahl.«
Der Gedanke, dass dieser Mann ihr Vater war, verursachte Rachel Übelkeit. »Was du vorhast, ist Wahnsinn!«
»Ach ja?« Sexton lachte in sich hinein. Er wandte sich um und deutete auf die Umschläge, die auf dem Rednerpult lagen. »In diesen Umschlägen stecken die Unterlagen, die du mir geschickt hast. Ja, Rachel, du! Wenn einer von uns den Präsidenten auf dem Gewissen hat, bist du es!«
»Ich habe dir diese Unterlagen gefaxt, als ich dringend deine Hilfe brauchte und den Präsidenten und die NASA noch für die Verantwortlichen hielt!«
»Angesichts dieses Materials sieht die NASA keineswegs unschuldig aus.«
»Aber sie ist es! Sie hat es verdient, ihren Fehler selbst eingestehen zu können. Du hast die Wahl doch längst gewonnen!
Zach Herney ist am Ende! Das weißt du genau. Gönne ihm wenigstens einen Abgang in Würde!«
Sexton stöhnte. »Mein Gott, bist du naiv! Es geht doch längst nicht mehr um den Wahlsieg. Rachel, es geht um die Macht, um einen markanten Wahlsieg. Es geht darum, die Opposition mundtot zu machen und in Washington das Heft in die Hand zu bekommen, damit man etwas bewegen kann.«
»Und um welchen Preis?«
»Sei nicht so selbstgerecht. Ich lasse lediglich die Tatsachen sprechen. Die Leute sollen sich selbst ein Urteil bilden, wer an allem schuld ist.«
»Du weißt genau, was dabei herauskommen
wird.«
»Vielleicht ist es tatsächlich so, dass die Zeit der NASA gekommen ist.«
Sexton spürte, wie die Journalisten auf der anderen Seite der Trennwand unruhig wurden. Er hatte keine Lust, den ganzen Morgen hier herumzustehen und sich von seiner Tochter Vorhaltungen machen zu lassen, während sein großer Augenblick wartete.
»So, das war’s«, sagte er. »Ich habe hier eine Pressekonferenz zu geben.«
»Tu’s nicht«, bat Rachel. »Ich bitte dich als deine Tochter.
Überleg es dir noch einmal. Es gibt bessere Möglichkeiten.«
»Nicht für mich!«
Lautes Rückkoppelungsgeheul schrillte aus der Lautsprecheranlage. Sexton fuhr herum und sah eine offensichtlich zu spät gekommene Reporterin ein weiteres Mikrofon am Rednerpult anbringen.
Warum können diese Trottel nie pünktlich sein?, ärgerte er sich.
Jetzt stieß die Reporterin auch noch vor Hektik den Umschlagstapel vom Rednerpult herunter.
Verdammt! Innerlich auf seine Tochter fluchend, die ihn abgelenkt hatte, ging Sexton zum Rednerpult zurück. Die Reporterin kroch auf allen vieren auf dem Boden herum und sammelte die Umschläge auf. Sexton konnte ihr Gesicht nicht sehen, doch sie trug einen langen Umhang aus Kaschmirwolle, ein passendes Halstuch und eine tief heruntergezogene Baskenmütze, an der an einem Clip ihr ABC-Presseausweis baumelte.
Dumme Kuh, dachte Sexton. »Geben Sie schon her«, raunzte er sie an und streckte die Hand nach den Umschlägen aus. Die Frau hob die letzten Umschläge auf und reichte sie Sexton, ohne aufzusehen. »Entschuldigen Sie bitte«, murmelte Sie verlegen, um sogleich mit eingezogenem Kopf beschämt von der Bühne zu verschwinden.
Sexton zählte rasch die Umschläge durch. Zehn. Gut. Er baute wieder den Stapel auf. Das hätte ihm noch gefehlt, dass jemand ihm die Tour vermasselte. Er schenkte der Menge ein Lächeln und richtete die Mikrofone aus. »Ich glaube, ich sollte das Material jetzt lieber verteilen, sonst verletzt sich noch jemand«, scherzte er gut gelaunt.
Ein paar Leute in der wissbegierigen Menge lachten.
Sexton spürte die Nähe seiner Tochter. Sie stand nur ein paar Schritte entfernt hinter der Stellwand.
»Tu es nicht!«, zischte Rachel ihm zu. »Du wirst es bereuen!«
Sexton beachtete sie nicht.
»Hör auf mich«, rief Rachel. »Du begehst einen Fehler!«
Sexton nahm die Umschläge an sich und glättete ein paar Eselsohren.
»Das ist deine letzte Gelegenheit! Tu nichts Falsches!«, bat Rachel eindringlich.
Nichts Falsches tun? Sexton wandte sich von den Mikrofonen ab, als wolle er sich räuspern, und schaute unauffällig zu seiner Tochter hinüber. »Du bist genau wie deine Mutter – idealistisch und kleinkariert. Frauen haben kein Verhältnis zur Macht.«
Als Sexton sich wieder der Journalistenmeute zuwandte, hatte er seine Tochter schon vergessen. Erhobenen Hauptes trat er mit den Umschlägen hinter dem Rednerpult hervor, schritt zur Bühnenrampe und ließ einen Journalisten den Stapel verteilen. Zufrieden sah er die zehn Zeitbomben in der Menge verschwinden.
Er hörte, wie die Siegel erbrochen und die
Kuverts wie Geschenkpakete aufgerissen wurden.
Es wurde plötzlich still. Sexton wusste, dass die Stille den Wendepunkt seiner Karriere bedeutete.
Der Meteorit ist getürkt. Und ich bin derjenige, der die Schweinerei aufgedeckt hat.
Sexton wusste, dass die Journalisten nicht auf Anhieb begreifen würden, was sie da an Bildern und Zahlen vor Augen hatten.
»Sir?«, stammelte ein Reporter, der konsterniert in seinen Umschlag spähte. »Ist das Ihr Ernst?«
Sexton seufzte bedrückt. »Ja, ich fürchte, es könnte mir ernster nicht sein.«
In der Menge entstand Geraune.
»Wenn Sie sich diese Blätter in aller Ruhe angesehen haben, werde ich mich gerne Ihren Fragen stellen und versuchen, Ihnen zu erläutern, was Sie da haben«, sagte Sexton.
»Herr Senator«, meldete sich ein anderer Reporter, dem die Verwirrung anzuhören war. »Sind diese Bilder authentisch? Ich meine… nicht manipuliert?«
»Sie sind hundert Prozent authentisch«, sagte Sexton. Seine Stimme wurde allmählich ungeduldig. »Sonst würde ich sie Ihnen nicht vorlegen.«
Die Ratlosigkeit schien zuzunehmen. Sexton glaubte sogar Gekicher zu hören, was überhaupt nicht der Reaktion entsprach, die er sich vorgestellt hatte. Hatte er etwa die Fähigkeit der Journalisten überschätzt, eins und eins zusammenzuzählen?
»Äh, Herr Senator«, sagte jemand mit völlig deplatziertem Grinsen, »dürfen wir davon ausgehen, dass Sie sich zur Echtheit dieses Bildmaterials bekennen?«
Sexton wurde sauer. »Meine Freunde, ich sage es
zum letzten Mal: Das Material in Ihren Händen ist absolut
authentisch. Falls jemand mir das Gegenteil beweisen kann, fresse
ich einen Besen!«
Er wartete auf die Reaktion, aber kein Mensch lachte über seine Pointe.
Ausdruckslose Gesichter.
Totenstille.
Der Reporter, der zuletzt gesprochen hatte, trat auf Sexton zu.
»Herr Senator, Sie haben Recht, das ist in der Tat skandalöses Material.« Er kratzte sich am Kopf. »Wir sind alle ziemlich perplex, dass Sie ausgerechnet jetzt damit herauskommen, zumal Sie es vor einiger Zeit so heftig abgestritten haben.«
Sexton verstand nicht, was der Mann meinte. Der Reporter hielt ihm die Blätter hin. Einen Moment lang begriff Sexton überhaupt nichts.
Er starrte auf Schwarzweißfotos, die er noch nie gesehen hatte, Leiber zweier nackter Menschen, Arme und Beine ineinander verschlungen. Einen Augenblick wusste er nichts damit anzufangen, dann traf ihn die Erkenntnis wie ein Keulenschlag.
Schreckensstarr schaute Sexton in die Menge. Die meisten amüsierten sich köstlich und lachten. Viele Reporter hatten bereits die Redaktion am Draht und telefonierten den Bericht durch.
Sexton spürte, dass ihm jemand auf die Schulter tippte.
Benommen fuhr er herum. Rachel und eine zweite Frau standen vor ihm.
»Wir haben alles versucht, dich davon abzuhalten. Wir haben dir jede Chance gelassen.«
Bebend musterte Sexton die Frau an Rachels
Seite. Es war die Reporterin im Kaschmirumhang mit der Baskenmütze,
die seine Umschläge auf den Boden gestoßen hatte.
Das Blut stockte in seinen Adern. Gabrielles dunkle Augen durchbohrten ihn. Sie schlug den Umhang zurück. Ein Stapel von zehn Umschlägen klemmte unter ihrem Arm.
131
Vor den Fenstern des Oval Office legte sich die Abenddämmerung über die westlichen Parkanlagen. Die Messinglampe auf dem Schreibtisch des Präsidenten verstärkte das Zwielicht.
Gabrielle Ashe stand hoch erhobenen Hauptes vor dem Präsidenten.
»Wie ich höre, wollen Sie uns verlassen«, sagte Herney. Bedauern schwang in seiner Stimme.
Gabrielle nickte. Der Präsident hatte ihr zwar im Weißen Haus großzügig unbegrenzten Aufenthalt zum Schutz vor der Presse angeboten, doch Gabrielle zog es vor, diesen Sturm nicht im Auge des Orkans abzuwarten.
Herney schaute sie über seinen Schreibtisch hinweg an. Anerkennung und Bewunderung lagen in seinem Blick. »Die Wahl, die Sie heute Morgen getroffen haben, Gabrielle…« Er schien die richtigen Worte zu suchen. Herneys Blick war offen und direkt – ganz anders als die tiefen, rätselhaften Augen Sextons, die Gabrielle einst so fasziniert hatten. Ungeachtet des hochoffiziellen Ortes spürte Gabrielle in diesem Blick echte menschliche Wärme, Aufrichtigkeit und Würde, die sich ihr unvergesslich einprägten. »Ich habe es auch für mich selbst getan«, sagte sie schließlich.
Herney nickte. »Deswegen bin ich Ihnen nicht weniger zu Dank verpflichtet.« Er erhob sich und geleitete Gabrielle auf den Flur hinaus. »Ich hatte eigentlich gehofft, Sie würden hier bleiben, damit ich Ihnen einen Posten in meinem Planungsstab für Finanzen anbieten kann.«
Gabrielle sah ihn von der Seite an. »Weniger ausgeben, mehr ausrichten?«, scherzte sie.
Herney lachte. »So in der Art.«
»Ich glaube, wir wissen beide, dass ich momentan eher eine Belastung als eine Hilfe für Sie wäre«, meinte Gabrielle.
Herney zuckte mit den Schultern. »In ein paar Monaten ist das Schnee von gestern. Dann wird kein Mensch mehr davon reden.
Viele große Männer und Frauen haben ähnliche Phasen durchmachen müssen, bevor sie zu Ruhm gekommen sind.« Er blinzelte sie an. »Ein paar haben es sogar zum Präsidenten der Vereinigten Staaten gebracht.«
Gabrielle wusste, dass er Recht hatte. In den paar Stunden, die sie nun arbeitslos war, hatte sie bereits zwei lukrative Angebote abgelehnt – ein Stellenangebot von Yolanda Cole bei ABC, und den geradezu obszön hohen Vorschuss eines Verlegers für die Veröffentlichung einer Biografie mit sämtlichen pikanten Details.
Während sie mit dem Präsidenten den Flur hinunterging, dachte Gabrielle an die Bilder von ihr, die zurzeit landauf, landab auf jeder Mattscheibe zu sehen waren. Der Schaden hätte größer sein können, dachte sie. Viel, viel größer.
Nachdem Gabrielle zu den ABC-Studios gegangen
war, um ihre Fotos abzuholen und Yolandas Presseausweis zu borgen,
war sie noch einmal in Sextons Büro eingestiegen. Sie hatte die
Duplikate der Umschläge angefertigt und Ausdrucke der in Sextons
Computer gespeicherten Spendenschecks hergestellt. Nach der Szene
am Washington Monument hatte sie Sexton die Kopien der Schecks
unter die Nase gehalten und ihre Forderung gestellt.
Geben Sie dem Präsidenten die Chance, das Debakel mit dem Meteoriten selbst vorzutragen, oder dieses Material geht an die Presse. Nach einem Blick auf den Stapel Dokumente war Sexton noch einmal aus allen Wolken gefallen. Er verschwand kommentarlos in seiner Limousine.
Der Präsident und Gabrielle waren am Bühneneingang des Briefing Room angekommen. Gabrielle hörte die Unruhe der wartenden Medienvertreter im Pressekonferenzsaal. Zum zweiten Mal innerhalb von vierundzwanzig Stunden hatte sich die ganze Welt eingefunden, um eine Sonderbotschaft des amerikanischen Präsidenten zu hören.
»Was werden Sie sagen?«, fragte Gabrielle.
Herney seufzte, wirkte aber erstaunlich gelassen. »In all den Jahren habe ich immer wieder eine Erfahrung gemacht…«, er legte Gabrielle die Hände auf die Schultern und lächelte sie an.
»Es gibt keinen Ersatz für die Wahrheit.«
Als Herney zum Mikrofon schritt, empfand Gabrielle unerwarteten Stolz. Zach Herney war auf dem Weg, die größte Pleite seines Lebens einzugestehen, aber seltsamerweise hatte er noch nie so staatsmännisch gewirkt wie heute.
132
Als Rachel erwachte, war es dunkel.
Das Leuchtdisplay der Uhr zeigte 22:14. Sie befand sich nicht im eigenen Bett. Ein paar Augenblicke lag sie bewegungslos und überlegte, wo sie war. Langsam kam alles wieder zurück… der Megaplume… der Morgen am Washington Monument… die Einladung des Präsidenten, im Weißen Haus zu bleiben.
Du bist im Weißen Haus und hast den ganzen Tag verschlafen.
Auf Anordnung des Präsidenten hatte das Rettungsflugzeug der Küstenwache die erschöpften Michael Tolland, Corky Marlinson und Rachel Sexton vom Washington Monument ins Weiße Haus geflogen, wo man ihnen ein opulentes Frühstück serviert, sie ärztlich versorgt und eines der vierzehn Gästeschlafzimmer zum Ausruhen angeboten hatte. Sie waren alle drei gern auf das Angebot eingegangen.
Rachel wollte gar nicht glauben, dass sie so lange geschlafen hatte. Als sie den Fernseher einschaltete, stellte sie überrascht fest, dass Präsident Zach Herney seine Pressekonferenz längst beendet hatte. Rachel und die beiden anderen hatten dem Präsidenten angeboten, sich zu ihm zu stellen und ihm den Rücken zu stärken, wenn er vor der ganzen Welt das Fiasko mit dem Meteoriten eingestand. Wir sind alle drei an dem Fehler nicht ganz unbeteiligt. Aber Herney hatte darauf bestanden, alles auf die eigene Kappe zu nehmen.
»Es ist bedauerlich«, sagte ein Fernsehkommentator, »aber es sieht ganz danach aus, dass kein Anzeichen für Leben im Weltraum entdeckt worden ist. Damit hätte die NASA zum zweiten Mal in diesem Jahrzehnt einem Meteoriten fälschlicherweise Spuren außerirdischen Lebens zugeschrieben. Diesmal jedoch sind auch einige angesehene Wissenschaftler der Täuschung erlegen.«
»Normalerweise würde ich sagen«, übernahm der Co-Kommentator, »dass ein Fiasko von dem Umfang, wie der Präsident es uns geschildert hat, das Ende seiner Karriere bedeuten würde. Angesichts der Ereignisse vom heutigen Morgen am Washington Monument komme ich allerdings zu der Einschätzung, dass Präsident Herneys Aussichten auf eine Wiederwahl besser sind als je zuvor.«
Der erste Kommentator nickte. »Der Weltraum scheint also doch tot zu sein, aber vermutlich nicht so tot wie die Wahlkampagne von Senator Sexton. Inzwischen haben uns neue Informationen erreicht, aus denen hervorgeht, dass der Senator mit schweren finanziellen Engpässen zu kämpfen hat.«
Ein Klopfen an der Tür ließ Rachel aufschrecken.
Michael, dachte sie hoffnungsvoll und schaltete rasch den Fernseher aus. Seit dem Frühstück hatte sie ihn nicht mehr gesehen.
Nach der Ankunft im Weißen Haus hatte Rachel sich nichts sosehr gewünscht, wie in Michaels Armen einzuschlafen, und Tolland schien es ähnlich zu gehen. Aber Corky hatte sich auf Tollands Bett häuslich niedergelassen und überschwänglich ein um das andere Mal die Geschichte erzählt, wie er sich bepinkelt und damit die entscheidende Wende herbeigeführt hatte. Schließlich hatten sich Rachel und Tolland erschöpft in die Lage gefügt, und Rachel war in ihr eigenes Schlafzimmer abgezogen.
Auf dem Weg zur Tür warf Rachel einen Blick in den Spiegel und betrachtete ihren lächerlichen Aufzug. Sie hatte im ganzen Zimmer kein anderes Nachtgewand auftreiben können als ein altes Footballtrikot der Pennsylvania State University, das in einem Kleiderfach lag. Wie ein Nachthemd hing es ihr bis zu den Knien.
Es klopfte wieder.
Als Rachel die Tür öffnete, sah sie enttäuscht eine Beamtin vom Secret Service im blauen Blazer vor sich stehen. »Miss Sexton, der Herr im Lincoln-Schlafzimmer hat Ihren Fernseher gehört. Da Sie nun schon einmal wach sind, hat er mich gebeten, Ihnen auszurichten…« Mit dem Treiben in den oberen Geschossen des Weißen Hauses offenkundig nicht unvertraut, hob die Beamtin wissend die Brauen.
Rachel errötete. »Oh, danke.«
Die Beamtin führte sie ein Stück den piekfeinen Flur hinunter zu einer schlichten Tür. »Das ist das Lincoln-Schlafzimmer«, sagte sie. »An dieser Stelle pflegen wir immer zu sagen: ›Schlafen Sie gut, und hüten Sie sich vor Gespenstern.«
Rachel nickte. Die Geschichten vom Gespenst im Lincoln-Schlafzimmer waren so alt wie das Weiße Haus selbst. Man erzählte sich, dass Lincolns Geist hier Winston Churchill erschienen sei – und vielen anderen mehr, einschließlich Eleanor Roosevelt, Amy Carter, dem Schauspieler Richard Dreyfus und Generationen von Zimmermädchen und Butlern. Es hieß, der Hund von Präsident Reagan hätte oft stundenlang vor dieser Tür gestanden und gebellt.
Der Gedanke an den Geist der Geschichte brachte Rachel plötzlich zu Bewusstsein, dass sie hier mit nackten Füßen vor geheiligten Hallen stand. In ihrem viel zu langen Footballtrikot kam sie sich vor wie ein junges Mädchen, das sich zu seinem Freund aufs Zimmer schleicht. »Geht das denn überhaupt?«, flüsterte sie der Beamtin zu. »Das ist doch das historische Lincoln-Schlafzimmer.«
Die Beamtin zwinkerte ihr zu. »Auf dieser Etage halten wir es mit den drei weisen Affen: Nichts sehen, nichts hören, nichts sagen.«
Rachel lächelte und streckte die Hand voller Vorfreude nach dem Türknopf aus.
»Rachel!«, schrillte eine nasale Stimme wie eine Kreissäge durch den Flur.
Rachel und die Beamtin fuhren herum. Corky Marlinson, das Bein mittlerweile fachmännisch bandagiert, kam ihnen auf eine Krücke gestützt entgegengehumpelt. »Ich konnte auch nicht schlafen!«
Rachel stöhnte auf. Sie sah ihr romantisches Stelldichein den Bach hinuntergehen.
Corky musterte die schmucke Beamtin. »Ich liebe Frauen in Uniform«, sagte er und grinste sie an.
Die Beamtin lüftete den Blazer. Eine tödliche Handfeuerwaffe lugte düster darunter hervor.
Corky prallte zurück. »Hab schon verstanden.« Er wandte sich an Rachel. »Ist Mike auch schon wach? Weißt du was, ich komme mit rein!«
»Weißt du, Corky«, Rachel seufzte, »ich hatte eigentlich…«
»Dr. Marlinson«, schaltete die Beamtin sich ein und zog ein Zettelchen aus ihrem Blazer. »Ich habe hier von Mr Tolland die strikte schriftliche Anweisung, Sie in unsere Küche hinunterzubegleiten, Ihnen von unserem Küchenchef alles zubereiten zu lassen, wonach Ihnen der Sinn steht und Sie aufzufordern, mir einen genauen Bericht zu geben, wie Sie dem sicheren Tod entronnen sind, indem Sie…«, die Beamtin stockte und las stirnrunzelnd noch einmal, »… indem Sie auf sich selbst uriniert haben.«
Die Beamtin hatte das Zauberwort ausgesprochen. Corky ließ augenblicklich die Krücke fallen und legte ihr Halt suchend den Arm um die Schulter. »Auf zur Küche, Schätzchen«, sagte er strahlend.
Während die überrumpelte Beamtin Corky den Flur hinunterbugsierte, konnte Rachel sich nicht des Eindrucks erwehren, dass Corky im siebten Himmel war. »Der Urin ist der Witz an der ganzen Sache«, hörte sie ihn schwadronieren, »weil nämlich dieser verdammte telencephalonäre Lobus olfactorius alles riecht.«
Als Rachel das Lincoln-Schlafzimmer betrat, brannte dort nur schwaches Licht. Das Bett war unberührt und leer, von Michael Tolland keine Spur.
Die viktorianische Petroleumlampe vor dem Bett warf einen sanften Schimmer auf den Brüsseler Teppich… das berühmte geschnitzte Bett aus Rosenholz… das Porträt von Abraham Lincolns Gattin Mary Todd… sogar der Schreibtisch, an dem Lincoln die Emanzipationserklärung unterschrieben hatte, war im schummrigen Licht noch zu erkennen.
Beim Schließen der Tür fächelte ein unangenehm kühler Luftzug um Rachels bloße Beine. Wo steckt er? Auf der gegenüberliegenden Seite stand ein Fenster offen, die weißen Seidenstores blähten sich im Wind. Als Rachel hinüberging, um das Fenster zu schließen, drang ein gespenstisches Flüstern aus dem Wandschrank.
»Mary…?«
Rachel fuhr herum.
»Maaaryyy«, raunte die
Stimme erneut. »Bist du es? Mary Todd Lincoln?«
Rachel schloss eilig das Fenster und wandte sich dem Wandschrank zu. Das Herz pochte ihr bis zum Hals, obwohl sie wusste, dass es Unsinn war. »Mike, ich weiß, dass du es bist.«
»Nein…«, antwortete die Stimme, »ich bin nicht Mike, ich bin Abe Lincoln.«
Rachel stemmte die Fäuste in die Hüften. »Ach wirklich? Der redliche Abe?«
Ein hohles Lachen drang aus dem Schrank. »Einigermaßen redlich.«
Jetzt musste auch Rachel lachen. »Ist das deine Vorstellung, wie man eine Frau verführt?«
»Entschuldigung«, klagte die Stimme, »ich bin seit Jahren aus der Übung.«
»Man merkt’s.« Rachel riss die Tür auf.
Vor ihr stand Michael Tolland mit seinem spitzbübischen Grinsen. In seinem marineblauen Pyjama sah er unwiderstehlich aus. Das Emblem des Präsidenten prangte auf seiner Brust.
»Der Pyjama des Präsidenten?«, staunte sie.
»Er lag in einer Schublade.«
»Und ich musste mich mit einem Footballtrikot begnügen.«
»Du hättest im Lincoln-Schlafzimmer schlafen sollen.«
»Du hättest mich ja einladen können.«
»Ich habe gehört, dass die Matratze eine Zumutung ist. Altes Rosshaar.« Er deutete auf ein Paket in Geschenkpapier auf einem Tischchen mit Marmorplatte. »Das wird dich mit allem versöhnen.«
Rachel war gerührt. »Für mich?«
»Eine Hausangestellte hat es für mich besorgt.
Sie hat es eben erst gebracht. Sei vorsichtig, nicht
schütteln!«
Rachel entfernte sorgsam die Verpackung. Ein großes Goldfischglas kam zum Vorschein, in dem zwei hässliche Goldfische schwammen. Rachel betrachtete enttäuscht und verwirrt die Morgengabe. »Das ist doch wieder einer von deinen Scherzen, nicht wahr?«
»Hehstoma temminicki«, antwortete Tolland voll Stolz.
»Du hast ausgerechnet Fische für mich gekauft?«
»Das sind ganz seltene chinesische Kussfische. Sehr romantisch.«
»Fische sind nicht romantisch, Mike.«
»Sag das nicht den beiden. Die knutschen stundenlang.«
»Gehört das auch zu deinen Verführungskünsten?«
»Ich bin halt aus der Übung. Würdest du mir die gute Absicht zugute halten?«
»Mike, nur für zukünftige Fälle – mit Fischen kann man keine Frau rumkriegen. Versuch’s mit Blumen.«
Tolland zog ein Bukett weiße Lilien hinter dem Rücken hervor.
»Rote Rosen wären mir lieber gewesen, aber als ich in den Rosengarten einbrechen wollte, hätte man mich beinahe erschossen.«
Michael Tolland zog Rachel an sich. Als er den zarten Duft ihres Haars einatmete, spürte er die harte Kruste der jahrelangen Isolation bröckeln. Er küsste Rachel, und sie schmiegte sich an ihn.
Die weißen Lilien fielen auf den Boden zu ihren Füßen.
Die Geister der Vergangenheit sind verschwunden.
Tolland fühlte sich von Rachel sanft zum Bett gedrängt. »Du glaubst doch nicht wirklich, dass Fische romantisch sind?«, flüsterte sie ihm leise ins Ohr.
»O doch«, sagte er und küsste sie wieder. »Du solltest mal den Hochzeitstanz der Quallen sehen! Unglaublich erotisch.«
Rachel schubste ihn auf die Rosshaarmatratze der historischen Bettstatt und legte sich sanft auf ihn.
»Und Seepferdchen…!«, sagte Tolland atemlos vom Genuss der Berührungen durch den dünnen Seidenstoff des Pyjamas.
»Seepferdchen vollführen… einen unglaublich sinnlichen… Liebestanz!«
»Jetzt aber genug von Fischen«, flüsterte Rachel, während sie seinen Pyjama aufknöpfte. »Hast du denn nichts über das Werbungsverhalten der hoch entwickelten Primaten in deinem Repertoire?«
Tolland seufzte. »Ich furchte, bei den Primaten kenne ich mich nicht aus.«
Rachel warf das Footballtrikot von sich. »Dann lass dich mal schnell auf den neuesten Stand bringen«, sagte sie.
EPILOG
Hoch über dem Atlantik flog die Transportmaschine der NASA einen Bogen.
NASA-Chef Lawrence Ekstrom warf einen letzten Blick auf den verkohlten Felsbrocken im Frachtraum. Zurück ins Meer, wo du hergekommen bist, dachte er.
Auf Ekstroms Kommando öffnete der Pilot die Frachtluke im Heck. Der Brocken glitt von Bord, stürzte hinter der Maschine auf geschwungener Bahn dem sonnenbeschienenen Meer entgegen und verschwand gischtend in den Wellen.
Der große Stein sank sehr schnell.
Hundert Meter unter Wasser war gerade noch seine in die Tiefe trudelnde Silhouette zu erkennen. Nach Überschreiten der Hundertfünfzig-Meter-Marke gelangte der Brocken ins Reich der ewigen Finsternis.
Fast zwölf Minuten dauerte seine senkrechte Fahrt nach unten.
Dann prallte er auf eine ausgedehnte Schlammsenke auf dem Grund des Ozeans. Eine Sedimentwolke wirbelte empor. Als sie sich gelegt hatte, kam ein unbekanntes Lebewesen der Tiefsee herbei und inspizierte den merkwürdigen Neuankömmling.
Unbeeindruckt zog das Geschöpf seiner Wege.