99
Der Küstenwachthubschrauber näherte sich in neunhundert Metern Höhe der Goya. Er war noch knapp vier Kilometer entfernt.
»Haben Sie ein Infrarot-Wärmebildsystem an Bord?«, rief Tolland dem Piloten zu.
Der Pilot nickte. »Klar, das ist ein Rettungshubschrauber.«
Tolland hatte mit dieser Antwort gerechnet. »Schalten Sie es doch mal an.«
Der Pilot verstand nicht. »Warum? Aus dieser Höhe sieht man doch nichts, wenn’s nicht gerade ein brennender Ölteppich ist.«
»Machen Sie einfach an.«
Der Pilot betätigte einige Knöpfe und Schalter. Die Wärmebildkamera unter dem Helikopter erfasste einen fünf Kilometer breiten Keil der vor ihnen liegenden dunklen Meeresfläche. Auf dem LCD-Bildschirm in der Armaturentafel leuchtete ein Bild auf.
»Meine Fresse!« Der Pilot riss vor Überraschung am Knüppel.
Rachel und Corky waren mindestens ebenso überrascht.
Vorgebeugt betrachteten sie das Bild. Im
schwarzen Untergrund des Ozeans waberte eine gewaltige Spirale aus
pulsierenden Rottönen.
»Das sieht ja aus wie ein Zyklon!«, sagte Rachel überwältigt zu Tolland.
»Das ist es auch. Ein Zyklon aus warmen Strömungen mit knapp einem Kilometer Durchmesser.«
Der Pilot brummte anerkennend. »Das ist ein mächtiger Brummer. Wir sehen die Dinger manchmal, aber von dem hier hatte ich noch nichts gehört.«
»Er ist auch erst letzte Woche an die Oberfläche gekommen«, erklärte Tolland. »Er wird sich vielleicht nur noch ein paar Tage halten.«
»Wie entsteht so etwas?«, wollte Rachel wissen. Sie staunte nicht schlecht über den riesigen Wasserwirbel mitten im Ozean.
»Durch einen Magmadom«, sagte der Pilot.
Rachel schaute Tolland alarmiert an. »Einen Vulkan?«
»Nein, an unserer Ostküste gibt es keine aktiven Vulkane«, sagte Tolland beruhigend. »Aber manchmal quellen hier durch Kanäle aus dem Erdinneren Magmaströme empor, die unter dem Meeresboden heiße Stellen bilden, so genannte ›Hot Spots‹, und den Temperaturverlauf auf den Kopf stellen – aufgeheiztes warmes Wasser unten und kälteres darüber. Das Ergebnis sind diese riesigen Wirbel. Man nennt sie ›Megaplumes‹. Sie rotieren ein paar Wochen und verlieren sich dann wieder.«
Der Pilot betrachtete den Bildschirm mit der pulsierenden Spirale. »Der hier dreht sich noch volle Pulle.« Er überprüfte seine Zielkoordinaten und wandte sich überrascht um. »Mr Tolland, mir scheint, sie haben ihren Kahn mittendrin geparkt.«
Tolland nickte. »In der Mitte ist die Strömung
nicht so stark.
Achtzehn Knoten. Wie in einem schnell fließenden Fluss. Unser Ankertau hat in der letzten Woche einiges aushalten müssen.«
»Mann, da sollte man lieber nicht über Bord fallen«, meinte der Pilot und lachte.
Rachel war nicht nach Lachen zumute. »Mike, von diesen Hot-Spot-Strömungen haben Sie aber nichts gesagt!«
Tolland legte ihr begütigend die Hand aufs Knie. »Keine Bange, da kann nichts passieren, glauben Sie mir.«
Rachel schaute ihn kritisch an. »Sie waren also mit Dreharbeiten über dieses Magmadom-Phänomen beschäftigt?«
»Über Megaplumes und Sphyrna mokarran. «
»Ach ja, das haben Sie mir schon einmal gesagt.«
Tolland lächelte Rachel spitzbübisch an. » Sphyma mokarran lieben warmes Wasser. Zurzeit haben sie sich aus fast zweihundert Kilometern Umkreis bis auf das letzte Exemplar in diesem Warmwasserpool von anderthalb Kilometer Durchmesser versammelt.«
»Oh, wie nett. Und wenn Sie mir jetzt bitte noch sagen würden, was diese Sphyrna mokarran sind…«
»Die hässlichsten Fische im ganzen Meer.«
»Flundern?«
Tolland lachte. »Nein, Hammerhaie.«
Rachel wurde starr. »Um Ihr Schiff herum wimmelt es von Hammerhaien!«
»Sie sind nicht gefährlich«, sagte Tolland und blinzelte.
»Das sagen Sie nur, weil es nicht stimmt.«
Tolland gab sich zerknirscht. »Vermutlich haben Sie Recht.« Er wandte sich an den Piloten. »Sagen Sie, wann hat euer Verein das letzte Mal jemand nach einem Angriff durch einen Hammerhai gerettet?«
»Das muss Jahrzehnte her sein«, sagte der Pilot achselzuckend.
»Sehen Sie? Jahrzehnte! Kein Grund zur Sorge«, sagte Tolland zu Rachel.
»Erst letzten Monat«, meinte der Pilot, »wurde ein Taucher…«
»Moment mal!«, unterbrach ihn Rachel, »Sie haben von Jahrzehnten gesprochen!«
»Ja, schon«, sagte der Pilot, »dass wir jemand gerettet haben.
Normalerweise kommen wir immer zu spät. Die Mistviecher töten blitzschnell.«
100
Vor dem Horizont zeichnete sich der glitzernde Umriss der Goya ab. Als der Hubschrauber nur noch ein paar hundert Meter entfernt war, konnte Tolland klar die helle Deckbeleuchtung erkennen, die seine Mitarbeiterin Xavia klugerweise angelassen hatte. Er kam sich vor wie jemand, der nach langer Autofahrt müde in die Einfahrt seines Hauses einbiegt.
»Ich dachte, Sie hätten gesagt, es sei nur eine einzige Person an Bord«, meinte Rachel, erstaunt über all das Licht.
»Machen Sie nicht auch ein paar Lichter an, wenn Sie allein zu Hause sind?«
»Ein paar. Aber keine Festbeleuchtung.«
Tolland lächelte. Trotz Rachels Versuch, einen leichten Tonfall anzuschlagen, war nicht zu übersehen, dass sie sich hier draußen unwohl fühlte. Er hätte gern vertrauensvoll den Arm um sie gelegt, doch er wusste nicht, was er sagen sollte. »Die Lichter dienen der Sicherheit. Dann sieht es aus, als wäre auf dem Schiff viel los.«
»Hast wohl Angst vor Piraten.« Corky kicherte.
»Ach was. Die einzige wirkliche Gefahr hier draußen sind die Trottel, die mit ihrem Radar nicht vernünftig umgehen können.
Wenn man nicht will, dass einen jemand rammt, muss man dafür sorgen, dass man gut zu sehen ist.«
Corky schaute blinzelnd auf das hell erleuchtete Schiff hinunter. »Gut zu sehen? Der Pott sieht aus wie auf einer Silvesterkreuzfahrt! Hoffentlich bezahlt die NBC dir die Stromrechnung.«
Der Hubschrauber verlangsamte und drehte eine Runde um den großen Lichterklecks. Der Pilot steuerte die Hubschrauberplattform auf dem Achterdeck an. Schon aus der Luft war die reißende Strömung klar zu erkennen. Die mit dem Bug gegen die Strömung verankerte Goya zerrte an der dicken Ankertrosse wie ein angekettetes Ungetüm.
»Ist das nicht ein Frachtschiff?«, sagte der Pilot und lachte.
Tolland nahm die Frotzelei gutmütig hin. Die Goya war »potthässlich«, wie ein Fernsehkritiker bemerkt hatte. Sie war eines der nur siebzehn Schiffe dieser wenig attraktiven Doppelrumpf-Bauart, die je eine Werft verlassen hatten.
Das Fahrzeug bestand im Prinzip aus einer großen Plattform, die neun Meter über der Wasseroberfläche auf vier großen Trä-
gern schwebte, die ihrerseits aus zwei Schwimmkörpern herausragten. Aus der Ferne ähnelte das Schiff einer tief liegenden Bohrinsel. Mannschaftsquartiere, Forschungslabors und die Kommandobrücke waren übereinander geschachtelt oben auf der Plattform untergebracht und vermittelten den Eindruck eines überdimensionalen schwimmenden Couchtisches mit einem Sammelsurium von gestapelten Kästchen obendrauf.
Ungeachtet der wenig stromlinienförmigen Konstruktion war die Goya im Vergleich zu anderen Schiffen infolge der weitaus geringeren Berührungsfläche mit dem Wasser erheblich stabiler, was für einen besseren Kamerastandort sorgte, für weniger seekranke Wissenschaftler und für günstigere Arbeitsbedingungen in den Labors. Obwohl die NBC Tolland unentwegt drängte, sich ein neueres Schiff kaufen zu lassen, hatte er jedes Mal abgelehnt. Gewiss, es gab mittlerweile bessere Schiffe, sogar stabilere, aber die Goya war nun fast zehn Jahre seine Heimat gewesen – das Schiff, auf dem er sich nach Celias Tod ins Leben zurückgekämpft hatte. In manchen Nächten hörte er immer noch ihre Stimme im Wind draußen auf Deck. Falls die Geister einmal verschwanden, würde Tolland an ein anderes Schiff denken können.
Jetzt noch nicht.
Rachels Erleichterung beim Aufsetzen des Hubschraubers auf dem Achterdeck der Goya war nur halbherzig. Einerseits musste sie nun nicht mehr über dem Meer fliegen, andererseits lag es jetzt unmittelbar zu ihren Füßen. Sie bemühte sich, keine wackeligen Beine zu bekommen, während sie ausstieg und sich auf Deck umschaute. Es war erstaunlich beengt, besonders mit dem Hubschrauber auf dem Heck. Mittschiffs erhob sich der plumpe geschachtelte Aufbau, der die Hauptmasse des Schiffs ausmachte. »Ich weiß«, sagte Tolland, der nahe bei Rachel stand. »Im Fernsehen sieht es größer aus.« Er musste gegen das Rauschen der Strömung anschreien.
Rachel nickte. »Und stabiler.« Sie hatte zum
Heck geschaut und die heftige Strömung achteraus laufen sehen, als
mache das Schiff volle Fahrt voraus. Wir sitzen
mitten auf einem Megaplume, dachte
sie.
»Ich verspreche Ihnen, die Goya ist eines der sichersten Schiffe überhaupt!« Tolland legte Rachel die Hand auf die Schulter und führte sie über das Deck.
Tollands warme Hand auf ihrer Schulter trug mehr zu Rachels Beruhigung bei als alles, was er hätte sagen können.
Im vorderen Teil des Achterdecks sah Rachel das bekannte Einmann-U-Boot Triton an einer großen Kranwinde hängen. Das nach einer griechischen Meeresgottheit benannte Tauchboot hatte mit seinem Vorgänger, der Ganzstahlkonstruktion Alvin, keinerlei Ähnlichkeit. Eine Halbkugel aus Acrylglas bildete den Bug und ließ das Boot eher nach einem Goldfischglas als nach einem U-Boot aussehen. Rachel konnte sich kaum etwas Entsetzlicheres vorstellen, als Hunderte von Metern tief in den Ozean zu tauchen mit nichts als ein paar Zoll Acrylglas zwischen dem eigenen Gesicht und dem Wasser. Tolland zufolge bestand allerdings der einzige weniger angenehme Teil einer Tauchfahrt aus der Anfangsphase, wenn man zwölf Meter hoch am Kranarm baumelnd langsam durch eine Falltür im Deck der Goya ins Wasser hinuntergelassen wurde.
»Xavia ist wahrscheinlich im Hydrolab«, sagte Tolland. »Hier lang.«
Rachel und Corky folgten ihm übers Achterdeck. Der Küstenwachepilot blieb bei seinem Hubschrauber mit der strikten Anweisung, auf keinen Fall das Funkgerät zu benutzen.
Tolland blieb an der Reling stehen. »Schaut euch das mal an.«
Zögernd trat Rachel näher. Sie konnte die Wärme
des Wassers bis hinauf zur Reling gut neun Meter über der
Wasseroberfläche spüren.
»Es hat die Temperatur eines gemütlichen Wannenbads«, sagte Tolland und griff nach einem Schalterkasten an der Reling. »Jetzt passt mal auf.« Er legte einen Schalter um. Licht flutete hinter dem Schiff durchs Kielwasser. Es sah wie ein beleuchteter Whirlpool aus. Rachel und Corky hielten vor Schreck den Atem an.
Dutzende geisterhafter Schatten wimmelten um das Schiff.
Knapp unter der Oberfläche schwamm eine Heerschar schlanker dunkler Gestalten in Gruppenformation gegen die Strömung an.
Ihre unverkennbaren Hammerschädel pendelten wie zum Takt einer prähistorischen Melodie hin und her.
»Mein Gott, Mike«, stieß Corky hervor. »Es war wirklich ausgesprochen nett von dir, dass du uns das gezeigt hast!«
Rachel erstarrte. Sie wäre gern von der Reling zurückgetreten, war vom Anblick aber wie versteinert.
»Unglaublich, nicht wahr?«, sagte Tolland. Seine Hand lag wieder tröstend auf Rachels Schulter. »In warmen Strömungen schwimmen sie wochenlang auf der Stelle. Die Kameraden haben das beste Riechorgan im ganzen Ozean – vergrößerter telencephalonärer Lobus olfactorius. «
Corky schaute ihn skeptisch an. »Klar, vergrößerter Lobus olfactorius, natürlich telencephalonär.«
»Du glaubst mir nicht?« Tolland stöberte in einer Alukühlkiste, die in der Nähe stand, und brachte einen toten Fisch und ein Messer zum Vorschein. Er versah den Fisch mit ein paar Einschnitten, aus denen Blut austrat, und warf ihn über Bord. In dem Moment, als der Fisch ins Wasser klatschte, schnappten auch schon fünf oder sechs Haie mit gefräßigen Mäulern in einem wilden Durcheinander nach der Beute. Im Handumdrehen war der Fisch verschlungen.
Rachel schaute Tolland entgeistert an. Er hatte bereits einen weiteren Fisch von gleicher Größe in der Hand. »Diesmal ohne Blut«, sagte er und warf den Fisch unversehrt ins Wasser. Es klatschte, doch nichts geschah. Die Hammerhaie schienen die Beute nicht wahrzunehmen, die davontrieb, ohne die geringste Aufmerksamkeit zu erregen.
»Sie greifen nur an, wenn sie Blut riechen«, sagte Tolland. »Man könnte da draußen völlig ungefährdet schwimmen gehen – vorausgesetzt natürlich, man hat nicht irgendwo eine offene Wunde.«
Corky deutete auf die genähte Platzwunde auf seiner Wange.
»Richtig, du hast heute absolutes Schwimmverbot«, meinte Tolland.
101
Gabrielle Ashes Taxi kam weder vor noch zurück. Im Stau vor einer Straßensperrung am FDR Memorial eingeklemmt, beobachtete Gabrielle die in einiger Entfernung aufgefahrenen Rettungsfahrzeuge. Es kam ihr vor, als hätte sich eine surrealistische Nebelbank über die Stadt gesenkt. Im Radio wurde inzwischen berichtet, in dem explodierten Fahrzeug habe möglicherweise ein hochrangiges Regierungsmitglied gesessen.
Sie holte das Handy heraus und wählte die
Nummer des Senators, der sich inzwischen garantiert schon fragte,
wo Gabrielle so lange steckte.
Es war besetzt.
Stirnrunzelnd betrachtete Gabrielle das tickende Taxameter.
Einige Fahrzeuge versuchten inzwischen, über den Bürgersteig zu wenden, um auf Umwegen ihr Ziel zu erreichen.
Der Taxifahrer schaute Gabrielle über die Schulter an. »Wollen Sie warten? Es ist Ihre Kohle.«
Gabrielle sah weitere Hilfsfahrzeuge anrollen. »Nein, drehen Sie um.«
Der Taxifahrer grunzte und begann ein kompliziertes Wendemanöver. Als sie über den Bordstein rumpelten, versuchte Gabrielle erneut, zu Sexton durchzukommen.
Immer noch besetzt.
Nachdem das Taxi einen weit ausholenden Bogen gefahren war, rollte es einige Minuten später die C-Street hinauf. Das Philip-A.-Hart-Bürogebäude ragte vor ihnen auf. Gabrielle hatte eigentlich direkt zur Wohnung des Senators fahren wollen, aber da ihr Büro direkt am Weg lag…
»Fahren Sie bitte rechts ran«, rief sie dem Fahrer zu. »Ja, direkt hier. Danke.« Sie bezahlte den Betrag auf dem Taxameter und legte zehn Dollar drauf. »Würden Sie bitte zehn Minuten auf mich warten?«
Der Fahrer schaute auf den Geldschein und dann auf seine Uhr. »Okay, aber keine Minute länger.«
Gabrielle rannte los. In fünf Minuten bist du wieder zurück.
Die verlassenen Korridore des Senats-Bürogebäudes wirkten um diese Stunde fast wie ein Mausoleum. Gabrielle fuhr in den dritten Stock hinauf und eilte durch ein Spalier ernst dreinblickender Skulpturen über den Flur.
Mit ihrer Key-Karte öffnete sie die Tür der aus fünf Räumen bestehenden Bürosuite des Senators und lief durch den schwach beleuchteten Empfangsraum und den anschließenden Flur zu ihrem Büro. Sie ließ die Leuchtstoffröhren aufflammen und ging direkt zu ihrem Aktenschrank. Gabrielle hatte eine komplette Akte über die Finanzierung des EOS-Satellitensystems der NASA zusammengestellt, darunter auch eine Menge Material über PODS. Vermutlich würde Sexton die Akte ohnehin sofort anfordern, wenn sie ihm vom Gespräch mit Harper berichtete.
Während Gabrielle noch in den Akten suchte, klingelte ihr Handy. »Senator?«, meldete sie sich.
»Nein, hier spricht Yolanda.« Die Stimme von Gabrielles Freundin klang ungewöhnlich angespannt. »Bist du noch bei der NASA?«
»Nein, im Büro.«
»Hast du bei der NASA etwas erreicht?«
Wenn du wüsstest! Gabrielle konnte Yolanda unmöglich alles erzählen, bevor sie mit dem Senator gesprochen hatte. Sexton hatte bestimmt konkrete Vorstellungen über sein weiteres Vorgehen mit den neuen Informationen. »Ich erzähl dir alles, wenn ich mit Sexton gesprochen habe. Ich bin auf dem Weg zu seiner Wohnung.«
Yolanda zögerte. »Gabs, du hast doch diese Sache mit Sextons Wahlkampffinanzierung und der SFF erwähnt…«
»Ja, aber ich habe dir doch gesagt, dass ich da auf dem Holzweg war und…«
»Ich bin soeben darauf gestoßen, dass zwei von unseren Reportern, die sich mit der Raumfahrtindustrie befassen, ebenfalls an der Geschichte dran waren.«
»Mit welchem Ergebnis?«, fragte Gabrielle überrascht.
»Kann ich nicht sagen, aber die Jungs sind tüchtig. Sie sind ziemlich sicher, dass Sexton von der Space Frontier Foundation geschmiert wird. Ich dachte mir, ich sollte dich lieber anrufen, zumal ich die Idee anfangs für Schwachsinn gehalten habe.
Marjorie Tench war für mich eine fragwürdige Quelle, aber unsere Jungs… Ich weiß nicht, vielleicht würdest du dich gern ein bisschen mit ihnen unterhalten, bevor du zu Sexton gehst.«
»Wenn deine Leute sich ihrer Sache so sicher sind, hätten sie an die Öffentlichkeit gehen sollen«, sagte Gabrielle, aber es klang weitaus weniger überzeugt, als ihr lieb war.
»Sie haben keine hieb- und stichfesten Beweise. Der Senator ist offenbar ein Meister im Verwischen von Spuren.«
Das sind die meisten Politiker. »Yolanda, ich habe dir doch gesagt, dass der Senator die Spenden von der SFF mir gegenüber zugegeben hat, aber sie liegen im gesetzlichen Rahmen. Da gibt es keine krummen Dinger.«
»Gabs, ich weiß, dass er es zugegeben hat. Ich behaupte ja gar nicht zu wissen, was stimmt und was nicht. Ich hatte nur das Verlangen, dich anzurufen, weil ich dir gesagt hatte, dass du Marjorie Tench nicht über den Weg trauen sollst. Jetzt aber stellt sich heraus, dass außer Marjorie Tench auch noch andere Leute überzeugt sind, dass der Senator sich schmieren lässt. Mehr wollte ich gar nicht sagen.«
»Wer sind denn diese beiden Journalisten?« Gabrielle spürte Zorn in sich aufkeimen.
»Keine Namen am Telefon, aber ich kann ein Treffen für dich arrangieren. Die Jungs sind clever. Sie kennen sich mit den Gesetzen zur Wahlkampffinanzierung gut aus…« Yolanda zögerte.
»Weißt du, die beiden sind überzeugt, dass Sexton das Wasser bis zum Halse steht, wenn er nicht sogar schon pleite ist.«
In der Stille ihres Büros hörte Gabrielle den Widerhall von Marjorie Tenchs Raucherstimme. Noch dem Tod seiner Frau hat er den größten Teil seiner Erbschaft mit Fehlinvestitionen, Anschaffungen von Luxusgütern und der Finanzierung eines augenscheinlich sicheren Sieges in den Vorwahlen verpulvert. Vor sechs Monaten war Ihr Kandidat so gut wie pleite.
»Die beiden würden sich liebend gerne mit dir unterhalten«, sagte Yolanda.
Das glaub ich, dachte Gabrielle. »Ich ruf dich zurück.«
»Gabs, jetzt bist du auf einmal sauer.«
»Nicht auf dich, Yolanda. Schönen Dank.«
Gabrielle drückte das Knöpfchen.
Als das Handy piepste, erwachte der vor Senator Sextons Wohnung auf einem Stuhl dösende Leibwächter mit einem Ruck und schoss hoch. Augenreibend zog er das Handy aus der Tasche seines Blazers.
»Ja?«
»Owen, hier spricht Gabrielle.«
»Oh, hallo.« Er hatte die Stimme erkannt.
»Ich muss den Senator sprechen. Würden Sie bitte mal für mich an seine Tür klopfen? Sein Anschluss ist dauernd besetzt.«
»Ist es dafür nicht schon ein bisschen spät?«
»Der Senator ist noch wach, da bin ich ganz sicher.« Gabrielles Tonfall wurde dringlich. »Es ist ein Notfall.«
»Schon wieder?«
»Immer noch derselbe, Owen. Holen Sie mir den Senator ans Telefon. Ich muss ihn unbedingt etwas fragen.«
Der Leibwächter seufzte und stand auf. »Okay, ich geh klopfen.« Er streckte sich und machte sich auf den Weg zur Tür. »Ich mach das aber nur, weil der Senator froh war, dass ich Sie vorhin reingelassen habe.« Zögernd hob er die Faust, um an die Tür zu pochen.
»Was war das eben?«, sagte Gabrielle hastig.
Die Faust des Leibwächters blieb auf halbem Wege stehen.
»Ich habe gesagt, der Senator war froh, dass ich Sie vorhin reingelassen habe. Sie hatten Recht. Es war völlig in Ordnung.«
»Sie haben mit dem Senator darüber gesprochen?«, sagte Gabrielle überrascht.
»Ja, warum denn nicht?«
»Ach, nichts, ich habe nur nicht gedacht, dass…«
»Wo Sie’s sagen… es war schon ein bisschen seltsam. Der Senator hat ein paar Sekunden gebraucht, bis ihm überhaupt eingefallen ist, dass Sie bei ihm drinnen waren. Ich glaube, der hat mit den Jungs ganz schön einen draufgemacht.«
»Owen, wann haben Sie denn mit ihm gesprochen?«
»Als Sie gerade weg waren. War das verkehrt?«
»Nein. Aber jetzt, wo ich noch einmal darüber nachdenke, halte ich es für besser, den Senator nicht zu belästigen. Ich probier’s noch ein paar Mal mit seiner regulären Nummer, und wenn das nicht klappt, kann ich Sie ja immer noch anrufen, damit Sie klopfen.«
Der Leibwächter verdrehte die Augen. »Ganz wie Sie wünschen, Miss Ashe.«
»Danke, Owen. Tut mir Leid, dass ich Sie
gestört habe.«
»Kein Problem.« Der Leibwächter schaltete das Handy ab, lümmelte sich auf seinen Stuhl und war schon wieder eingeschlafen.
Gabrielle stand in ihrem Büro, das Handy noch in der Hand, und überlegte. Sexton weiß, dass ich in seiner Wohnung gewesen bin…
aber er hat kein Wort darüber verloren?
Die Rätselhaftigkeit der Ereignisse des heutigen Abends verdichtete sich. Gabrielle erinnerte sich an den Anruf des Senators, als sie noch im ABC-Studio war. Er hatte sie mit dem ungefragten Eingeständnis in Erstaunen versetzt, er treffe sich mit Vertretern privater Raumfahrtunternehmen und nehme Geld von ihnen an. Seine Ehrlichkeit hatte Gabrielle wieder auf seine Seite gebracht, sie sogar beschämt. Jetzt aber wirkte das Eingeständnis längst nicht mehr so nobel.
Sauberes Geld, hatte Sexton gesagt. Vollkommen legal.
Mit einem Schlag war das ganze Unbehagen wieder da, das Gabrielle je über den Senator empfunden hatte.
Unten hupte das Taxi.
102
Die Brücke der Goya war ein Plexiglaskasten, der zwei Etagen über dem Hauptdeck thronte. Von hier oben hatte Rachel einen 360-Grad-Rundumblick auf die sie umgebende dunkle See, ein nervtötender Anblick, den sie sich nur ein einziges Mal gestattete, bevor sie sich ihrem eigentlichen Vorhaben widmete.
Tolland und Corky waren ausgeschwärmt, um Xavia
zu suchen.
Rachel machte sich daran, mit Pickering Kontakt aufzunehmen.
Sie hatte ihm versprochen, ihn sofort nach der Ankunft zu kontaktieren; außerdem war sie begierig zu erfahren, was bei seiner Verabredung mit Marjorie Tench herausgekommen war.
Rachel war mit dem auf der Goya installierten digitalen Kommunikationssystem SHINCOM 2100 vertraut. Wenn sie den Anruf kurz hielt, konnte er nicht abgehört werden.
Sie hatte Pickerings persönlichen Anschluss gewählt und hielt wartend den SHINCOM-Hörer ans Ohr gepresst. Sie hatte damit gerechnet, dass Pickering den Anruf beim ersten Signalton entgegennahm, doch es klingelte immer weiter.
Sechsmal, siebenmal, achtmal…
Rachels Blick wanderte unwillkürlich hinaus auf den dunklen Ozean. Dass Pickering nicht abnahm, dämpfte ihr Unbehagen über dieses Intermezzo auf See keineswegs.
Zehnmal, elfmal… Nun geh schon ran!
Rachel ging in der Brücke wartend auf und ab. Was war los?
Pickering hatte sein Handy immer und überall dabei; außerdem hatte er um Rachels Anruf gebeten!
Rachel ließ es fünfzehnmal klingeln, dann hängte sie ein. Mit wachsender Unruhe wählte sie erneut.
Es klingelte viermal, fünfmal. Wo steckt er?
Endlich knackte es in der Leitung, und die Verbindung war hergestellt. Rachel fiel ein Stein vom Herzen, doch die Erleichterung war von kurzer Dauer. Niemand meldete sich. Stille.
»Hallo?«, rief sie. »Chef?«
Es klickte dreimal.
»Hallo!«
Scharfes elektronisches Zischen drang
schmerzhaft in ihr Ohr.
Rachel ließ den Hörer sinken. Das Zischen hörte schlagartig auf; dann folgte eine Serie schnell oszillierender Töne in Halbsekundenintervallen. Rachels Verwirrung schlug um in Begreifen, dann in Angst.
»Oh, Mist!«
Mit ein paar Schritten war sie an der Empfängerkonsole und knallte den Hörer hin. Die Verbindung war unterbrochen.
Schreckensstarr stand sie ein paar Sekunden da. Hoffentlich hatte sie noch rechtzeitig eingehängt.
Das Hydrolab der Goya befand sich mittschiffs, zwei Decks unter der Brücke. Der große Arbeitsraum war durch lange Arbeitstische und Arbeitsinseln unterteilt, die bis unter die Decke mit elektronischen Geräten voll gepackt waren, mit Grundprofilzeichnern, Strömungsmessgeräten, dazwischen Waschbecken und Rauchabzugshauben, PCs, Stapel von Aktenkörben für Auswertungsergebnisse, Kühlschränke, eine begehbare Kühlkammer für Proben und dazu noch die gesamte Elektronik, die die Geräte am Laufen hielt.
Als Tolland und Corky das Labor betraten, saß die Bordgeologin der Goya vor dem voll aufgedrehten Fernseher. Sie machte sich nicht einmal die Mühe, sich umzudrehen. »Habt ihr schon euer ganzes Geld versoffen?«, rief sie über die Schulter.
»Xavia!«, rief Tolland. »Ich bin’s, Mike.«
Sie fuhr herum und verschluckte vor Schreck das halbe Sandwich, auf dem sie herumgekaut hatte. »Mike!«, stammelte sie. Die Überraschung war ihr deutlich anzusehen. Sie sprang auf, stellte den Apparat leiser und kam immer noch kauend herbei. »Ich habe gedacht, ein paar von den Brüdern wären von ihrer Kneipentour schon zurück. Was machst du denn hier?«
Xavia war korpulent und dunkelhäutig, mit einer schrillen Stimme und verdrießlichem Gehabe. Sie deutete auf den Fernseher, in dem eine Wiederholung von Tollands Dokumentation lief. »Du hast es aber auch nicht lange auf dem Eisschelf ausgehalten«, meinte sie dann.
Es ist etwas Unverhofftes passiert, dachte Tolland. »Xavia, du hast bestimmt Dr. Corky Marlinson erkannt.«
Sie nickte. »Es ist mir eine Ehre, Sir.«
Corky beäugte den Sandwichrest in ihrer Hand. »Das sieht aber gut aus.«
Xavia schaute Corky befremdet an.
»Ich habe deine Mitteilung abgehört«, sagte Tolland. »Du hast gesagt, ich hätte in meiner Präsentation einen Fehler gemacht?
Ich würde gern Näheres von dir darüber hören.«
Die Geologin starrte ihn entgeistert an, dann lachte sie schrill auf. »Und deshalb bist du zurückgekommen? Oh, Mike, ich habe dir doch gesagt, dass es völlig unerheblich ist. Ich wollte dich bloß ein bisschen ärgern. Die NASA hat dir offenbar ein paar überholte Daten gegeben. Im Ernst, es gibt auf der ganzen Welt höchstens drei oder vier Meeresgeologen, denen die Unstimmigkeit aufgefallen wäre.«
»Diese Unstimmigkeit«, sagte Tolland atemlos, »bezieht die sich zufällig auf die Chondren?«
Xavia schaute Tolland völlig entgeistert an.
Tolland fühlte sich wie nach einem Hieb in die Magengrube.
Die Chondren. Sein Blick wanderte zu Corky und wieder zurück zu Xavia. »Ich muss unbedingt alles wissen, was du mir zu diesen Chondren sagen kannst. Xavia, was war das für ein Fehler, den ich da gemacht habe?«
Xavia schien zu spüren, wie Ernst es ihm war. »Mike, es ist wirklich nur ein Klacks. Ich habe vor einiger Zeit in einer Fachzeitschrift einen kleinen Artikel darüber gelesen. Ich verstehe nicht, was dich daran so aufregt.«
Tolland seufzte. »Xavia, es mag dir seltsam vorkommen, aber je weniger du davon erfährst, desto besser für dich. Ich bitte dich nur, uns zu sagen, was du über diese Chondren weißt, und dann gegebenenfalls eine Steinprobe für uns zu untersuchen.«
Xavia gefiel nicht, dass sie nicht eingeweiht wurde. Sie machte ein ratloses und ein wenig beleidigtes Gesicht. »Na gut, ich hole den Artikel. Er liegt irgendwo in meinem Büro.« Sie legte den Sandwichrest aus der Hand und ging zur Tür.
»Darf ich das aufessen?«, rief Corky hinter ihr her.
Xavia hielt fassungslos inne. »Sie wollen mein Sandwich essen?«
»Ich dachte nur, wenn Sie…«
»Besorgen Sie sich selber eins, verdammt nochmal!«, keifte sie und war verschwunden.
Tolland zeigte grinsend auf einen Probenkühlschrank an der anderen Wand. »Unteres Fach, zwischen dem Sambuca und den Tintenfischen!«
Rachel stieg den steilen Abgang von der Brücke herunter und ging zur Hubschrauber-Landeplattform. Der Pilot saß dösend auf seinem Sitz. Als Rachel ans Cockpit klopfte, fuhr er hoch.
»Schon fertig?«, sagte er. »Das ging aber schnell.«
Rachel schüttelte nervös den Kopf. »Können Sie Boden- und Luftradar gleichzeitig aktivieren?«
»Klar. Radius über fünfzehn Kilometer.«
»Würden Sie es bitte einschalten?«
Der Pilot schaute sie fragend an. Nachdem er mehrere Schalter betätigt hatte, begann die Radarantenne gemächlich zu rotieren.
Der Radarschirm leuchtete auf.
»Ist etwas zu sehen?«, fragte Rachel.
Der Pilot ließ die Antenne einige Umdrehungen machen und justierte an ein paar Knöpfen nach. »Alles klar. Abgesehen von mehreren Schiffen an der Peripherie ist nichts zu sehen, und die Schiffe entfernen sich von uns. Ringsum meilenweit nichts als offenes Meer.«
Rachel atmete auf, doch wirklich erleichtert war sie nicht.
»Würden Sie mir einen Gefallen tun und mir sofort Bescheid geben, wenn sich etwas nähert, ein Boot, ein Flugzeug – egal was?«
»Wird gemacht. Ist irgendetwas nicht in Ordnung?«
»Ich möchte nur gern wissen, ob wir Gesellschaft bekommen.«
»Ich pass gut auf das Radar auf, Ma’am. Wenn es irgendwo blinkt, sind Sie die Erste, die es erfährt.«
Mit flatternden Nerven machte Rachel sich auf zum Hydrolab.
Als sie eintrat, standen Tolland und Corky vor einem Computerbildschirm und kauten Sandwiches.
»Was darf es sein?«, rief Corky ihr mit vollem Mund zu. »Huhn mit Fischgeschmack, Salami mit Fischgeschmack oder Eiersalat mit Fischgeschmack?«
Rachel nahm die Scherzfrage kaum wahr. »Mike, wird es lange dauern, bis wir uns die Information beschafft haben und wieder von diesem Schiff verschwinden können?«
103
Tolland ging im Hydrolab auf und ab. Er wartete mit Rachel und Corky auf Xavias Rückkehr. Die Sache mit den Chondren war mindestens so beunruhigend wie Rachels fehlgeschlagener Versuch, mit Pickering Verbindung aufzunehmen.
Pickering hatte sich nicht gemeldet. Und jemand hat versucht, mit Impulspeilung den Standort der Goya festzustellen.
»Keine Aufregung«, sagte Tolland, »wir sind hier sicher. Der Pilot von der Küstenwache beobachtet das Radar. Falls jemand uns besuchen will, kann er uns im Vorfeld warnen.«
Rachel nickte zustimmend, sah aber trotzdem sehr nervös aus.
»Was ist denn das, Mike?«, fragte Corky und deutete auf einen Monitor mit einem rätselhaften psychedelischen Bild, das pulsierend waberte wie etwas Lebendiges.
»Das ist ein akustisches Doppler-Strömungsprofil«, erläuterte Tolland. »Ein Querschnitt der Strömungen und der Temperaturverläufe des Meeres unter unserem Schiff.«
Rachel riss die Augen auf. »Da sind wir obendrauf verankert?«, rief sie aus.
Tolland musste zugeben, dass das Bild nicht sehr beruhigend wirkte. Nahe der Oberfläche zeichnete sich das Wasser als ein Durcheinander von Blau und Grün ab, doch mit zunehmender Tiefe verschob sich das Farbspektrum mit ansteigender Temperatur zu einem bedrohlichen Orangerot. In der Nähe des Meeresgrundes in mehr als anderthalb Kilometer Tiefe tobte ein blutroter Wirbelsturm.
»Das ist der Megaplume«, sagte Tolland.
»Sieht aus wie ein Unterwassertornado«, meinte Corky.
»Es funktioniert auch nach dem gleichen Prinzip. Das Meerwasser ist am Grund normalerweise kälter und dichter, aber hier kehren sich die Verhältnisse um. Das Tiefenwasser wird aufgeheizt und somit leichter und schraubt sich als warmer Wirbel zur Oberfläche. Das kältere Oberflächenwasser ist schwerer, rauscht in einem riesigen spiralförmigen Wirbel außen herum nach unten und füllt das Ganze wieder auf.
Auf diese Weise entstehen diese gigantischen Whirlpools im Ozean.«
»Was ist das für eine Beule auf dem Grund?«, fragte Corky. Er deutete auf eine kuppelförmige Erhebung, die wie eine Blase direkt unter dem Wirbel aus dem Meeresgrund ragte.
»Das ist der Magmadom«, sagte Tolland. »Hier wird Magma aus der Erde hochgepresst bis unter den Meeresboden.«
Corky nickte. »Wie ein riesiger Pickel.«
»Gewissermaßen.«
»Und wenn er platzt?«
Tolland legte die Stirn in Falten. Er erinnerte sich an das berühmte Megaplume-Ereignis von 1986 vor der Juan-de-Fuca-Schwelle, wo auf einen Schlag Tausende Tonnen von zwölfhundert Grad heißem Magma in den Ozean gespien worden waren und die Intensität des Megaplumes sich im Handumdrehen vervielfacht hatte. Während der heiße Wirbel nach oben hochkochte, hatte sich die Oberflächenströmung rapide beschleunigt. Tolland hatte nicht vor, Rachel und Corky in dieser Nacht noch zu verraten, was dann geschehen war.
»Die atlantischen Magmadome platzen nie«, sagte Tolland.
»Das nachströmende Kaltwasser kühlt die Delle
und erhärtet die Erdkruste. Über dem Magma liegt stets ein dicker
Deckel aus festem Gestein. Das Magma kühlt allmählich ab, und die
Wasserspirale verschwindet wieder. Megaplumes sind im Allgemeinen
nicht gefährlich.«
Corky deutete auf eine abgegriffene Ausgabe des Wissenschaftsmagazins Scientific American vom Februar 1999, die neben dem Computer lag und offensichtlich aus dem Zeitschriftenarchiv der Goya stammte. »Du behauptest also, der Scientific American bringt Romane unters Volk?«
Tolland sah das Cover und zuckte zusammen. Auf dem Titelbild war ein Supertanker abgebildet, der wie ein Spielzeug in einen gewaltigen Wassertrichter kippte, darunter die Schlagzeile
»MEGAPLUMES – KILLER AUS DER TIEFSEE?«
Tolland versuchte die Sache herunterzuspielen. »Für uns hier ist das völlig ohne Bedeutung. In diesem Artikel geht es um Megaplumes in Erdbebenzonen. Vor einigen Jahren war das eine populäre Hypothese für das Verschwinden der Schiffe im Bermudadreieck. Falls es zufällig gerade jetzt ein kataklysmisches Ereignis auf dem Meeresgrund geben sollte, wovon in der hiesigen Region noch nie etwas bekannt geworden ist, wäre es denkbar, dass der Magmadom platzt, und dann könnte der Wirbel vielleicht eine Größe erreichen, dass er… na, du weißt schon.«
»Nein, ich weiß nicht«, sagte Corky.
Tolland hob die Schultern. »… dass er zur Oberfläche durchbricht.«
»Prächtig. Da bin ich aber froh, dass du uns an Bord geholt hast.«
Xavia kam mit einem Packen Papiere unter dem Arm zurück.
»Ihr bewundert den Megaplume?«
»O ja«, meinte Corky. »Mike hat uns gerade erklärt, wie wir alle im Ausguss verschwinden, wenn dieser Magmadom platzt.«
»Im Ausguss?« Xavia lachte verächtlich auf. »Eher in der größten Klospülung der Welt!«
Draußen auf Deck der Goya beobachtete der Hubschrauberpilot wachsam den Radarschirm. Als Rettungspilot hatte er genügend Menschen in Angst erlebt, und Rachel war eindeutig von Furcht getrieben, als sie ihn gebeten hatte, nach ungebetenen Besuchern der Goya Ausschau zu halten.
Was für Besucher?, dachte er. Zehn Meilen im Umkreis sah alles ganz normal aus. Acht Meilen entfernt ein Fischerboot, gelegentlich ein Flugzeug, das mit unbekanntem Ziel durch die Peripherie des Radarfelds huschte.
Der Pilot seufzte. Er blickte aufs Meer, das am Schiff vorbeirauschte – ein gespenstisches Gefühl, als würde man volle Fahrt voraus laufen, und dabei lag das Schiff vor Anker.
Wachsam beobachtete der Pilot wieder den Radarschirm.
104
Tolland hatte inzwischen Xavia und Rachel miteinander bekannt gemacht. Die Geologin war von Tollands hochrangiger Reisebegleitung, die vor ihr im Hydrolab stand, keineswegs unbeeindruckt, und Rachels Drängen, die Tests schleunigst durchzuziehen und umgehend wieder vom Schiff zu verschwinden, trug ebenfalls wenig zu Xavias Beruhigung bei. Sie wandte sich an Tolland. »Mike«, sagte sie mit belegter Stimme, »in deiner Dokumentation hast du gesagt, die kleinen metallischen Einschlüsse in dem Steinbrocken hätten sich nur im Weltraum bilden können.«
Klar, das hat die NASA uns gesagt, dachte Tolland.
»Aber nach meinen Aufzeichnungen hier«, Xavia hielt die Schriftstücke hoch, »kann das nicht uneingeschränkt gelten.«
Corky blickte böse. »Natürlich gilt das uneingeschränkt!«
Xavia hielt Corky die Papiere unter die Nase. »Letztes Jahr hat ein junger Geologe von der Drew University mit einem neuartigen Roboter im Marianengraben den pazifischen Tiefseeboden untersucht und dabei einen losen Steinbrocken nach oben geholt, der ein bislang nicht bekanntes geologisches Merkmal aufwies.
Es besaß große Ähnlichkeit mit Chondren von Meteoritengestein. Er nannte das Phänomen ›plagioklase Stresseinschlüsse‹ – kleine Metallbläschen, die vermutlich durch irgendein Hochdruckgeschehen in der Tiefsee rehomogenisiert worden waren.
Dr. Pollock war sehr überrascht, in ozeanischem Gestein Metalleinschlüsse zu finden und formulierte zu ihrer Erklärung eine völlig neuartige Theorie.«
»Neuartig muss die Theorie schon gewesen sein«, spottete Corky.
Xavia ignorierte den Einwurf. »Dr. Pollock ist davon ausgegangen, dass sich das neuartige Gestein in einer extremen ozeanischen Tiefenregion aus bereits vorhandenem Gestein gebildet hat, wobei durch die dort herrschenden extremen Druckverhältnisse die Metallanteile miteinander verschmolzen wurden.«
Tolland ließ sich die Sache durch den Kopf gehen. Der Marianengraben war über elf Kilometer tief, eine der letzten unerforschten Regionen unseres Planeten. Bislang hatte man das Vordringen in diese Tiefen nur mit einer Hand voll Tauchrobotern gewagt; die meisten davon hatte der Wasserdruck lange vor Erreichen des Meeresgrundes zerlegt. Der Druck in diesem Tiefseegraben war gewaltig, über eintausendeinhundert bar. Die geologischen Kräfte der Tiefseeböden gaben der Ozeanographie noch viele Rätsel auf.
»Dieser Dr. Pollock glaubt also, dass sich im Marianengraben Gestein mit chondrenartigen Strukturen bilden kann?«, sagte er.
»Es ist eine ad hoc formulierte Theorie«, sagte Xavia. »Sie ist bisher noch nicht einmal veröffentlicht. Bei der Recherche für unser Megaplume-Projekt bin ich letzte Woche per Zufall im Internet auf die Homepage von Dr. Pollock mit seinen persönlichen Aufzeichnungen gestoßen. Sonst hätte ich noch nie etwas davon gehört.«
»Diese Theorie ist deshalb noch unveröffentlicht, weil sie völliger Blödsinn ist«, sagte Corky. »Chondren entstehen durch Hitze.
Wasserdruck kann niemals die Kristallstruktur von Gesteinen verändern.«
»Druck ist aber die Hauptursache sämtlicher geologischer Veränderungen auf unserem Planeten«, hielt Xavia dagegen. »Schon mal etwas von Gesteinsmetamorphose gehört? Geologie, erstes Semester.«
Tolland musste zugeben, dass Xavias Argument nicht so abwegig war. Zwar spielte Hitze bei manchen irdischen geologischen Metamorphosen durchaus eine Rolle, aber der Großteil der metamorphen Gesteine hatte sich unter extremem Druck gebildet.
Tief in der Erdkruste stand das Gestein unter so hohem Druck, dass es sich nicht mehr wie ein fester Körper verhielt, sondern eher wie eine zähe Flüssigkeit, wobei es elastisch wurde und chemischen Veränderungen unterworfen war. Dennoch empfand Tolland Pollocks Theorie nicht als befriedigend.
»Xavia«, sagte er, »ich habe noch nie gehört, dass Wasserdruck eine chemische Gesteinsveränderung bewirken könnte. Du bist die Geologin. Was sagst du dazu?«
»Nun ja«, meinte sie und blätterte in den Papieren, »es sieht so aus, als wäre Wasserdruck nicht der einzige Faktor.« Sie hatte die gesuchte Stelle gefunden und las laut vor. »›Die im Marianengraben unter gewaltigem hydrostatischem Druck stehende ozeanische Bodenkruste kann durch die tektonischen Kräfte der regionalen Abtauchzonen weiter komprimiert werden. ‹«
Natürlich!, dachte Tolland. Der Boden des Marianengrabens, auf dem elf Kilometer Wasser lasteten, war eine Abtauchzone – die tektonische Bruchlinie, wo die pazifische und die indische Platte zusammenstießen und die indische Platte unter die pazifische Platte »abtauchte«. Die Kombination von Wasserdruck und Plattentektonik konnte unglaubliche Druckkräfte erzeugen. Bei der Unzugänglichkeit und Gefährlichkeit dieses Tiefseegebiets war es kein Wunder, dass kaum jemand über die Entstehung von Chondren in dieser Region im Bilde war.
Xavia las weiter. »›Das Zusammenwirken von hydrostatischem und tektonischem Druck müsste dem Krustengestein einen elastischen oder zähflüssigen Zustand aufzwingen können, bei dem die Möglichkeit besteht, dass leichtere Elemente chondrenartige Strukturen annehmen, wie sie sonst nur im Weltraum gebildet werden können. ‹«
Corky verdrehte die Augen. »Alles Quatsch.«
Tolland schaute ihn an. »Corky, wie sollte man
denn sonst die Chondren in dem von Dr. Pollock gefundenen Stein
erklären?«
»Ganz einfach«, sagte Corky. »Pollock hat einen Meteoriten gefunden. Es fallen andauernd Meteoriten ins Meer. Es braucht Pollock gar nicht aufgefallen zu sein, dass er einen Meteoriten gefunden hat. Die Schmelzrinde kann vom langen Liegen im Wasser längst zerstört worden sein; dann sieht alles wie ganz normales Gestein aus.« Er wandte sich an Xavia. »Ich glaube nicht, dass Pollock so klug war, den Nickelgehalt zu bestimmen, oder?«
»Doch, war er!«, gab Xavia zurück. »Er schreibt: ›Es überraschte mich, dass der Nickelgehalt meiner Probe in einen mittleren Bereich fiel, wie wir es bei irdischem Gestein üblicherweise nicht beobachten‹.«
Tolland und Rachel sahen einander irritiert an.
Xavia las weiter. »›Der Nickelanteil entspricht nicht genau dem bei meteoritischem Ursprung zu erwartenden Mittelwert, verfehlt dieses Fenster allerdings nur überraschend knapp. ‹«
»Wie knapp denn.7«, wollte Rachel wissen. »Wäre es möglich, diesen ozeanischen Brocken als Meteoriten durchgehen zu lassen?«
Xavia schüttelte den Kopf. »Ich bin keine Mineralogin, aber soviel ich weiß, bestehen zwischen Meteoritengestein und dem von Pollock gefundenen Stein zahlreiche chemische Unterschiede.«
»Und welche?«, fragte Tolland.
Xavia blickte wieder in ihre Aufzeichnungen. »Hier steht, dass ein Unterschied die chemische Zusammensetzung der Chondren selbst betrifft. Anscheinend hat das Verhältnis von Titan zu Zirkonium einen anderen Wert. In den Chondren der Tiefseeprobe liegt der Zirkoniumanteil in einem kaum noch nennenswerten Bereich. Nur zwei Teile pro Million.«
»Zwei ppM?«, sagte Corky staunend. »Bei Meteoriten ist es tausendmal so viel!«
»Eben!«, meinte Xavia. »Deshalb ist Pollock ja auch nicht davon ausgegangen, dass seine Probe mit den Chondren aus dem Weltraum stammt.«
Tolland beugte sich zu Corky hinab. »Hat die NASA zufällig das Verhältnis von Titan zu Zirkonium in dem Brocken vom Milne-Schelf bestimmt?«
»Natürlich nicht«, entrüstete sich Corky. »Kein vernünftiger Mensch würde diesen Wert bestimmen. Das ist so, als hätte man ein Auto vor sich und würde den Gummigehalt der Reifen bestimmen, um zu beweisen, dass es ein Auto ist!«
Tolland seufzte. Er blickte Xavia an. »Wenn wir dir eine Gesteinsprobe mit Chondren geben würden – hättest du dann einen Test auf Lager, mit dem du eindeutig sagen könntest, ob es meteoritische Chondren sind oder diese Dinger, von denen Pollock gesprochen hat?«
»Ich glaube schon«, sagte Xavia. »Die Genauigkeit unseres Elektronenmikroskops dürfte ausreichen. Warum fragst du?«
Tolland schaute Corky an. »Gib es ihr.«
Zögernd zog Corky die Meteoritengesteinsprobe aus der Tasche und hielt sie Xavia hin. Stirnrunzelnd nahm Xavia die Steinscheibe in die Hand. Sie betrachtete die Schmelzrinde und das im Stein eingebettete Fossil. »Mein Gott!«, rief sie aus, »das ist doch nicht eine Probe von dem…«
»Doch«, sagte Tolland. »Leider.«
105
Gabrielle stand am Fenster ihres verlassenen Büros und überlegte, was sie tun sollte. Es war noch keine Stunde her, dass sie das NASA-Gebäude verlassen und sich darauf gefreut hatte, dem Senator von Chris Harpers Schwindelei über den PODS-Satelliten berichten zu können.
Doch ihr Eifer war verflogen.
Yolanda zufolge hatten zwei unabhängige Journalisten der ABC den Senator im Verdacht, von der SFF Schmiergelder zu kassieren. Außerdem hatte sie soeben in Erfahrung gebracht, dass Sexton von ihrem heimlichen Aufenthalt in seiner Wohnung während des Treffens mit den SFF-Leuten erfahren hatte – aber warum hatte er es ihr gegenüber nicht erwähnt?«
Das Taxi war längst wieder abgefahren. Gabrielle hätte zwar jederzeit ein anderes rufen können, aber es gab etwas, das sie zuerst tun musste.
Soll ich es wirklich riskieren?
Sie hatte keine andere Wahl. Sie musste es wagen, denn sie wusste nicht mehr, wem sie noch vertrauen konnte.
Sie ging in den Empfangsraum zurück und trat in den breiten Gang, der auf der anderen Seite zu der mit zwei Flaggen gesäumten massiven Eichentür von Sextons Büro führte – die amerikanische Nationalflagge rechts und die Flagge des von ihm vertretenen Staates Delaware links. Die stahlverstärkte Tür war wie fast alle Bürotüren im Haus mit Sicherheitsschlössern, einem elektronischen Kartenschließsystem und einer Alarmanlage gesichert.
Gabrielle wusste, dass ihr ein ungestörter Aufenthalt von lediglich ein paar Minuten in diesem Büro genügen würde, um sich auf alle ihre Fragen Gewissheit zu verschaffen. Die schwer gesicherte Tür zu überwinden, auf die Gabrielle zuging, war unmöglich, da machte sie sich keine Illusionen; aber sie hatte etwas anderes im Sinn. Drei Meter vor der Tür wandte Gabrielle sich scharf nach rechts und trat in die Damentoilette. Die Leuchtstoffröhren schalteten sich automatisch ein und erfüllten den gekachelten Raum mit kaltem weißem Licht. Gabrielle erblickte ihr Spiegelbild. Wie immer wirkten ihre Züge weicher, als ihr lieb war, beinahe schon zart. Ihre Stärke war ihr selten anzusehen.
Gabrielle wusste, dass Sexton ungeduldig auf ihre Ankunft wartete, um sich von ihrem Erkundungsvorstoß in Sachen PODS berichten zu lassen, aber es war ihr auch klar geworden, dass Sexton sie heute Abend manipuliert hatte. Und das mochte Gabrielle überhaupt nicht. Der Senator war nur mit einem Teil der Wahrheit herausgerückt. Die Frage war, wie viel er ihr vorenthalten hatte. Die Antwort wartete in seinem Büro – unmittelbar hinter der Wand dieser Toilette.
»Fünf Minuten!«, sagte Gabrielle entschlossen zu ihrem Spiegelbild.
Sie streckte sich und fuhr mit der Hand über den Türrahmen des Vorratskämmerchens für das Toilettenzubehör. Ein Schlüssel fiel klappernd herunter. Das Reinigungspersonal des Philip-A.-Hart-Gebäudes bestand aus Bundesangestellten. Jedes Mal, wenn irgendwo gestreikt wurde, waren die dienstbaren Geister tagelang nicht zu sehen, und in der Toilette gab es kein Papier, keine Handtücher, keine Tampons, bis die Damen von Sextons Büro die Dinge selbst in die Hand genommen und sich für »Notfälle« einen Schlüssel für die Abstellkammer organisiert hatten.
Und heute ist ein
Notfall, dachte Gabrielle.
Sie öffnete die Kammer. Schrubber und Besen fielen ihr entgegen. Die Regalbretter dahinter waren voll gestopft mit Papierwaren aller Art. Gabrielle hatte vor einem Monat auf der Suche nach einer Rolle Papierhandtücher eine ungewöhnliche Entdeckung gemacht. Um die auf dem obersten Brett liegende Rolle zu erreichen, hatte sie mit einem Besenstiel danach geangelt und dabei ein Deckenpaneel beiseite gestoßen. Als sie hinaufgeklettert war, um die Platte wieder an ihren Platz zu rücken, hatte sie völlig unvermutet laut und kristallklar die Stimme des Senators vernommen.
Am Klang hatte sie erkannt, dass er ein Selbstgespräch im Badezimmer seines Büros führte, das von dieser Abstellkammer augenscheinlich nur durch ein paar leicht herausnehmbare Kunststoff-Deckenpaneele getrennt war.
Gabrielle schlenkerte die Schuhe von den Füßen, kletterte die Regalbretter hinauf, ließ das Paneel aus seinen Halteklammern schnappen und zog sich durch die Öffnung. So viel zum Thema nationale Sicherheit, dachte sie und fragte sich, gegen wie viele Staats- und Bundesgesetze sie jetzt wohl verstieß.
Auf der anderen Seite ließ sie sich durch die Decke wieder herunter. Ihre bestrumpften Füße fanden Halt auf dem kalten Porzellan von Sextons Bürowaschbecken. Sie sprang auf den Boden.
Mit angehaltenem Atem ging sie hinaus in Sextons Büro.
Die Orientteppiche auf dem Boden fühlten sich warm und weich an.
106
Fünfzig Kilometer entfernt strich ein schwarzer Kiowa-Kampfhubschrauber im Tiefflug über die Wipfel der Krüppelkiefern von Nord-Delaware. Delta-1 überprüfte die Koordinaten, die er ins automatische Navigationssystem eingegeben hatte.
Durch die Verschlüsselungselektronik von Rachels Bordfunk und Pickerings Handy war zwar der Inhalt der Kommunikation geschützt, aber Delta-1 hatte nur den Standort der Signalquelle feststellen wollen. Satellitengestützte globale Navigationssysteme und computerisierte Triangulation hatten die haargenaue Einpeilung von Übertragungssignalen zu einem sehr viel einfacheren Vorgang gemacht als die Entschlüsselung des Inhalts der Signale.
Delta-1 amüsierte sich immer wieder über die Ahnungslosigkeit der Handybenutzer, die von einem nachrichtendienstlichen Lauschposten, falls man es auf den Anrufer abgesehen hatten, überall auf der Welt auf drei Meter genau lokalisiert werden konnten – ein kleiner Haken, den die Anbieter gern unter den Tisch fallen ließen. Nachdem die Delta Force in Kenntnis der Empfangsfrequenzen von William Pickerings Handy gelangt war, war es ein Leichtes gewesen, die Standortkoordinaten der Anruferin zu bestimmen.
Im direkten Anflug näherte sich Delta-1 dem Ziel bis auf etwa fünfunddreißig Kilometer. »Störschirm fertig?«, fragte er Delta-2, der Radar und Waffensysteme überwachte.
»Fertig. Erwarte Einflug in den Achtkilometerbereich.«
Acht Kilometer, dachte Delta-1. Er musste diesen Vogel tief in die Radarerfassung seines Ziels hineinsteuern, um die Waffensysteme des Kiowa in Aktionsradius zu bringen. Er hatte keinen Zweifel, dass man an Bord der Goya nervös den Himmel überwachen würde. Angesichts der Aufgabe, das Ziel ohne jede Gelegenheit zu einem Notruf zu eliminieren, musste Delta-1 sich unbemerkt an seine Beute anschleichen.
In vierundzwanzig Kilometer Entfernung und immer noch definitiv außerhalb der Radarerfassung schwenkte Delta-1 abrupt um fünfunddreißig Grad nach Westen. Er stieg auf neunhundert Meter – die übliche Höhe von Privatflugzeugen – und brachte den Hubschrauber auf eine Geschwindigkeit von zweihundert Stundenkilometer.
Das Radargerät im Hubschrauber der Küstenwache piepste nur ein einziges Mal, als ein neuer Radarkontakt den Sechzehnkilometerbereich anschnitt. Aufmerksam studierte der Pilot den Bildschirm. Es schien sich um ein Privatflugzeug zu handeln, das in westlicher Richtung auf die Küste zuflog.
Wahrscheinlich will der Pilot nach Newark.
Auf seinem derzeitigen Kurs würde sich das Flugzeug beim Vorbeiflug zwar bis auf etwa sechseinhalb Kilometer der Goya nähern, aber der Verlauf seiner Flugroute war anscheinend rein zufällig. Dessen ungeachtet verfolgte der Pilot wachsam den blinkenden Punkt, der gemächlich auf der rechten Seite über seinen Bildschirm zog. Inzwischen hatte er in gut sechs Kilometer Entfernung den nächsten Punkt erreicht und flog erwartungsgemäß auf seinem Kurs weiter – weg von der Goya.
6500 Meter. 6750 Meter.
Der Pilot atmete auf und entspannte sich.
Und dann geschah etwas sehr Merkwürdiges.
»Störschirm steht«, rief Delta-2. Er saß auf
dem Sitz vor der Waffenkonsole auf der Backbordseite des
Kiowa-Kampfhubschraubers und hielt den Daumen nach oben.
»Funksperre, Störgeräusch und Überwachungsimpuls aktiviert und
verriegelt.«
Delta-1 zog den Helikopter in eine scharfe Rechtskurve und brachte ihn auf direkten Kurs zur Goya. Das Kehrtmanöver würde auf dem Radarschirm nicht zu sehen sein. »Ballenweise Stanniolpapier ist ein Dreck dagegen«, rief Delta-2.
Delta-1 gab ihm Recht. Wie man Radarsignale stören kann, hatte sich im Zweiten Weltkrieg ein kluger britischer Flieger einfallen lassen, der auf seinen Bombeneinsätzen in Stanniol gewickeltes Heu aus seinem Bomber geworfen hatte.
Das Radar der Deutschen fing daraufhin so viele Radarechos auf, dass die Flak nicht mehr wusste, wohin sie schießen sollte. Diese Technik war seit damals grundlegend verbessert worden.
Das in den Kiowa eingebaute Radar-Störsystem war eine der tödlichsten elektronischen Waffen der Streitkräfte. Indem über einem vorgegebenen Satz von geographischen Koordinaten ein »Schirm« elektronischer Hintergrundgeräusche gelegt wurde, konnte der Kiowa die Augen, Ohren und Stimme dieses Ziels ausschalten. Vor wenigen Augenblicken waren sämtliche Radarbildschirme an Bord der Goya mit größter Gewissheit blind geworden. Wenn die Besatzung gemerkt hatte, dass sie um Hilfe rufen musste, war es schon zu spät, weil kein Sendebetrieb mehr möglich war. Von einem Schiff aus gab es keinen Festnetzanschluss über Leitungen. Sämtliche Kommunikationssysteme arbeiteten ausschließlich mit Radio- oder Mikrowellen. Sobald der Kiowa nahe genug gekommen war, konnte kein Kommunikationssystem mehr funktionieren. Die Signale wurden von einer dichten Wolke aus elektronischem Weißrauschen zugedeckt, die der Hubschrauber wie einen blendenden Fächer von Scheinwerferstrahlen vor sich herschob.
Von allem abgeschnitten, dachte Delta-1. Jetzt sind sie wehrlos.
Seinen Zielpersonen war die verblüffende Flucht vom Milne-Eisschelf geglückt, aber das würde sich nicht wiederholen. Mit dem Verlassen des Festlands hatten sie eine verhängnisvolle Fehlentscheidung getroffen. Es würde ihre letzte sein.
Im Weißen Haus setzte Zach Herney sich benommen im Bett auf, den Telefonhörer in der Hand. »Jetzt? Ekstrom will mich um diese Zeit sprechen?« Herney schaute noch einmal blinzelnd auf die Uhr neben seinem Bett.
3:17
»Jawohl, Mr President«, sagte der Nachrichtenoffizier. »Mr Ekstrom sagt, es sei von höchster Dringlichkeit.«
107
Während Xavia und Corky am Elektronenmikroskop damit beschäftigt waren, den Zirkoniumgehalt der Chondren zu bestimmen, war Rachel Tolland zu einem Computerarbeitsplatz in einen Nebenraum des Laboratoriums gefolgt. Auch er wollte anscheinend noch etwas überprüfen.
Das Programm fuhr langsam hoch. Tolland schaute Rachel an.
Er schien etwas sagen zu wollen, zögerte aber.
»Was bedrückt Sie?«, fragte Rachel. Überrascht stellte sie fest, wie stark sie sich inmitten des ganzen Chaos körperlich zu Tolland hingezogen fühlte. Sie wünschte sich, ihre Lage vergessen und das Zusammensein mit ihm genießen zu können – und sei es nur für ein paar Augenblicke.
»Ich muss mich bei Ihnen entschuldigen«, sagte Tolland. Er sah zerknirscht aus.
»Wofür?«
»Vorhin, an Deck, das mit den Hammerhaien. Leider gehen mir manchmal die Pferde durch. Ich vergesse zu leicht, wie Furcht erregend das Meer auf viele Menschen wirken kann.«
Rachel kam sich wie ein Backfisch vor, der mit seinem neuen Freund auf der Haustreppe steht. »Ach, das war halb so schlimm, wirklich.« Sie wurde das Gefühl nicht los, dass Tolland sie am liebsten geküsst hätte, doch nach einem kurzen, spannungsgeladenen Moment wandte er sich schüchtern ab.
»Das freut mich. Ich weiß aber, dass Sie möglichst schnell wieder an Land wollen. Also, an die Arbeit.«
»Jedenfalls fürs Erste«, sagte Rachel und lächelte.
»Gut, fürs Erste«, echote Tolland.
Rachel stand dicht hinter ihm und genoss die Vertraulichkeit der Situation. Sie schaute Tolland zu, wie er Dateien durchsuchte. »Worauf sind wir aus?«
»Ich möchte mir eine Datei über große Meeresinsekten anschauen. Mich interessiert, ob wir dabei auf urtümliche Fossilien stoßen, die denen im Meteoriten der NASA ähneln.« Er klappte ein Suchfenster auf. PROJECT DIVERSITAS stand in Großbuchstaben darüber.
Er fuhr die Suchtitel ab. »Diversitas ist ein Verzeichnis ozeanischer Biodaten, das stets auf dem neuesten Stand gehalten wird.
Wenn ein Meeresbiologe eine neue Spezies oder
ein neues Fossil entdeckt, kann er hier die Glocke läuten und
seinen Fund unter die Leute bringen. Er braucht nur seine Daten und
Fotos in eine zentrale Datenbank zu laden. Bei dem wöchentlichen
Zuwachs an Neuentdeckungen ist das wirklich die einzige
Möglichkeit, einigermaßen auf dem Laufenden zu bleiben.«
Rachel beobachtete Tolland beim Navigieren in der Datenbank. »Sie sind jetzt im Internet?«
»Nein, auf See ist das zu schwierig. Immer wenn wir in einem Hafen sind, laden wir uns sämtliche Daten des Project Diversitas aus dem Internet auf unseren optischen Datenträgerverbund nebenan. Auf diese Weise hinken wir dem neuesten Stand mit den letzten Funden höchstens ein bis zwei Monate hinterher.«
Tolland tippte Suchwörter in den Computer. »Unsere Datenbank ist riesig. Mehr als zehn Terabyte Beschreibungen und Fotos.
Hier gibt es Informationen, die noch kein Mensch gesehen hat – und die auch nie jemand sehen wird. Die Zahl der maritimen Lebewesen ist einfach zu groß.« Er klickte auf den Suchknopf.
»Okay, dann wollen wir mal schauen, ob schon jemand ein Fossil wie unseren ›Weltraumkäfer‹ gesehen hat!«
Nach einigen Sekunden zeigte der Bildschirm vier Einträge von fossilisierten Lebewesen. Tolland klickte die Einträge nacheinander an und betrachtete die Fotos. Keines war dem Fossil aus dem Meteoriten auch nur entfernt ähnlich.
»Dann lassen Sie uns etwas anderes versuchen.« Er entfernte in der Suchangabe das Wort »Fossil«. »Jetzt suchen wir sämtliche lebenden Arten durch. Vielleicht finden wir einen lebenden Abkömmling, der physiologische Merkmale des Meteoriten-Fossils aufweist.«
Eine Liste mit Hunderten von Einträgen erschien
auf dem Bildschirm. Tolland rieb sich das inzwischen stoppelige
Kinn.
»Okay, das sind zu viele. Ich muss die Suche eingrenzen.«
Rachel beobachtete, wie Tolland ein Pulldown-Menü mit der Bezeichnung »Habitat« öffnete. Die Liste der Vorgaben war endlos: Gezeitenpool, Watt, Lagune, Riff, mittelozeanischer Rücken, schwarze Smoker… Tolland ging die ganze Liste durch und wählte schließlich die Option »lebensfeindliche Grenzgebiete/Tiefseegräben«.
Schlau, dachte Rachel. Tolland grenzte die Suche auf den Lebensraum ein, aus dem auch die hypothetischen Chondren stammten.
Diesmal kamen nur drei Einträge. Tolland lächelte. »Gut, das ist überschaubar.«
Rachel entzifferte mühsam den ersten Namen auf der Liste.
Limulus poly… irgendwas.
Nach einem Mausklick erschien das Foto einer Kreatur, die wie eine zu groß geratene Hufeisenkrabbe ohne Schwanz aussah.
»Das war nichts«, meinte Tolland und ging zurück zur Auswahlliste.
Rachel las den zweiten Namen. Crabbus pfui teuflius. Sie stutzte.
»Ist das ernst gemeint?«
Tolland lachte. »Nein, das ist eine noch nicht klassifizierte Spezies. Ihr Entdecker ist ein Witzbold. Er hat diesen Namen als offizielle wissenschaftliche Bezeichnung vorgeschlagen.« Tolland holte das Foto auf den Bildschirm – ein ausnehmend hässliches krabbenartiges Geschöpf mit Barthaaren und einer fluoreszierenden rosa Antenne.
»Kein schlechter Name«, kommentierte Tolland, »aber nicht unser Weltraumkäfer. Und nun zum letzten Angebot.« Er klickte auf den dritten Eintrag.
»Bathynomous giganteus«, las er vor, als der Text erschienen war.
Das Foto wurde geladen. Eine Nahaufnahme in Farbe.
Rachel machte einen Satz. »Mein Gott!« Das Geschöpf, das sie vom Bildschirm anstarrte, jagte ihr einen kalten Schauer über den Rücken.
Tolland sog die Luft ein. »Junge, Junge, der Bursche sieht irgendwie bekannt aus.«
Rachel nickte. Sie war sprachlos. Bathynomous giganteus. Es war eine riesige Unterwasserassel. Der Fund ähnelte verblüffend dem Fossil im Gesteinsbrocken der NASA.
»Es gibt da ein paar kleine Unterschiede«, sagte Tolland, während er einige anatomische Beschreibungen und Zeichnungen über den Bildschirm rollen ließ. »Aber die Ähnlichkeit ist auffallend, vor allem, wenn man bedenkt, dass es einhundertneunzig Millionen Jahre Zeit hatte, sich zu entwickeln.«
Auffallend ist gut, dachte Rachel. Die Ähnlichkeit ist überzeugend.
Tolland las den beschreibenden Text vom Bildschirm ab. »›Die seltene und erst unlängst klassifizierte Spezies Bathynomous giganteus, eine Tiefseeassel, gilt als eine der ältesten maritimen Arten.
Sie wird bis zu sechzig Zentimeter lang, hat ein in Kopf, Brust und Hinterleib gegliedertes Chitin-Außenskelett, paarweise Gliedfortsätze, Fühler und Facettenaugen wie landbewohnende Insekten. Fressfeinde dieses den Meeresgrund nach Nahrung absuchenden Aasfressers sind nicht bekannt. Er bewohnt öde Meeresregionen, die bislang für unbewohnbar gehalten wurden.‹«
Tolland blickte vom Monitor auf. »Das wäre die Erklärung, weshalb es in unserer Probe keine anderen Fossilien gibt!«
Rachel betrachtete die Kreatur auf dem
Bildschirm. Sie war erregt und zugleich unsicher, ob sie die neue
Lage ganz verstanden hatte.
»Stellen Sie sich vor«, sagte Tolland aufgeregt, »dass vor einhundertneunzig Millionen Jahren ein Gelege dieser Bathynomouskreaturen in der Tiefsee unter einer Schlammlawine begraben wurde. Mit der Umwandlung des Schlamms in Sedimentgestein werden auch die eingeschlossenen Tiere zu Fossilien. Gleichzeitig trägt der Meeresboden, der sich wie ein großes langsames Förderband auf die Tiefseegräben zubewegt, das Sedimentgestein mit den Fossilien in eine Zone mit höchstem Druck, wo sich im Gestein die Chondren bilden.« Tolland sprach schneller. »Wenn jetzt ein Brocken von der Kruste abbricht, die Fossilien und Chondren enthält, und auf dem Geröllkeil an der Abtauchkante liegen bleibt, was keineswegs selten vorkommt, liegt er dort wie auf dem Präsentierteller und braucht nur noch gefunden zu werden.«
»Aber wenn die NASA…« Rachel stockte. »Ich meine, wenn das alles ein Schwindel ist, muss die NASA doch damit rechnen, dass früher oder später jemand die Ähnlichkeit des Fossils mit unserem Tiefseelebewesen feststellt, oder? Ich meine, wir haben es ja auch gerade festgestellt.«
Tolland machte einen Ausdruck des Bathynomous-Fotos auf einem Laserdrucker. »Ich weiß nicht, ob das so schlimm wäre.
Selbst wenn jemand daherkäme und auf die Ähnlichkeit des Fossils mit einer lebenden Tiefseeassel hinweist – physiologisch sind sie nicht identisch. Es könnte die Aussagen der NASA vielleicht sogar stützen.«
Rachel begriff sofort. »Die Panspermien-Hypothese.«
Das Leben ist aus dem
Weltall auf die Erde gekommen.
»Genau. Ähnlichkeiten zwischen Organismen aus dem All und irdischen Organismen sind wissenschaftlich überhaupt kein Widerspruch. Diese Tiefseeassel bläst sozusagen ins Horn der NASA.«
»Es sei denn, die Echtheit des Meteoriten selbst gerät ins Zwielicht.«
Tolland nickte. »Wenn der Meteorit fragwürdig geworden ist, fällt alles in sich zusammen. Dann wird unsere Tiefseeassel vom NASA-Freund zu ihrem Sargnagel.«
Schweigend beobachtete Rachel, wie die Blätter mit Bathynomous giganteus aus dem Drucker glitten. Sie versuchte sich einzureden, dass die ganze Sache ein gutgläubiges Versehen der NASA war, aber das war es nicht, und das wusste sie. Leute, denen in gutem Glauben ein Fehler unterläuft, schicken keine Killer los.
Corkys nasale Stimme drang zur Tür herein. »Unmöglich! Messen Sie das verdammte Verhältnis noch einmal! Das ergibt überhaupt keinen Sinn!«
Rachel und Tolland fuhren herum.
Xavia kam mit einem Computerausdruck in der Hand hereingelaufen. Sie war aschfahl. »Mike, ich weiß gar nicht, was ich dazu sagen soll…« Ihre Stimme versagte. Sie räusperte sich. »Das Verhältnis von Titan zu Zirkonium in eurer Probe… ich würde sagen, die NASA hat einen gewaltigen Bock geschossen. Euer Meteorit ist ein Brocken aus der Tiefsee.«
Rachel und Tolland schauten einander an, sagten aber kein Wort. Sie wussten Bescheid. Einfach so. Sämtliche Unsicherheiten und Verdachtsmomente hatten sich zu einem Wellenberg aufgetürmt, der in diesem Moment brach.
Tolland nickte. Er blickte betrübt. »Ja, danke,
Xavia.«
»Aber ich begreife das nicht – die Schmelzrinde, der Fundort im Eis…«
»Wir erklären es dir auf dem Rückweg«, sagte Tolland. »Lass uns schnell von hier verschwinden.«
Rachel sammelte eilig sämtliche Papiere und Beweisstücke zusammen. Das Material ergab ein schockierend eindeutiges Bild: Der Bodenradar-Ausdruck mit dem Einführungsschacht von unten durch den Milne-Eisschelf, Fotos einer lebenden Tiefseeassel, die aussah wie die Fossilien, Dr. Pollocks Artikel über Chondren in Tiefseegestein und schließlich die elektronenmikroskopische Untersuchung, die den extrem geringen Zirkoniumanteil in den Chondren der Probe erbracht hatte.
Die Schlussfolgerung war eindeutig. Betrug.
Tolland betrachtete die Papiere in Rachels Hand und seufzte.
»Ich würde sagen, da hat Pickering seinen Beweis.«
Rachel nickte. Sie rätselte immer noch, weshalb Pickering ihren Anruf nicht entgegengenommen hatte.
Tolland hob einen Telefonhörer ab und hielt ihn Rachel hin.
»Möchten Sie es von hier aus noch einmal versuchen?«
»Nein, wir sollten machen, dass wir fortkommen. Ich werde Pickering vom Hubschrauber aus anrufen.« Rachel hatte bereits beschlossen, den Hubschrauberpiloten direkt zum NRO-Gebäude fliegen zu lassen, falls die Kontaktaufnahme mit Pickering erneut misslang. Tolland wollte wieder einhängen, zögerte jedoch und hielt sich den Hörer ans Ohr. Er runzelte die Stirn.
»Unverständlich. Kein Signal.«
»Ist etwas nicht in Ordnung?«, fragte Rachel, argwöhnisch geworden.
»Seltsam«, sagte Tolland. »Direkte
COMSAT-Anschlüsse fallen nie aus dem Netz…«
Der Hubschrauberpilot kam ins Labor gestürzt. »Miss Sexton? Mr Tolland?« Er war blass.
»Was ist los?«, rief Rachel. »Kriegen wir Besuch?«
»Das ist es ja«, sagte der Pilot ratlos. »Ich kann es nicht sagen. Meine Sende- und Empfangsanlagen an Bord sind komplett ausgefallen.«
Rachel stopfte die Papiere tief in eine ihrer Taschen. »Alles in den Hubschrauber!«, rief sie. »Schnell! Wir hauen ab!«
108
Mit pochendem Herzen durchquerte Gabrielle das schummrige Büro von Senator Sexton. Der weitläufige Raum war opulent mit geschnitzten Holztäfelungen, Ölgemälden, persischen Teppichen, Ledersesseln und einem großen Mahagonischreibtisch eingerichtet. Als einzige Lichtquelle spendete Sextons Computerbildschirm ein geisterhaftes Licht.
Senator Sexton betrieb das »digitale Büro« bis zum Exzess.
Überquellende Aktenordner hatte er abgeschafft zu Gunsten der kompakten, überschaubaren Einfachheit seines PC, den er mit einer enormen Menge von Informationen fütterte – Gedächtnisprotokolle, eingescannte Zeitungsartikel, Reden und vieles andere. Sextons Computer war sein Allerheiligstes, zu dessen Schutz er sein Büro stets unter Verschluss hielt. Aus Furcht, Hacker könnten in seine geheiligte digitale Schatzkammer eindringen, hatte er noch nicht einmal einen Internetanschluss. Noch vor einem Jahr hätte Gabrielle niemals geglaubt, dass ein Politiker so töricht sein könnte, Dokumente zu speichern, die ihn selbst belasteten, doch in Washington hatte sie einiges dazugelernt. Information ist Macht. Erstaunt hatte sie zur Kenntnis genommen, dass es bei Politikern, die zweifelhafte Wahlkampfgeschenke angenommen hatten, gängige Praxis war, handfeste Belege dieser Zuwendungen an einem sicheren Ort aufzubewahren – Bankauszüge, Quittungen, Eintragungen, Briefe. Diese in Washington als »siamesische Versicherung« bezeichnete Maßnahme schützte den Kandidaten vor unbilligen Erpressungsversuchen von Spendern, die meinten, ihre Großzügigkeit gebe ihnen die Berechtigung, ihren Kandidaten nach ihrer Pfeife tanzen zu lassen. Wenn ein Spender zu unverschämt wurde, hielt ihm der Empfänger einfach die Belege unter die Nase und erinnerte ihn daran, dass beide Parteien Dreck am Stecken hatten. Das Belegmaterial sorgte dafür, dass Kandidat und Spender auf Gedeih und Verderb miteinander verwachsen waren – wie siamesische Zwillinge.
Gabrielle schlüpfte hinter den Schreibtisch, setzte sich und atmete tief durch. Wenn der Senator von der SFF Schmiergelder angenommen hat, sind die Belege dafür hier drin.
Sextons Bildschirmschoner bestand aus einer Dia-Show vom Innern des Weißen Hauses und der Parkanlagen; ein besonders eifriger Mitarbeiter, der in positivem Denken und Computervisualisierung Spitzenleistungen erbrachte, hatte ihm den Bildschirmschoner erstellt. Um die Bilder zog sich eine laufende Schriftbanderole mit der immer gleichen Inschrift: President of the United States, Sedgewick Sexton, President of the United States, Sedgewick Sexton, President of the…
Gabrielle bewegte die Maus. Ein Dialogfenster
ging auf.
BITTE GEBEN SIE DAS PASSWORT EIN.
Damit hatte sie gerechnet, aber das war kein Problem. Letzte Woche war sie zufällig in dem Moment ins Büro des Senators getreten, als dieser in schneller Folge drei Buchstaben eintippte, um etwas aus dem Computer abzufragen.
»Das soll ein Passwort sein?«, hatte sie beim Hereinkommen von der Tür her gescherzt.
Sexton hatte aufgeblickt. »Was ist?«
»Und ich hatte immer gedacht, Sie würden es mit der Datensicherheit sehr ernst nehmen«, hatte Gabrielle geflachst. »Ein Passwort aus nur drei Zeichen? Ich dachte, die Jungs von der Computerabteilung hätten dringend zu mindestens sechs Zeichen geraten.«
»Das sind doch alles noch blutjunge Leute. Die sollten mal versuchen, sich sechs Zeichen in der richtigen Reihenfolge zu merken, wenn sie über vierzig sind. Außerdem hat meine Tür eine Alarmanlage. Da kommt keiner rein.«
Gabrielle ging lächelnd auf ihn zu. »Und was ist, wenn einer reinkommt, während Sie gerade mal für kleine Jungs sind?«
»Und in dieser Zeit sämtliche möglichen Kombinationen durchprobiert?« Sexton lachte spöttisch. »Ich bin zwar nicht mehr der Schnellste, aber sooo lange brauche ich nun auch wieder nicht.«
»Ich wette mit Ihnen um ein Dinner bei Davide, dass ich Ihr Passwort in zehn Sekunden geknackt habe.«
Sexton schaute sie amüsiert an. »Ein Dinner für zwei bei Davide? Das können Sie sich doch gar nicht leisten.«
»Sind Sie bange?«
Sie schien Sexton beinahe Leid zu tun, als er
die Herausforderung annahm. »Also, zehn Sekunden!« Er beendete das
Programm und ließ Gabrielle vor dem Computer Platz nehmen. »Ich
werde mich bei Davide mit der Saltimbocca begnügen, aber die kostet
schon ein Vermögen.«
Gabrielle zuckte die Achseln. »Es ist ja nicht mein Geld.«
»Zehn Sekunden!«, sagte Sexton.
Gabrielle musste lachen. Sie würde höchstens zwei Sekunden brauchen. Schon an der Türschwelle hatte sie gesehen, dass Sexton sein Passwort mit drei flinken Bewegungen des Zeigefingers der linken Hand getippt hatte, also eindeutig dreimal die gleiche Taste. Außerdem hatte er den linken Randbereich der Tastatur benutzt, womit höchstens neun Buchstaben blieben. Den richtigen Buchstaben zu erraten war ohnehin einfach, denn Sexton war verliebt in die dreifache Alliteration seines Namens und seines Titels.
Unterschätze nie die Eitelkeit eines Politikers.
Gabrielle tippte SSS, und der Bildschirmschoner verschwand.
Sexton blickte fassungslos.
Das war letzte Woche gewesen. Jetzt, vor dem Computer, war sich Gabrielle gewiss, dass Sexton sich nicht die Zeit genommen hatte, sich ein neues Passwort auszudenken und zu installieren.
Wozu auch?
Er hat unbegrenztes Vertrauen zu dir.
Sie tippte SSS.
UNGÜLTIGES PASSWORT – KEIN ZUGRIFF
Gabrielle starrte erschrocken auf den Bildschirm.
Sie hatte ihren Vertrauensvorschuss bei Sexton wohl doch überschätzt.
109
Der Angriff kam ohne jede Warnung. Wie eine Hornisse stieß die tödliche Silhouette eines Kampfhubschraubers aus dem Südwesthimmel auf die Goya herab. Rachel wusste sofort, was da auf sie herabstieß und warum. In der Dunkelheit platzte ein Kugelhagel aus der Nase des Hubschraubers und zeichnete eine splitternde Linie auf das Fiberglas-Achterdeck der Goya. Rachel warf sich einen Sekundenbruchteil zu spät in Deckung. Ein Geschoss streifte glühend heiß ihren Arm. Sie krachte hart auf den Boden, rollte sich ab und versuchte hastig auf allen vieren hinter das Tauchboot zu kriechen.
Mit donnerndem Rotorgeräusch raste der Hubschrauber über ihrem Kopf über das Schiff hinweg und hinaus aufs offene Meer.
Das Geräusch verebbte zu einem scheußlich hohen Singen, während der Helikopter in einem weiten Bogen für den zweiten Angriff ausholte.
Rachel lag zitternd auf dem Deck. Sie hielt sich den Arm und schaute zurück zu Corky und Tolland. Die beiden Männer, die sich hinter eine Materialkiste geworfen hatten, kamen taumelnd wieder auf die Beine und suchten mit schreckgeweiteten Augen den Himmel ab. Rachel rappelte sich auf die Knie. Alles schien wie ein Film in Zeitlupe abzulaufen.
Hinter das Tauchboot geduckt, spähte Rachel zu dem Küstenwachthubschrauber hinüber. Xavia kletterte bereits an Bord und winkte hektisch die anderen herbei. Der Pilot war ins Cockpit gehechtet und fuhrwerkte fieberhaft an Hebeln und Schaltern.
Langsam kam der Rotor auf Touren.
Sehr langsam.
Schneller!
Rachel war jetzt auf den Füßen. Sie wollte losrennen und überlegte noch, ob sie es quer übers Deck schaffen konnte, bevor der zweite Angriff kam. Sie hörte Corky und Tolland hinter sich auf den wartenden Hubschrauber loslaufen. Ja! Schnell!
Dann sah sie einen bleistiftdünnen roten Strahl. Er stach aus hundert Metern Entfernung schräg aus dem Nichts der leeren Dunkelheit herunter, huschte über das Deck der Goya und blieb schließlich auf dem Cockpit des Küstenwachthubschraubers ruhen.
In einem Sekundenbruchteil hatte Rachel begriffen. Die Vorgänge auf dem Deck der Goya verschwammen in diesem fürchterlichen Moment zu einer Collage aus Bildern und Geräuschen – Tolland und Corky, die herbeigesprintet kamen, Xavia, die aufgeregt aus dem Hubschrauber winkte, der grellrote Strahl, der die Nacht durchschnitt.
Es war zu spät.
Rachel warf sich mit ausgestreckten Armen Corky und Tolland in den Weg und prallte mit ihnen zusammen. In einem Durcheinander von Armen und Beinen kugelten die drei übers Deck.
In der Ferne flammte ein weißer Lichtschein auf. Schreckensstarr sah Rachel einen schnurgeraden Raketenstrahl auf der roten Laserlinie herunterreiten.
Die Hellfire-Rakete riss den Hubschrauber wie ein Spielzeug auseinander. Die Schockwelle der Detonation fegte brüllend übers Deck, gefolgt von einem Regen brennender Wrackteile.
Das flammende Skelett des Hubschraubers machte einen Satz nach hinten, kippte auf seinen deformierten Schwanz und verharrte wankend für einen Moment; dann rutschte das Wrack vom Heck und stürzte inmitten einer fauchenden Dampfwolke ins Wasser.
Rachel stockte der Atem. Sie hörte den Helikopter gurgelnd und zischend in der starken Strömung untergehen, die das Gerippe rasch von der Goya forttrieb. Inmitten des Chaos schrie Tolland ihr etwas zu. Sie spürte seine starken Hände, die sie hochziehen wollten, doch sie konnte sich nicht bewegen.
Xavia und unser Pilot sind tot.
Jetzt sind wir dran.
110
Auf dem Milne-Eisschelf hatte sich das Wetter beruhigt.
In der Kuppel war es still geworden. NASA-Chef Lawrence Ekstrom hatte allerdings noch nicht einmal versucht, sich zum Schlafen hinzulegen. Stundenlang war er alleine in der Kuppel herumgetigert, hatte ins Bergungsloch gestarrt und die Finger über die Rillen des riesigen, angekohlten Steinbrockens gleiten lassen.
Schließlich hatte er einen Entschluss gefasst.
Nun saß er im Kommunikationsmodul vor dem Bildtelefon und blickte in die müden Augen des Präsidenten der Vereinigten Staaten. Zach Herney war im Morgenmantel und wirkte alles andere als begeistert.
Als Ekstrom geendet hatte, schaute Herney ihn irritiert an, als wäre er noch zu schläfrig, um richtig verstanden zu haben.
»Moment mal«, sagte Herney, »ich glaube, wir
haben eine schlechte Leitung. Ich habe mich doch wohl verhört, oder
wollen Sie mir allen Ernstes erzählen, die NASA hätte die
Standortkoordinaten des Meteoriten einem abgefangenen Funknotruf
entnommen – und dann stillschweigend so getan, als hätte der
PODS-Satellit den Meteoriten gefunden?«
Ekstrom saß allein im Dunkeln und schwieg. Er wünschte, der Albtraum wäre vorüber.
Sein Schweigen kam beim Präsidenten nicht gut an. »Herrgott nochmal, Larry, nun sagen Sie schon, dass das nicht wahr ist!«
Ekstroms Mund war staubtrocken. »Mr President, der Meteorit wurde gefunden. Nur darauf kommt es an.«
Die Stille des Raums verwandelte sich in Ekstroms Ohren zu einem dumpfen Brüllen. Du musstest es ihm beichten, sagte er zu sich selbst, sonst wird es nur noch schlimmer. »Mr President, die Pleite mit PODS hat Ihre Umfrageergebnisse in den Keller fallen lassen.
Als wir einen Funkruf aufgefangen haben, in dem von einem großen Meteoriten im Eis die Rede war, erkannten wir sofort die Chance, Sie wieder ins Rennen zu bringen.«
»Mit einer getürkten Entdeckung von PODS?« Herney hörte sich ziemlich entrüstet an.
»PODS wäre sowieso in absehbarer Zeit wieder ganz normal gelaufen, aber nicht früh genug für Ihre Wahl. Sexton ist mit der NASA Schlitten gefahren, da war es…«
»Larry!«, fiel der Präsident ihm ins Wort, »Sind Sie von allen guten Geistern verlassen? Sie haben mich angelogen!«
»Sir, so eine Gelegenheit bietet sich nur einmal. Ich musste zugreifen! Wir hatten den Funkruf des Kanadiers aufgefangen, der den Meteoriten entdeckt hat. Er ist in einem Unwetter umgekommen. Kein Mensch wusste, dass hier oben ein Meteorit im Eis steckt. PODS kreist über dem Gebiet. Die NASA brauchte einen Erfolg. Wir hatten die Koordinaten.«
»Warum erzählen Sie mir das jetzt auf einmal?«
»Ich dachte, Sie sollten im Bilde sein.«
»Können Sie sich vorstellen, was los ist, wenn Sexton von der Sache Wind bekommt?«
Ekstrom stellte es sich lieber nicht vor.
»Ich werde es Ihnen sagen: Er wird sich hinstellen und der ganzen Welt verkünden, dass die NASA und der Präsident im Weißen Haus das amerikanische Volk nach Strich und Faden angelogen haben! Und wissen Sie was? Der Mann hat Recht!«
»Sie haben nicht gelogen, Sir. Das war ich. Und ich werde zurücktreten, wenn…«
»Larry, Sie reden an der Sache vorbei. Ich habe mich bemüht, mein Amt redlich und wahrhaftig auszuüben, verdammt nochmal! Ich habe alles darangesetzt, heute Abend sauber und mit Würde dazustehen. Jetzt muss ich von Ihnen erfahren, dass ich vor der ganzen Welt gelogen habe!«
»Es war keine richtige Lüge, Sir.«
»So etwas gibt es nicht!« Herney war fuchsteufelswild geworden.
Ekstrom fühlte, wie ihn der kleine Raum allmählich erdrückte.
Er hätte dem Präsidenten gern noch viel mehr gebeichtet, aber damit würde er besser bis morgen warten. »Es tut mir Leid, dass ich Sie geweckt habe, Sir. Aber ich dachte, Sie sollten im Bilde sein.«
Auf der anderen Seite der Stadt wanderte Sexton
mit wachsender Unruhe durch seine Wohnung. Er nahm noch einen
Cognac.
Wo steckt Gabrielle?
111
Gabrielle Ashe saß in Senator Sextons dunklem Büro am Schreibtisch und schaute entmutigt auf den Bildschirm seines Computers.
UNGÜLTIGES PASSWORT – KEIN ZUGRIFF
Nach SSS hatte sie einige andere Buchstabenkombinationen probiert, die ihr in Frage zu kommen schienen, aber keine davon hatte funktioniert. Sie hatte das Büro bereits nach unverschlossenen Schubfächern oder aufschlussreichen Schriftstücken abgesucht, die achtlos umherlagen, und war drauf und dran, wieder zu verschwinden, als sie ein merkwürdiges Glitzern auf Sextons Schreibtischkalender bemerkte. Jemand hatte das Datum des Wahltags mit rotem, weißem und blauem Glitzerstift eingerahmt.
Der Senator selbst war es gewiss nicht gewesen. Gabrielle zog den Kalender näher heran. Über das Datum stand in affiger Glitzerschrift »POTUS!« geschrieben.
Sextons Sekretärin hatte sich offensichtlich als Stimmungskanone betätigt und dem Senator für den Wahltag Schützenhilfe in positivem Denken gegeben. Das Akronym »POTUS« war die Codebezeichnung des Secret Service für den Präsidenten der Vereinigten Staaten: »President of the United States«. Wenn am Wahltag alles gut ging, würde Sexton der nächste POTUS sein.
Gabrielle legte den Kalender wieder an seinen Platz und stand auf. Auf dem Bildschirm leuchtete immer noch die Aufforderung BITTE PASSWORT EINGEBEN. POTUS. Es klang wie ein perfektes Sexton-Passwort. Einfach, positiv, selbstbezogen. Von plötzlicher Hoffnung beflügelt tippte sie: POTUS
Mit angehaltenem Atem betätigte sie die Enter-Taste. Auf dem Monitor erschien:
UNGÜLTIGES PASSWORT – KEIN ZUGRIFF
Enttäuscht gab Gabrielle auf. Sie machte sich auf den Rückweg zum Bad, um zu verschwinden, wie sie gekommen war. Auf halbem Weg trillerte plötzlich ihr Handy. Das Geräusch wirkte auf ihre ohnehin überspannten Nerven wie ein Schock. Sie blieb abrupt stehen und schaute auf Sextons Prachtstück, eine Jourdain-Standuhr. Fast 4 Uhr. Um diese Stunde konnte nur Sexton der Anrufer sein. Zweifellos fragte er sich, wo sie so lange steckte. Annehmen oder klingeln lassen? Wenn sie das Gespräch annahm, würde sie lügen müssen, wenn nicht, würde Sexton argwöhnisch werden. Sie nahm das Gespräch an.
»Hallo?«
»Gabrielle?« Sextons Ungeduld war unüberhörbar. »Wo bleiben Sie so lange?«
»Am FDR Memorial gab’s einen Unfall«, sagte Gabrielle. »Mein Taxi ist stecken geblieben, und wir sind jetzt…«
»Das hört sich aber nicht so an, als säßen Sie im Taxi.«
»Nein«, sagte sie. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. »Ich habe mich entschlossen, am Büro vorbeizufahren und noch ein paar NASA-Akten mitzunehmen, die für PODS relevant sind. Ich kann die Unterlagen aber nicht so schnell finden.«
»Okay. Beeilen Sie sich. Ich möchte für morgen
Vormittag eine Pressekonferenz einberufen, aber vorher müssen wir
noch einiges durchgehen.«
»Es kann nicht mehr lange dauern, bis ich bei Ihnen bin«, sagte sie.
Sexton legte nicht auf. Eine Pause entstand. »Sind Sie wirklich in Ihrem Büro?«, fragte er plötzlich konsterniert.
»Natürlich. In zehn Minuten bin ich hier fertig und mache mich auf den Weg zu Ihnen.«
Wieder eine Pause. »Okay, ich sehe Sie gleich.«
Gabrielle legte auf. Sie war zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um den unverwechselbaren Dreifachklick von Sextons Standuhr zu beachten, die keinen Meter von ihr entfernt war.
112
Tolland zog Rachel hinter den Triton in Deckung. Erst jetzt sah er das Blut an ihrem Arm. Sie war verletzt. Doch der katatonische Ausdruck in ihrem Gesicht verriet ihm, dass sie keinen Schmerz empfand. Tolland stützte Rachel, fuhr herum und hielt nach Corky Ausschau. Das blanke Entsetzen im Gesicht, kam der Astrophysiker über das Deck herbeigelaufen.
Wir müssen irgendwo Deckung finden, dachte Tolland. Sein Blick überflog die Reihen der Decks. Die Treppenaufgänge zur Brücke waren völlig ungeschützt, die Brücke selbst ein durchsichtiger Glaskasten. Der Weg nach oben war Selbstmord, es gab nur den Weg nach unten.
Einen flüchtigen Moment lang hatte Tolland das
Triton-Tauchboot mit einem hoffnungsvollen Blick gestreift und
überlegt, ob er alle unter Wasser außer Reichweite der Geschosse
bringen könnte.
Völlig ausgeschlossen. Der Triton bot nur einer Person Platz, und es dauerte zehn Minuten, bis das Tauchboot an seinem Kran durch die Falltür im Deck die zehn Meter bis zur Wasseroberfläche hinuntergeschwebt war. Zudem würde der Triton ohne voll aufgeladene Batterien und Drucklufttanks wie eine Bleiente im Wasser liegen.
»Da kommen sie wieder!«, rief Corky mit angsterfüllter Stimme und deutete zum Himmel.
Tolland machte sich nicht die Mühe, nach oben zu schauen. Er zeigte auf einen Niedergang, von dem eine Gittertreppe nach unten führte. Corky brauchte keine Aufforderung. Mit eingezogenem Kopf rannte er zu der Öffnung im Deck und flitzte nach unten. Tolland legte den Arm fest um Rachels Taille und folgte Corky. Während sie unter Deck verschwanden, pfiffen die Geschosse schon über ihre Köpfe. Tolland zog Rachel hinter sich her die Gittertreppe hinunter, die auf einem Netzwerk von an Streben hängenden Laufstegen aus Gitterrosten endete. Tolland fühlte Rachels Körper plötzlich stocksteif werden. In der Befürchtung, ein Querschläger hätte sie getroffen, fuhr er herum, doch ihr Gesicht sagte ihm, dass es etwas anderes war. Er folgte ihrem versteinerten Blick durch das Gitterrost nach unten und begriff. Rachel stand wie festgenagelt. Die Beine versagten ihr den Dienst. Sie starrte hinunter auf die bizarre Welt zu ihren Füßen. Wegen ihrer besonderen Konstruktion hatte die Goya keinen Rumpf, sondern zwei parallele Schwimmkörper wie ein Katamaran. Rachel und Tolland waren durch das Deck auf einen seitlichen Gitterlaufsteg herabgestiegen, der über einem Abgrund hing. Sieben Meter unter ihnen rauschte das Meer mit ohrenbetäubendem Lärm, der von der Unterseite des Decks mit vielfachem Echo zurückgeworfen wurde. Die Unterwasserscheinwerfer brannten noch und warfen einen grünlichen Lichtschein tief in den Ozean direkt unter Rachel. Sie starrte hinab auf die geisterhaften Silhouetten von sechs oder sieben riesigen Hammerhaien, die mit elastischen Schlängelbewegungen gegen die Strömung schwammen.
Tollands Stimme klang in ihrem Ohr. »Keine Angst, Rachel! Ich bin direkt hinter Ihnen!« Seine Hände zogen ihre ans Geländer geklammerten Fäuste mit sanfter Gewalt fort. In diesem Moment sah Rachel den roten Blutstropfen von ihrem Arm herunterrollen und durch das Gitter fallen. Sie verlor den fallenden Tropfen schnell aus dem Blick, doch der Moment seines Eintauchens ins Wasser entging ihr nicht. Mit gewaltigen Schwanzschlägen jagten die Hammerhaie herbei und prallten unter ihr in einem schäumenden Chaos aus Zähnen und Fischleibern zusammen.
Vergrößerter telencephalonärer Lobus olfactorius. Sie riechen Blut noch aus zwei Kilometer Entfernung.
»Augen immer geradeaus«, mahnte Tolland. Seine Stimme war stark und Vertrauen einflößend. »Ich bin direkt hinter Ihnen.«
Rachel spürte auf ihren Hüften den Druck seiner sie voranschiebenden Hände. Sie verbannte den unter ihr lauernden Abgrund aus ihren Gedanken und setzte sich den Laufsteg entlang in Bewegung. Irgendwo über sich hörte sie wieder Rotorenlärm.
Corky war in besinnungsloser Panik schon weit vorausgerannt.
»Ganz durch bis zur hinteren Stütze!«, rief
Tolland ihm hinterher. »Und dann den Treppenabgang runter!«
Jetzt erkannte auch Rachel das Ziel ihrer Flucht. Weit hinten führte eine schmale Wendeltreppe nach unten zu einem breiten Steg, der dicht über der Wasseroberfläche über die gesamte Länge des Schwimmkörpers angebracht war. Schmale Anlegestege ragten von hier aus ins Wasser, wodurch in dem Raum unter dem Schiff eine Art kleiner Bootshafen entstand. Ein großes Schild warnte:
VORSICHT
Taucherbereich!
Bootsführer auf Taucher achten!
Rachel konnte nur hoffen, dass Tolland keine Schwimmübungen mit ihnen vorhatte. Ihr Unbehagen wuchs, als Tolland an einer Batterie von Drahtgitterspinden Halt machte, in denen Taucheranzüge, Schnorchel, Schwimmflossen, Schwimmwesten, Harpunen und allerlei sonstige Gerätschaften hingen. Er griff hinein und packte eine Signalpistole. »Los, weiter!«
Weit vor ihnen war Corky schon auf halbem Weg die Wendeltreppe hinunter. »Da ist es ja! Ich kann es sehen!«, rief er. Seine Stimme überschlug sich fast vor Freude.
Was mag er sehen?, dachte Rachel. Sie sah nur einen mit Haien verseuchten Ozean in gefährlicher Nähe. Tolland schob sie weiter voran. Plötzlich sah auch Rachel, was Corky den Freudenschrei entlockt hatte. Am Ende des unteren Stegs lag ein starkes Motorboot vertäut. Corky rannte bereits darauf zu.
Rachel starrte Tolland an. »Sie wollen doch nicht mit einem Motorboot einem Hubschrauber davonfahren?«
»Es hat ein Funkgerät. Wenn wir es schaffen,
aus dem Störfeld des Hubschraubers zu kommen, können wir
vielleicht…«
Rachel hörte ihm schon nicht mehr zu. Sie hatte etwas gesehen, das ihr das Blut in den Adern stocken ließ. »Zu spät«, stieß sie hervor und deutete mit zitterndem Finger hinter sich. Das ist das Ende.
Als Tolland sich umdrehte, wusste er sofort, dass alles vorbei war.
Der schwarze Helikopter war vor dem Bug des Schiffes fast bis auf die Wasseroberfläche heruntergegangen und spähte in den Hohlraum unter dem Schiff wie ein beutesuchender Drache in eine Höhle. Einen Moment lang dachte Tolland, der Kiowa würde zu ihnen hereingeflogen kommen, doch der Hubschrauber korrigierte nur ein wenig seine Lage und zielte.
Tollands Blick folgte der Richtung der Maschinengewehrläufe.
Nein! Corky kauerte schon neben dem Motorboot und löste die Leinen. Die Maschinengewehre im Waffenturm unter dem Helikopter spien Blitz und Donner. Corky riss den Kopf hoch; dann zuckte er zusammen, als wäre er getroffen worden. Er ließ sich ins Boot fallen und blieb Deckung suchend flach auf den Boden liegen. Das Feuer endete. Corkys rechter Unterschenkel war blutüberströmt. Tolland konnte den Freund im Boot nach vorne kriechen sehen. Hinter das Armaturenbrett geduckt, griff Corky mit der Hand nach oben und ertastete den Zündschlüssel. Röhrend erwachten die zweihundertfünfzig PS des Mercury-Außenbordmotors.
Im selben Moment brach aus der Nase des schwebenden Helikopters der rote Laser-Zielstrahl und erfasste das Motorboot.
Tollands Reaktion war reiner Instinkt. Er
zielte mit der einzigen Waffe, die er hatte. Zischend schoss ein
blendender Strahl aus der Signalpistole pfeilgerade unter dem
Schiff hindurch auf den Helikopter zu. Gleichwohl hatte Tolland das
Gefühl, dass seine Reaktion zu spät gekommen war. Die Leuchtrakete
war noch unterwegs, als der Raketenwerfer unter dem Hubschrauber
zündete. Gleichzeitig wich der Hubschrauber mit einem jähen Ruck
dem Leuchtgeschoss aus und verschwand nach oben aus dem
Blickfeld.
»Vorsicht!« Tolland riss Rachel zurück.
Das Geschoss jagte unter der Goya durch und verfehlte Corky nur knapp. Sieben Meter unter Rachel und Tolland krachte es in den Fuß einer der Heckstützen, die den Aufbau trugen.
Die Detonation war wie ein Weltuntergang. Wasser und Flammen schossen hoch. Metallteile flogen durch die Luft und prasselten neben Rachel und Tolland ins Gitterwerk des Laufstegs.
Stahl knirschte auf Stahl, als das ganze Schiff mit leichter Schlagseite schwankend neues Gleichgewicht suchte.
Als der Rauch sich verzogen hatte, wurde die schwere Beschädigung der Trägerkonstruktion erkennbar. Die mächtige Strö-
mung zerrte an dem Schwimmkörper und drohte ihn abzureißen.
Der Treppenabgang hinunter zum Landesteg schien nur noch an einem seidenen Faden zu hängen.
»Los!«, rief Tolland. »Rachel, wir müssen es noch schaffen!«
Aber es war zu spät. Krachend riss die Treppenkonstruktion von der stark deformierten Stütze ab und stürzte ins Meer.
Delta-1 brachte den Kiowa-Helikopter mit ein paar Ausschlägen des Steuerknüppels wieder unter Kontrolle. Von der Leuchtpatrone geblendet, hatte er den Hubschrauber unwillkürlich hochgezogen und den Zielstrahl der Hellfire-Rakete verrissen. Fluchend schwebte er vor dem Bug der Goya langsam wieder nach unten, um seinen Job zu Ende zu bringen.
Jeden an Bord eliminieren. Der Befehl des Einsatzleiters war eindeutig gewesen.
»Scheiße!«, brüllte Delta-2 und deutete zum Fenster hinaus.
»Dort! Ein Boot!«
Delta-1 fuhr hoch. Er sah gerade noch ein mit Einschlägen übersätes Crestliner-Speedboat unter sich hindurch in die Dunkelheit rasen.
Er musste schleunigst eine Entscheidung treffen.
113
Die Phantom 2100 jagte aufs offene Meer hinaus. Als Rachel und Tolland abgeschnitten auf dem oberen Laufsteg festsaßen, hatte Corky sich blitzschnell entscheiden müssen. Die blutigen Hände ans Steuerrad geklammert, hatte er den Gashebel ganz nach vorn gedrückt, um auch die Höchstgeschwindigkeit aus dem Boot herauszuholen. Erst jetzt spürte er den stechenden Schmerz in seinem rechten Bein. Als er an sich hinunterblickte und das Blut spritzen sah, wurde ihm augenblicklich schlecht.
Er lehnte sich mit dem Rücken ans Steuerrad und schaute zur Goya zurück. Nun flieg mir schon hinterher! , versuchte er den Helikopter zu beschwören.
Wenn es Corky gelang, den Kiowa weit genug vom Schiff wegzulocken, würden Tolland und Rachel wahrscheinlich Hilfe herbeifunken können. Leider hing der Kampfhubschrauber immer noch unentschlossen über dem hell beleuchteten Schiff.
Nun macht schon, ihr Schweine! Fliegt hinter mir her!
Aber der Kiowa flog Corky nicht hinterher. Stattdessen sah Corky entsetzt den Hubschrauber zum Heck der Goya schwenken und dort aufsetzen. Corky hatte sich verkalkuliert. Rachel und Tolland liefen Gefahr, getötet zu werden.
Jetzt war es an ihm, Hilfe herbeizufunken. Corky suchte in der Dunkelheit das Armaturenbrett nach der Funkanlage ab und fand schließlich den Drehknopf für Netz und Lautstärke. Er schaltete die Anlage an. Nichts passierte, kein Lämpchen, kein Rauschen. Er drehte die Lautstärke voll auf. Nichts. Scheißding, nun mach schon! Er ließ das Steuerrad los und kniete sich hin. Sein Bein schmerzte. Ganz aus der Nähe überprüften seine Augen das Gerät. Fassungslos betrachtete er die Bescherung. Ein Streifschuss hatte die Skala zertrümmert. Lose Drähte hingen heraus.
Wenn schon Pech, dann richtig…
Mit weichen Knien stand er wieder auf und fragte sich, ob es noch schlimmer kommen könnte. Als er zur Goya zurückblickte, bekam er die Antwort. Zwei bewaffnete Männer sprangen aus dem Kiowa auf das Deck des Schiffes. Der Hubschrauber hob wieder ab und flog mit Höchstgeschwindigkeit in die Richtung, in die Corky geflohen war.
Corky sank zusammen. Divide et impera. Offenbar hatte nicht nur er diese brillante Idee gehabt.
Als Delta-3 sich anschickte, die Gittertreppe des Niedergangs hinunterzusteigen, hörte er unten eine Frau laut schreien. Er drehte sich um und signalisierte Delta-2, dass er sich unter Deck umschauen wollte. Delta-2 nickte und blieb zurück, um den oberen Bereich zu sichern. Der Kontakt war durch das CrypTalk gesichert, für dessen Sendefrequenz der Störsender des Kiowa schlauerweise eine winzige Frequenzlücke offen ließ.
Die kurzläufige Maschinenpistole im Anschlag, schlich Delta-3 mit der Wachsamkeit des geübten Killers zentimeterweise den Niedergang hinunter. Die Gitterkonstruktion engte sein Blickfeld ein. Tief gebückt versuchte er, mehr zu erkennen. Auf halbem Weg hinab konnte er das an Streben unter dem Deck hängende Wegenetz aus Gitterlaufstegen überblicken.
Dann sah er die Frau. Rachel Sexton stand ans Geländer geklammert mitten auf einem Quersteg und schrie verzweifelt nach Michael Tolland zum Wasser hinunter.
Hatte die Explosion Tolland ins Wasser geschleudert?
In diesem Fall war die Aufgabe für Delta-3 noch einfacher als erwartet. Er musste nur noch ein paar Stufen weiter nach unten, um freies Schussfeld zu bekommen. Scheibenschießen an einer Kirmesbude. Lediglich die offen stehenden Gitterboxen, aus denen sich Rachel Sexton vielleicht mit einer Harpune oder einem Haifischschocker als Waffe versorgt haben konnte, mahnten Delta-3 zur Vorsicht. Aber was war das schon gegen seine Maschinenpistole? Er hatte die Situation voll im Griff. Delta-3 hob die Waffe.
Rachel Sexton stand fast ideal im Schussfeld.
Noch einen Schritt.
Unter ihm war eine rasche Bewegung. Eher irritiert als verängstigt blickte Delta-3 nach unten. Er sah Michael Tolland mit einem Aluminiumstab nach seinen Füßen stoßen. Die Überraschung war zwar gelungen, aber die Hilflosigkeit des Versuchs, ihn zum Stolpern zu bringen, brachte Delta-3 fast zum Lachen.
Er spürte die Spitze von Tollands Stab an seinem Absatz.
Na und?
Ein glühender Hieb schoss von unten nach oben durch seinen Körper. Sein rechter Fuß wurde explosionsartig unter ihm fortgerissen. Delta-3 verlor das Gleichgewicht. Mit den Armen rudernd, stürzte er die restlichen Stufen hinunter. Seine Maschinenpistole schepperte vor ihm her und trudelte vom Gittersteg hinab ins Wasser. Delta-3 schlug unten auf dem Rost auf. Zusammengekrümmt griff er nach seinem rechten Fuß, aber da war nichts mehr.
Den anderthalb Meter langen rauchenden Haischocker noch in den Händen, stand Tolland über seinem Angreifer. An der Spitze des Alustabs zur Selbstverteidigung gegen angreifende Haie war eine großkalibrige Schrotpatrone mit Druckauslöser angebracht.
Tolland hatte das Gerät sofort nachgeladen und drückte die zackige rauchende Spitze seinem Angreifer an die Gurgel. Der Mann lag wie gelähmt auf dem Rücken. Mit einer Mischung aus Wut und Schmerz im Blick starrte er Tolland an. Rachel kam herbeigelaufen. Die Maschinenpistole in Besitz zu nehmen, war leider nicht mehr möglich.
Am Gürtel des Mannes knackte das Funkgerät. Eine roboterhafte Stimme erklang. »Delta-3, bitte melden. Ich habe einen Schuss gehört.«
Der Mann machte keine Anstalten zu antworten.
Das Gerät knackte wieder. »Delta-3? Bitte um Bestätigung. Wird Verstärkung benötigt?«
Eine zweite Roboterstimme mischte sich ein. Am Hubschraubergeräusch war sie als die des Piloten zu erkennen. »Hier Delta-1. Ich verfolge noch das Boot. Delta-3, bitte melden. Bist du unten? Brauchst du Verstärkung?«
Tolland presste dem Mann den Alustab an die Kehle. »Sag dem Hubschrauber, er soll das Boot in Ruhe lassen!«, zischte er.
»Wenn ihr meinen Freund umbringt, bist du geliefert.«
Der Mann hob mit schmerzverzerrtem Gesicht das CrypTalk an den Mund. Mit festem Blick in Tollands Augen drückte er die Sprechtaste. »Hier Delta-3. Alles in Ordnung. Schieß das Boot ab!«
114
Gabrielle Ashe verschwand in Sextons Badezimmer, um wieder zurückzuklettern. Sextons Anruf hatte sie nervös gemacht. Als sie gesagt hatte, sie befände sich in ihrem Büro, hatte er merklich gestutzt – als hätte er geahnt, dass sie die Unwahrheit sagte. Der Einbruch in Sextons Computer war jedenfalls misslungen, und sie fragte sich, was sie als Nächstes tun sollte.
Sexton wartet auf dich.
Als sie auf das Waschbecken kletterte, um sich von dort hochzuziehen, hörte sie etwas klappernd auf den Kachelboden herunterfallen. Sie sah hinunter und bemerkte ein Paar Manschettenknöpfe, die Sexton offensichtlich auf dem Waschbeckenrand liegen gelassen hatte.
Alles muss genau so liegen wie zuvor.
Gabrielle stieg wieder herunter, hob die Manschettenknöpfe auf und legte sie auf den Rand des Waschbeckens zurück. Zu jedem anderen Zeitpunkt hätte sie den Knöpfen keine Beachtung geschenkt, aber heute erregte das Monogramm ihre Aufmerksamkeit. Wie alle monogrammverzierten Besitztümer Sextons waren sie mit zwei ineinander verschlungenen Buchstaben versehen. SS. Sextons ursprüngliches Passwort mit dem zusätzlichen S für »Senator« drängte sich vor Gabrielles inneres Auge: SSS… und sein Kalender… POTUS… und der Bildschirmschoner mit dem endlos umlaufenden Schriftband… President of the United States, Sedgewick Sexton, President of the United States, Sedgewick Sexton, President of the…
Gabrielle hatte eine Eingebung. Sie hielt inne. Konnte Sexton wirklich sosehr von sich eingenommen sein?
Das ließ sich auf der Stelle herausfinden. Sie lief zurück zum Computer in Sextons Büro und tippte sieben Buchstaben ein.
POTUSSS.
Sie drückte die Enter-Taste.
Der Bildschirmschoner verschwand.
Unterschätze nie die Eitelkeit eines Politikers!
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Das Phantom-Schnellboot raste in die Nacht. Corky war nicht mehr am Steuer. Das Boot würde auch ohne ihn geradeaus fahren. Den Weg des geringsten Widerstands…
Corky saß hinten in dem auf und ab tanzenden Boot und begutachtete sein verletztes Bein. Eine Kugel war von vorn knapp neben dem Schienbein in die Wade eingedrungen. Eine Austrittswunde fehlte, also musste die Kugel noch in seinem Bein stecken. Er stöberte überall nach etwas herum, womit er die Blutung stillen konnte, fand aber nur Flossen, einen Schnorchel und ein paar Schwimmwesten. Von einem Verbandskasten keine Spur. Er riss eine kleine Klappe auf und griff hinein – Werkzeug, Lappen, Dichtungsband für Kühlschläuche, Motoröl und anderes Wartungsmaterial. Er betrachtete sein blutiges Bein und fragte sich, wie weit er noch würde fahren müssen, um aus dem Haigebiet herauszukommen.
Noch ein gewaltiges Stück.
Delta-1 hielt den Kiowa tief über der Wasseroberfläche und suchte nach dem entkommenen Crestliner. In der Annahme, dass das Boot auf kürzestem Weg auf die Küste zufuhr und möglichst schnell möglichst weit von der Goya wegzukommen strebte, verfolgte Delta-1 den ursprünglichen Kurs des Bootes.
Du hättest es längst einholen müssen.
Normalerweise wäre die Ortung des fliehenden Bootes mit Radar kein Problem gewesen, aber der Störschirm, den der Helikopter über einen Umkreis von mehreren Kilometern legte, machte das Radargerät nutzlos. Den Störschirm abzuschalten war nicht ratsam, solange Delta-1 noch nicht die Meldung erhalten hatte, dass an Bord der Goya keiner mehr lebte. In dieser Nacht würde kein Notruf die Goya verlassen.
Zum Glück hatte der Kiowa noch andere Ortungsmöglichkeiten. Selbst vor dem bizarren Hintergrund des aufgeheizten Ozeans war die Bestimmung des Wärmeabdrucks des Motorbootes einfach. Delta-1 schaltete den Wärmescanner ein. Das Meer strahlte ringsum fünfunddreißig Grad Celsius ab. Die Wärmeemission eines mit Vollgas arbeitenden Zweihundertfünfzig-PS-Außenbordmotors war aber um einige hundert Grad intensiver.
Corky Marlinsons Bein und Fuß fühlten sich taub an. Mangels einer anderen Möglichkeit hatte er sein Bein mit einem Putzlappen abgewischt und Lage um Lage mit Dichtungsband umwickelt, bis die Rolle aufgebraucht war. Nun steckte seine Wade vom Knöchel bis zum Knie in einer dichten silbernen Wickelgamasche aus klebendem Aluband. Die Blutung hatte aufgehört, doch starrten seine Kleidung und seine Hände vor Blut.
Corky saß auf dem Boden des dahinrasenden Crestliners und wunderte sich, dass ihn der Hubschrauber noch nicht eingeholt hatte. Achteraus spähend suchte er den Horizont ab und rechnete damit, in der Ferne die Goya und ziemlich in der Nähe den Helikopter zu sehen. Seltsamerweise sah er weder das eine noch das andere. Die Lichter der Goya waren verschwunden. So weit konnte er doch noch gar nicht gekommen sein, oder doch?
Jetzt bemerkte er, dass das Kielwasser hinter dem Boot keine gerade Linie bildete. Es schien leicht seitlich nach Steuerbord versetzt hinter dem Boot herzulaufen und einen Bogen statt einer Geraden zu bilden. Verwirrt versuchte Corky seinen Kurs nachzuvollziehen. In der gedachten Verlängerung des Kielwassers musste ihn der Kurs in einen großen Bogen aufs offene Meer hinausführen.
In diesem Moment tauchte schon die Goya in weniger als einem Kilometer Entfernung an Backbord auf. Voll Entsetzen bemerkte Corky seinen Fehler. Da er nicht gegengesteuert hatte, war der Crestliner von der starken Kreisströmung des Megaplumes fortwährend nach rechts versetzt worden.
Du fährst wie ein Idiot im Kreis herum!
Er hatte sich selbst ein Bein gestellt.
Er befand sich also immer noch im Bereich des von Haifischen wimmelnden Megaplumes. Tollands bedrohliche Bemerkung über den ausgezeichneten Geruchssinn der Haie hallte in seiner Erinnerung wider. Hammerhaie riechen einen Tropfen Blut noch aus zwei Kilometer Entfernung. Corky betrachtete sein verletztes Bein, seine blutverschmierten Hände, seine blutstarrende Kleidung.
Der Hubschrauber konnte jeden Moment über ihn herfallen.
Corky riss sich die blutigen Klamotten vom Leib und humpelte nackt zum Heck. Er beugte sich weit über Bord und ließ sich ausgiebig vom mächtigen Strudel des Schraubenwassers bespülen – bei allem Blutdurst würden die Haie mit dem schnellen Boot nicht Schritt halten können.
Er erhob sich und stand im Adamskostüm in der Nacht. Es gab nur noch eines zu tun. Er hatte einmal gelesen, dass Tiere ihr Revier mit Urin markierten, weil Urin der nachhaltigste Geruchsträger sei, den der Körper produziert.
Hoffentlich riecht es stärker als Blut, dachte er. Er hievte sein verletztes Bein auf die Bordwand und versuchte auf die silberne Gamasche zu pinkeln. Komm schon! Wenn er heute Abend nur ein paar Bier getrunken hätte!
Schließlich ging es doch. Corky pinkelte sorgfältig auf seinen Notverband; dann tränkte er mit dem Rest einen Lappen, den er sich auf den ganzen Körper klatschte. Sehr angenehm.
Aus dem dunklen Himmel stach abrupt ein roter Laserstrahl herunter. Der schräge Strahl sah aus wie die glühende Schneide einer gigantischen Guillotine. Der Hubschrauber flog in schrä-
gem Winkel an. Der Pilot hatte offensichtlich nicht damit gerechnet, dass Corky in einem weitem Bogen zur Goya zurückgefahren war.
Corky warf sich hastig in die Schwimmweste und kroch zum Heck des dahinrasenden Bootes. Auf dem blutbefleckten Bootsboden, keine anderthalb Meter von Corky entfernt, erschien ein kleiner, glühend roter Kreis.
Es war höchste Zeit.
Michael Tolland sah nicht, wie sein Crestliner Phantom 2100 in einem Feuerball explodierte und als qualmendes Flammenbündel durch die Luft flog. Aber er hörte die Explosion.
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Im Westflügel des Weißen Hauses herrschte um diese Stunde normalerweise keinerlei Betrieb, doch der unerwartete Auftritt des Präsidenten in Morgenmantel und Pantoffeln ließ die Dienst habenden Mitglieder des Stabes aus ihren Notbetten und Schlafquartieren aufschrecken.
»Mr President, ich kann sie nicht finden«, sagte ein junger Praktikant, der Herney ins Oval Office hinterhergelaufen war. »Ich habe überall nachgeschaut. Miss Tench reagiert auch nicht auf ihren Piepser oder ihr Handy.«
Der Präsident schaute ihn verzweifelt an. »Haben Sie schon im…«
Ein anderer Angestellter kam herbeigelaufen. »Sir, sie hat das Haus verlassen«, rief er. »Sie hat sich vor ungefähr einer Stunde abgemeldet. Sie könnte vielleicht zum NRO gefahren sein. Eine Dame aus unserer Vermittlung sagt, sie hätte heute mehrere Male mit Pickering telefoniert.
»Mit William Pickering!« Der Präsident war überrascht. Miss Tench und Pickering waren alles andere als ein Herz und eine Seele. »Haben Sie Pickering schon angerufen?«
»Er meldet sich auch nicht, Sir. Die Vermittlung des NRO kann ihn nicht erreichen. Man sagt uns, Pickerings Handy gäbe nicht einmal ein Klingelzeichen. Es ist, als hätte er sich in Luft aufgelöst.«
Herney schaute die Hilfskräfte einen Moment an, ging zur Bar und schenkte sich einen Bourbon ein. Als er das Glas an die Lippen führen wollte, stürzte ein Secret-Service-Mann herein.
»Mr President, ich wollte Sie nicht wecken, aber Sie sollten wissen, dass es am FDR Memorial heute Nacht einen Anschlag mit einer Autobombe gegeben hat.«
»Was?« Herney war beinahe das Glas aus der Hand gefallen.
»Wann war das?«
»Vor einer Stunde.« Der Mann blickte Herney besorgt an. »Das FBI hat soeben das Opfer identifiziert…«
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Der zerfetzte Fuß von Delta-3 war ein einziger rasender Schmerz. Er hatte das Gefühl, nur halb bei Bewusstsein zu sein, Ist das der Tod? Er war vollkommen bewegungsunfähig; nicht einmal atmen konnte er richtig. Vor seinen Augen waberten verschwommene Umrisse. Die Erinnerung setzte wieder ein, an den Schlag der Explosion des Crestliners draußen auf dem Meer, an den wilden Zorn in den Augen Tollands, der über ihm stand und ihm den patronenbewehrten Haifischschocker an die Kehle presste.
Tolland hat dich umgebracht.
Doch die Höllenqualen in seinem zerschmetterten Fuß erinnerten ihn daran, dass er noch sehr lebendig war. Langsam kamen die Einzelheiten wieder. Als Tolland die Explosion gehört hatte, wollte er brüllend vor Schmerz und Wut über den Tod seines Freundes Delta-3 den Alustab durch die Kehle rammen, doch beim Ausholen schien sich sein Gewissen zu regen. Er hatte den Stab beiseite gerissen und in zorniger Raserei mit dem Stiefel auf den Fußstumpf von Delta-3 getrampelt.
Delta-3 hatte vor Qualen erbrochen; dann war alles in einem schwarzen Delirium versunken. Als er nun langsam zu sich kam, hatte er keine Ahnung, wie lange er bewusstlos gewesen war. Er lag da als bewegungsunfähiges Paket, die Arme und Beine in seinem Rücken so straff verknotet, wie es nur ein Seemann geschafft haben konnte. Er versuchte zu rufen, brachte aber keinen Ton aus seinem geknebelten Mund.
An der kühlenden Brise und den hellen Lichtern erkannte Delta-3, dass er auf Deck liegen musste. Als er den Kopf ein wenig drehte, sah er einen erschreckenden Anblick – sein eigenes verzerrtes Spiegelbild in der Acrylglasblase des Tiefseetauchboots der Goya. Der Triton hing direkt vor ihm; er selbst lag auf einer riesigen Falltür im Deck. So beunruhigend das war, noch beunruhigender war die drängende Frage: Wenn du an Deck bist…wo ist dann Delta-2?
Delta-2 war unruhig geworden. Sein Partner hatte zwar im CrypTalk gemeldet, dass alles in Ordnung war, aber der einzelne Schuss war nicht der einer Maschinenpistole gewesen. Rachel Sexton oder Tolland mussten ihn abgefeuert haben. Delta-2 schlich zum Niedergang, wo sein Partner verschwunden war. Er spähte hinab und sah das Blut.
Die Waffe im Anschlag war er unter Deck gestiegen und der Blutspur auf dem Laufsteg bis zum Bug gefolgt. Dort hatte ihn die Spur einen anderen Niedergang wieder hinauf und zurück auf das verlassene Hauptdeck geführt. Mit wachsendem Argwohn war Delta-2 der langen roten Schleifspur gefolgt, die auf dem Seitendeck nach achtern führte, wo er wieder am Niedergang vorbeikam, den er zuvor hinabgestiegen war.
Was, zum Teufel, ist hier los? Die schmierige Blutspur führte ihn in einem großem Kreis herum. Die Maschinenpistole vor sich in Augenhöhe, passierte er mit äußerster Vorsicht den Eingang zum Labortrakt des Schiffes. Die Schleifspur führte weiter zum Heck.
Wachsam schlich er in großem Bogen um die Ecke der Aufbauten. Seine Augen folgten dem weiteren Verlauf der Spur.
Dann sah er Delta-3. Sein Partner lag gefesselt und geknebelt wie ein achtlos fortgeworfenes Paket direkt vor dem kleinen Tauchboot der Goya. Auch aus der Entfernung war unschwer zu erkennen, dass ihm ein großes Stück des rechten Fußes fehlte.
Jederzeit mit einem Hinterhalt rechnend, bewegte sich Delta-2
mit der Maschinenpistole im Anschlag voran. Delta-3 wand sich und versuchte trotz des Knebels zu sprechen. Ironischerweise war die erbarmungslose Art seiner Fesselung mit den scharf nach hinten gebogenen Knien sogar lebensrettend für ihn. Der Blutverlust am Fuß war nur noch gering.
Als Delta-2 sich seinem Partner näherte, hatte
er den seltenen Luxus, sämtliche Vorgänge in seinem Rücken in der
spiegelnden Acrylglaskuppel des Tauchboots beobachten zu können.
Das warnende Glitzern im Auge seines Partners sah er allerdings zu
spät.
Wie aus dem Nichts stieß ein silberner Greifarm des Triton vor und umklammerte den linken Oberschenkel von Delta-2 mit brutaler Kraft. Er versuchte loszukommen, doch die Klaue packte noch fester zu. Er schrie auf vor Schmerz, als er einen Knochen bersten spürte. Seine Augen versuchten, durch die Spiegelungen des Decks ins Innere der Cockpitkugel zu dringen. Er erspähte Tolland, die Hände an den Steuerhebeln.
Keine gute Idee. Delta-2 verdrängte den Schmerz, hob die Maschinenpistole und zielte auf die linke Seite von Tollands Brust, einen knappen Meter von ihm entfernt. Wütend über die Übertölpelung riss er den Abzug durch. Er schoss das ganze Magazin leer, bis die letzte Patronenhülse auf das Deck schepperte und der Abzugshahn nur noch klickte. Atemlos ließ er die Waffe sinken und betrachtete die zerschundene Glaskugel. »Der ist hin«, zischte er.
Erneut versuchte er, sich aus dem Griff der Stahlklaue zu winden, doch seine Anstrengung brachte ihm nur eine große Fleischwunde ein. »Verflucht!« Er griff nach dem CrypTalk an seinem Gürtel. Als er es zum Sprechen vor den Mund halten wollte, schnellte plötzlich ein zweiter Greifarm vor und packte seinen rechten Arm. Das Gerät fiel auf Deck.
Delta-2 sah Tollands geisterhaftes Gesicht seitwärts durch einen unbeschädigten Bereich der Acrylglasblase zu ihm herausschauen. Der mittlere Bereich war mit kleinen Einschlagskratern übersät, doch die Geschosse hatten das dicke Glas nur angekratzt, nicht aber durchschlagen.
Die Einstiegsluke öffnete sich. Michael Tolland kletterte heraus. Er war nervlich mitgenommen, doch völlig unverletzt. Er stieg die Aluminiumleiter herunter aufs Deck und betrachtete die Glaskugel.
»Siebenhundert Tonnen pro Quadratzentimeter«, sagte er zu Delta-2. »Besorg dir mal ein anständiges Schießeisen.«
Rachel wusste, dass ihr allmählich die Zeit davonlief. Sie stand im Hydrolab und hatte die Schüsse draußen auf Deck gehört. Sie konnte nur hoffen, dass Tollands Plan geklappt hatte. Inzwischen war es ihr egal, wer hinter der Meteoritenfarce steckte – NASA-Chef Ekstrom, Marjorie Tench oder gar der Präsident selber. Es war nicht mehr von Bedeutung.
Sie werden nicht damit durchkommen. Es mag sein wer will, die Wahrheit kommt an den Tag.
Die Wunde an Rachels Arm hatte aufgehört zu bluten. Der Adrenalinstoß hatte den Schmerz gedämpft und ihre Sinne geschärft. Sie kritzelte eine Nachricht von wenigen Wörtern auf ein Blatt Papier, nur zwei Zeilen. Die Nachricht war schnörkellos und einfach, aber jetzt war nicht der Moment für geschliffene Worte. Sie legte das Blatt oben auf die sechs anderen Blätter in ihrer Hand – den Ausdruck von
Norah Mangors Bodenradaraufnahme, die Bilder vom Bathynomous giganteus, Fotos und Zeitschriftenartikel über die Entstehung von Chondren in der Tiefsee, einen Ausdruck der elektronenmikroskopischen Untersuchung. Der Meteorit war gefälscht, und hier hielt sie den Beweis in der Hand.
Rachel steckte die Lage Blätter in das Faxgerät
des Hydrolabs. Sie kannte nur ein paar Faxnummern auswendig, was
die Auswahl begrenzte, doch sie hatte sich bereits entschieden, wer
der Empfänger dieser Blätter und ihrer Nachricht sein sollte. Mit
angehaltenem Atem tippte sie die Faxnummer ins Gerät.
Sie hoffte inständig, eine kluge Wahl getroffen zu haben, als sie auf den Startknopf drückte.
Das Gerät piepste.
FEHLER. KEINE ANTWORT
Rachel hatte damit gerechnet, dass der Störschirm immer noch über der Goya lag, aber sie hoffte, dieses Faxgerät würde genauso funktionieren wie ihr eigenes zu Hause. Wartend stand sie davor.
Na los!
WAHLWIEDERHOLUNG
Hurra! Rachel wartete, bis sich die Wiederwahlprozedur als Endlosschleife etabliert hatte.
WAHLWIEDERHOLUNG
FEHLER. KEINE ANTWORT
WAHLWIEDERHOLUNG…
Rachel ließ das Gerät stehen. Als sie aus dem Hydrolab nach draußen lief, donnerten über ihrem Kopf schon wieder die Rotorblätter des Helikopters.
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Gabrielle Ashe saß zweihundertsechzig Kilometer von der Goya entfernt in stummem Erstaunen vor Senator Sextons Computer. Ihr Verdacht hatte sich bestätigt. Aber in diesem Umfang! Vor sich auf dem Bildschirm sah sie dutzendweise eingescannte Schecks privater Raumfahrtunternehmen, die auf Konten auf den Kaimaninseln ausgestellt waren. Die Beträge schwankten zwischen fünfzehntausend und über eine halbe Million Dollar.
Vollkommen legal, hatte Sexton sie beschwichtigt. Die Spenden liegen alle im erlaubten Zweitausend-Dollar Bereich.
Sexton hatte sie nach Strich und Faden belogen. In seinem Computer vor Gabrielles Nase war ein Wahlkampfspendenskandal größten Ausmaßes gespeichert. Die Desillusionierung und die Enttäuschung waren wie ein Stich ins Herz. Er hat mich belogen.
Sie kam sich dumm und betrogen vor. Vor allem aber hatte sie eine Stinkwut.
Sie saß ratlos im schummrigen Licht und hatte keine Ahnung, was sie tun sollte.