81
Mach dich von allem frei, was du von dieser Gesteinsprobe weißt.
Michael Tolland hatte eine ganze Reihe beunruhigender Gedankenspiele über die Herkunft des Meteoriten angestellt. Rachels bohrende Fragen besserten sein Unbehagen keineswegs. Er betrachtete die Steinscheibe in seiner Hand.
Angenommen, jemand hätte sie dir kommentarlos in die Hand gedrückt.
Was würde dir dazu einfallen?
Er wusste natürlich, dass Rachels Frage in eine ganz bestimmte Richtung zielte, doch als analytische Übung war sie kein Pappenstiel. Tolland musste zugeben, dass seine Analyse der Fossilien entscheidend von dem geprägt war, was man ihm bei seiner Ankunft in der Kuppel gesagt hatte – dass sie aus einem Meteoriten stammten.
Und wenn du nichts von dem Meteoriten gewusst hättest? , fragte er sich.
Als reine Hypothese entfernte Tolland den »Meteoriten« aus der Kette der Schlussfolgerungen. Das Resultat war nicht unbedingt beruhigend. Corky Marlinson, wenn auch noch ziemlich angeschlagen, hatte sich inzwischen ebenfalls eingefunden.
»Sie sagen also, Mike, wenn Sie dieses Fossil ohne jede vorherige Erklärung begutachten würden, kämen Sie zu dem Schluss, dass es von der Erde stammt«, sagte Rachel.
»Natürlich«, antwortete Tolland. »Was sonst? Man ist doch weitaus eher geneigt anzunehmen, man hätte ein bislang unentdecktes Fossil einer irdischen Spezies gefunden, als eine extraterrestrische Lebensform. Jedes Jahr werden Dutzende neuer Spezies auf der Erde entdeckt.«
»Sechzig Zentimeter lange Asseln?«, sagte Corky
ungläubig.
»Du würdest annehmen, solche Riesenkäfer gäbe es auf unserer Erde?«
»Vielleicht nicht heutzutage«, räumte Tolland ein. »Die Art könnte ausgestorben sein. Es ist schließlich ein Fossil, hundertneunzig Millionen Jahre alt. Viele prähistorische Fossilien stammen von Furcht einflößenden Riesengeschöpfen – gewaltige geflügelte Reptilien, Dinosaurier, Riesenvögel.«
»Ich möchte nicht schon wieder den Physiker raushängen«, sagte Corky, »aber dein Argument hat einen entscheidenden Fehler.
Die von dir erwähnten prähistorischen Geschöpfe – Dinosaurier, Reptilien, Vögel – haben alle ein Innenskelett, das es ihnen ermöglicht hat, trotz der Erdanziehung eine beträchtliche Größe zu erreichen. Aber dieses Fossil«, er hielt die Probe in die Höhe,
»diese Kreaturen haben ein Außenskelett. Es sind Gliederfüßer, Insekten. Du hast selbst gesagt, dass ein Insekt dieser Größe sich nur in einem Lebensraum mit verminderter Schwerkraft entwickelt haben kann, weil sein Außenskelett sonst unter dem eigenen Gewicht zusammengebrochen wäre.«
»So ist es«, sagte Tolland. »Diese Spezies wäre unter ihrem Gewicht zusammengebrochen, wäre sie auf der Erde herumgelaufen.«
Corky schaute Tolland an und runzelte unwillig die Brauen.
»Soll ich etwa annehmen, Mike, dass ein paar Höhlenmenschen eine Anti-Schwerkraft-Läusefarm betrieben haben? Ich begreife einfach nicht, wie du darauf kommst, dass eine sechzig Zentimeter lange Assel irdischen Ursprungs sein könnte.«
Tolland musste innerlich lächeln, dass Corky ein so nahe liegender Gedanke entgangen war. »Es gibt allerdings schon eine Möglichkeit.« Er schaute seinen Freund auffordernd an. »Corky, du starrst immer nur nach oben in den Himmel. Aber auf der Erde befindet sich seit Urzeiten ein riesiger Lebensraum mit verminderter Schwerkraft. Schau doch mal nach unten!«
»Wovon redest du eigentlich?«
Auch Rachel blickte Tolland verwundert an.
Er deutete zum Flugzeugfenster hinaus auf das im Mondlicht schimmernde Meer. »Na, der Ozean!«
Rachel pfiff durch die Zähne. »Natürlich.«
»Wasser ist ein Lebensraum mit verminderter Schwerkraft«, erläuterte Tolland. »Im Wasser hat alles ein geringeres Gewicht.
Der Ozean trägt riesige lebende Strukturen, die an Land niemals existieren könnten – Quallen, Riesenkraken, Schleieraale und so weiter.«
Corky beruhigte sich etwas. »Na gut. Aber Riesenkäfer hat es in den prähistorischen Ozeanen nie gegeben.«
»Aber sicher. Es gibt sie ja heute noch. In den meisten Ländern stehen sie als Delikatesse auf der Speisekarte.«
»Wer, zum Teufel, isst denn Riesenkäfer?«
»Jeder, der Hummer, Krabben und Garnelen verspeist.«
Corky machte ein betroffenes Gesicht.
»Krustentiere sind im Prinzip nichts anderes als große Meeresinsekten«, erklärte Tolland. »Sie sind eine Unterart im Zweig der Arthropoden – Läuse, Asseln, Krabben, Spinnen, Insekten, Grashüpfer, Skorpione, Hummer – sie alle sind miteinander verwandt, alles Arten mit Gliederfüßen und Außenskeletten. Unter dem Klassifikationsaspekt sehen sie alle aus wie diese Asseln.
Hufeisenkrabben ähneln großen Trilobiten, und die Scheren eines Hummers denen eines Skorpions.«
Corky war grün im Gesicht. »Okay, ich habe
meinen letzten Hummersalat gegessen.«
»An Land bleiben die Arthropoden also deshalb klein, weil die Schwerkraft die kleineren Arten bevorzugt«, sagte Rachel fasziniert. »Aber im Wasser erfährt ihr Körper einen Auftrieb, und die Insekten können folglich sehr groß werden?«
»Genau«, bestätigte Tolland. »Eine Königskrabbe aus Alaska könnte fälschlicherweise als Riesenspinne klassifiziert werden, wäre nicht der Fossilienbefund.«
»Mike, wir wollen einmal von der Echtheit des Meteoriten absehen«, sagte Rachel nachdenklich. »Glauben Sie, die Fossilien, die wir auf Milne gesehen haben, könnten möglicherweise auch aus dem Ozean gekommen sein? Aus den Ozeanen unserer Erde?«
Tolland spürte Rachels Blick auf sich ruhen. Er war sich über das Gewicht der Frage im Klaren. »Theoretisch müsste ich mit Ja antworten. Manche Abschnitte des Meeresbodens sind bis zu einhundertneunzig Millionen Jahre alt, haben also ungefähr das gleiche Alter wie unsere Fossilien. Und ebenso theoretisch könnten sich im Ozean Lebensformen gebildet haben, die ihnen gleichen.«
»Nun ist es aber gut«, entrüstete sich Corky. »Ich höre wohl nicht richtig! Wenn wir von der Echtheit des Meteoriten absehen? Davon gibt es nichts abzusehen – die Echtheit ist unbestreitbar. Selbst wenn es auf der Erde Meeresbodenabschnitte vom Alter des Meteoriten gibt, so gibt es doch niemals Meeresböden mit Schmelzrinde, anomalem Nickelgehalt und Chondren.
Ihr baut Luftschlösser!«
Tolland wusste, dass Corky Recht hatte, doch bei der Vorstellung, die Fossilien könnten Meereslebewesen sein, war ihm trotzdem einiges von seiner Faszination abhanden gekommen.
Sie kamen ihm jetzt irgendwie vertraut vor.
Rachel schaute Tolland an. »Mike, warum hat keiner der NASA-Wissenschaftler in Betracht gezogen, dass wir hier Meereslebewesen vor uns haben könnten, und seien es Meereslebewesen von einem anderen Planeten?«
»Dafür gibt es zwei Gründe. Bei pelagischen Fossilien – solchen vom Meeresboden – findet man ein Sammelsurium verschiedenster Arten in buntem Durcheinander. Alles was in dem Millionen Kubikkilometer großen Lebensraum unter der Wasseroberfläche existiert, stirbt irgendwann einmal ab und sinkt auf den Meeresgrund. Das bedeutet, dass der Meeresboden einen Friedhof verschiedener Arten aus sämtlichen Tiefen-, Druck- und Temperaturregionen darstellt. Aber die Probe vom Milne-Eisschelf war rein – sie hat nur eine einzige Spezies beherbergt.
Sie sah aus wie Proben, die man in der Wüste findet, beispielsweise, wenn eine Brutkolonie gleicher Tiere von einem Sandsturm begraben wird.«
Rachel nickte. »Und der zweite Grund, dass alle eher auf Land als auf Wasser getippt haben?«
Tolland zuckte mit den Schultern. »Ein Gefühl im Bauch. Die Wissenschaft ist schon seit langem der Ansicht, dass der Weltraum, falls er überhaupt bewohnt ist, von Insekten bewohnt sein würde. Soweit wir das All beobachten können, gibt es dort unendlich mehr Staub und Gestein als Wasser. Obwohl…«, fuhr Tolland nachdenklich fort, »es gibt auch sehr tiefe Zonen des Meeresbodens, die wir in der Ozeanografie als tote Zonen bezeichnen. Wir wissen noch nicht wirklich, wie sie beschaffen sind. Es sind Zonen, deren Strömungen und Nahrungsangebot so ungünstig sind, dass dort außer ein paar Aasfressern, die den Grund besiedeln, so gut wie nichts leben kann. So betrachtet wäre also eine Probe mit nur einer Fossilienart nicht völlig ausgeschlossen.«
»Hallo, aufwachen!«, mahnte Corky. »Weißt du noch, die Schmelzrinde? Der mittlere Nickelgehalt? Die Chondren? Ist ja alles nur Nebensache.«
Tolland sagte nichts.
»Diese Geschichte mit dem Nickelgehalt«, sagte Rachel zu Corky, »erklären Sie mir das bitte doch noch einmal. Der Nickelgehalt in irdischem Gestein ist also entweder sehr hoch oder sehr niedrig, bei Meteoriten aber fällt er in ein bestimmtes Fenster im mittleren Bereich?«
Corky nickte eifrig. »So ist es.«
»Und der Nickelgehalt unserer Probe stimmt genau mit den zu erwartenden Werten überein.«
»Ja, ziemlich genau.«
Rachel schaute Corky erstaunt an. » Ziemlich genau? Wie soll ich das verstehen?«
Corky blickte verzweifelt drein. »Wie ich schon mehrfach erklärt habe, sind Meteoriten mineralogisch nicht einheitlich. Da ständig neue Meteoriten gefunden werden, muss die Wissenschaft ihre Berechnungsgrundlagen für den typischen Nickelgehalt dauernd den neuesten Erkenntnissen anpassen.«
Erstaunt hielt Rachel die Gesteinsprobe hoch. »Dann haben Sie sich also durch diesen Meteoriten zu einer Neueinschätzung des zulässigen Nickelgehalts von Meteoriten veranlasst gesehen?
Weil der Wert außerhalb des zulässigen Fensters gelegen hat?«
»Aber nur geringfügig«, verteidigte sich
Corky.
»Warum hat mir das denn kein Mensch gesagt?«
»Weil es kein Thema ist. Die Astrophysik ist eine dynamische Wissenschaft, in die laufend neue Erkenntnisse einfließen.«
»Auch während einer unglaublich wichtigen Analyse?«
»Schauen Sie«, sagte Corky ärgerlich, »ich kann Ihnen versichern, der Nickelgehalt dieser Probe liegt um ein ganzes Stück näher am Wert von Meteoriten als an den Werten von irdischem Gestein.«
Rachel wandte sich an Tolland. »War Ihnen das bekannt?«
Tolland nickte zögerlich. Der Tatbestand hatte bislang nicht sein besonderes Augenmerk verlangt. »Man hat mir gesagt, dass der Nickelgehalt des Meteoriten gegenüber dem vergleichbarer Meteoriten leicht erhöht sei, aber die NASA-Wissenschaftler schienen deswegen völlig unbesorgt.«
»Und zwar mit gutem Grund«, warf Corky ein. »Der mineralogische Befund besagt nicht, dass der Nickelgehalt schlüssig auf einen Meteoriten hinweist, sondern er schließt schlüssig die irdische Herkunft des Gesteins aus.«
Rachel schüttelte den Kopf. »Tut mir Leid, aber in meinem Beruf sieht so die Logik aus, mit der man Menschen ins Grab bringt. Wenn man sagt, ein Gestein ist nicht wie bekanntes irdisches Gestein, heißt das noch lange nicht, dass es Meteoritengestein ist. Es heißt lediglich, dass wir so ein Gestein auf der Erde noch nicht gefunden haben.«
»Aber was macht das für einen Unterschied?«, rief Corky aus.
»Überhaupt keinen«, sagte Rachel, »falls man ausnahmslos alle Gesteine der Erde kennt.«
Corky sagte einen Moment lang nichts. »Okay«, meinte er dann, »vergessen wir also den Nickelgehalt, wenn er Sie so nervös macht. Dann haben wir aber immer noch die tadellose Schmelzrinde und die Chondren.«
»Klar«, sagte Rachel wenig beeindruckt. »Zwei von drei sind doch was.«
82
Das NASA-Hauptquartier ist ein riesiger rechteckiger Glaskasten an der 300 E-Street in Washington. Es ist von einem Spinnennetz von über dreihundertfünfzig Kilometern Datenleitungen durchzogen und beherbergt Tausende von Tonnen an Computerausrüstung. Es ist zugleich der Arbeitsplatz von 1134 Beamten, die den fünfzehn Milliarden Dollar umfassenden Jahresetat der NASA verwalten und die täglichen Operationen der zwölf im Lande verstreuten NASA-Basen koordinieren.
Das Eingangsfoyer füllte sich trotz der späten Stunde zusehends mit Menschen – aufgeregten Fernsehteams und noch aufgeregteren NASA-Mitarbeitern. Gabrielle huschte rasch in den Eingangsbereich, der einem Museum ähnelte und in dem Modelle berühmter Astronautenkapseln und Satelliten in natürlicher Größe dramatisch von der Decke hingen. Die Fernsehteams waren schon dabei, auf dem geräumigen Marmorfußboden ihre Arbeitsbereiche abzukleben und die freudig zur Tür hereinstürmenden NASA-Mitarbeiter abzufangen und vor ihre Kameras zu schleppen.
Gabrielle ließ den Blick über die Menge schweifen, konnte aber niemand erkennen, der wie Chris Harper aussah. Die eine Hälfte der Leute in der Lobby hatte Presseausweise angesteckt, die andere trug Lichtbildausweise der NASA um den Hals. Gabrielle hatte weder das eine noch das andere. Sie ging auf eine junge Frau mit einem NASA-Ausweis zu.
»Hi, ich suche Chris Harper.«
Die Frau betrachtete Gabrielle argwöhnisch, als würde sie sie kennen, ohne sagen zu können, woher. »Ich habe Dr. Harper vor einer Weile hereinkommen sehen«, sagte sie. »Ich glaube, er ist oben. Kennen wir uns?«
»Ich glaube nicht«, sagte Gabrielle und wandte sich ab. »Wie komme ich nach oben?«
»Sind Sie Angestellte der NASA?«
»Nein, das nicht.«
»Dann können Sie nicht nach oben.«
»Oh. Gibt es hier ein Haustelefon, mit dem…«
»He, jetzt weiß ich, wer Sie sind!« Die Frau wurde plötzlich sehr zornig. »Ich habe Sie doch im Fernsehen mit Senator Sexton gesehen. Wie können Sie die Unverschämtheit haben…«
Gabrielle war schon in der Menge verschwunden. Sie hörte noch, wie die Angestellte wütend hinter ihr hinausposaunte, wer hier herumlief.
Das fängt ja gut an. Keine zwei Minuten im Laden, und schon ganz oben auf der Fahndungsliste.
Mit gesenktem Kopf lief Gabrielle zu dem Wegweiser an der Wand am Ende der Lobby. Der einzige Eintrag, der auch nur ein bisschen Erfolg versprechend aussah, betraf die vierte Etage:
EARTH SCIENCE ENTERPRISE, PHASE II
Earth Observing System (EOS)
Mit abgewandtem Gesicht eilte sie zu der Nische mit den Aufzügen und einem Trinkwasserspender. Sie suchte nach den Rufknöpfen, aber da waren nur Schlitze. Mist. Gesicherte Aufzüge, nur für Hauspersonal mit ID-Karte.
Eine Gruppe junger Mitarbeiter mit Hausausweisen um den Hals kam aufgeregt schwatzend herbei. Über den Trinkwasserspender gebeugt beobachtete Gabrielle die Leute. Ein pickeliger Jüngling steckte seinen Ausweis in den Schlitz. Die Aufzugtür ging auf.
»Die Jungs bei SETI drehen jetzt sicher durch«, sagte der Jüngling lachend und schüttelte den Kopf. »Jetzt haben sie mit ihren Hornantennen seit zwanzig Jahren nach untypischen Signalfeldern unter zweihundert Millijansky gesucht, und der physikalische Beweis steckt seit Jahrhunderten hier auf der Erde im Eis!«
Die Aufzugtür ging zu, die jungen Männer verschwanden.
Gabrielle richtete sich wieder auf. Was jetzt? Sie sah sich nach einem Haustelefon um. Nichts. Vielleicht sollte sie versuchen, einen Ausweis zu klauen, aber etwas in ihr riet ihr davon ab. Sie sah die Frau von vorhin mit einem Sicherheitsbeamten der NASA durch die Lobby streifen.
Ein schlanker, kahlköpfiger Mann kam um die Ecke und ging geschäftig auf die Aufzüge zu. Gabrielle beugte sich wieder über den Brunnen. Der Mann schien sie nicht zu bemerken. Gespannt verfolgte Gabrielle, wie er sich vorbeugte und den Ausweis in den Kartenschlitz steckte. Wieder tat sich eine Fahrstuhltür auf.
Der Mann stieg ein.
Jetzt oder nie, dachte
Gabrielle.
Die Tür schloss sich langsam. Gabrielle wirbelte herum und rannte herbei. In letzter Sekunde streckte sie die Hand in die Türöffnung, und die Tür ging wieder auf. Mit vor Aufregung leuchtenden Augen sprang sie in den Aufzug. »Haben Sie so was schon mal erlebt?«, schwärmte sie den überraschten kahlköpfigen Herrn an. »Mein Gott, es ist einfach verrückt!«
Der Mann streifte sie mit einem verwunderten Blick.
»Die Jungs bei SETI sind bestimmt am Durchdrehen«, sagte Gabrielle. »Jetzt haben sie mit ihren Hornantennen seit zwanzig Jahren nach abweichenden Signalfeldern unter zweihundert Millijansky gesucht, und der physikalische Beweis steckt seit Jahrhunderten hier auf der Erde im Eis!«
Der Mann schaute überrascht auf. »Sicher… ja, das ist…« Sein Blick suchte Gabrielles Hausausweis. »Entschuldigen Sie, gehören Sie…«
»Zur Vierten bitte. Ich bin Hals über Kopf hergerannt. Vor lauter Eile hätte ich fast vergessen, die Unterwäsche anzuziehen!«
Gabrielle lachte. Sie erspähte den Namen des Mannes auf seinem Ausweis: JAMES THEISEN, Finanzabteilung.
»Arbeiten Sie hier bei uns?« Die Frage des Mannes war nicht besonders freundlich. »Miss…?«
Gabrielle ließ enttäuscht die Kinnlade fallen. »Jim! Das kränkt mich aber! Sie geben mir ja das Gefühl, dass ich bei Ihnen keinen Eindruck hinterlassen habe.«
Der Mann wurde blass. Er fuhr sich nervös mit der Hand über den Schädel. »Tut mir Leid, diese ganze Aufregung. Natürlich sehe ich Sie heute nicht zum ersten Mal. Bei welchem Programm waren Sie gleich beschäftigt?«
Gabrielle lächelte ihn selbstbewusst an.
»EOS.«
Der Mann deutete auf den Leuchtknopf mit der Vier. »Klar. Ich meine, bei welchem Projekt?«
Gabrielles Herz schlug schneller. Sie kannte nur ein Projekt.
»PODS.«
Der Mann schaute sie überrascht an. »Tatsächlich? Ich dachte, ich würde jedes Mitglied von Dr. Harpers Team kennen.«
Gabrielle nickte beschämt. »Chris hat mich in der Versenkung verschwinden lassen. Ich bin die blödsinnige Programmiererin, die den Voxel-Index in der Anomalien-Software verbockt hat.«
Jetzt fiel Gabrielles Gegenüber die Kinnlade herunter. »Das waren Sie?«
Gabrielle machte ein betroffenes Gesicht. »Ich konnte wochenlang nicht mehr schlafen.«
»Aber hat das nicht Dr. Harper auf seine Kappe genommen?«
»Ja. Chris ist so ein Typ. Außerdem hat er es wieder hingekriegt. Das war vielleicht eine Meldung heute Abend, mit diesem Meteoriten! Ich kann’s noch gar nicht glauben.«
Der Aufzug hielt in der vierten Etage. Gabrielle stieg aus.
»Schön, dass wir uns wieder einmal gesehen haben, Jim. Sagen Sie unseren Rotstiftartisten einen schönen Gruß!«
»Klar, mach ich«, erwiderte der Mann, während die Tür sich schloss. »Man sieht sich.«
83
Wie die meisten seiner Vorgänger kam auch Zach Herney mit täglich vier bis fünf Stunden Schlaf aus. In den letzten Wochen waren es allerdings beträchtlich weniger gewesen. Als die Anspannung der Ereignisse des heutigen Abends allmählich abklang, spürte Herney die späte Stunde in allen Gliedern.
Er hatte sich mit einigen seiner engen Mitarbeiter in den Roosevelt Room zurückgezogen, um zur Feier des Tages ein Gläschen Champagner zu trinken, während im Fernseher die endlosen Kommentare der großen Sendestationen zu seiner Pressekonferenz und Tollands Dokumentation samt den gelehrten Expertenkommentaren liefen. Zurzeit flötete eine aufgekratzte Fernsehjournalistin vor dem Weißen Haus in ihr Mikrofon.
»Die Entdeckung der NASA hat Folgen für die menschliche Gattung, die jede Vorstellungskraft sprengen, auch politische Nachwirkungen hier in Washington. Für den unter Beschuss geratenen Präsidenten hätte die Bergung dieses Meteoriten zu keiner besseren Zeit kommen können« – die Dame wurde ernst – »und zu keiner schlechteren für Senator Sexton.« Es folgte eine Überblendung auf die CNN-Debatte vom frühen Nachmittag.
»Nach fünfunddreißig Jahren vergeblicher Suche«, erklärte Sexton, »liegt es für mich auf der Hand, dass wir niemals außerirdisches Leben finden werden.«
»Und wenn doch?«, warf Marjorie Tench ein.
Sexton verdrehte die Augen. »Du lieber Himmel! Verehrte Mrs Tench, wenn ich mich irren sollte, fresse ich einen Besen!«
Die Anwesenden lachten. Im Rückblick sah ein Blinder mit dem Krückstock, dass Marjorie den Senator kalt lächelnd und eigentlich ziemlich plump vorgeführt hatte, doch kein Fernsehzuschauer schien daran Anstoß zu nehmen. Sextons Herablassung und sein arroganter Ton gaben allen das Gefühl, dass er es nicht besser verdient hatte.
Der Präsident schaute sich um. Wo war Marjorie Tench? Seit jenem Blickkontakt vor der Pressekonferenz hatte er sie nicht mehr gesehen, und jetzt war sie auch nicht da. Merkwürdig, dachte er, sie hat doch genauso viel Grund zum Feiern wie ich.
Die Fernsehsendung endete, indem zum tausendsten Mal der Quantensprung des Präsidenten nach vorne und das katastrophale Abschmieren von Senator Sexton beschworen wurden.
Gestern noch war alles anders, dachte Herney. In der Politik kann sich von einem Augenblick zum anderen alles ändern.
Im Morgengrauen sollte er Gelegenheit bekommen, sich von der Richtigkeit seiner Worte zu überzeugen.
84
Pickering könnte zum Problem werden, hatte Marjorie Tench gesagt. Lawrence Ekstrom war mit dieser neuen Wendung zu beschäftigt, als dass er bemerkt hätte, dass der Sturm inzwischen noch stärker geworden war. Die Spanntrossen heulten in einer höheren Tonart. Die NASA-Leute liefen nervös durcheinander und unterhielten sich aufgeregt. Keiner dachte ans Schlafen. Ekstrom jedoch war in Gedanken bei einem anderen Sturm, der sich in Washington zusammenbraute. In den letzten paar Stunden waren zahlreiche Probleme auf Ekstrom zugekommen, die gelöst sein wollten. Aber diese neue Schwierigkeit stellte alle bisherigen in den Schatten.
Pickering könnte zum Problem werden.
Ekstrom konnte sich niemand vorstellen, mit dem er so ungern die Klingen gekreuzt hätte, wie mit William Pickering. Pickering saß Ekstrom nun schon seit Jahren mit seinen Versuchen im Nacken, das Veröffentlichungsgebaren der NASA zu kontrollieren und auf die Zielsetzungen der Missionen Einfluss zu nehmen, wobei er auch noch über die zunehmende Zahl der Fehlschläge Gift und Galle spie.
Pickerings Unzufriedenheit mit der NASA hatte gewichtigere Gründe als den Verlust des milliardenschweren NRO-Satelliten Vortex 2 unlängst bei einer Raketenexplosion auf der Startrampe, oder die Sicherheitslecks, oder die gegenseitige Konkurrenz um Topleute aus Luft- und Raumfahrt.
Die X-33 der NASA, das Nachfolgemodell des Space Shuttles, war seit fünf Jahren überfällig. Dutzende von Satellitenreparatur- und Startprogrammen des NRO waren deshalb ausgefallen oder hatten vertagt werden müssen. Pickerings Zorn über die X-33 hatte vor einiger Zeit ungeahnte Dimensionen erreicht, als er entdecken musste, dass die NASA das Projekt abgeblasen und stillschweigend einen Verlust von geschätzten neunhundert Millionen Dollar hingenommen hatte.
An seinem Büro angekommen, zog Ekstrom den als »Tür« dienenden Vorhang beiseite und ging hinein. Er setzte sich an den Schreibtisch und stützte den Kopf in die Hände. Entscheidungen waren zu fällen. Was als ein wunderbarer Tag begonnen hatte, entwickelte sich zusehends zum Albtraum. Ekstrom versuchte, sich in die Haut von William Pickering zu versetzen. Was würde er als Nächstes tun? Ein Mann von Pickerings Intelligenz musste den Rang dieser NASA-Entdeckung erkennen und bei ein paar, der Not des Augenblicks entsprungenen Entscheidungen, schon einmal fünf gerade sein lassen. Er musste doch begreifen, dass nicht wieder gutzumachender Schaden entstand, wenn dieser Augenblick des Triumphs in Misskredit geriet!
Was würde Pickering mit den Informationen anstellen, an die er herangekommen war? Würde er die Sache laufen lassen, oder würde er die NASA für ihre Pleiten zur Kasse bitten?
Stirnrunzelnd zog Ekstrom Bilanz. Das Ergebnis war eindeutig.
Schließlich hatte Pickering noch ein anderes Hühnchen mit der NASA zu rupfen…
Es war diese alte, tief sitzende Verbitterung, die mit Politik nichts zu tun hatte.
85
Rachel starrte aus der Kabine der G4 zum Fenster hinaus ins Leere, während die Grumman an der kanadischen Küste des St.-Lorenz-Golfs entlangflog. Ihr anfänglicher Verdacht hatte durch Corkys Eingeständnis, dass der Nickelgehalt ein wenig außerhalb des zu erwartenden Mittelwerts gelegen habe, neue Nahrung erhalten, auch wenn die meisten Anhaltspunkte auf die Echtheit des Meteoriten hinwiesen. Einen »Meteoriten« heimlich ins Eis einzubringen, war nur im Gesamtzusammenhang eines brillant eingefädelten Betrugsmanövers sinnvoll.
Gleichwohl sprach die sonstige Beweislage immer
noch für die Echtheit des Meteoriten.
Rachel wandte den Blick vom Fenster und betrachtete die scheibenförmige Meteoritenprobe in ihrer Hand, in der die winzigen Chondren glitzerten. Tolland und Corky hatten sich in für Rachel unverständlichem Wissenschafts-Chinesisch schon seit einiger Zeit über diese metallischen Einschlüsse unterhalten. Was unter dem Strich herauskam, war Rachel dennoch klar: Tolland und Corky waren sich einig, dass die Chondren unzweifelhaft meteoritischer Natur waren. Daran führte kein Weg vorbei.
Rachel drehte die Steinscheibe in der Hand und ließ den Finger über das Stückchen Schmelzrinde am Rand gleiten. Die Verkohlung sah eigentlich ziemlich frisch aus – bestimmt nicht dreihundert Jahre alt –, doch Corky hatte ja erklärt, dass der im Eis eingeschlossene Meteorit einen idealen Verwitterungsschutz gehabt hatte, was auch logisch erschien. Rachel erinnerte sich an eine Fernsehsendung über die Bergung einer viertausend Jahre alten Leiche aus dem Eis, deren Haut nahezu unversehrt war.
Während Rachel die Schmelzrinde betrachtete, fiel ihr auf, dass gar kein Alterswert dafür ermittelt worden war. Sie fragte sich, ob er schlichtweg in der Datenflut untergegangen war, oder ob man einfach vergessen hatte, ihn ihr gegenüber zu erwähnen.
»Hat man eigentlich auch die Schmelzrinde datiert?«, sagte sie unvermittelt zu Tolland und Corky.
Corky blickte auf. »Was?«
»Hat man die Verbrennungen datiert? Ich meine, wissen wir eigentlich, ob die Schmelzrinde sich genau zum Zeitpunkt des Jungersol-Meteoriten gebildet hat?«
»Tut mir Leid«, sagte Corky. »Das kann man nicht datieren. Die Oxidation verfälscht sämtliche Isotope, die man zur Datierung heranziehen kann. Außerdem kann man mit der Methode des radioaktiven Zerfalls keine Zeiträume unter fünfhundert Jahren messen.«
»Dann könnte dieser Brocken also im Mittelalter oder erst letzte Woche verbrannt sein, richtig?«
»Niemand hat behauptet, dass die Wissenschaft für alles eine Antwort parat hat«, sagte Tolland lächelnd.
Rachel nickte nachdenklich. »Eine Schmelzkruste«, sagte sie,
»ist im Prinzip nichts anderes als das Ergebnis einer sehr starken Erhitzung. Die Verbrennungen dieses Brockens könnten innerhalb der letzten fünfhundert Jahre also zu jedem erdenklichen Zeitpunkt und auf jede erdenkliche Weise entstanden sein.«
»Falsch!«, sagte Corky. »Auf jede erdenkliche Weise nicht. Nur auf eine Weise, nämlich beim Sturz durch die Atmosphäre.«
»Eine andere Möglichkeit besteht nicht? Zum Beispiel in einem Hochofen?«
»In einem Hochofen!«, amüsierte sich Corky. »Wir haben die Proben unter einem Elektronenmikroskop untersucht. Selbst der sauberste Hochofen der Welt hätte überall auf dem Brocken Brennstoffrückstände hinterlassen, egal ob von nuklearem, chemischem oder fossilem Brennstoff. Keine Chance! Und was ist mit den Vertiefungen und Rillen, die vom Sturz durch die Atmosphäre herrühren?«
An die so genannten Striationen hatte Rachel gar nicht mehr gedacht. Der Meteorit schien tatsächlich durch die Atmosphäre gestürzt zu sein. »Und was ist mit einem Vulkan? Könnte es sich um Auswurf handeln, der bei einer Eruption mit großer Kraft herausgeschleudert wurde?«
Corky schüttelte den Kopf. »Der Brocken ist
viel zu sauber. «
Rachel schaute Tolland an. »Corky hat Recht, Rachel. Ich konnte einige Erfahrungen mit Vulkanen sammeln – über und unter Wasser. In vulkanischem Auswurf finden sich Dutzende von Toxinen. Ob es uns gefällt oder nicht, diese Schmelzrinde ist das Ergebnis einer sauberen Verbrennung durch Bremswärme in der Atmosphäre.«
Rachel schaute wieder zum Fenster hinaus. Eine saubere Verbrennung. Die Phrase ging ihr nicht aus dem Kopf. Sie wandte sich wieder an Tolland. »Was meinen Sie mit ›saubere Verbrennung‹?«
Tolland hob die Schultern. »Dass unter dem Elektronenmikroskop keinerlei Rückstände von Brennstoffbestandteilen zu erkennen sind. Dadurch wissen wir, dass die Erhitzung durch die Umwandlung von kinetischer Energie in Wärme erfolgt ist, einfach ausgedrückt durch Bremswärme, und nicht durch chemische oder nukleare Prozesse.«
»Wenn Sie also keine verunreinigenden Brennstoffbestandteile gefunden haben, was dann? Oder genauer – was darf in der Schmelzrinde sein?«
»Wir haben genau das gefunden, was wir erwartet haben«, schaltete Corky sich ein. »Die chemischen Elemente unserer Atmosphäre in Reinkultur: Stickstoff, Sauerstoff, Wasserstoff. Keine Petroleumverbindungen. Keine Schwefelverbindungen. Keine vulkanischen Säuren. Überhaupt nichts, was irgendwie nennenswert wäre. Eben genau das, was man bei Meteoriten nach dem Fall durch die Lufthülle findet.«
Rachel lehnte sich im Sitz zurück und dachte nach.
Corky beugte sich vor und schaute sie an. »Jetzt kommen Sie uns bitte nicht mit der Theorie, die NASA hätte einen Brocken mit Fossilien mit einem Space Shuttle hochgehievt und zur Erde runtergeworfen, im Vertrauen darauf, dass niemand den Feuerball, den großen Einschlagskrater und die Explosion bemerkt.«
Daran hatte Rachel noch gar nicht gedacht, aber es war eine bedenkenswerte Option. Nicht sehr wahrscheinlich, aber allemal interessant. Ihre Gedanken weilten näher am Erdboden. Die chemischen Elemente der Atmosphäre in Reinkultur. Saubere Verbrennung. Rillenbildung vom Sturz durch die Lufthülle. In ihrem Hinterkopf begann ein Lämpchen zu blinken. »Hatte das Verhältnis der atmosphärischen Elemente zueinander exakt den gleichen Wert wie bei jedem anderen Meteoriten mit Schmelzrinde, den Sie gesehen haben?«, wollte sie von Corky wissen.
»Warum fragen Sie?«, sagte Corky leicht verunsichert.
Rachel bemerkte sein Zögern. Ihr Herz schlug schneller. »Die Verhältnisse haben nicht genau gestimmt, nicht wahr?«
»Dafür gibt es eine wissenschaftliche Erklärung.«
Rachels Herz schlug plötzlich wild. »Und besonders bei einem Element war der Anteil leicht erhöht?«
Corky und Tolland tauschten einen überraschten Blick. »Ja«, sagte Corky, »aber…«
»War es ionisierter Wasserstoff?«
Die Augen des Astrophysikers wurden groß wie Untertassen.
»Woher haben Sie das denn gewusst?«
Tolland sah nicht weniger erstaunt aus.
Rachel schaute die beiden böse an. »Warum hat mir das keiner gesagt?«
»Weil es eine vollkommen natürliche Erklärung dafür gibt«, sagte Corky.
»Ich bin ganz Ohr«, sagte Rachel.
»Der Meteorit ist durch die Atmosphäre in der Nordpolregion gefallen, wo durch das Magnetfeld der Erde eine anormal hohe Konzentration von Wasserstoffionen herrscht.«
»Leider kann ich mit einer anderen Erklärung dienen«, meinte Rachel ungerührt.
86
Die vierte Etage des NASA-Hauptquartiers war weit weniger eindrucksvoll als die Lobby – lange sterile Korridore, rechts und links Bürotüren in gleichen Abständen. Sperrholzwegweiser zeigten in sämtliche Richtungen.
Gabrielle folgte den Pfeilen für PODS. Über lange Korridore und einige Abzweigungen gelangte sie an eine schwere Stahlflügeltür mit einer Schablonenaufschrift:
POLAR-ORBIT DICHTESCANNER (PODS)
Abteilungsleiter Chris Harper
Die Tür war verschlossen und mit Codekarte und Pincode doppelt gesichert. Gabrielle legte das Ohr an die Stahltür. Sie glaubte Stimmen zu hören und überlegte, ob sie einfach an die Tür hämmern sollte, bis jemand aufmachte. Doch der Plan, mit dem sie Chris Harper beikommen wollte, verlangte ein feinfühligeres Vorgehen, als an Türen zu hämmern. Sie blickte sich nach einem anderen Eingang um. Nichts zu sehen. In der Wand neben der Tür befand sich eine Putzkammer. Gabrielle quetschte sich hinein und suchte vergeblich nach einem Hausmeisterpassepartout oder einem elektronischen Türöffner.
Sie ging wieder zur Tür und lauschte. Diesmal waren eindeutig laute Stimmen zu hören, eine Auseinandersetzung vielleicht, dann Schritte. Innen an der Tür ging die Klinke.
Die Tür flog auf. Gabrielle hatte gerade noch Zeit, sich hinter dem Türflügel an die Wand zu quetschen. Eine Gruppe junger Leute kam laut schwatzend heraus. Sie schienen sich zu ärgern.
»Was ist mit Harper los? Ich dachte, der schwebt heute auf Wolke sieben«, sagte einer.
»An so einem Abend will der allein sein?«, sagte ein anderer im Vorbeigehen. »Hat der denn keine Lust zu feiern?«
Die Gruppe entfernte sich. Die Tür schwang langsam wieder zu. Gabrielle, nun in voller Lebensgröße sichtbar, stand an die Wand gepresst da. Die Leute schwenkten am Ende des Ganges um die Ecke. Nur noch ein paar Zentimeter, und die Tür war wieder zu. Im letzten Moment hechtete Gabrielle nach der Klinke.
Mit pochendem Herzen zog sie die Tür wieder ein Stück weit auf und trat über die Schwelle in den schwach beleuchteten Raum dahinter. Leise schloss sich hinter ihr die Tür.
Der weitläufige Saal erinnerte sie an das Physiklabor ihrer Collegezeit. Überall lagen Computer, Arbeitsinseln, elektronische Geräte. Lichtpausen und Tabellen herum. Der Saal war unbeleuchtet bis auf einen Bürokasten am anderen Ende. Durch die Glasscheibe in der Tür fiel Licht. Gabrielle ging leise auf die geschlossene Tür zu. Durch die Scheibe konnte sie einen Mann am Computer sitzen sehen. Es war der Mann von der Pressekonferenz. Auf dem Türschild stand:
Chris Harper
Abteilungsleiter PODS
Nachdem Gabrielle schon so weit gekommen war, kamen ihr auf einmal Bedenken, ob ihr Plan aufgehen würde. Sie holte tief Luft und ging noch einmal das Drehbuch in ihrem Kopf durch. Sie klopfte an die Tür.
»Ich habe euch doch gesagt, dass ich zu tun habe!«, rief Harper in seinem gepflegten Akzent.
Gabrielle klopfte noch einmal, diesmal lauter.
»Ich habe keine Lust, mit hinunterzukommen!«
Gabrielle schlug mit der Faust gegen die Tür.
Chris Harper lief herbei und riss die Tür auf. »Verdammt, ich will nicht…« Verblüfft verstummte er.
»Dr. Harper?« Gabrielles Stimme war fest und zuversichtlich.
»Wie sind Sie hier heraufgekommen?«
Gabrielle verzog keine Miene. »Sie wissen, wer ich bin?«
»Natürlich! Ihr Chef trampelt seit Monaten auf meinem Projekt herum. Wie sind Sie hier hereingekommen?«
»Senator Sexton hat mich geschickt.«
Harpers Blicke schweiften durch den Saal hinter Gabrielle.
»Wo ist Ihr Betreuer vom Sicherheitsdienst?«
»Das braucht nicht Ihre Sorge zu sein. Der Senator kennt einflussreiche Leute.«
»In unserem Haus?« Harper blickte skeptisch.
»Dr. Harper, Sie haben die Unwahrheit gesagt.
Ich muss Ihnen leider mitteilen, dass der Senator eine
Untersuchungskommission des Senats damit beauftragt hat, sich mit
Ihren Lügen zu befassen.«
Harper wurde blass. »Wovon reden Sie eigentlich?«
»Kluge Leute wie Sie können sich nicht den Luxus leisten, sich dumm zu stellen. Dr. Harper, es sieht nicht gut für Sie aus. Der Senator hat mich zu Ihnen heraufgeschickt, damit ich Ihnen ein Angebot mache. Die Wahlkampagne des Senators hat heute Abend einen schweren Rückschlag erlitten. Senator Sexton hat nicht mehr viel zu verlieren. Er wird Sie mit in den Abgrund reißen, sofern er sich dazu gezwungen sieht.«
»Wovon reden Sie überhaupt?«
Gabrielle holte Luft und warf die Schlinge aus. »Sie haben in der Pressekonferenz bezüglich der Behebung des Fehlers in der Anomalien-Software von PODS gelogen. Das wissen wir. Das wissen viele Leute. Aber darum geht es uns nicht.« Harper wollte sich verteidigen, doch Gabrielle holte schon zum nächsten Schlag aus. »Der Senator könnte Sie wegen Ihrer Lügen jederzeit hochgehen lassen, aber daran ist er im Moment nicht interessiert.
Er interessiert sich für die große Sache. Ich nehme an, Sie wissen, wovon ich rede.«
»Ich habe keinen Schimmer…«
»Also, hier das Angebot des Senators: Er hält den Mund über Ihre Software-Lügen, dafür nennen Sie uns den Namen des Mannes, mit dem zusammen Sie Gelder der NASA abgreifen.
Unterschlagung nennt man so etwas.«
Harper schienen die Augen aus dem Kopf zu springen. »Was?
Ich habe nichts unterschlagen!«
»Sir, ich möchte Ihnen empfehlen, sich Ihre
Worte genau zu überlegen. Die Senatskommission hat seit mehreren
Monaten Material gesammelt. Haben Sie und Ihr Komplize wirklich
geglaubt, Sie könnten mit Ihren Manipulationen von
PODS-Abrechnungen und der Umleitung von NASA-Geldern auf
Privatkonten ungeschoren davonkommen? Lügen und Unterschlagung sind
Straftaten! Dafür kommt man ins Gefängnis, Dr. Harper!«
»Ich habe nichts unterschlagen!«
»Aber Sie haben in Sachen PODS gelogen!«
»Verdammt, ich habe jedenfalls nichts unterschlagen!«
»Dann geben Sie also zu, dass Sie in Sachen PODS gelogen haben!«
Harper war sprachlos.
»Na gut, vergessen wir die Lügerei«, sagte Gabrielle mit einer wegwerfenden Geste. »Senator Sexton interessiert sich nicht für die Unwahrheiten, die Sie in einer Pressekonferenz verbreitet haben. So etwas begegnet uns täglich. Euer Laden hat einen Meteoriten gefunden, wer will da noch genau wissen, wie Ihr das geschafft habt? Was den Senator interessiert, sind die Unterschlagungen. Es muss ein hohes Tier von der NASA sein. Wenn Sie uns sagen, mit wem Sie unter einer Decke stecken, wird Senator Sexton dafür sorgen, dass die Untersuchung an Ihnen vorbeigeht. Ein Wort von Ihnen, und der Fall ist für Sie erledigt. Sie können es auch anders haben, aber dann kommen auch die Lügen mit der Anomalien-Software und der angeblichen Umgehung des defekten Bordcomputers auf den Tisch.«
»Sie bluffen. Es gibt keine auf Privatkonten abgezweigten Gelder.«
»Sie lügen wie gedruckt. Ich habe die
Unterlagen gesehen. Ihr Name steht auf jedem relevanten
Beleg.«
»Ich schwöre, dass mir von Unterschlagungen, welcher Art auch immer, nichts bekannt ist!«
Gabrielle stieß einen enttäuschten Seufzer aus. »Dr. Harper, betrachten Sie die Sache doch einmal durch meine Brille. Für mich gibt es nur zwei Möglichkeiten. Entweder Sie sagen mir nicht die Wahrheit, so wie Sie auch auf jener PODS-Pressekonferenz nicht die Wahrheit gesagt haben, oder Sie sagen vielleicht die Wahrheit, aber dann benutzt ein hohes Tier Ihrer Behörde Sie als Sündenbock für seine eigenen Machenschaften.«
Harper wurde nachdenklich.
Gabrielle sah auf die Uhr. »Das Angebot des Senators gilt eine Stunde. Sie können Ihren Hals retten, wenn Sie den Namen des Mannes preisgeben, mit dem zusammen Sie sich hier bei der NASA unter der Hand an Steuergeldern bereichern. Sexton ist an Ihnen persönlich nicht interessiert. Er will an den dicken Fisch heran. Die fragliche Person muss hier bei der NASA einiges zu sagen haben, denn der oder die Betreffende hat es bisher verstanden, den eigenen Namen herauszuhalten, womit Sie als Sündenbock dastehen.«
Harper schüttelte den Kopf. »Miss Ashe, Sie saugen sich da etwas aus den Fingern.«
»Würden Sie das auch vor Gericht behaupten?«
»Sicher. Ich werde alles abstreiten.«
»Unter Eid?« Gabrielle schnaubte verächtlich durch die Nase.
»Sie wären sogar im Stande, die Lüge über Ihre grandiose Reparatur der Software von PODS abzustreiten.« Ihr Herz pochte wild, aber sie blickte Harper direkt in die Augen. »Überlegen Sie sich gut, wie Sie sich entscheiden! Amerikanische Gefängnisse können sehr ungemütlich sein.«
Harper starrte nun seinerseits Gabrielle an, doch ihr Blick rang ihn nieder. Einen Augenblick schien er sich geschlagen zu geben, ging dann aber zum Gegenangriff über.
»Miss Ashe«, sagte er mit frostiger Stimme. Seine Augen funkelten zornig. »Ihre Spekulationen gehen ins Leere. Wir wissen beide, dass es bei der NASA keinen Unterschlagungsskandal gibt.«
Harper schaute sie wütend und wachsam an. Gabrielle hätte sich am liebsten umgedreht und wäre davongelaufen. Du hast versucht, einen Raketenspezialisten ins Bockshorn zu jagen. Was hast du eigentlich erwartet? Sie zwang sich zu einer selbstbewussten Haltung. »Ich weiß nur eines«, sagte sie und tat, als wäre ihr Harpers Stellung einerlei, »dass ich eine Menge belastendes Material gegen Sie gesehen habe – eindeutige Beweise, dass Sie und eine weitere Person Gelder der NASA veruntreuen. Der Senator hat mich gebeten, heute Abend zu Ihnen zu kommen und Ihnen eine Chance zu geben. Ich werde dem Senator berichten, dass Sie die Sache lieber vor Gericht ausfechten wollen.« Sie lächelte Harper grimmig an. »Aber nach dieser lahmen Pressekonferenz, die Sie vor zwei Wochen abgebrochen haben, hege ich gewisse Zweifel, dass Sie weit damit kommen werden.« Gabrielle drehte sich auf dem Absatz um und schritt durch das fast dunkle Labor davon.
Sie überlegte, ob nicht vielleicht sie selbst bald ein Gefängnis von innen sehen würde, und nicht Harper.
Während sie davonschritt, wartete sie darauf, von Harper zurückgerufen zu werden. Vergeblich. Sie schob die Stahltür auf und ging hinaus auf den Flur. Sie hatte verloren. Sie hatte sich nach Kräften bemüht, doch Harper hatte eben nicht angebissen.
Vielleicht hat er in der Pressekonferenz sogar die Wahrheit gesagt, dachte sie.
Plötzlich flogen mit einem lauten Schlag weit hinter ihr die stählernen Türflügel auf. »Miss Ashe«, rief Harper. »Ich bin ein anständiger Mensch! Ich schwöre, dass ich nichts von Unterschlagungen weiß.«
Gabrielle zwang sich, unbeeindruckt weiterzugehen. Sie zuckte die Achseln. »Trotzdem haben Sie auf dieser Pressekonferenz gelogen!«, rief sie über die Schulter.
Stille. Gabrielle ging weiter.
»Warten Sie!«, rief Harper und kam ihr nachgerannt. »Diese Sache mit den Unterschlagungen«, stieß er leise hervor, »ich glaube, ich weiß, wer mich da in die Pfanne hauen will.«
Gabrielle blieb abrupt stehen. Hatte sie richtig gehört? Mit provozierender Langsamkeit wandte sie sich Harper zu. »Ich soll Ihnen abnehmen, dass jemand Sie in die Pfanne hauen will?«
Harper seufzte abgrundtief. »Ich schwöre Ihnen, dass ich nichts von Unterschlagungen weiß. Aber wenn Beweise gegen mich vorliegen…«
»Ganze Aktenordner voll.«
»Das muss alles sehr schlau gegen mich eingefädelt worden sein. Um mich zu diskreditieren, wenn mal Not am Mann ist. Es gibt nur einen, der so etwas getan haben könnte.«
»Und wer?«
Harper blickte Gabrielle in die Augen. »Lawrence Ekstrom kann mich nicht ausstehen.«
»Ihr Chef?«, fragte Gabrielle fassungslos. »Der Direktor der NASA?«
Harper nickte grimmig. »Er war es, der mich
gezwungen hat, in dieser Pressekonferenz Märchen zu
erzählen.«
87
Das Flugzeug mit dem Namen Aurora jagte mit den Männern der Delta Force an Bord im extremen Tiefflug durch die Nacht. Obwohl die Triebwerke nur mit halber Kraft arbeiteten, flog die Maschine bereits dreifache Schallgeschwindigkeit.
Fünfzig Meter tiefer riss der Überschall-Stoßwellenkegel rechts und links der Flugbahn zwei riesige, wild aufschäumende Fontänen in die Luft, die wie Hahnenschwänze hinter der Maschine herfegten.
Die Aurora war eines jener geheimen Flugzeuge, deren Existenz im Dunkeln lag, und doch wusste jeder, dass es längst schon flog.
Sogar der Fernseh-Wissenschaftskanal »Discovery« hatte eine Sendung über die Aurora und ihre Testflüge in Nevada gebracht.
Ob die Geheimhaltungslecks durch die wiederholten »Himmelsbeben« entstanden waren, die man bis nach Los Angeles bemerkt hatte, oder die zufällige Sichtung durch einen Augenzeugen auf einer Ölbohrinsel in der Nordsee, oder die Panne, durch die eine Beschreibung der Aurora in ein der Öffentlichkeit zugängliches Exemplar des Pentagon-Haushaltsberichtes geraten war – es war letztlich unerheblich. Die Katze war aus dem Sack: Das U.S.-Militär hatte ein Flugzeug mit sechsfacher Schallgeschwindigkeit, und nicht nur auf dem Reißbrett.
Die Firma Lockheed hatte die Maschine gebaut, die wie ein abgeplatteter Football mit Dreiecksflügeln aussah. Sie war dreiunddreißig Meter lang und hatte achtzehn Meter Spannweite. Die glatte, elegant geschwungene Außenhaut bestand ähnlich wie beim Space Shuttle aus hitzebeständigen Keramikplatten. Die hohe Geschwindigkeit war in erster Linie das Resultat eines neuen Triebwerks, des so genannten »Puls Detonation Wave Engine«. Dieses Triebwerk kam fast ohne bewegliche Teile aus. Es wurde mit vernebeltem flüssigem Wasserstoff betrieben und hinterließ einen verräterischen Kondensstreifen am Himmel, der aussah wie eine Perlschnur von Wölkchen. Aus diesem Grund flog die Maschine vorwiegend nachts.
Dank der enormen Geschwindigkeit würde die Aurora in weniger als einer Stunde die Ostküste erreicht haben, gut zwei Stunden früher als die Opfer. Es hatte eine Diskussion gegeben, ob man das fragliche Flugzeug verfolgen und abschießen sollte, aber der Einsatzleiter hatte zu Recht befürchtet, der Vorfall könne vom Radar erfasst werden und die brennenden Wrackteile möglicherweise eine eingehende Untersuchung heraufbeschwören.
Die Grumman sollte lieber ganz normal landen. Sobald klar war, welchen Ort die Zielpersonen sich für die Landung ausgesucht hatten, würde die Delta Force zuschlagen.
Während die Aurora noch über die öde Labradorsee raste, meldete sich das Cryptalk von Delta-1.
»Die Situation hat sich geändert«, quäkte die elektronische Stimme. »Vor der Landung von Rachel Sexton und den Wissenschaftlern haben Sie noch einen anderen Auftrag zu erledigen.«
Noch einen anderen Auftrag erledigen? Delta-1 spürte, dass sich die Lage zuspitzte. Das Schiff des Einsatzleiters hatte ein weiteres Leck bekommen, das so schnell wie möglich gestopft werden musste. Das Leck wäre nicht auf getreten, hätten wir unseren Auftrag auf dem Milne-Eisschelf ordnungsgemäß erledigt. Delta-1 wusste nur zu gut, dass er nun seinen eigenen Dreck wegräumen musste.
»Eine vierte Partei ist ins Spiel gekommen«, sagte der Einsatzleiter.
»Wer?«
Der Einsatzleiter zögerte kurz – dann nannte er den Namen.
Die drei Männer schauten einander erstaunt an. Der Name war ihnen wohl bekannt.
Kein Wunder, dass der Einsatzleiter so zögerlich ist!, dachte Delta-1.
Das Unternehmen war ursprünglich als Operation ohne Verluste geplant, doch inzwischen bewegte sich die Zahl der Opfer rapide nach oben.
»Der Einsatz hat eine völlig neue Dimension bekommen«, sagte der Einsatzleiter. »Hören Sie genau zu. Ich gebe Ihnen diese Anweisungen nur ein einziges Mal.«
Delta-1 bemerkte seine innere Anspannung, als der Einsatzleiter ihn über Zeit und Ort der Eliminierung des neuen Opfers instruierte.
88
Wahrend die G4 Washington entgegenflog, begann Rachel, vor Michael Tolland und Corky Marlinson ihre Theorie für den erhöhten Wasserstoffionengehalt der Schmelzrinde des Meteoriten auszubreiten.
»Die NASA hat einen eigenen Triebwerkprüfstand in Plum Brook Station«, erläuterte Rachel. Sie war über sich selbst erstaunt, denn Geheiminformationen hatte sie noch nie preisgegeben. Aber nach Lage der Dinge hatten Tolland und Corky ein Recht, Rachels Wissen zu teilen. »Plum Brook ist vor allem ein Prüfstand für die neuesten Triebwerkentwicklungen der NASA.
Vor zwei Jahren habe ich eine Zusammenfassung von Berichten über ein in der Erprobung befindliches Wasserstofftriebwerk der NASA erarbeitet.«
Corky schaute Rachel argwöhnisch an. »Diese Triebwerke gibt es bisher nur auf dem Papier. Von Prüfstandläufen kann noch keine Rede sein.«
Rachel schüttelte den Kopf. »Die NASA hat Prototypen. Sie sind bereits im Test.«
»Was?«, rief Corky aus. »Diese Triebwerke laufen mit flüssigem Wasserstoff und Sauerstoff, und die gefrieren im Weltraum, sodass die Triebwerke für die NASA wertlos sind. Die NASA hat erklärt, man würde die Entwicklung einstellen, solange das Gefrierproblem noch nicht gelöst sei.«
»Man hat es gelöst, indem man den Wasserstoff in einem halb gefrorenen matschähnlichen Zustand hält. Dieser so genannte Slush-Wasserstoff hat einen enormen Energiegehalt und eine sehr saubere Verbrennung. Das Antriebssystem hat gute Aussichten, für die Marsmissionen der NASA verwendet zu werden.«
Corky schaute verblüfft drein. »Das kann doch nicht wahr sein!«
»Hoffentlich ist es wahr«, sagte Rachel. »Darüber habe ich nämlich einen Bericht für den Präsidenten verfasst.«
»Sie sagen also«, meinte Tolland beunruhigt, »dass die NASA ein sauberes Antriebssystem hat, das reinen Wasserstoff als Treibstoff verwendet?«
Rachel nickte. »Ich kann keine Zahlen nennen, aber die Abgastemperaturen dieser neuen Triebwerke sind offenbar um einiges höher als üblich. Die NASA war deshalb gezwungen, neue Werkstoffe zu entwickeln.« Rachel unterbrach sich. »Wenn man einen großen Gesteinsbrocken in den Abgasstrahl von einem solchen Slush-Wasserstofftriebwerk stellen würde, könnte man vermutlich eine schöne Schmelzrinde herstellen.«
»Also, nun lassen Sie mal gut sein«, sagte Corky. »Sind wir jetzt schon wieder dabei, uns einen falschen Meteoriten zu basteln?«
Tolland schien an Rachels Gedanken Gefallen zu finden. »Ich halte die Idee gar nicht für so abwegig. Der Aufbau wäre etwa so, als würde man einen Gesteinsbrocken unter ein startendes Space Shuttle auf den Starttisch legen.«
»Gott stehe mir bei«, stöhnte Corky, »ich befinde mich in einem Flugzeug voller Narren.«
»Corky«, sagte Tolland. »An sich müsste doch ein Stein, der in einem Abgasstrahl steht, die gleichen Verbrennungsmerkmale aufweisen wie ein Stein, der durch die Atmosphäre gestürzt ist, oder nicht? Er hätte die gleiche gerichtete Rillenbildung und die gleichen Fließmerkmale des geschmolzenen Materials.«
»Vermutlich«, sagte Corky.
»Und Rachels sauber verbrennender Wasserstoff würde keinerlei chemische Rückstände hinterlassen. Nur Wasserstoff und einen erhöhten Gehalt an Wasserstoffionen in den Vertiefungen der Kruste.«
Corky verdrehte die Augen. »Wenn es so ein Triebwerk tatsächlich gäbe und dieser Slush-Wasserstoff als Treibstoff verwendet würde, könnte es vielleicht stimmen. Aber das scheint mir alles sehr weit hergeholt.«
»Wieso?«, meinte Tolland. »Das Verfahren kommt mir nicht besonders kompliziert vor.«
Rachel nickte. »Man braucht nur einen einhundertneunzig Millionen Jahre alten Steinbrocken mit Fossilien, verbrennt ihn mit dem entsprechenden Abgasstrahl und platziert ihn im Eis. Schon ist der Meteorit fertig.«
»Für Touristen vielleicht«, sagte Corky. »Aber nicht für einen Wissenschaftler von der NASA! Ihr habt immer noch nicht die Chondren erklärt.«
Rachel rief sich Corkys Erklärung für die Entstehung von Chondren ins Gedächtnis. »Sie haben gesagt, dass Chondren sich durch plötzliche Erhitzungs- und Abkühlungsprozesse im Weltraum bilden, nicht wahr?«
Corky seufzte. »Chondren bilden sich, wenn ein weltraumkalter Stein schlagartig auf eine Temperatur in Schmelzpunktnähe gebracht wird – in der Gegend von tausendfünfhundertfünfzig Grad Celsius. Dann muss er extrem schnell wieder abkühlen, wobei die Schmelzeinschlüsse zu Chondren aushärten.«
Tolland schaute seinen Freund prüfend an. »Und dieser Prozess kann sich nicht auf der Erde vollziehen?«
»Unmöglich«, sagte Corky. »Unser Planet bietet nicht das Temperaturgefälle für eine so rapide Temperaturveränderung. Wir haben es hier mit nuklearen Hitzegraden und Weltraumtemperaturen um den absoluten Nullpunkt zu tun. Diese Extreme gibt es auf der Erde nicht.«
»Jedenfalls nicht in der Natur«, warf Rachel ein.
Corky sah sie an. »Was wollen Sie damit sagen?«
»Könnten die Erhitzung und Abkühlung nicht
künstlich herbeigeführt worden sein?«, meinte Rachel. »Der Brocken
könnte doch mit einem Wasserstoff-Abgasstrahl erhitzt und dann in
einer Tiefsttemperatur-Kühlanlage, in einem Kyrostaten, schlagartig
abgekühlt worden sein.«
Corky schaute verwirrt. »Künstliche Chondren?« Er schwenkte die Gesteinsprobe. »Haben Sie es schon wieder vergessen? Das Alter dieser Chondren ist eindeutig auf einhundertneunzig Millionen Jahre datiert. Und meines Wissens hat es zu der Zeit noch keine Wasserstofftriebwerke und keine Kyrostaten gegeben.«
Chondren hin oder her, dachte Tolland, die Verdachtsmomente häufen sich. Von Rachels Erwägungen über die Schmelzrinde tief beunruhigt, hatte er schon einige Minuten geschwiegen. Ihre Hypothesen waren zwar ziemlich kühn, aber sie hatten Tollands Überlegungen in eine neue Richtung gelenkt. Wenn es für eine künstliche Schmelzrinde eine Erklärung gibt… welche weiteren Möglichkeiten kommen dann ins Spiel?
»Sie sind so still«, sagte Rachel neben ihm.
Tolland schaut zu ihr hinüber. »Ach, ich war nur in Gedanken.«
Rachel lächelte. »An Meteoriten?«
»An was sonst?«
»Eine innere Beweisaufnahme, was von unserem Meteoriten noch übrig geblieben ist?«
»So in der Art.«
»Ist etwas dabei herausgekommen?«
»Nicht wirklich. Ich bin nur beunruhigt, wie alles ins Wanken geraten ist, nachdem wir den Schacht unter dem Meteoriten entdeckt haben.«
»Ein hierarchisches Gebäude von Beweisen ist
ein Kartenhaus«, sagte Rachel. »Wenn man die Grundannahme aufgibt,
kommt alles ins Wanken. Der Fundort des Meteoriten war unsere
Grundannahme.«
Das kannst du laut sagen! »Als ich auf dem Milne-Eisschelf ankam, hat Ekstrom mich instruiert, der Meteorit sei in einer dreihundert Jahre alten Matrix von unberührtem Eis aufgespürt worden und bestehe aus dichterem Gestein als alles andere Gestein in der Gegend. Natürlich war das für mich der logische Beweis, dass der Stein vom Himmel gefallen sein musste.«
»Für Sie und uns alle.«
»Der Nickelgehalt im mittleren Bereich ist zwar ein sehr schlüssiges, aber kein zwingendes Indiz.«
»Beinahe doch«, schaltete Corky sich ein.
»Aber eben nur beinahe. Und diese nie zuvor gesehene Spezies von Weltrauminsekt ist zwar unerhört bizarr«, sagte Tolland,
»aber es könnte auch bloß ein sehr altes Tiefseekrustentier sein.«
Rachel nickte. »Und mit der Schmelzrinde ist es ähnlich.«
»Ich sage es zwar nicht gern«, meinte Tolland und streifte Corky mit einem Seitenblick, »aber ich bekomme langsam das Gefühl, dass das Kontra das Pro überwiegt.«
»In der Wissenschaft geht es nicht um Gefühle«, sagte Corky,
»sondern um Beweise. Die Chondren in diesem Stein sind eindeutig meteoritischer Herkunft. Ich gebe euch beiden ja Recht, dass die Ergebnisse unserer Gedankenspiele sehr beunruhigend sind, aber wir kommen nicht an diesen Chondren vorbei. Der Beweis für die Echtheit ist zwingend, die Beweise dagegen sind allenfalls schlüssig.«
Rachel runzelte die Stirn. »Und was heißt das unterm Strich?«
»Gar nichts«, sagte Corky. »Die Chondren
beweisen, dass wir es hier mit einem Meteoriten zu tun haben. Wenn
es eine Frage gibt, dann die, weshalb ihn jemand von unten ins Eis
eingebracht hat.«
Tolland hätte sich nur allzu gern von der Logik seines Freundes überzeugen lassen, aber irgendwie passten die Dinge nicht zusammen. »Ich weiß nicht. Zwei Pro gegen ein Kontra war ja noch ganz gut, Corky. Aber jetzt haben wir nur noch ein Pro gegen zwei Kontra. Ich werde das Gefühl nicht los, dass wir etwas übersehen haben.«
89
Man hat mich erwischt, dachte Chris Harper. Der Gedanke an eine Gefängniszelle jagte ihm einen kalten Schauer über den Rücken. Senator Sexton weiß, dass ich über die PODS-Software Lügen verbreitet habe.
Während Chris Harper Gabrielle in sein Büro zurückbegleitete und die Tür hinter sich schloss, steigerte sich der Hass auf seinen Chef von Minute zu Minute. Heute Abend hatte er erfahren, wie monströs das Lügengebäude des NASA-Direktors war. Nicht nur, dass Ekstrom von Harper die fälschliche Behauptung erpresst hatte, die PODS-Software wieder in Gang gebracht zu haben, er hatte auch noch ein Sicherheitsnetz gesponnen für den Fall, dass Harper kalte Füße bekam und abspringen wollte.
Beweismaterial für Unterschlagungen, dachte Harper. Erpressung. Sehr schlau eingefädelt. Wer würde denn einem der Unterschlagung beschuldigten Mann glauben, der den größten Moment in der Geschichte der amerikanischen Raumfahrt madig machen will?
Harper hatte erlebt, was Ekstrom sich alles einfallen ließ, um die amerikanische Weltraumbehörde über Wasser zu halten. Mit der Ankündigung des Fossilien enthaltenden Meteoriten waren Ekstroms Gewinnchancen ins Unermessliche gestiegen.
Harper ging um den großen Schreibtisch, auf dem ein verkleinertes Modell des PODS-Satelliten stand. Die Übelkeit, die er verspürte, erinnerte ihn an seine Befindlichkeit bei dieser unguten Pressekonferenz. Er hatte damals eine miserable Figur gemacht. Alle hatten sich gewundert. Wiederum konnte er nur mit Lügen antworten, indem er behauptete, er sei an jenem Abend so schlecht beieinander gewesen, dass er sich selbst nicht mehr gekannt hätte. Der glanzlose Auftritt wurde von Kollegen und Presse gelassen hingenommen und war bald vergessen.
Jetzt kehrte er wie ein Gespenst zurück.
Gabrielle hatte sich auf einen Stuhl gesetzt und mit wachsam blickenden dunklen Augen gewartet. Jetzt schaute sie Harper mitfühlend an. »Mr Harper, wenn Sie den Direktor der NASA zum Feind haben, brauchen Sie einen mächtigen Verbündeten.
Zurzeit dürfte es wohl außer Senator Sexton niemand geben, der sich hinter Sie stellt. Lassen Sie uns mit der Geschichte mit der PODS-Software anfangen. Was ist damals geschehen?«
Harper seufzte. Er wusste, es war an der Zeit, die Wahrheit zu sagen. »Der Abschuss von PODS lief wie am Schnürchen«, begann Harper. »Der Satellit ging genau nach Plan in eine perfekte polare Umlaufbahn.«
Das wusste Gabrielle bereits. »Und weiter?«
»Dann begannen die Schwierigkeiten. Als wir
alles aktiviert hatten und die Suche nach Dichteanomalien im Eis
beginnen sollte, versagte im Bordcomputer die Analysesoftware zur
Erkennung von Dichteabweichungen.«
»Aha.«
Harper sprach jetzt schneller. »Diese Software sollte in der Lage sein, im Schnellverfahren die aus Tausenden Hektar Eis gewonnenen Daten zu analysieren und jene Stellen zu finden, wo die Eisdichte vom Normalwert abwich. Im Prinzip suchte die Software nach weichen Stellen im Eis, die für uns Indikatoren einer globalen Erwärmung sind. Das Analyseprogramm hätte übrigens auch sämtliche Dichteabweichungen anderer Art angezeigt. Es war geplant, dass PODS die Region um den Polarkreis ein paar Wochen lang absucht und Anomalien registriert, die wir zur Messung einer globalen Erwärmung heranziehen können.«
»Aber nachdem die Software nicht funktioniert hat, war PODS wertlos«, ergänzte Gabrielle. »Die NASA hätte die von PODS gelieferten Bilder mühsam Zentimeter für Zentimeter mit der Lupe absuchen müssen, um die fraglichen Stellen zu finden.«
Harper nickte. Der Albtraum seiner Programmierungspanne stand ihm ins Gesicht geschrieben. »Es hätte Jahrzehnte gedauert. Die Situation war grauenhaft. Weil ich bei der Programmierung Mist gebaut hatte, war der ganze Satellit im Grunde wertlos.
Zudem standen die Wahlen vor der Tür, und Senator Sexton hackte auf der NASA herum…«
»Ihr Fehler war für die NASA und den Präsidenten eine Katastrophe«, meinte Gabrielle wenig mitfühlend.
»Zu einem ungünstigeren Zeitpunkt hätte es nicht passieren können. Ekstrom war außer sich vor Wut. Ich habe ihm gesagt, ich könnte den Fehler bei der nächsten Shuttle-Mission beheben – man hätte bloß den Speicherchip mit den fraglichen Programmbefehlen austauschen müssen. Aber für mich war der Zug abgefahren. Ekstrom hat mich bis auf weiteres beurlaubt – im Prinzip war es ein Rausschmiss. Das war vor ein paar Monaten.«
»Und dann tauchten Sie vor zwei Wochen im Fernsehen auf mit der Erklärung, Sie hätten eine Lösung gefunden, die das Problem umgeht.«
Harper sank in sich zusammen. »Das war mein allergrößter Fehler. An diesem Tag hatte ich von Ekstrom einen verzweifelten Anruf bekommen. Er sagte, es hätte sich eine bestimmte Situation ergeben, durch die ich mich rehabilitieren könne. Er hat mich gleich zu sich ins Büro bestellt, wo er mir antrug, eine Pressekonferenz abzuhalten und zu verkünden, ich hätte eine Lösung für den Programmfehler im PODS-Computer gefunden, und in ein paar Wochen würden wir die Daten haben. Wozu das Ganze dienen sollte, wollte er mir später erklären.«
»Und Sie haben Ja gesagt.«
»Ach was, ich habe mich geweigert. Aber eine Stunde darauf stand mein Chef bei mir auf der Matte – mit der Chefberaterin des Präsidenten im Schlepptau!«
»Was? Marjorie Tench?«, stieß Gabrielle erstaunt hervor.
Eine grässliche Person, dachte Harper. »Ja. Sie und Ekstrom haben mich in die Ecke gedrängt und gesagt, wegen meinem Fehler stünden die NASA und der Präsident am Rand des Abgrunds. Dann durfte ich mir von Marjorie Tench die Pläne Sextons zur Privatisierung der NASA anhören. Sie sagte, ich sei es dem Präsidenten und der NASA schuldig, die Sache wieder in Ordnung zu bringen. Dann ging sie ins Detail.«
Gabrielle beugte sich vor. »Und?«
»Sie verriet mir, das Weiße Haus hätte durch einen glücklichen Zufall Kenntnis davon bekommen, dass ein riesiger Meteorit im Milne-Eisschelf stecke, einer der größten, die man je entdeckt hätte. Ein Meteorit dieser Größe stelle eine bedeutende Entdeckung der NASA dar.«
Gabrielle machte große Augen. »Langsam! Sie sagen also, dass schon jemand von dem Meteoriten gewusst hat, bevor PODS ihn entdeckte?«
»Ja, aber PODS hat mit der Entdeckung überhaupt nichts zu tun. Ekstrom wusste, dass es diesen Meteoriten gab. Er hat mir die Koordinaten gegeben und mich angewiesen, den Satelliten in die entsprechende Position zu bringen, von der aus er anschließend diese angebliche Entdeckung machen konnte.«
»Im Ernst?«
»Genau das war auch meine Reaktion, als ich von den beiden aufgefordert wurde, mich an dem Betrug zu beteiligen. Sie waren nicht bereit, mir zu verraten, woher sie überhaupt wussten, dass es dort einen Meteoriten gibt. Tench hat betont, es würde auch keine Rolle spielen, allerdings sei es für mich eine wunderbare Gelegenheit, das von mir verursachte Fiasko wieder gutzumachen. Wenn ich dafür sorge, dass PODS den Meteoriten ›entdeckt‹, könne die NASA sich die Entdeckung als längst überfälligen Erfolg an die Brust heften und dem Präsidenten vor der Wahl ordentlich Rückenwind verschaffen.«
Gabrielle staunte. »Und natürlich konnte PODS den Meteoriten nicht entdecken, solange Sie nicht erklärt hatten, dass seine Software wieder programmgemäß arbeitet!«
Harper nickte. »Deshalb musste ich auf der Pressekonferenz Märchen erzählen. Man hat mir keine andere Wahl gelassen.
Tench und Ekstrom kannten kein Pardon. Sie haben mich damit fertig gemacht, dass ich auf der ganzen Linie Mist gebaut hätte – der Präsident hätte das PODS-Programm finanziert, die NASA hätte jahrelange Arbeit hineingesteckt, und dann hätte ich mit meiner Schlamperei alles in den Sand gesetzt.«
»Und da haben Sie sich breitschlagen lassen.«
»Wie gesagt, ich hatte keine andere Wahl. Hätte ich nicht mitgemacht, hätte ich meine Karriere vergessen können. Und schließlich hätte PODS den Meteoriten ja auch tatsächlich gefunden, wäre mir der Fehler mit der Software nicht passiert. Zu dieser Zeit war es für mich gar keine richtige Lüge. Ich habe mir gesagt, dass die Software in ein paar Monaten, wenn das Shuttle wieder startet, ohnehin in Ordnung gebracht wird. Ich habe die Behebung des Problems bloß ein bisschen früher verkündet.«
Gabrielle pfiff durch die Zähne. »Eine kleine Flunkerei, damit der NASA die einmalige Gelegenheit mit dem Meteoriten nicht durch die Lappen geht.«
Harper war die Sache sichtlich unangenehm. »Da habe ich eben… mitgemacht. Wie von Ekstrom gewünscht, habe ich eine Pressekonferenz einberufen und erklärt, ich hätte für den Softwarefehler eine Lösung gefunden. Ein paar Tage darauf habe ich den Satelliten den Koordinaten meines Chefs entsprechend neu positioniert und wieder ein paar Tage später weisungsgemäß den Leiter des EOS-Programms angerufen und ihm gemeldet, dass PODS eine Dichteanomalie im Milne-Eisschelf entdeckt hätte.
Ich gab ihm die Koordinaten und erwähnte, dass die Anomalie durchaus ein großer Meteorit sein könne. Es gab helle Aufregung, und ein kleines Team wurde zum Milneschelf geschickt, um Kernbohrungen vorzunehmen. Von da an ging es dann Schlag auf Schlag.«
»Dann haben Sie also bis heute Abend überhaupt nicht gewusst, dass in dem Meteoriten Fossilien eingeschlossen waren?«
»Hier hat das kein Mensch gewusst. Alle sind ganz aus dem Häuschen und nennen mich einen Helden, weil ich den Beweis für außerirdische Lebensformen gefunden hätte. Ich weiß überhaupt nicht mehr, wie ich mich verhalten soll.«
Gabrielle schaute Harper eine Zeit lang unverwandt an. »Aber woher hat Ekstrom gewusst, wo der Meteorit steckt, wenn PODS ihn nicht im Eis lokalisiert hat?«
»Jemand anderes hatte ihn gefunden.«
»Wer?«
»Ein kanadischer Geologe namens Charles Brophy, der auf Ellesmere Island geforscht hat. Er hat wohl auf dem Milne-Eisschelf Ultraschalluntersuchungen durchgeführt und ist dabei auf einen großen, im Eis eingeschlossenen Meteoriten gestoßen.
Die NASA hat zufällig mitgehört, als er seine Entdeckung über Funk gemeldet hat.«
Gabrielle staunte. »Lässt dieser Kanadier es sich denn einfach gefallen, dass die NASA sich jetzt mit seinen Federn schmückt?«
»Praktischerweise kann er nichts mehr dagegen haben«, sagte Harper und schauderte. »Er ist nämlich tot.«
90
Mit geschlossenen Augen lauschte Michael Tolland dem Dröhnen der Triebwerke der G4. Den Versuch, bis zur Landung in Washington nicht mehr an den Meteoriten zu denken, hatte er längst aufgegeben. Corky zufolge waren die Chondren ein zwingender Beweis für die Echtheit des Meteoriten aus dem Milne-Eisschelf. Rachel hatte gehofft, William Pickering nach der Landung eine schlüssige Antwort liefern zu können, doch die Chondren hatten die Gedankenexperimente immer wieder in der Sackgasse landen lassen. Bei aller Fragwürdigkeit der Beweislage schien der Meteorit dennoch echt zu sein.
Sei’s drum.
Tolland war über Rachels Zähigkeit erstaunt. Nach den traumatischen Erlebnissen im eiskalten Wasser des Polarmeers war sie noch sehr mitgenommen, doch ihre Gedanken kreisten unentwegt um die neue Lage. Sie wollte unbedingt herausbekommen, ob der Meteorit echt oder gefälscht war und wer hinter dem Anschlag auf ihr Leben steckte. Rachel hatte während des größten Teils der Reise neben Tolland gesessen, und trotz der belastenden Umstände hatte er sich angeregt mit ihr unterhalten. Vor ein paar Minuten hatte sie sich in die Toilette im rückwärtigen Teil der Kabine zurückgezogen. Erstaunt stellte Tolland fest, dass sie ihm fehlte. Er fragte sich, wie lange es her war, dass eine Frau ihm gefehlt hatte – eine andere Frau als Celia.
»Mr Tolland?« Der Pilot steckte den Kopf durch die Cockpittür. »Sie hatten mich gebeten, Ihnen Bescheid zu sagen, wenn wir in Telefonreichweite zu Ihrem Schiff sind. Wenn Sie wollen, kann ich jetzt eine Verbindung herstellen. «
»Danke!« Tolland stand auf, ging nach vorn ins Cockpit und wählte. Er wollte seiner Mannschaft mitteilen, dass er erst in ein bis zwei Tagen wieder zurück sein werde. Es klingelte ein paar Mal, dann schaltete sich zu Tollands Überraschung der Anrufbeantworter des Schiffes ein, allerdings nicht mit dem üblichen vorprogrammierten Text, vielmehr war die übermütige Stimme des Bordkomikers vom Dienst zu vernehmen.
»Heia, heia, hier spricht die Goya«, tönte es aus dem Hörer.
»Tut uns Leid, dass im Moment keiner da ist, aber wir wurden leider alle von Riesenasseln entfuhrt. Nein, im Ernst, wir haben uns zur Feier von Mikes großem Auftritt einen kurzen Landurlaub gegönnt. Hinterlassen Sie uns bitte Ihren Namen und Ihre Nummer. Morgen, wenn wir wieder nüchtern sind, rufen wir Sie gern zurück. E.T. lässt grüßen!«
Tolland musste lachen. Die Leute seiner Mannschaft fehlten ihm schon jetzt ein wenig. Nach dem Anruf des Präsidenten hatte er das Schiff ziemlich überstürzt verlassen, und er freute sich, dass die Leute an Land gegangen waren, anstatt tatenlos auf dem Schiff zu sitzen. Auch wenn es in der Ansage hieß, dass alle an Land gegangen waren, ging Tolland davon aus, dass seine Leute das Schiff nicht unbeaufsichtigt gelassen hatten, zumal es in einer starken Strömung verankert lag.
Tolland drückte die Zahlenkombination, mit der er persönliche Botschaften abrufen konnte. Es piepste einmal im Hörer, also war es auch nur eine Nachricht. Die gleiche übermütige Stimme meldete sich wieder.
»Hi, Mike, gut gemacht! Wenn du das hörst, bist du wahrscheinlich gerade auf einer Megaparty im Weißen Haus und fragst dich, wo wir stecken. Junge, tut uns Leid, dass wir das Schiff aufgegeben haben, aber uns war nicht nach einer Feier mit Mineralwasser zu Mute. Mach dir keine Sorgen, wir haben den Kahn gut verankert und an der Haustür das Licht angelassen.
Natürlich hoffen wir, dass Piraten das Schiff kapern, damit die NBC dir ein neues kauft. War nur ein Spaß. Keine Panik, Xavia macht hier Stallwache, sie wollte sowieso an Bord bleiben. Sie meint, sie würde lieber allein etwas Sinnvolles tun, als ihre Zeit mit einer besoffenen Matrosenmeute zu vergeuden. Was sagt man dazu?«
Tolland musste lachen. Er war erleichtert, dass eine verantwortungsbewusste Person wie Xavia über das Schiff wachte. Sie war entschieden nicht der Typ für Partys. Die anerkannte Meeresgeologin war dafür bekannt, dass sie nie ein Blatt vor den Mund nahm.
Die Ansage war noch nicht zu Ende. »Also ehrlich, Mike, der heutige Abend war eine Wucht. Da packt einen wieder der Stolz, dass man Wissenschaftler ist! Alle sagen, dass die NASA jetzt ganz groß rauskommt. Aber zum Teufel mit der NASA, wir kommen jetzt noch viel größer raus! Die Einschaltquote für unsere Sendung ist heute Abend bestimmt ein paar Tausend Prozent in die Höhe geschossen. Mike, du bist ein Star, ein Superstar! Glückwunsch! Prima Arbeit!«
Tolland hörte Geflüster im Hintergrund, dann meldete sich die Stimme erneut. »Ach ja, wo wir schon von Xavia reden, sie hat was an dir herumzumeckern, damit du nicht übermütig wirst. Ich geb sie dir mal.«
Xavias Schneidbrennerorgan war zu vernehmen. »Hallo, Mike, hier Xavia. Mike, du bist ein Gott, ich geb’s ja zu. Und weil du für mich der Größte bist, habe ich mich breitschlagen lassen, auf deinem vorsintflutlichen Kahn den Babysitter zu spielen. Offen gesagt freue ich mich schon darauf, dieses rüde Volk, das sich Wissenschaftler schimpft, eine Weile nicht sehen zu müssen. Wie auch immer, vom Babysitterspielen für deinen Kübel mal abgesehen, hat die Mannschaft mich in meiner Rolle als Borddrachen darum gebeten, alles in meiner Macht stehende zu tun, damit du nicht zum hochnäsigen Ekel wirst, was nach dem heutigen Abend schwierig sein dürfte, aber ich sehe es als meine Verpflichtung an, die Erste zu sein, die dir unter die Nase reibt, dass du in deiner Dokumentation einen kleinen Bock geschossen hast.
Ja, du hast richtig gehört, Michael Tolland hat, was selten vorkommt, Bockmist erzählt. Aber mach dir keine Sorgen, auf der ganzen Welt gibt es höchstens drei Leute, denen es aufgefallen sein könnte, und das sind alles anal gestörte Meeresgeologen mit akutem Humordefizit – Leute wie ich. Aber du weißt ja, was man über uns Geologen sagt: Die interessieren sich nur für die Fehler.« Xavia lachte. »Egal, es ist nicht weiter wichtig, nur eine Kleinigkeit, was die petrologische Zusammensetzung von Meteoriten betrifft. Ich hab’s auch nur gesagt, um dir den Abend zu versauen. Ich hab mir gedacht, falls dich jemand darauf anspricht, sollte ich dich vorab warnen, damit du dann nicht als der Trottel dastehst, der du tatsächlich bist, wie wir alle wissen. Ich bleibe jedenfalls an Bord, als Partynudel bin ich eine Niete.« Xavia lachte wieder. »Übrigens, anrufen ist zwecklos, ich musste den Anrufbeantworter anstellen. Die Presse ruft den ganzen Abend schon pausenlos an. Du bist eben seit heute Abend ein Superstar, obwohl du diesen Bock geschossen hast. Wenn du wieder da bist, sag ich dir Bescheid.«
Die Ansage verstummte. Michael Tolland legte
die Stirn in Falten. Ein Fehler in meiner
Dokumentation?
Rachel Sexton stand in der luxuriösen Toilette der G4 und betrachtete sich im Spiegel. Sie sah blasser und erschöpfter aus, als sie erwartet hatte. Die schrecklichen Ereignisse des heutigen Abends hatten ihr alles abverlangt. Wie lange es wohl dauern würde, bis sie zu zittern aufhören oder sich gar wieder ans Meer wagen würde? Sie zog die U.S.S Charlotte-Mütze vom Kopf und ließ das Haar lang herunterfallen. Das ist schon besser, dachte sie und fühlte sich wieder ein bisschen wie sie selbst.
Sie blickte sich im Spiegel in die Augen, in denen die Erschöpfung stand. Aber darunter glühte die Entschlossenheit, eine Gabe ihrer Mutter. Lass dir von niemand vorschreiben, was du zu tun oder zu lassen hast. Ob ihre Mutter wohl gesehen hatte, was heute Abend passiert war? Mom, man hat versucht, mich zu töten! Jemand hat versucht, uns alle umzubringen!
Wieder einmal, wie nun schon seit Stunden, ging Rachel die Liste der möglichen Urheber durch.
Lawrence Ekstrom… Marjorie Tench… Präsident Zach Herney. Jeder von ihnen hatte ein Motiv, und erschreckender noch, jeder von ihnen hatte auch die Mittel. Der Präsident hat nichts damit zu tun, sagte Rachel zu sich selbst und klammerte sich an die Hoffnung, dass Zach Herney, den sie mehr respektierte als ihren eigenen Vater, bei diesen geheimnisvollen Ereignissen nur als unbeteiligter Außenstehender fungierte.
Wir wissen immer noch so gut wie nichts. Weder wer, noch was, noch warum…
Rachel hatte sich gewünscht, William Pickering mit Antworten begegnen zu können, doch bislang hatte ihr Bestreben nur noch mehr Fragen aufgeworfen.
Als Rachel wieder in die Kabine trat, bemerkte sie überrascht, dass Michael Tolland nicht auf seinem Platz saß. Corky döste ein paar Sitze weiter. Während Rachel sich noch in der Kabine umsah, trat Tolland aus dem Cockpit. Rachel sah den Piloten das Funktelefon einhängen. Sie bemerkte Tollands beunruhigten Blick.
»Ist was passiert?«, erkundigte sie sich.
Tolland berichtete ihr von der Ansage auf dem Anrufbeantworter. Seine Stimme klang sehr besorgt.
Ein Fehler in seiner Präsentation? Rachel hielt Tollands Reaktion für überzogen. »Es ist bestimmt nicht weiter wichtig«, sagte sie.
»Hat Xavia nicht gesagt, worum es ging?«
»Irgendetwas mit der Petrologie des Meteoriten.«
»Das heißt also, mit der Gesteinsstruktur?«
»Ja. Sie hat gesagt, es gäbe außer ihr vielleicht nur noch eine Hand voll anderer Geologen, die einen solchen Fehler bemerken könnten. Der Fehler scheint jedenfalls mit dem Meteoritengestein als solchem zu tun zu haben.«
Rachel begriff. Sie sog alarmiert die Luft ein. »Vielleicht mit den Chondren?«
»Ich kann es nicht sagen, aber das war natürlich auch mein erster Gedanke.«
Rachel gab ihm Recht. Die Chondren waren die letzte unumstößliche Stütze des Beweises, der den Felsbrocken eindeutig als Meteoriten auswies.
Corky gesellte sich zu ihnen. »Was ist los?«
Tolland erzählte ihm von dem Telefonat.
Stirnrunzelnd schüttelte Corky den Kopf. »Xavia
kann nicht die Chondren gemeint haben. Unmöglich. Wir haben doch
die Befunde der NASA. Und meine. Die sind einwandfrei.«
»Welchen anderen gesteinskundlichen Irrtum könnte ich denn sonst gemacht haben?«
»Was weiß ich? Außerdem, was weiß eine Meeresgeologin schon von Chondren?«
»Keine Ahnung, aber die Frau kennt sich verdammt gut aus.«
»Ich glaube, in Anbetracht der Umstände sollten wir uns vor unserem Gespräch mit Pickering mit dieser Frau unterhalten«, warf Rachel ein.
»Ich habe schon viermal versucht, sie anzurufen«, sagte Tolland, »aber jedes Mal war nur der Anrufbeantworter dran. Wahrscheinlich steckt Xavia im Hydrolab. Sie wird meine Botschaften vermutlich frühestens morgen Früh abhören…« Tolland brach ab und schaute auf seine Uhr. »Aber wir könnten vielleicht…«
»Was könnten wir vielleicht?«, erkundigte sich Rachel.
Tolland sah sie nachdenklich an. »Wie wichtig ist es Ihrer Meinung nach, dass wir uns vor dem Gespräch mit Ihrem Chef mit Xavia unterhalten?«
»Mike, falls sie uns etwas zu den Chondren zu sagen hat, ist es ganz entscheidend«, sagte Rachel. »Im Moment stehen wir vor widersprüchlichen Befunden. William Pickering ist ein Mann, dem man nicht mit unklaren Sachverhalten kommen sollte.
Wenn wir mit ihm zusammentreffen, würde ich ihm als Grundlage seines weiteren Vorgehens gern etwas Handfestes bieten.«
»Dann machen wir einen Zwischenstopp.«
Rachel wurde blass. »Doch nicht auf Ihrem Schiff?«
»Es liegt vor der Küste von New Jersey, fast genau auf unserem Weg nach Washington. Wir reden kurz mit Xavia und hören uns an, was sie zu sagen hat. Corky hat ja immer noch die Meteoritenprobe, und wenn Xavia ein paar petrologische Tests anstellen will, ist unser Schiffslabor gut dafür ausgerüstet. Ich würde sagen, es kostet uns höchstens eine Stunde, dann haben wir eine verbindliche Antwort.«
Rachel spürte, wie die Angst ihr Herz schneller schlagen ließ.
Der Gedanke, sich so schnell wieder dem Ozean stellen zu müssen, machte ihr zu schaffen. Eine verbindliche Antwort, dachte sie.
Die Aussicht war verlockend. Pickering erwartet eine verbindliche Antwort.
91
Delta-1 war froh, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben.
Obwohl die Aurora-Maschine nur mit halber Kraft geflogen war, hatte sie die Strecke in weniger als zwei Stunden zurückgelegt. Das Delta-Force-Team hatte einen soliden Vorsprung von zwei Stunden gewonnen, um seine Position für die zusätzliche Liquidierung zu beziehen, die der Einsatzleiter befohlen hatte.
Nach der Landung auf einem geheimen Militärflugplatz außerhalb Washingtons ging die Einsatzgruppe an Bord eines wartenden OH-58D Kiowa Warrior-Kampfhubschraubers.
Wieder einmal vom Feinsten, dachte Delta-1.
Dieser Hubschrauber war ursprünglich als leichter Aufklärungshubschrauber entworfen worden. Durch »Erweiterungen und Verbesserungen« war daraus das Modernste geworden, was die Streitkräfte an Kampfhubschraubern zu bieten hatten. Ein Hochgeschwindigkeits-Signalprozessor ermöglichte die gleichzeitige Verfolgung von bis zu sechs Zielen. Kaum ein Gegner, der einen Kiowa aus der Nähe gesehen hatte, dürfte in der Lage gewesen sein, darüber zu berichten.
Als Delta-1 auf den Pilotensitz kletterte und sich anschnallte, spürte er das vertraute, erhebende Machtgefühl. Er hatte diese Maschine, auf der er ausgebildet worden war, schon bei drei verdeckten Einsätzen geflogen. Natürlich hatte er mit dieser Waffe noch nie zuvor einen hohen amerikanischen Staatsdiener abgeschossen, aber er musste zugeben, dass der Kiowa die perfekte Maschine für diesen Auftrag war. Das geräuscharme Allison-Antriebsaggregat von Rolls Royce und die halbstarren, »leisen«
Rotorblätter sorgten dafür, dass auf dem Boden befindliche Ziele den anfliegenden Hubschrauber meist erst hören konnten, wenn er direkt über ihnen war. Da die voll blindflugtaugliche Maschine in absoluter Dunkelheit fliegen konnte, rundum schwarz lackiert war und keinerlei reflektierende Hoheitszeichen trug, war sie nachts im Prinzip unsichtbar, es sei denn, der Gegner verfügte über Radar. Beim Abheben von der Landebahn klangen Delta-1 immer noch die Worte des Einsatzleiters im Ohr. Sie haben noch einen anderen Auftrag zu erledigen. Angesichts der Identität der Zielperson war der Ausdruck »Auftrag erledigen« eine wohl kaum zu überbietende Untertreibung. Delta-1 rief sich innerlich zur Ordnung. Es war nicht an ihm, Fragen zu stellen. Sein Team hatte einen Befehl auszuführen, und es würde ihn genau nach Anweisung erledigen – so schockierend die Methode auch war.
Ich kann nur hoffen, dass unser Einsatzleiter weiß, was er tut.
Der Kiowa schwenkte nach Westen. Delta-1 hatte
das Franklin D. Roosevelt Memorial schon zweimal gesehen, aber noch
nie aus der Luft.
92
Dieser Meteorit ist ursprünglich von einem kanadischen Geologen entdeckt worden?« Gabrielle Ashe schaute erstaunt den jungen Programmleiter Chris Harper an. »Und inzwischen ist er tot?«
Harper nickte grimmig.
»Wie lange wissen Sie das schon?«
»Ein paar Wochen. Nachdem mein Chef und Marjorie Tench mir diese schändliche Pressekonferenz abgenötigt hatten, wussten sie, dass ich ihnen nicht mehr gefährlich werden konnte, und sie haben mir erzählt, wie die Entdeckung des Meteoriten wirklich abgelaufen ist.«
PODS war nicht an der Entdeckung des Meteoriten beteiligt! Gabrielle hatte keine Ahnung, was diese Informationen zur Folge haben würden, aber ein Skandal war es allemal – schlechte Neuigkeiten für Marjorie Tench, aber ein gefundenes Fressen für den Senator.
»Wie schon gesagt ist die NASA in Wirklichkeit durch eine mitgehörte Funkmeldung auf den Meteoriten aufmerksam geworden. Ist Ihnen ein Forschungsprogramm mit der Bezeichnung INSPIRE ein Begriff?«
Gabrielle hatte schon davon gehört, wusste aber nichts Näheres.
»Im Grunde ist es eine rund um den Nordpol
aufgebaute Kette von Radioempfängern, die den Geräuschen der Erde
lauschen –
Plasmawellenstrahlungen der Nordlichter, Breitbandimpulse von Magnetstürmen und ähnliche Phänomene.«
»Ich verstehe.«
»Vor ein paar Wochen hat einer der IMPULSE-Empfänger einen verirrten Funkspruch von Ellesmere Island aufgefangen.
Ein kanadischer Geologe hatte einen Hilferuf abgesetzt, und zwar auf einer ungewöhnlich tiefen Frequenz – so tief, dass keine anderen Empfänger als die extremen Langwellen-Empfänger von der NASA den Funkspruch überhaupt auffangen konnten.
Wir haben angenommen, dass der Kanadier ganz bewusst auf extreme Langwelle gegangen ist.«
»Wie soll ich das verstehen?«
»Er hat vermutlich die tiefstmögliche Sendefrequenz eingestellt, um die für Langwellen typische große Reichweite zu bekommen.
Vergessen Sie nicht, er war da oben am Ende der Welt. Auf der normalen Frequenz wäre sein Ruf vielleicht gar nicht gehört worden.«
»Wie hat er denn gelautet?«
»Er war ziemlich kurz. Der Kanadier sagte, er hätte auf dem Milne-Eisschelf Ultraschallmessungen durchgeführt und dabei eine im Eis begrabene starke Dichteabweichung entdeckt, die er für einen großen Meteoriten halte. Während der Messungen sei er in einen Sturm geraten. Nachdem er die Koordinaten seines Standorts angegeben hatte, bat er um Rettung und meldete sich ab. Die Horchstation der NASA hat darauf von Thule ein Rettungsflugzeug herbeordert, das stundenlang nach dem Mann gesucht hat. Schließlich hat man ihn meilenweit vom angegebenen Standort entfernt samt Schlitten und Schlittenhunden tot in einer Gletscherspalte gefunden. Er hatte anscheinend versucht, vor dem Sturm davonzulaufen, ist schneeblind geworden, vom Kurs abgekommen und in die Spalte gestürzt.«
»Und damit hatte die NASA plötzlich einen Meteoriten, von dem niemand sonst etwas wusste«, kommentierte Gabrielle nachdenklich.
»Genau. Und wenn meine Software richtig gearbeitet hätte, wäre der gleiche Meteorit von unserem PODS-Satelliten schon eine Woche zuvor entdeckt worden!«
»Nachdem der Meteorit dreihundert Jahre im Eis geschlummert hatte, wäre er innerhalb von einer Woche beinahe gleich zweimal entdeckt worden?«, sagte Gabrielle skeptisch.
»Ja, ich weiß, es ist verrückt, aber in der Wissenschaft passieren solche Dinge. Lange Zeit nichts, und dann plötzlich alles auf einmal. Unser NASA-Chef war der Ansicht, dass die Entdeckung des Meteoriten ohnehin uns zugestanden hätte – wenn ich nicht gemurkst hätte. Er meinte zu mir, es würde kein Hahn danach krähen, wenn ich den Satelliten auf die Koordinaten vom SOS des Kanadiers bringen und den Meteoriten dann ›entdecken‹ würde. So könne ich eine peinliche Pleite in einen beachtlichen Erfolg ummünzen.«
»Und das haben Sie getan.«
»Wie gesagt, ich hatte gar keine andere Wahl. Ich hatte ja die ganze Mission vermasselt.« Er hielt inne. »Als ich heute Abend durch die Pressekonferenz des Präsidenten erfahren habe, dass der angeblich von mir entdeckte Meteorit Fossilien enthielt…«
»Da waren Sie platt.«
»Wie eine Flunder!«
»Meinen Sie, Ihr Chef könnte gewusst haben,
dass der Meteorit Fossilien enthielt, noch bevor er Sie zu diesem
windigen Entdeckungsmanöver mit PODS angestiftet hat?«
»Das kann ich mir nicht vorstellen. Der Meteorit hat unberührt im Eis gesteckt, bis das erste NASA-Team eintraf. Ich gehe davon aus, dass die NASA keine Ahnung hatte, was für ein Fund das in Wirklichkeit war, bis die Spezialisten für Kernbohrungen und Radarerkundung tätig wurden. Als man mich zu dem Schwindel mit PODS aufgefordert hat, ging es noch um einen Achtungserfolg mit einem ungewöhnlich großen Meteoriten.
Erst als die ganze Sache näher untersucht wurde, hat man begriffen, was für ein ungeheuerlicher Fund das in Wirklichkeit war.«
Gabrielle wagte vor Aufregung kaum zu atmen. »Dr. Harper, würden Sie auch im Zeugenstand aussagen, dass die NASA und das Weiße Haus die Anstifter Ihres Schwindels mit der PODS-Software gewesen sind?«
»Ich weiß nicht.« Harper schien Angst zu haben. »Ich kann die Auswirkungen auf unsere Behörde nicht recht absehen… und auch auf die Entdeckung.«
»Dr. Harper, wir wissen beide, dass der Meteorit nach wie vor ein großartiger Fund bleiben wird, gleichgültig, wie es dabei zugegangen ist. Der entscheidende Punkt ist doch, dass Sie das amerikanische Volk hinters Licht geführt haben. Die Leute haben ein Recht zu erfahren, dass PODS nicht das geleistet hat, was die NASA von ihm behauptet.«
»Ja, schon. Mir wird zwar übel, wenn ich an meinen Chef denke, aber meine Kollegen… das sind alles prima Leute.«
»Und gerade deshalb sollten sie erfahren, dass sie an der Nase herumgeführt wurden.«
»Und was ist mit den Unterschlagungen und dem
Beweismaterial, das gegen mich vorliegt?«
»Die Geschichte können Sie vergessen«, sagte Gabrielle, die schon längst nicht mehr an ihr Überrumpelungsmanöver dachte.
»Ich werde dem Senator berichten, dass die Unterschlagungen frei erfunden sind – nichts als eine Rückversicherung Ihres Chefs, damit Sie in Sachen PODS bei der Stange bleiben.«
»Kann der Senator mich schützen?«
»Auf der ganzen Linie. Sie haben doch nichts Böses getan. Sie haben nur Anweisungen befolgt. Außerdem kann ich mir nach den Informationen, die Sie mir gerade über den kanadischen Geologen gegeben haben, nicht vorstellen, dass der Senator überhaupt auf den Unterschlagungsvorwurf eingehen muss. Wir können uns ganz und gar auf die Fehlinformationspolitik der NASA hinsichtlich des PODS-Satelliten und des Meteoriten konzentrieren. Wenn der Senator erst einmal die Sache mit dem Kanadier an die Öffentlichkeit gebracht hat, kann Ihr Chef es sich nicht mehr leisten, Sie mit falschen Anschuldigungen diskreditieren zu wollen.«
Harper sah tief beunruhigt aus. Schweigend dachte er darüber nach, wie er sich verhalten sollte. Gabrielle vermied es, ihn zu drängen, doch sie merkte, dass er noch einen letzten Anstoß brauchte. Die Geschichte mit dem kanadischen Geologen hatte eine merkwürdige Unstimmigkeit, die Gabrielle gleich aufgefallen war. Sie hatte ursprünglich nicht näher darauf eingehen wollen.
»Mr. Harper, haben Sie einen Hund?«
Harper hob den Blick. »Wie bitte?«
»Sie haben mir doch gesagt, kurz nachdem der kanadische Geologe die Koordinaten des Meteoriten gefunkt hatte, wären seine Schlittenhunden blindlings in eine Gletscherspalte gerannt. Mir kommt das ein bisschen seltsam vor.«
»Es geschah in einem Schneesturm. Und vom Kurs abgekommen waren sie auch.«
Gabrielle hob die Schultern. Ihre Skepsis war mehr als deutlich.
»Na ja, egal.«
Harper spürte Gabrielles Zögern. »Worauf wollen Sie hinaus?«
»Für mein Gefühl kommt bei dieser Entdeckung ein bisschen zu oft der Zufall ins Spiel: Ein Geologe funkt die Koordinaten des Meteoriten auf einer Frequenz, die nur von der NASA abgehört werden kann, und gleich darauf rennen seine Schlittenhunde blindlings in eine Gletscherspalte?« Gabrielle machte eine wirkungsvolle Pause. »Ihnen ist doch klar, dass der Tod des Kanadiers für die NASA der Türöffner zu ihrem kolossalen Triumph gewesen ist.«
Die Farbe wich aus Harpers Gesicht. »Sie meinen also, mein Chef würde für diesen Meteoriten nicht einmal vor einem Mord zurückschrecken?«
Große Politik, großes Geld, dachte Gabrielle. »Ich werde erst einmal mit dem Senator sprechen. Sie hören von mir. Gibt es hier irgendwo einen Hinterausgang?«
Gabrielle ließ einen blassen und verstörten Chris Harper zurück und stieg die Feuertreppe auf der Rückseite des Gebäudes hinunter. Unten angekommen, ging sie durch die dunkle Zufahrt nach vorn und winkte ein Taxi herbei, das weitere Gäste der NASA abgeladen hatte. »Westbroke Apartments«, sagte sie zum Fahrer.
Bald wird Senator Sextons Laune sich erheblich bessern, dachte sie, als das Taxi anfuhr.
93
Rachel stand neben der Cockpittür der G4 und fragte sich, worauf sie sich schon wieder eingelassen hatte. Um außer Hörweite des Piloten sprechen zu können, hatte sie den Hörer des Funktelefons an seinem Spiralkabel bis in die Kabine gezogen. Corky und Tolland schauten ihr zu. Rachel hatte mit Pickering zwar bis zur Landung auf Bolling Air Base Funkstille vereinbart, inzwischen jedoch hatte sich eine Informationslage ergeben, von der Pickering unverzüglich in Kenntnis gesetzt sein wollte. Rachel hatte die Nummer von Pickerings abhörsicherem Handy gewählt, das er stets bei sich trug.
Pickering meldete sich. Sein Tonfall war geschäftsmäßig. »Bitte achten Sie auf die Wahl Ihrer Worte, ich kann die Sicherheit unserer Verbindung leider nicht garantieren.«
Rachel verstand sofort. Wie bei allen mobilen Telefonen des NRO leuchtete auch an Pickerings Handy bei Anrufen von einem ungesicherten Apparat ein Lämpchen auf. Das Gespräch würde sehr allgemein geführt werden müssen. Rachel rechnete mit Pickerings Missbilligung über ihren riskanten Anruf.
Sie benutzte die in diesem Fall übliche Floskel. »Meine Stimme ist meine Kennung«, sagte sie.
Pickerings Reaktion war durchaus positiv. »Ich wollte gerade meinerseits Kontakt mit Ihnen aufnehmen«, sagte er. »Wir müssen umdisponieren. Ich fürchte, Sie bekommen ein Empfangskomitee.«
Rachel verspürte jähe Angst.
Wir werden beobachtet! Rachel hörte den besorgten Unterton in Pickerings Stimme. Umdisponieren. Pickering würde sich freuen, dass genau dies das Anliegen ihres Anrufs war, wenn auch aus völlig anderen Gründen.
»Wir haben das Problem der Echtheit diskutiert«, sagte Rachel.
»Es dürfte einen Weg geben, zu einem klaren Ja oder Nein zu kommen.«
»Ausgezeichnet. Das würde die Richtung für mein weiteres Vorgehen klären. Es hat neue Entwicklungen gegeben.«
»Wir müssten allerdings einen kurzen Zwischenstopp einlegen.
Einer von uns hat Zutritt zu einem Labor…«
»Bitte keinen Namen und keinen Ort! Ihrer Sicherheit zuliebe.«
Rachel hatte ohnehin nicht vor, ihre Pläne über diese Leitung hinauszuposaunen. »Können Sie uns eine Landeerlaubnis in GAS-AC besorgen?«
Pickering schwieg einige Sekunden. Rachel merkte, dass er sich bemühte, die Buchstabenfolge zu knacken. GAS-AC war ein altes NRO-Kürzel für den Flugplatz einer Abteilung der Küstenwache bei Atlantic City. Rachel hoffte, dass Pickering das Kürzel kannte.
»Das geht«, sagte er schließlich. »Ist es der Bestimmungsort?«
»Nein, wir benötigen Weiterflug per Hubschrauber.«
»Es wird eine Maschine für Sie bereitstehen.«
»Danke.«
»Ich rate Ihnen zu äußerster Vorsicht, bis wir besser im Bilde sind. Es gibt mächtige Mitspieler, bei denen Ihre Vermutungen tiefe Besorgnis ausgelöst haben.«
Marjorie Tench, dachte Rachel.
»Ich bin derzeit in meinem Wagen auf dem Weg zu einem Treffen mit der fraglichen Person. Sie hat um eine vertrauliche Unterredung an einem neutralen Ort gebeten. Das Gespräch wird aufschlussreich sein.«
Pickering fährt irgendwo hin, um sich mit Tench zu treffen? Es musste schon um etwas sehr Wichtiges gehen, sonst hätte die Beraterin Pickering am Telefon informiert.
»Kein Wort über Ihre Bestimmungskoordinaten zu wem auch immer, und kein weiterer Kontakt über Funk!«, mahnte Pickering. »Ist das klar?«
»Ja, Sir. Wir werden GAS-AC in einer Stunde erreichen.«
»Für Ihren Transport wird gesorgt. Wenn Sie am Zielort sind, können Sie über eine sicherere Leitung Kontakt mit mir aufnehmen.« Pickering hielt inne. »Ich kann nicht genug darauf hinweisen, dass Geheimhaltung für Ihre Sicherheit das oberste Gebot ist. Sie haben sich heute Abend sehr mächtige Feinde gemacht.
Verhalten Sie sich entsprechend.« Es klickte, und Pickering war aus der Leitung.
»Neues Ziel?«, erkundigte sich Tolland.
Rachel nickte. »Die Goya«, sagte sie mit einem mulmigen Gefühl im Magen.
Corky betrachtete seufzend das Stück Meteoritengestein in seiner Hand. »Ich kann mir einfach nicht vorstellen, wie die NASA…« Er verstummte. Von Minute zu Minute blickte er ratloser drein.
Bald werden wir Gewissheit haben, dachte Rachel. Sie ging ins Cockpit und gab den Hörer zurück. Während sie durch die Windschutzscheibe die unter ihr dahinrasenden Wolkenfelder betrachtete, beschlich sie das ungute Gefühl, dass die Ergebnisse des Besuchs auf Tollands Schiff niemandem gefallen würden.
94
William Pickering empfand eine ungewohnte Einsamkeit, als er in seiner Limousine den Leesburg Highway hinunterfuhr. Es war zwei Stunden nach Mitternacht. Die Straße gehörte praktisch ihm allein. Seit Jahren war er nicht mehr so spät unterwegs gewesen.
Im Geiste hörte er immer noch Marjorie Tenchs raues Organ.
In einer Stunde am FDR Memorial, hatte sie gesagt.
Pickering versuchte sich zu erinnern, wann er sie zum letzten Mal von Angesicht zu Angesicht gesehen hatte. Es war vor zwei Monaten gewesen. Im Weißen Haus. Marjorie Tench hatte ihm an einem langen Eichentisch gegenübergesessen, umgeben von den Mitgliedern des Nationalen Sicherheitsrats, den Oberkommandierenden der Streitkräfte, den Chefs von CIA und NASA und am Ende des Tisches Präsident Herney.
»Meine Herren«, hatte der Chef der CIA gesagt und Marjorie Tench dabei direkt ins Auge geblickt. »Wieder einmal stehe ich vor Ihnen, um die Regierung aufzufordern, sich endlich mit der schon lange anhaltenden Sicherheitskrise der NASA zu befassen.«
Keiner der Anwesenden war von der Erklärung überrascht. Die Sicherheitspannen der NASA riefen bei den Nachrichtendiensten allmählich nur noch Gähnen hervor. Zwei Tage zuvor hatten Hacker mehr als dreihundert hochaufgelöste Fotos eines Erdbeobachtungssatelliten aus einer Datenbank der NASA gestohlen.
Die Fotos, auf denen zufällig auch ein geheimes Ausbildungslager der U.S.-Streitkräfte in Nordafrika abgebildet war, hatten schnell den Weg auf den schwarzen Markt gefunden, wo ein feindlicher nahöstlicher Geheimdienst sie aufgekauft hatte.
»Bei all ihren guten Absichten«, fuhr der CIA-Chef fort, »stellt die NASA nach wie vor ein Risiko für unsere nationale Sicherheit dar. Kurz gesagt: Unsere Weltraumbehörde hat weder die Mittel noch die Einrichtungen, die von ihr erarbeiteten Daten und Technologien vor Missbrauch zu schützen.«
»Ich verkenne nicht«, sagte der Präsident, »dass es bedauerliche Indiskretionen und Sicherheitslecks gegeben hat, und bin darüber tief beunruhigt.« Er wies auf Lawrence Ekstrom, der ihm mit verschlossenem Gesicht gegenübersaß. »Wir stehen in ständigem Dialog über die weitere Verbesserung der Geheimhaltungssituation der NASA.«
»Bei allem Respekt«, sagte der CIA-Chef, »die NASA mag neue Sicherheitsmaßnahmen einführen, so viel sie will, aber sie werden wirkungslos bleiben, solange sie sich nicht unter den Schirm der Geheimdienste unseres Landes begibt.«
Unter den Anwesenden gab es nervöse Unruhe. Jeder wusste, worauf diese Aussage hinauslief.
Der CIA-Chef ergriff erneut das Wort. Sein Tonfall war schärfer geworden. »Wie jeder Anwesende weiß, gelten für sämtliche regierungsamtliche Stellen, die sich mit sicherheitsrelevanten Daten befassen, strikteste Geheimhaltungskriterien. Ich nenne nur die Streitkräfte, die CIA, die NSA, das NRO – alle diese Institutionen sind bezüglich der Geheimhaltung der von ihnen erhobenen Daten und der von ihnen entwickelten Technologien einem strikten Gesetzeskanon unterworfen. Ich frage Sie abermals – kann es angehen, dass die NASA als Entwicklerin der zurzeit fortgeschrittensten Technologien auf dem Gebiet der Luft- und Raumfahrt, der optischen Verfahren, der Softwareentwicklung, der Aufklärungs- und Telekommunikationstechnologien sich außerhalb dieses Schirms professioneller Geheimhaltung tummeln darf?«
Der Präsident stieß einen mächtigen Seufzer aus. Es war klar, wohin der Hase lief. Es ging um die Restrukturierung der NASA als Teil der militärischen Geheimdienstlandschaft der Vereinigten Staaten. Ähnliche Umstrukturierungen hatte es bei anderen Behörden schon gegeben, doch Herney war nicht geneigt, die NASA der Direktive des Pentagon, der CIA, NRO oder irgendeiner anderen Militärbehörde zu unterstellen, auch wenn sich im Nationalen Sicherheitsrat zunehmende Sympathien für die Geheimdienste abzeichneten.
Lawrence Ekstrom fand an diesen Sitzungen stets wenig Gefallen, und heute schon gar nicht. Er schaute den Chef der CIA bissig an. »Auf die Gefahr hin, mich zu wiederholen, Sir, die NASA entwickelt Technologien für den nichtmilitärischen, wissenschaftlichen Gebrauch. Wenn einer von euch Geheimdienstlern das Weltraumteleskop herumdrehen möchte, um statt in den Himmel den Chinesen auf die Finger zu schauen, ist das eure Sache.«
Der CIA-Chef sah aus, als würde er jeden Moment überkochen.
Pickering schaltete sich ein. »Larry«, sagte er zu Ekstrom, um einen neutralen Ton bemüht. »Jedes Jahr liegt die NASA vor dem Kongress auf den Knien und bettelt um mehr Geld. Ihr müsst eure Operationen mit zu knapper finanzieller Ausstattung durchziehen, und ihr zahlt dafür mit den bekannten Fehlschlä-
gen. Wenn wir die NASA in die Geheimdienstlandschaft integrieren, müsst ihr nicht mehr vor dem Kongress Männchen machen. Dann wird sich eure Haushaltslage drastisch verbessern.
Beide Seiten hätten nur Vorteile davon. Die NASA hätte das Geld zur Verfügung, das sie für einen anständigen Betrieb braucht, und die Geheimdienste könnten endlich ruhig schlafen, weil die Technologien der NASA ordentlich geschützt wären.«
Ekstrom schüttelte den Kopf. »Ich muss diesen Ansatz von vornherein ablehnen. Die NASA befasst sich auf wissenschaftlicher Ebene mit dem Weltraum. Mit nationalen Sicherheitsfragen haben wir nicht das Geringste zu tun.«
Der Direktor der CIA erhob sich abrupt, ein unerhörtes Verhalten, solange der Präsident noch saß. Niemand versuchte ihn zu hindern. Wütend blickte er auf Ekstrom herab. »Wollen Sie mir damit kommen, dass die Wissenschaft nichts mit unserer nationalen Sicherheit zu tun hat? Um Himmels willen, Larry, das sind Synonyme! Unser Land ist nur deshalb sicher, weil es wissenschaftlich und technologisch die Nase vorn hat! Und ob es Ihnen gefällt oder nicht, gerade die NASA spielt eine zunehmend wichtige Rolle bei der Entwicklung dieser Technologien. Leider ist Ihr Laden so löchrig wie ein Sieb und hat sich Mal für Mal als ärgerliches Sicherheitsrisiko erwiesen!«
Betretenes Schweigen trat ein, doch nun sprang Ekstrom auf.
Sein Blick fixierte seinen Angreifer. »Sie wollen also allen Ernstes vorschlagen, zwanzigtausend NASA-Wissenschaftler in hermetisch abgeschlossene Militärlabors einzuschließen und für Ihre Geheimdienste arbeiten zu lassen? Glauben Sie wirklich, unsere Wissenschaftler hätten die neuen Weltraumteleskope entwickelt, wären sie nicht von dem ganz persönlichen Verlangen getrieben worden, tiefer ins Universum zu blicken? Die NASA hat erstaunliche Durchbrüche erzielen können, und das nur aus einem Grund – unsere Mitarbeiter wollen den Kosmos besser verstehen. Sie sind eine Gemeinschaft von Träumern, die als Kinder zum Sternenhimmel hinaufgeschaut und sich gefragt haben, was es da oben wohl gibt. Die Triebfedern für die Innovationen der NASA sind Leidenschaft und Neugier, nicht die zweifelhafte Aussicht auf militärische Überlegenheit.«
Pickering räusperte sich. »Larry«, sagte er in begütigendem Tonfall und darum bemüht, die Wogen zu glätten. »Ich bin sicher, bei der CIA ist keine Rede davon, dass die Wissenschaftler der NASA lieber zum Bau von militärischen Satelliten eingesetzt werden sollen. Das Aufgabenfeld der NASA würde sich überhaupt nicht verändern, alles würde so weitergehen wie bisher, nur dass Sie mehr Geld und bessere Sicherheitsmaßnahmen hätten.« Pickering wandte sich nun an den Präsidenten. »Sicherheit ist teuer. Jeder hier im Raum weiß doch, dass die Sicherheitslecks der NASA auf das Konto ihrer ungenügenden Finanzierung gehen. Die NASA muss auf sich aufmerksam machen, muss in Sicherheitsfragen manchmal fünf gerade sein lassen, muss Gemeinschaftsprojekte mit anderen Ländern betreiben, damit sich mehrere Parteien die Kosten teilen. Ich möchte vorschlagen, dass die NASA die hervorragende, wissenschaftliche, nichtmilitärische Behörde bleibt, die sie immer war, nur mit besserer Finanzausstattung und ein bisschen mehr Verschwiegenheit.«
Einige Mitglieder des Sicherheitsrats nickten.
Präsident Herney erhob sich gemessen und schaute William Pickering an. Er war von Pickerings Sermon alles andere als erbaut. »Bill, ich möchte Ihnen eine Frage stellen. Die NASA wird im nächsten Jahrzehnt voraussichtlich eine Marsmission starten.
Werden Ihrer Meinung nach die Geheimdienste
stillhalten, wenn der Löwenanteil der inoffiziellen Haushaltsmittel
in die Marsmission fließt – eine Mission, die nebenbei bemerkt
keinerlei unmittelbaren Nutzen für die nationale Sicherheit
abwirft?«
»Die NASA wird machen können, was sie will.«
»Blödsinn!«, sagte Herney ungerührt.
Alle Köpfe schossen hoch. Der Präsident griff selten zu Kraftausdrücken.
»Als Präsident habe ich eines gelernt«, sagte Herney. »Wer die Musik bezahlt, bestimmt auch, was gespielt wird. Ich bin nicht bereit, das Portemonnaie der NASA Leuten anzuvertrauen, die nicht an den Zielen interessiert sind, die zu erreichen die NASA gegründet worden ist. Ich wage gar nicht, mir vorzustellen, wie viel von der wissenschaftlichen Forschung der NASA noch übrig bleibt, wenn das Militär das Sagen hat.«
Herneys Blick schweifte durch den Raum und blieb an William Pickering hängen.
»Bill«, sagte er seufzend. »Ihr Missfallen, dass die NASA mit anderen Ländern gemeinsame Weltraumprojekte betreibt, ist von schmerzlicher Kurzsichtigkeit. Hier ist wenigstens jemand, der mit den Russen und Chinesen konstruktiv zusammenarbeitet.
Der Friede auf diesem Planeten wird nicht durch militärische Stärke geschmiedet, sondern durch Leute, die trotz der Differenzen ihrer Regierungen zusammenarbeiten. Wenn Sie mich fragen, leisten die Gemeinschaftsunternehmungen der NASA mehr für unsere nationale Sicherheit als jeder Milliarden teure Spionagesatellit, und mit einer unvergleichlich besseren Perspektive für die Zukunft.«
Pickering spürte, wie Zorn in ihm hochkochte. Wie konnte ein Politiker sich herausnehmen, ihm derart von oben herab zu kommen? Am grünen Tisch mochte Herneys Idealismus sich gut machen, aber in der richtigen Welt kostete diese Einstellung Menschenleben.
Marjorie Tench schien zu spüren, dass Pickering kurz davor war zu explodieren. »Bill«, schaltete sie sich ein, wobei Pickering den Schlichtungsversuch als pure Herablassung empfand. »Wir wissen, dass Sie eine Tochter verloren haben. Ihre persönliche Betroffenheit ist uns allen verständlich. Aber bitte vergessen Sie nicht, dass sich hier im Weißen Haus die Investoren die Klinke in die Hand geben. Sie alle wollen, dass wir den Weltraum für die Privatwirtschaft öffnen. Wenn Sie meine Meinung hören möchten, ist die NASA bei all ihren Fehlern der beste Freund, den die Geheimdienste sich wünschen können. Sie werden noch an meine Worte denken!«
Das Rumpeln der Reifen auf dem Streifen am Fahrbahnrand riss Pickering aus seinen Gedanken. Als er seine Ausfahrt ansteuerte, sah er ein überfahrenes Reh tot in seinem Blut neben der Fahrbahn liegen. Ein merkwürdiges Zaudern überkam ihn… doch er fuhr weiter seinem Ziel entgegen.
95
Das Franklin Delano Roosevelt Memorial ist eine der größten nationalen Gedenkstätten der Vereinigten Staaten. Mit seinem Park, den Wasserspielen, den Skulpturen, den Alkoven und dem großen Becken ist es in vier unterschiedlich gestaltete Freigelände aufgeteilt, die jeweils einer der vier Amtsperioden Roosevelts entsprechen.
Anderthalb Kilometer vom Memorial entfernt schwebte ein einsamer Kiowa-Kampfhubschrauber hoch über der Stadt mit abgedunkelten Positionslichtern heran. In einer Stadt mit so viel Politprominenz und Fernsehteams wie Washington, D.C. waren Hubschrauber am Himmel so gewöhnlich wie die Tauben auf dem Platz vor der UNO. Delta-1 wusste, dass er unbeachtet bleiben würde, solange er sich außerhalb des »dome« hielt – jener scharf überwachten imaginären Kuppel im Luftraum über dem Weißen Haus. Außerdem würde seine Anwesenheit nicht von langer Dauer sein.
In einer Höhe von siebenhundert Metern verringerte der Kiowa die Fahrt und ging knapp außerhalb des in der Dunkelheit liegenden FDR Memorial in den Schwebeflug. Delta-1 überprüfte seine Position. Links neben ihm aktivierte Delta-2 das Nachtsichtgerät mit Teleskopoptik. Auf dem Monitor zeichnete sich grünlich die Zufahrt zur verlassenen Gedenkstätte ab.
Das Warten begann.
Der Anschlag würde Lärm machen. Doch es gab Leute, die konnte man nur so beseitigen, denn ungeachtet der Mordmethode zog ihr Tod eine Erschütterung der politischen Landschaft und eingehende Untersuchungen nach sich. Explosionen, Feuer und viel Qualm sahen immer nach einem Anschlag mit politischem Hintergrund aus und wiesen sofort in Richtung ausländischer Terroristen. Besonders wenn das Opfer aus den höchsten Etagen der politischen Würdenträger kam.
Die Waffe der Wahl für den heutigen Auftrag war die Hellfire, eine laserstrahlgeleitete Panzerabwehrrakete, die auch vom Boden aus abgeschossen werden konnte und deshalb nicht sofort auf die Beteiligung eines Hubschraubers hinwies. Außerdem war auf dem schwarzen Markt leicht an dieses Projektil heranzukommen, was dem Terrorismusverdacht zusätzliche Nahrung geben würde.
»Limousine«, meldete Delta-2.
Delta-1 schaute auf den Monitor. Eine unauffällige schwarze Luxuslimousine, ein typisches Dienstfahrzeug der großen Regierungsbehörden, rollte genau nach Zeitplan auf der Zufahrtsstraße heran und schaltete beim Erreichen der Gedenkstätte die Scheinwerfer auf Standlicht. Der Wagen fuhr die Parkplätze rund um das Memorial ab, bevor er schließlich neben einer Baumgruppe parkte. Delta-2 richtete das Nachtsicht-Telekop auf das linke Seitenfenster und betätigte die Scharfeinstellung. Auf dem Monitor wurde ein Gesicht erkennbar.
Delta-1 sog scharf die Luft ein.
»Ziel bestätigt«, sagte Delta-2 und wandte sich der Feuerleitkonsole zu, um den Lasermarker zu aktivieren. Er zielte. Sechshundert Meter unter ihm erschien ein kleiner roter Lichtpunkt auf dem Dach der Limousine. »Ziel markiert«, meldete er.
Delta-1 atmete tief ein. Er feuerte. Mit scharfem Zischen löste sich unter dem Rumpf des Hubschraubers ein erstaunlich leuchtschwacher Funkenschweif und schoss zur Erde. Sekundenbruchteile später explodierte die Limousine in einem blendenden Feuerball. Verbeultes Blech flog in alle Richtungen. Brennende Reifen rollten zwischen die Baumstämme.
»Ziel zerstört«, sagte Delta-1, während er den Helikopter bereits beschleunigte. »Nachricht an Einsatzleiter.«
Keine drei Kilometer entfernt war Präsident
Zach Herney im Begriff, zu Bett zu gehen. Die kugelsicheren Fenster
seiner Residenz waren zweieinhalb Zentimeter dick. Herney vernahm
von der Explosion nicht den geringsten Laut.
96
Die Flugbereitschaft des Küstenwachenbezirks Atlantic City ist auf einem abgetrennten Teil des internationalen Flughafens der Stadt untergebracht und für die Küste von New Jersey von Asbury Park bis hinunter nach Cape May zuständig.
Das Kreischen der Reifen des Fahrwerks beim Aufsetzen auf die zwischen zwei riesigen Frachthallen gelegene Landebahn riss Rachel Sexton aus dem Schlaf. Benommen und überrascht, dass sie doch noch ein Weilchen geschlafen hatte, schaute Rachel auf die Uhr.
2:13. Rachel kam es vor, als hätte sie tagelang geschlafen. Sie steckte unter einer warmen Decke aus dem Bestand des Flugzeugs, die über sie gebreitet war. Neben ihr rieb sich Michael Tolland den Schlaf aus den Augen.
Corky kam über den Mittelgang getaumelt. Er schaute Rachel und Tolland düster an. »Scheiße, ihr seid ja immer noch da! Beim Aufwachen hatte ich gehofft, es wäre alles nur ein schlechter Traum gewesen.«
Rachel konnte sich gut vorstellen, wie Corky zu Mute war. Du musst wieder aufs Meer hinaus.
Die Maschine rollte aus. Rachel und ihre Begleiter kletterten hinaus auf eine verlassene Landebahn. Der Himmel war bedeckt, der Küstenwind wehte schwül und warm. Im Vergleich zu Ellesmere Island kam Rachel sich wie in den Tropen vor.
»Hier drüben!«, rief eine Stimme.
Rachel, Tolland und Corky fuhren herum. Neben der Landebahn wartete einer der klassischen, scharlachroten HH-65 Dolphin-Hubschrauber der Küstenwache. Der Pilot stand abflugbereit daneben und winkte.
Corky fiel in sich zusammen. »Gleich weiter? Keine Frühstückspause?«
Im Hinübergehen nickte Tolland Rachel beeindruckt zu. »Ihr Chef macht Nägel mit Köpfen.«
Wenn du wüsstest!, dachte Rachel.
Der Pilot war ein sehr junger Mann. Er begrüßte seine Fluggäste und half ihnen an Bord. Ohne sich nach den Namen zu erkundigen, erklärte er höflich die Sicherheitsvorkehrungen. Pickering hatte der Küstenwache zweifellos begreiflich gemacht, dass dieser Flug unter der Hand durchzuführen sei. Dessen ungeachtet bemerkte Rachel, dass ihre Identität nur für Sekunden ein Geheimnis geblieben sein konnte, da der Pilot auf Anhieb und mit unverhohlenem Erstaunen den Fernsehliebling Michael Tolland erkannte.
Rachel gurtete sich neben Tolland an den Sitz. Ihr war jetzt schon mulmig. Über ihnen erwachte singend das Triebwerk. Das Singen wurde zum Brüllen. Der Hubschrauber hob ab und stieg auf in die Nacht.
Der Pilot drehte sich in seinem Sitz nach hinten. »Man hat mir gesagt, wenn wir in der Luft sind, soll ich mir von Ihnen die Zielkoordinaten geben lassen.«
Tolland nannte einen Punkt zwanzig Kilometer
vor der Küste, knapp fünfzig Kilometer südöstlich. Der Pilot tippte
die Koordinaten ins Navigationssystem und gab Gas. Der Hubschrauber
neigte sich nach vorn und zog nach Südosten davon.
Rachel fuhr der Schreck in die Glieder. Das Schiff liegt zwanzig Kilometer weit draußen im Wasser! Die dunklen Dünen der Küste von New Jersey glitten unter ihnen hinweg. Rachel versuchte, nicht ins Meer zu blicken, das sich schwarz unter ihnen ausbreitete. Ihre Anspannung wurde ein wenig durch den tröstenden Gedanken gemildert, dass neben ihr ein Mann saß, der sich den Ozean zum Freund fürs Leben erkoren hatte. Auf der engen Sitzbank war ihre Schulter und Hüfte eng an ihn gepresst. Sie machten beide keinen Versuch, die Sitzposition zu ändern.
»Ich weiß, ich sollte das eigentlich nicht sagen«, platzte der Pilot plötzlich aufgeregt heraus, »aber Sie sind doch Michael Tolland! Wir hatten den ganzen Abend den Fernseher laufen. Das mit dem Meteoriten ist absolut unglaublich! Sie sind bestimmt total geplättet!«
Tolland nickte geduldig. »Total.«
»Ihre Dokumentation war eine Wucht! Sie läuft pausenlos auf allen Sendern. Keiner von uns Bereitschaftspiloten wollte diesen Job übernehmen. Wir wollten alle lieber vor der Glotze sitzen bleiben, aber beim Hölzchenziehen habe ich das kürzeste gezogen. Wenn die Jungs wüssten, dass in meinem Hubschrauber jetzt tatsächlich der berühmte…«
»Wir sind Ihnen sehr dankbar, dass Sie uns fliegen«, fiel Rachel dem Piloten ins Wort, »aber Sie müssen unbedingt für sich behalten, wen Sie an Bord hatten. Niemand darf erfahren, dass wir hier waren.«
»Selbstverständlich, Ma’am. So lauten auch
meine Befehle.«
Der Pilot verstummte. Plötzlich begann er zu strahlen. »He, wir fliegen doch nicht etwa zur Goya!«
»Doch«, sagte Tolland und nickte zögernd.
»Phantastisch!«, rief der Pilot aus. »Entschuldigen Sie, aber ich habe das Schiff in Ihrer Sendung gesehen, ein Doppelrumpfboot! Ich war noch nie auf so einem Kahn. Hätte mir nie träumen lassen, dass ausgerechnet Ihr Dampfer der erste dieser Art für mich sein wird.«
Rachel versuchte, das Geplapper des Mannes zu ignorieren. Ihr Unbehagen über den Flug aufs Meer wuchs.
Tolland schaute sie an. »Alles in Ordnung? Sie hätten an Land bleiben können, das habe ich Ihnen gesagt.«
Das wäre auch besser gewesen, dachte Rachel, doch ihr Stolz hätte es nicht zugelassen. »Danke, aber mir geht es gut.«
»Ich werde auf Sie aufpassen«, sagte Tolland und lächelte sie an.
»Oh, das ist nett!« Rachel registrierte überrascht, dass allein schon der freundliche Tonfall seiner Stimme ihr ein sichereres Gefühl gab.
»Sie kennen die Goya vom Fernsehen, nicht wahr?«
Rachel nickte. »Ein… interessantes Schiff.«
Tolland lachte. »Sie war damals ein ungeheuer fortschrittlicher Prototyp, aber diese Bauart hat sich nie richtig durchgesetzt.«
»Bei so etwas Bizarrem konnte man das auch nicht erwarten«, scherzte Rachel.
»Die NBC lässt nicht locker, dass ich mir ein moderneres Schiff zulege. In ein oder zwei Jahren werden sie mich weich gekocht haben, und ich gebe meine alte Goya ab.«
Tollands Stimme hatte einen melancholischen
Unterton bekommen.
»Hätten Sie denn keinen Spaß an einem nagelneuen Schiff?«
»Ich weiß nicht… mit der Goya verbinden mich so viele Erinnerungen.«
Rachel lächelte sanft. »Meine Mutter hat immer gesagt, früher oder später müssen wir uns von der Vergangenheit lösen.«
Tollands Augen hielten Rachels Blick eine Zeit lang fest. »Ja, ich weiß.«
97
Mist!«, rief der Taxifahrer. »Da vorne hat’s bestimmt gekracht.« Er schaute über die Schulter zu Gabrielle. »Hier geht vorerst nichts mehr«, sagte er.
Gabrielle schaute zum Fenster hinaus. Überall stachen die Blaulichter der Rettungsfahrzeuge in die Nacht. Weiter vorn standen Polizisten und sperrten die Mall für den gesamten Verkehr.
»Muss mächtig geknallt haben«, meinte der Fahrer und deutete auf den Flammenschein in der Nähe des FDR Memorials.
Ausgerechnet jetzt, dachte Gabrielle mit einem Blick auf das Geflacker. Sie musste unbedingt zu Senator Sexton durchkommen und ihm die Geschichte mit PODS und dem kanadischen Geologen berichten. Ob der Schwindel der NASA über den Ablauf des Meteoritenfunds genügend Skandalwirkung entwickeln würde, um dem Wahlkampf des Senators neues Leben einzuhauchen? Bei den meisten anderen Politikern wahrscheinlich nicht, dachte Gabrielle, aber bei Senator Sedgewick Sexton allemal – dem Mann, der seinen Wahlkampf auf das lautstarke Ausschlachten der Fehler anderer aufgebaut hatte.
Sextons phänomenale Fähigkeit, das politische Pech seiner Gegner in moralisches Versagen umzudeuten, war Gabrielle manchmal fast schon peinlich gewesen, aber wirksam war diese mit Andeutungen und moralischer Entrüstung arbeitende Methode allemal. Sexton konnte es durchaus schaffen, aus dieser NASA-internen Lumperei genügend Kapital zu schlagen, um die ganze Behörde moralisch zu diskreditieren – und mit ihr ihren Förderer, den Präsidenten.
Die Flammen am FDR Memorial schlugen höher. Gabrielle sah die Wasserstrahlen, als die Feuerwehr sich mühte, einige in Brand geratene Bäume zu löschen. Der Taxifahrer suchte im Radio nach einem Sender, der Nachrichten brachte.
Gabrielle schloss die Augen. Wellen der Erschöpfung rollten über sie hinweg. Als sie nach Washington gekommen war, hatte sie sich eine lebenslange politische Karriere ausgemalt, die sie vielleicht sogar ins Weiße Haus tragen würde. Im Moment jedoch hatte sie die Politik bis oben hin satt – den Clinch mit Marjorie Tench, die obszönen Fotos von ihr und dem Senator, das Lügengebäude der NASA…
Die Stimme des Nachrichtensprechers aus dem Autoradio berichtete etwas von einer Autobombe mit möglicherweise terroristischem Hintergrund.
Bloß raus aus dieser Stadt! dachte Gabrielle zum ersten Mal, seit sie in die Hauptstadt gekommen war.
98
Nur selten fühlte der Einsatzleiter sich abgekämpft, aber der heutige Tag war schlimm gewesen. Nichts war gelaufen wie geplant – der Einführungsschacht des Meteoriten war aufgeflogen und drohte publik zu werden, und die Liste der Opfer wurde immer länger…
Außer dem Kanadier sollte niemand sterben.
Es war schon eine Ironie des Schicksals, dass der technisch schwierigste Teil des Plans sich als der problemloseste erwiesen hatte. Die vor Monaten vorgenommene Einführung des Meteoriten ins Eis hatte wie am Schnürchen geklappt. War er erst einmal vor Ort, musste man nur noch darauf warten, dass der PODS-Satellit, der riesige Gebiete um den Polarkreis nach Dichteanomalien absuchen sollte, in die Umlaufbahn geschossen wurde.
Früher oder später würden seine Bordcomputer den Meteoriten aufspüren, und die NASA hatte ihre bahnbrechende Entdeckung. Aber die verdammte Software funktionierte nicht richtig.
Als klar wurde, dass die Detektor-Software erst nach den Wahlen in Ordnung gebracht werden konnte, war der ganze schöne Plan in Gefahr. Ohne PODS gab es keinen Meteoriten. Der Einsatzleiter musste sich etwas einfallen lassen, um der NASA den Meteoriten auf anderem Wege unterzujubeln. Zu diesem Zweck hatte er den Notruf des kanadischen Geologen inszeniert.
Aus nahe liegenden Gründen musste der Geologe natürlich sofort darauf mittels »Unfalltod« beseitigt werden. Den ahnungslosen Geologen aus dem Hubschrauber zu werfen, war der Anfang gewesen. Jetzt spitzte die Lage sich immer dramatischer zu.
Wailee Ming, Norah Mangor. Beide tot.
Der tolldreiste Anschlag soeben am FDR Memorial.
Rachel Sexton, Michael Tolland und Dr. Marlinson standen als Nächste auf der Liste.
Der Einsatzleiter unterdrückte das aufkeimende Bedauern. Es geht leider nicht anders. Zu viel steht auf dem Spiel.