Und was Geheimhaltung betraf, war das Weiße Haus als das löchrigste Schiff in ganz Washington bekannt.
Als Herney das Vorzimmer des Oval Office betrat, winkte er seiner Sekretärin aufgeräumt zu. »Dolores, Sie sehen heute wieder mal fantastisch aus!«
»Sie auch«, gab sie zurück, während sie Herneys legere Kleidung missbilligend beäugte.
Herney senkte die Stimme. »Wären Sie so nett, eine Konferenz für mich zu organisieren?«
»Mit wem, Sir?«
»Mit dem gesamten Stab des Weißen Hauses.«
Die Sekretärin hob den Blick. »Mit Ihrem gesamten Stab? Mit allen einhundertfünfundvierzig Personen?«
»So ist es. Um sechzehn Uhr.«
Die Sekretärin nickte, als hätte sie es mit einem Geistesgestörten zu tun. »Wie Sie wünschen, Sir. Und dabei geht es um…?«
»Ich werde heute Abend mit einer wichtigen Erklärung vor das amerikanische Volk treten, aber ich möchte, dass meine Mitarbeiter vorher schon im Bilde sind.«
Ein mutloses Lächeln huschte über das Gesicht der Sekretärin, beinahe so, als hätte sie diesen Augenblick insgeheim längst befürchtet. Sie senkte die Stimme. »Sir, Sie wollen aus dem Rennen aussteigen?«
Herney lachte schallend. »Zum Teufel, nein, Dolores. Jetzt geht’s erst richtig los!«
Sie schaute ihn zweifelnd an. In sämtlichen
Medienberichten hatte es geheißen, dass Präsident Herney das
Handtuch werfen wolle.
Herney blinzelte ihr aufmunternd zu. »Dolores, Sie haben in den vergangenen Jahren fantastische Arbeit für mich geleistet, und Sie werden die nächsten vier Jahre genauso fantastisch für mich arbeiten. Wir behalten das Weiße Haus, das schwöre ich Ihnen.«
Die Sekretärin schaute ihn an, als würde sie es gerne glauben.
»Gut, Sir. Konferenz um sechzehn Uhr.«
Als Zach Herney das Oval Office betrat, musste er unwillkürlich über das Gedränge seiner Mitarbeiter lächeln, die sich allesamt in sein enges Amtsbüro gequetscht hatten.
Dieses großartige Büro hatte im Lauf der Jahre manche scherzhafte Bezeichnungen getragen – das Klo, Dicks Mördergrube, Clintons Schlafzimmer –, doch Herney gefiel »Hummerfalle« am besten. Die Bezeichnung passte wie die Faust aufs Auge. Jeder, der das Büro zum ersten Mal betrat, hatte mit sofortiger Orientierungslosigkeit zu kämpfen. Die Symmetrie des Raumes, die sanft geschwungenen Wände, die diskret verborgenen Ein- und Ausgänge erzeugten beim Besucher das Gefühl, wie beim Blindekuhspiel mit verbundenen Augen ein paar Mal um die eigene Achse gedreht worden zu sein. Würdenträger, die zu Besuch gekommen waren, standen nach einem Gespräch oft auf, schüttelten dem Präsidenten die Hand und marschierten schnurstracks in eine Abstellkammer. Je nach Verlauf des Gesprächs pflegte Herney den Gast entweder rechtzeitig auf seinen Irrtum aufmerksam zu machen, oder amüsiert zuzuschauen, wie er sich blamierte.
Herney hatte den farbenfrohen amerikanischen Wappenadler, der in den ovalen Teppich des Raumes eingewebt war, stets für das eindrucksvollste Stück des Oval Office gehalten. Die rechte Klaue des Adlers hielt einen Olivenzweig, in der linken steckte ein Bündel Pfeile. Nur wenigen im Weißen Haus war bekannt, dass der Adler in Friedenszeiten nach rechts blickte – zum Ölzweig, in Kriegszeiten jedoch nach links zu den Pfeilen. Der Mechanismus, der dies bewirkte, war bei den Mitarbeitern und Angestellten des Weißen Hauses Gegenstand vieler Spekulationen, denn traditionell wurden nur der Präsident und der Chef der Hausverwaltung in das Geheimnis eingeweiht. Die Wahrheit über den rätselhaften Adler war enttäuschend prosaisch, wie Herney feststellen musste. Im Bedarfsfall wurde der Teppich einfach nachts vom Personal gegen einen zweiten ausgetauscht, der im Keller lagerte.
Herney betrachtete den friedlich nach rechts blickenden Adler und lächelte. Vielleicht sollte er angesichts des kleinen Krieges, den er Senator Sedgewick Sexton zu erklären im Begriff war, die Teppiche austauschen.
15
Die U.S. Delta Force ist eine Einzelkämpfereinheit, deren Einsätze eine vom Präsidenten garantierte absolute Immunität vor dem Gesetz genießen.
Die »Presidential Decision Direktive 25«, eine Ausführungsdirektive des Präsidenten, garantiert den Kämpfern der Delta Force »Freiheit vor jeglicher Verfolgung durch das Gesetz«. Sie sind handverlesene Mitglieder der Sondereinheit »Combat Applications Group« (CAG), einer geheimen Organisation innerhalb des Kommandos für Spezialoperationen, das in Fort Bragg in North Carolina stationiert ist. Die Kämpfer der Delta Force sind ausgebildete Killer, Experten für verdeckte Operationen, Geiselbefreiungen, Überraschungsschläge und die Ausschaltung geheimer gegnerischer Kräfte.
Da die Einsätze der Delta Force gewöhnlich unter strengster Geheimhaltung stattfinden, wird die übliche aufgefächerte Kommandostruktur meist zu Gunsten einer »Mannführung« umgangen, bei der ein einzelner Kommandoführer – in der Regel ranghohe militärische oder regierungsamtliche Persönlichkeiten – die Operation der Einheit nach eigenem Ermessen leitet. Unabhängig von der Identität des Einsatzleiters unterliegen die Operationen der Delta Force der strengsten Geheimhaltung.
Nach ihrer Beendigung wird der Delta-Force-Einsatz von keinem der beteiligten Kämpfer je wieder erwähnt – weder gegenüber einem Kameraden noch gegenüber einem Vorgesetzten des Kommandos für Spezialoperationen.
Einfliegen, zuschlagen, vergessen.
Für das Delta-Force-Team, das zurzeit oberhalb des zweiundachtzigsten Breitengrades stationiert war, gab es nichts zu fliegen oder zuzuschlagen. Es befand sich schlicht auf Beobachtungsposten.
Delta-1 musste zugeben, dass es sein bislang ungewöhnlichster Einsatz war, aber er hatte schon vor langer Zeit gelernt, sich nie darüber zu wundern, was von ihm verlangt wurde. In den letzten fünf Jahren hatte er bei Geiselbefreiungen im Mittleren Osten mitgewirkt, in den USA tätige terroristische Zellen aufgespürt und eliminiert, und sogar an der diskreten Beseitigung einiger besonders gefährlicher Männer und Frauen auf dem gesamten Erdball teilgenommen.
Erst letzten Monat hatte sein Delta-Team einen fliegenden Mikroboter dazu benutzt, bei einem südamerikanischen Drogenbaron einen Herzinfarkt auszulösen. Delta-2 hatte den mit einer Titanhohlnadel und einem hochwirksamen gefäßverengenden Gift ausgerüsteten Mikroboter durch ein offenes Fenster im zweiten Stock des Hauses dieses Mannes manövriert und den Schlafenden in die bloße Schulter stechen lassen. Als der Mann mit Schmerzen in der Brust aufwachte, war der Mikroboter längst wieder zum Fenster hinausgeflogen und jede Spur verwischt. Als die Frau des Opfers den Notarzt rief, saß das Delta-Team schon im Flugzeug auf dem Weg nach Hause.
Kein Einbruch, keine Gewaltanwendung.
Natürliche Todesursache.
Ein schöner Einsatz.
Delta-1 war inzwischen schon zehn Tage auf seinem Beobachtungsposten in diesem Zelt gefangen. Wäre es nach ihm gegangen, hätte der Einsatz allmählich zu Ende sein können.
Verlassen Sie nicht das Versteck.
Überwachen Sie das Gebäude – innerhalb und außerhalb.
Melden Sie Ihrem Einsatzleiter sämtliche außergewöhnlichen Vorkommnisse.
Delta-1 hatte in seiner Ausbildung gelernt, die Einsätze völlig emotionslos abzuwickeln. Diesmal allerdings hatte seine Pulsfrequenz sich bei der ersten Einsatzbesprechung beträchtlich beschleunigt. Die Besprechung und die Einweisung in die einzelnen Phasen hatten anonym und abhörsicher über elektronische Kanäle stattgefunden. Delta-1 hatte keine Ahnung, wer sein Einsatzleiter bei diesem Auftrag war.
Er war mit der Zubereitung einer Mahlzeit aus Astronautenkost beschäftigt, als die Chronometer der drei Männer gleichzeitig zu piepsen anfingen. Fast im selben Moment begann auch das neben ihm abgestellte Gerät zur verschlüsselten Kommunikationsübermittlung, das CrypTalk, zu blinken. Delta-1 nahm das telefonhörergroße Gerät. Stumm schauten die beiden anderen Männer ihm zu.
»Hier Delta-1«, meldete er sich.
Die drei Worte wurden augenblicklich von der im Gerät eingebauten Stimmerkennungs-Software analysiert, das nach der Freigabe jedem Wort eine Ziffer zuordnete, die verschlüsselt via Satellit an den Anrufer weitergeleitet wurde. Der Anrufer benutzte seinerseits das entsprechende Gerät, das die übermittelten Ziffern dechiffrierte und in einem vorab abgespeicherten Lexikon wieder die zugehörigen Worte aufsuchte, die von der synthetischen Stimme eines Sprachcomputers in gesprochene Worte zurückübersetzt wurden. Der gesamte Vorgang dauerte acht Millisekunden.
»Hier spricht der Einsatzleiter.« Die synthetische Stimme aus dem CrypTalk hatte etwas gespenstisch Körperloses und Androgynes. »Wie ist Ihr Status?«
»Alles läuft nach Plan«, antwortete Delta-1.
»Ausgezeichnet. Ich habe ein Update für den Zeitrahmen. Die Information wird heute Abend zwanzig Uhr New Yorker Ortszeit an die Öffentlichkeit gegeben.«
Delta-1 blickte auf seinen Chronometer. Nur noch acht Stunden.
Sein Job hier würde bald vorbei sein. Eine ermutigende Aussicht.
»Es gibt eine neue Entwicklung«, sagte der
Einsatzleiter. »Ein neuer Spieler ist ins Einsatzgebiet
gekommen.«
»Was für ein neuer Spieler?«
Delta-1 lauschte aufmerksam der Antwort. Ein interessantes Spiel.
»Glauben Sie, man kann ihr vertrauen?«, fragte er schließlich.
»Man muss ihr genauestens auf die Finger sehen.«
»Und wenn es Schwierigkeiten gibt?«
Die Antwort kam postwendend. »Sie kennen Ihre Befehle.«
16
Rachel Sexton war nun schon eine Stunde lang nach Norden geflogen. Außer einem Zipfel Neufundlands hatte sie auf der ganzen Reise nur das Meer gesehen.
Wieso muss es ausgerechnet diese Wasserwüste sein?, dachte sie und verzog das Gesicht. Als Siebenjährige war Rachel beim Schlittschuhlaufen ins Eis eines zugefrorenen Teichs eingebrochen.
Unter dem Eis gefangen, sah sie dem sicheren Tod entgegen, doch ihre Mutter hatte sie im letzten Moment aus der Falle befreit. Seit diesem schrecklichen Erlebnis hatte Rachel sich mit Hydrophobie herumgeschlagen, einer unüberwindbaren Angst vor offenen Gewässern. Heute kamen Rachels alte Ängste wieder hervor. Erst als der Pilot seine Position mit dem Luftstützpunkt Thule in Nordgrönland abglich, wurde Rachel klar, wie weit nach Norden sie inzwischen geflogen waren. Wir sind schon jenseits des Polarkreises? Ihr Unbehagen verstärkte sich. Wo bringen die mich hin? Was hat die NASA entdeckt?
Bald überzog sich die graue Weite unter ihr mit
Tausenden strahlend weißer Punkte. Treibeis.
Rachel hatte erst ein einziges Mal in ihrem Leben Treibeis gesehen, vor sechs Jahren, als ihre Mutter sie zu einer gemeinsamen Kreuzfahrt nach Alaska überredet hatte. Rachel hatte zahllose Urlaubsalternativen auf dem Festland vorgeschlagen, doch ihre Mutter wollte nichts davon wissen. »Rachel, Liebes«, hatte sie gesagt, »zwei Drittel unseres Planeten sind von Wasser bedeckt.
Früher oder später wirst du dich deinen Ängsten stellen müssen.«
Mrs Sexton war eine drahtige Neuengländerin, die sich vorgenommen hatte, ihrer Tochter Stärke zu vermitteln.
Die Kreuzfahrt war Rachels letzte gemeinsame Reise mit ihrer Mutter gewesen.
Katherine Wenworth Sexton. Rachel spürte, wie die Einsamkeit an ihr nagte. Die Erinnerungen waren zurückgekommen wie der Wind, der heulend draußen am Flugzeug vorbeijagte. Das letzte Gespräch mit der Mutter war ein Telefonat am Morgen des Thanksgiving Day gewesen.
»Es tut mir Leid, Mom«, hatte Rachel gesagt. Sie rief aus Chicago an, vom Flughafen O’Hare, der wegen Schneesturms geschlossen worden war. »Ich weiß, es ist noch nie vorgekommen, dass unsere Familie an Thanksgiving nicht zusammen war, aber wie es aussieht, wird es heute wohl zum ersten Mal der Fall sein.«
»O nein, dann bin ich ganz allein. Dein Vater hat so viel zu tun, dass er es dieses Jahr auch nicht schafft, zu kommen. Er bleibt über das verlängerte Wochenende in seiner Suite in Washington.«
»Was?« Rachels Überraschung schlug augenblicklich in Zorn um. »Aber an Thanksgiving gibt es keine Senatssitzungen. Es sind nur zwei Stunden Fahrt!«
»Ich weiß. Er sagt, er sei völlig erschöpft und
viel zu müde zum Fahren. Er will sich mit seinen liegen gebliebenen
Akten ein ruhiges Wochenende machen.«
Liegen gebliebene Akten? Rachel war skeptisch. Viel eher dürfte es sich um ein liegen gebliebenes Frauenzimmer handeln. Senator Sexton hatte seine Seitensprünge zwar diskret, aber schon jahrelang betrieben. Mrs Sexton war keine Närrin, doch sobald sie ihrem Gatten gegenüber eine Affäre auch nur andeutete, erging er sich in beleidigtem Unmut und plausiblen Alibis. Schließlich wusste Mrs Sexton keinen anderen Ausweg, als ihren Ärger herunterzuschlucken.
Während Rachel nun im Flughafengebäude stand, kochte der Zorn in ihr hoch. »Du an Thanksgiving ganz allein?«
»Nun ja…«, sagte Mrs Sexton. Ihre Stimme klang enttäuscht, aber unverdrossen. »Ich kann nicht das ganze Essen schlecht werden lassen. Ich werde zu Tante Ann fahren. Sie hat uns schon oft zu Thanksgiving eingeladen. Ich rufe sie gleich an.«
Für Rachel war das nur ein schwacher Trost. »Okay, ich komme, so schnell es geht. Ich liebe dich, Mom.«
Erst um halb elf Uhr abends fuhr Rachels Taxi die gewundene Zufahrt zum Anwesen der Sextons hinauf. Sie merkte sofort, dass etwas nicht stimmte. In der Einfahrt standen drei Streifenwagen und mehrere Übertragungswagen vom Fernsehen. Im Haus brannten sämtliche Lichter. Plötzlich schlug Rachel das Herz bis zum Hals.
An der Tür trat ihr ein Polizeibeamter mit ernstem Gesicht entgegen. Er brauchte kein Wort zu sagen. Rachel wusste sofort, dass es einen Unfall gegeben hatte.
»Überfrierende Nässe«, sagte der Polizist. »Es war spiegelglatt. Der Wagen Ihrer Mutter ist von der Straße abgekommen und in eine bewaldete Schlucht gestürzt. Sie war sofort tot. Mein Beileid.«
Rachels Körper wurde gefühllos. Ihr Vater, der sofort herbeigeeilt war, nachdem man ihn verständigt hatte, stand im Wohnzimmer und hielt eine kleine Pressekonferenz ab. Stoisch verkündete er der Welt, seine Frau sei auf dem Rückweg vom Thanksgiving-Dinner im Familienkreis bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen. Rachel stand im Hintergrund und weinte sich während der makabren Darbietung die Augen aus.
»Ich wünschte nur, ich hätte an diesem Wochenende zu Hause bei meiner Frau sein können, dann wäre das nicht passiert«, sagte der Senator mit Tränen in den Augen in die Kameras.
Wenn du nur schon vor ein paar Jahren so klug gewesen wärst!, dachte Rachel zornbebend.
Von diesem Abend an zog Rachel sich immer mehr von ihrem Vater zurück. Der Senator schien es kaum zu bemerken. Stattdessen benutzte er das Vermögen seiner verstorbenen Frau dazu, von seiner Partei als Präsidentschaftskandidat nominiert zu werden. Der Sympathiegewinn durch den Todesfall kam ihm dabei zugute.
Grausamerweise trieb der Senator dadurch Rachel in die Vereinsamung, denn sein Ansturm auf das Weiße Haus hatte Rachels Traum von einer eigenen Familie in unabsehbare Ferne gerückt. Für Rachel war es einfacher, den vollständigen Rückzug aus dem gesellschaftlichen Leben anzutreten, als sich des endlosen Stroms machthungriger junger Washingtoner Bewerber zu erwehren, die sich Hoffnungen machten, eine trauernde potenzielle Präsidententochter zu erobern.
Vor der F-14 schwand das Tageslicht. In der
Arktis herrschte Spätwinter – die Zeit der arktischen Nacht. Rachel
wurde klar, dass ihr Flug sie in ein Gebiet konstanter Dunkelheit
führte. Als die Minuten verstrichen, schwand das letzte Tageslicht.
Die Sonne war hinter dem Horizont versunken. Sie flogen weiter nach
Norden. Ein heller Dreiviertelmond ging auf und hing weiß in der
kristallklaren arktischen Luft. Tief unten schimmerten die
Wellenkämme des Ozeans. Die Eisschollen blinkten wie Brillanten auf
einem dunklen Paillettengewebe. Endlich erspähte Rachel den dunklen
Umriss von Land. Aber es entsprach keineswegs dem, was sie erwartet
hatte. Vor dem Flugzeug ragte eine riesige, schneebedeckte
Gebirgskette aus dem Wasser.
»Berge?«, fragte Rachel. »Nördlich von Grönland gibt es Berge?«
»Offensichtlich«, sagte der Pilot. Er schien selbst überrascht zu sein.
Als die F-14 mit der Nase nach unten ging, empfand Rachel eine unheimliche Schwerelosigkeit. Ein wiederkehrendes elektronisches »Ping« drang durch das Klingeln in ihren Ohren. Der Pilot hatte die Maschine offenbar auf einen Leitstrahl gesetzt.
Sie waren nun unter neunhundert Meter gesunken. Rachel schaute auf das mondbeschienene Terrain hinunter. Vom Fuß der Berge fiel eine riesige, schneebedeckte Ebene ungefähr fünfzehn Kilometer weit bis zur Küste sanft ab, wo sie mit einem senkrechten Gletscherabbruch ins Meer abrupt endete.
Dann sah Rachel etwas, das sie noch nirgendwo auf Erden erblickt hatte. Anfangs dachte sie, das Mondlicht würde ihren Augen einen Streich spielen, doch je tiefer das Flugzeug ging, desto klarer konnte sie es erkennen.
Was ist das?
Die Ebene unter ihnen sah aus, als hätte jemand mit Silberfarbe drei riesige breite Streifen in den Schnee gemalt. Die glänzenden Streifen verliefen parallel zum Gletscherabbruch. Erst als die Maschine nur noch hundertfünfzig Meter hoch war, hatte das optische Verwirrspiel ein Ende. Die drei Silberstreifen waren Mulden von über dreißig Metern Breite. Sie hatten sich mit Wasser gefüllt, das gefroren war, sodass sich jetzt drei parallele silbrige Eisbahnen quer übers Plateau erstreckten. Hohe weiße Schneewälle füllten den Zwischenraum.
Starke Turbulenzen schüttelten die Maschine bei ihrem Anflug aufs Plateau. Rachel hörte, wie das Fahrwerk ausfuhr und mit einem dumpfen Knacken einrastete, doch sie konnte immer noch keine Landebahn entdecken. Während der Pilot die bockende Maschine unter Kontrolle zu halten versuchte, sah Rachel an den Rändern der mittleren Eismulde zwei Reihen von Blinklichtern aufblitzen. Zu ihrem Entsetzen erkannte sie das Vorhaben des Piloten.
»Wir landen doch nicht etwa auf dieser Bobbahn?«
Der Pilot gab keine Antwort. Mit äußerster Konzentration manövrierte er die Turbulenzen aus. Rachel spürte ein Ziehen in den Eingeweiden, als er Fahrt wegnahm und in den Eiskanal hineinsteuerte. Rechts und links schossen dem Flugzeug die hohen Schneewälle entgegen. Rachel hielt den Atem an. In diesem Eiskanal würde der kleinste Steuerungsfehler den sicheren Tod bedeuten. Die bockende Maschine tauchte tiefer zwischen die Wälle. Die Turbulenzen endeten schlagartig. Im Windschutz der Wälle legte der Pilot mit seiner Tomcat eine Bilderbuchlandung auf dem Eis hin.
Die Schubumkehr der Triebwerke brüllte auf. Das
Flugzeug wurde rapide langsamer. Ein paar hundert Meter weiter
rollte die Maschine an einer breiten roten Linie aus, die mit
Sprühfarbe quer über das Eis gezogen war.
Rechts war nur eine mondbeschienene Schneewand zu sehen, links sah es ähnlich aus. Lediglich der Ausblick nach vorne war frei… auf ein endloses Eisfeld. Rachel kam sich nach der Landung wie auf einem toten Planeten vor. Von der roten Linie auf dem Eis abgesehen, fehlte jedes Anzeichen von Leben.
Dann hörte sie ein fernes Motorgeräusch näher kommen.
Der hohe Heulton wurde lauter, und schließlich schwenkte das Gefährt ins Blickfeld. Es war ein großer Schneetraktor auf Raupen, der ihnen langsam durch den Eiskanal entgegengekrochen kam. Das hohe und staksige Fahrzeug sah aus wie ein futuristisches Insekt, das sich gefräßig auf emsigen Beinen näherte. Hoch über dem Fahrwerk schwebte eine kunststoffverglaste Kabine mit einem Scheinwerferrack, das den Weg ausleuchtete.
Wippend kam das Gerät direkt neben der F-14 zum Stehen.
Die Tür der Plexiglaskabine schwang auf, und eine vermummte Gestalt kletterte eine Leiter aufs Eis hinunter. Der Mann steckte von Kopf bis Fuß in einem dicken weißen Overall, der aussah, als hätte man ihn aufgepumpt.
Mad Max und das Michelinmännchen, dachte Rachel. Sie war erleichtert, dass dieser merkwürdige Planet anscheinend doch gewisse Lebensformen hervorgebracht hatte.
Der Mann signalisierte dem Piloten, das Kabinendach zu öffnen.
Der Pilot folgte der Weisung. Ein eiskalter Lufthauch fuhr ins Cockpit. Rachel fror augenblicklich bis ins Mark.
Mach den verdammten Deckel
wieder zu!
»Miss Sexton?«, rief die vermummte Gestalt mit amerikanischem Akzent zu ihr herauf. »Im Namen der NASA heiße ich Sie willkommen!«
Rachel zitterte. Allerherzlichsten Dank.
»Bitte lösen Sie die Gurte, legen Sie Ihren Helm ins Cockpit und steigen Sie aus. Benutzen Sie die Fußrasten in der Außenhaut der Maschine. Haben Sie noch Fragen?«
»Ja«, rief Rachel hinunter. »Wo bin ich?«
17
Marjorie Tench, Chefberaterin des Präsidenten, sah aus wie eine Magersüchtige. Sie war eins achtzig groß, mit gelblichem Gesicht, aus dem wie eingestanzte Löcher zwei gefühllose Augen blickten. Sie war einundfünfzig, sah aber zwanzig Jahre älter aus.
Doch Marjorie Tench wurde in Washington als Göttin der politischen Arena verehrt. Ihre Fähigkeit zur politischen Analyse grenzte angeblich ans Seherische. Die zehn Jahre, die sie im Außenministerium als Leiterin des Büros für Nachrichtenbeschaffung und Forschung verbracht hatte, hatten das ihre dazu beigetragen, einen geschliffenen Verstand von tödlicher Schärfe und Kritikfähigkeit hervorzubringen. Unglücklicherweise wurde Marjorie Tenchs politische Brillanz von einem eisigen Charakter begleitet, dem die wenigsten länger als ein paar Minuten gewachsen waren. Marjorie Tench war mit dem Geist eines Supercomputers gesegnet – leider auch mit dessen menschlicher Wärme. Dessen ungeachtet hatte Präsident Zach Herney keine Schwierigkeiten, die Eigenheiten seiner Mitarbeiterin zu ertragen, hatte er sein Amt doch in erster Linie ihrem Intellekt und Arbeitseinsatz zu verdanken.
»Marjorie!«, rief er aus und stand auf, um sie im Oval Office zu begrüßen. »Was führt Sie zu mir?« Er unterließ es, ihr einen Stuhl anzubieten. Die üblichen gesellschaftlichen Umgangsformen waren in Marjories Fall nicht angebracht. Wenn sie einen Stuhl wollte, nahm sie sich einen.
»Wie ich sehe, haben Sie für sechzehn Uhr eine Mitarbeiterversammlung angesetzt«, sagte sie mit ihrer Raucherstimme. »Sehr gut.« Sie ging ein paar Schritte auf und ab. Herney spürte das komplizierte Räderwerk ihres Geistes auf Hochtouren laufen. Er war froh, dass Marjorie Tench als eine der wenigen auserwählten Eingeweihten aus seinem Stab über die Entdeckung der NASA in allen Einzelheiten im Bilde war. Sie hatte dem Präsidenten bei der Planung seiner Strategie wertvolle Hilfe geleistet.
»Dieses Streitgespräch auf CNN heute Mittag um eins…«, sagte sie und hustete. »Wen werden wir gegen Sexton in den Ring schicken?«
Herney lächelte. »Irgendein untergeordneter Sprecher aus dem Wahlkampfteam soll sich gegen Sexton ein paar Sporen verdienen.« Die politische Taktik, den Herausforderer bei politischen Streitgesprächen herabzusetzen, indem man ihm keinen ernst zu nehmenden Gegner gönnte, war so alt wie das politische Streitgespräch selbst.
»Ich habe einen besseren Vorschlag«, sagte Marjorie Tench. Ihre leeren Augen suchten Herneys Blick. »Lassen sie mich die Sache übernehmen.«
Zach Herneys Kopf schoss in die Höhe. »Sie?«
Was denkt die sich?
»Marjorie, Sie sind nicht unsere Frau für die Medien. Außerdem ist
es eine Mittagsshow im Kabelnetz. Wie sieht es denn aus, wenn ich
meine Chefberaterin schicke!? Jeder wird denken, bei uns herrscht
Untergangsstimmung.«
»Eben.«
Herney musterte sie. Was immer in Marjorie Tenchs brillantem Kopf vorgegangen sein mochte, Herney würde sie nur über seine Leiche bei CNN auftreten lassen. Man brauchte Marjorie nur einmal gesehen zu haben, um sofort zu begreifen, warum sie hinter den Kulissen arbeitete. Diese Frau sah zum Fürchten aus. Als Präsident stellte man sich ein anderes Gesicht vor, wenn es galt, eine Botschaft des Weißen Hauses unter die Leute zu bringen.
»Die CNN-Debatte übernehme ich«, sagte sie. Es klang nach einer Feststellung.
Dem Präsidenten wurde mulmig zumute. »Marjorie«, sagte er,
»Ihr Auftreten bei CNN würde von Sextons Mannschaft doch umgehend als Beleg dafür genommen, dass das Weiße Haus Schiss bekommen hat. Wenn wir zu früh schweres Geschütz auffahren, werden alle glauben, dass wir verzweifeln.«
Marjorie Tench nickte und zündete sich eine Zigarette an. »Je verzweifelter wir nach außen wirken, desto besser.«
In den folgenden sechzig Sekunden machte Marjorie Tench dem Präsidenten begreiflich, weshalb er sie und nicht einen untergeordneten Mitarbeiter aus dem Wahlkampfstab in die CNN-Debatte schicken sollte. Als sie geendet hatte, konnte Zach Herney wieder einmal nur staunen.
Marjorie Tench hatte sich abermals als politisches Genie erwiesen.
18
Der Milne-Eisschelf ist der größte Eisstrom auf der nördlichen Halbkugel. Er liegt hoch in der Arktis oberhalb des zweiundachtzigsten Breitengrades am nördlichsten Küstenrand von Ellesmere Island, ist sechseinhalb Kilometer breit und stellenweise über neunzig Meter dick.
Als Rachel in die Plexiglaskabine des Schneetraktors kletterte, war sie dankbar für den Parka und die Handschuhe, die auf dem Sitz auf sie warteten, und ganz besonders für die Warmluft, die aus den Heizungsschlitzen strömte. Draußen auf der Landebahn aus Eis brüllten die Triebwerke der Tomcat auf, während der Pilot die Maschine schon wieder an die Startmarkierung rollte.
Erschreckt blickte Rachel auf. »Er fliegt wieder ab?«
Rachels neuer Gastgeber kam in die Kabine geklettert. Er nickte. »Hier vor Ort dürfen sich nur wissenschaftliches Personal und die unmittelbar am Projekt beteiligten Techniker der NASA aufhalten.«
Die F-14 jagte donnernd in den Nachthimmel. Rachel fühlte sich wie auf einer einsamen Insel ausgesetzt.
»Wir fahren jetzt mit dem IceRover zurück«, sagte Rachels Begleiter. »Der Direktor der NASA erwartet Sie bereits.«
Rachel schaute hinaus auf die silbrige Eisbahn, die sich vor ihnen erstreckte, und versuchte sich vorzustellen, was der NASA-Chef hier zu suchen hatte.
»Festhalten«, rief der NASA-Techniker und betätigte mehrere Hebel.
Wie ein Panzer drehte sich das Fahrzeug mit einem wütenden, mahlenden Geräusch um neunzig Grad auf der Stelle, bis es genau vor dem hohen steilen Schneewall stand.
Er wird doch nicht…?, dachte Rachel mit einem mulmigen Gefühl.
»Auf geht’s!«, rief der Fahrer und ließ die Kupplung los. Das Fahrzeug rollte auf den Schneewall los. Mit einem unterdrückten Aufschrei klammerte Rachel sich fest. Die mit Spikes versehenen Raupen krallten sich in den Schnee. Das Gefährt begann seinen Aufstieg. Rachel war sicher, sie würden hintenüberfallen, doch die Kabine blieb überraschenderweise in der Waagerechten. Als sich das große Gerät oben über den Grat schwang, hielt der Fahrer und strahlte seine blass gewordene Beifahrerin an. »Versuchen Sie das mal mit einem normalen Motorschlitten! Wir haben die Aufhängung von unserem Marsmobil genommen und in diese Kiste eingebaut. Hat prima geklappt.«
Rachel nickte matt. »Ganz prima.«
Aus der Höhe bot sich Rachel eine unbeschreibliche Aussicht.
Ein weiterer großer Schneewall lag noch vor ihnen, dann wurde das Terrain abrupt vollkommen eben. Das Eis bildete eine glitzernde, fast unmerklich zur Küste hin abfallende Fläche. Die mondbeschienene Eisebene erstreckte sich weit hin zum Gebirgsrand, wo sie allmählich schmaler wurde und sich schließlich zwischen den Bergen emporwand.
»Das ist der Milne-Gletscher«, sagte der Fahrer. »Er fängt dort oben an und kommt in das weite Delta heruntergeströmt, in dem wir uns jetzt befinden.«
Der Fahrer gab wieder Gas. Während Rachel sich festhielt, fuhr der IceRover die steile Flanke hinunter, überquerte die nächste Eisbahn und erkletterte behände den zweiten Wall.
Nachdem auch dieser Grat und die anschließende
Schneeflanke überwunden war, glitten sie hinaus auf die glatte
Fläche und begannen die Fahrt über den Gletscher.
»Wie weit noch?« Rachel konnte voraus nichts als Eis erkennen.
»Noch knapp vier Kilometer.«
Der Wind drosch gnadenlos auf den IceRover ein und rüttelte an der Plexiglaskabine, als wollte er sie zum Meer zurückschleudern. »Das ist der Gletscherfallwind«, rief der Fahrer in den Lärm, »daran müssen Sie sich gewöhnen.« Er erklärte, dass hier ein beständiger ablandiger Luftstrom wehte, ein so genannter katabatischer Wind – nach dem griechischen Wort für »herunterfließen«: Kaltluft strömte auf dem eisigen Rücken des Gletschers nach unten wie ein zu Tal rauschender Fluss.
Einige Minuten darauf sah Rachel in der Ferne eine verschwommene Struktur auftauchen – die Silhouette einer gewaltigen Kuppel wuchs wie ein riesiger Iglu aus dem Eis. Rachel rieb sich die Augen. Was, in aller Welt…?
»Hier wohnen große Eskimos, was?«, witzelte der Mann.
Rachel versuchte sich vorzustellen, welchem Zweck das Gebilde dienen mochte. Es sah aus wie eine etwas kleinere Ausgabe des Astrodoms in Houston.
»Die NASA hat es vor anderthalb Wochen aufgestellt«, erklärte der Fahrer. »Mehrstufiges Plexipolysorbat. Man bläst die Segmente auf, verbindet sie miteinander, und dann wird das Ganze mit Klammern und Seilen im Eis verankert. Es sieht aus wie ein großes Jurtenzelt, aber es ist eigentlich ein NASA-Prototyp für ein transportables Habitat, das eines Tages auf dem Mars eingesetzt werden soll. Wir nennen es Habisphäre.«
Rachel betrachtete das bizarre Bauwerk, das aus
der eisigen Wüste aufragte. »Und weil die NASA noch nicht bis zum
Mars gekommen ist, macht ihr inzwischen mit dem Ding hier ein
Ferienlager?«
Der Fahrer lachte. »Tahiti wäre mir eigentlich lieber gewesen, aber der Lagerplatz war mehr oder weniger eine Entscheidung des Schicksals.«
Rachels Blick glitt das Bauwerk hinauf. Die eierschalenfarbene Außenhaut bildete einen gespenstischen Kontrast zum dunklen Himmel. Der IceRover hielt vor einem kleinen Tor an der Seite der Kuppel, das sich nun öffnete. Licht fiel von drinnen heraus auf den Schnee. Eine hünenhafte Gestalt trat durchs Tor. Der Mann trug einen schwarzen Langflorpullover, der ihn noch wuchtiger erscheinen ließ. Er sah aus wie ein Bär. Er kam auf den IceRover zu.
Für Rachel bestand kein Zweifel, wer dieser Riese war: Lawrence Ekstrom, Direktor der NASA.
Der Fahrer schaute sie aufmunternd an. »Lassen Sie sich von seiner Größe nicht beeindrucken. Der Mann ist eine Miezekatze.«
Eher ein Tiger, dachte Rachel, die sehr wohl wusste, dass Ekstrom dafür bekannt war, jedem den Kopf abzureißen, der sich der Verwirklichung seiner Träume in den Weg stellte.
Rachel kletterte vom IceRover hinunter. Der Wind blies sie beinahe um. Sie schlang den Parka fest um sich und ging mit wankenden Schritten auf die Kuppel zu.
Der NASA-Direktor kam ihr auf halbem Weg entgegen und streckte zu Begrüßung eine große, behandschuhte Pranke aus.
»Miss Sexton, vielen Dank, dass Sie gekommen sind.«
Rachel nickte zögerlich. »Ehrlich gesagt, Sir,
ich glaube nicht, dass ich eine andere Wahl hatte.«
Tausend Meter weiter den Gletscher hinauf spähte Delta-1 durch seinen Infrarotfeldstecher. Er beobachtete, wie der Direktor der NASA Rachel Sexton in die Kuppel führte.
19
NASA-Chef Lawrence Ekstrom war ein Riese von einem Mann, rotwangig und rau wie ein norwegischer Waldgott. Sein borstiges blondes Haar war militärisch kurz geschnitten, seine Brauen gerunzelt, die Knollennase von einem Netz rötlicher Äderchen durchzogen. Seine eisblauen Augen waren von zahllosen Nächten ohne Schlaf blutunterlaufen. Bevor er zur NASA kam, war Ekstrom ein einflussreicher Luft- und Raumfahrtstratege und operativer Berater im Pentagon gewesen. Seine Bärbeißigkeit war legendär und wurde nur von dem Engagement für seine jeweilige Aufgabe übertroffen.
Rachel Sexton folgte Ekstrom durch ein gespenstisches, halb transparentes Netz von Gängen und Fluren durch die Habisphäre. Das Gängelabyrinth bestand offensichtlich aus Bahnen aus opakem Kunststoff, der an kreuz und quer verspannten Drahtseilen aufgehängt war. Einen eigentlichen Fußboden gab es nicht. Man bewegte sich auf schierem Eis, auf dem lange Gummiläufer ausgerollt waren. Sie kamen an einem primitiven Wohnbereich mit Reihen von Feldbetten und chemischen Toiletten vorbei. Dankenswerterweise war es in der Kuppel warm, auch wenn die Luft von jenem undefinierbaren Geruchspotpourri erfüllt war, das jedes Mal entsteht, wenn sich viele Menschen auf engem Raum zusammendrängen. Irgendwo brummte ein Generator, offensichtlich die Energiequelle der nackten Birnen, die an langen Strippen über den Gängen baumelten.
Ekstrom führte Rachel im Eiltempo einem ihr unbekannten Ziel entgegen. »Miss Sexton«, brummte er, »ich möchte, dass zwischen uns von Anfang an Klarheit herrscht.« Sein Tonfall ließ vermuten, dass er alles andere als erfreut darüber war, für Rachel den Gastgeber spielen zu müssen. »Sie sind hier, weil der Präsident es so will. Zach Herney ist ein guter Freund und ein treuer Gefolgsmann der NASA. Ich respektiere ihn, bin ihm verpflichtet, und vertraue ihm. Ich erlaube mir keine Kritik an seinen persönlichen Anordnungen, auch wenn ich sie missbillige. Ich möchte nur klarstellen, dass ich im Gegensatz zum Präsidenten nicht begeistert bin, dass Sie auf einmal mitmischen.«
Rachel machte große Augen. Und für diese Begrüßung bist du über fünftausend Kilometer gereist?
»Bei allem Respekt«, sagte sie giftig, »auch ich unterstehe dem Befehl des Präsidenten. Bis jetzt hat niemand mir den Zweck meiner Anwesenheit erklärt. Ich habe mich bei dieser Reise darauf verlassen, dass mit offenen Karten gespielt wird.«
»Na schön«, sagte Ekstrom, »dann will ich kein Blatt vor den Mund nehmen.«
»Das ist Ihnen bereits hervorragend gelungen!«
Rachels Retourkutsche schien Wirkung zu zeigen. Der Direktor mäßigte seinen Schritt, um Rachel zu mustern. Sein Blick wurde weicher.
»Verstehen Sie bitte«, erklärte er, »Sie
erhalten hier Kenntnis von einem geheimen NASA-Projekt, trotz
meiner ausdrücklichen Missbilligung. Sie sind nicht nur
Repräsentantin des NRO, dessen Direktor sich darin gefällt, meine
NASA-Mitarbeiter als kindische Plappermäuler zu diskreditieren –
Sie sind auch noch die Tochter ausgerechnet jenes Mannes, der es
sich zur persönlichen Aufgabe gemacht hat, meine Behörde zu
zerschlagen. Die NASA sollte die jetzige Situation eigentlich als
ihre Sternstunde feiern dürfen. Meine Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter haben in der letzten Zeit viel Kritik über sich ergehen
lassen müssen. Sie haben sich diesen Augenblick des Triumphs sauer
verdient. Aber im Sturmwind einer Kritik, deren erklärter Exponent
Ihr Vater ist, sind meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
gezwungen, sich das Rampenlicht mit einem Haufen Eierköpfen und der
Tochter jenes Mannes zu teilen, der uns niedermachen will.«
Ich bin nicht mein Vater! hätte Rachel am liebsten geschrien, aber es war wohl kaum der geeignete Moment, mit Ekstrom über Politik zu diskutieren. »Sir, ich bin nicht hergekommen, um mich ins Rampenlicht zu stellen.«
Ekstrom schaute sie scharf an. »Es könnte dazu kommen, dass Sie es müssen.«
Rachel war überrascht. Präsident Herney hatte zwar nichts davon erwähnt, dass Rachel ihm auf irgendeine »öffentliche« Weise zur Hand gehen sollte, doch Pickering hatte kein Geheimnis aus der Befürchtung gemacht, Rachel könnte als politisches Faustpfand missbraucht werden.
»Ich würde gerne wissen, was ich hier eigentlich soll!«
»Da geht es Ihnen genauso wie mir. Ich habe keine entsprechenden Informationen.«
»Wie bitte?«
»Der Präsident hat mich aufgefordert, Sie sofort nach Ihrer Ankunft in unsere Entdeckung einzuweihen. Welche Rolle er Ihnen in diesem Zirkus zugedacht hat, müssten Sie selbst wissen.«
»Er hat mir gesagt, Ihr Erd-Observations-System hätte etwas entdeckt.«
»Sind Sie über das EOS-Projekt im Bilde?«, erkundigte sich Ekstrom mit einem Seitenblick auf Rachel.
»EOS besteht aus fünf vernetzten NASA-Satelliten, die eine Reihe von Erdbeobachtungen vornehmen – für die Ozeankartografie, für die Analyse geologischer Abweichungen, für die Beobachtung des Abschmelzens der Polareiskappen, für das Auffinden fossiler Brennstoffreserven…«
»Gut«, sagte Ekstrom unbeeindruckt. »Dann wissen Sie wohl auch über die jüngste Erweiterung der EOS-Satellitenkonstellation Bescheid?«
Rachel nickte. »PODS. Der Polar-Orbit-Dichtescanner. Er soll einen Beitrag zur Messung der globalen Erwärmung leisten.
PODS misst die Dichte und Härte der polaren Eiskappen, nicht wahr?«
»Letzten Endes, ja. PODS macht mithilfe einer Spektralband-Technologie überlappende Dichtemessungen großer Gebiete und kann Härteabweichungen im Eis feststellen – tauende Stellen, innere Schmelzregionen, Spaltenbildungen –, alles Indikatoren einer globalen Erwärmung.«
Für Rachel war diese Technologie nicht neu. Man konnte sie mit einer unterirdischen Ultraschallmessung vergleichen. Satelliten des NRO hatten mit einer ähnlichen Technologie in Osteuropa Dichteabweichungen unmittelbar unter der Erdoberfläche gesucht, um auf diese Weise Massengräber aufzuspüren, die eine Bestätigung der vermuteten »ethnischen Säuberungen« lieferten.
»Vor zwei Wochen registrierte PODS hier in diesem Eisstrom eine Dichteanomalie, die in keiner Weise in unseren Erwartungsraster passte. Sechzig Meter unter der Oberfläche, ringsum in massives Eis eingebettet, entdeckte PODS einen nichtkristallinen Klumpen von ungefähr drei Metern Durchmesser.«
»Einen Wassereinschluss?«
»Nein, der Klumpen war nicht flüssig. Die Dichteanomalie war seltsamerweise härter als das umgebende Eis.«
»Dann ist es ein Felsbrocken oder etwas Ähnliches?«
Ekstrom nickte. »Im Prinzip, ja.«
Rachel wartete auf die Pointe, aber sie kam nicht. Man hat dich hierher geschafft, weil die NASA einen Felsbrocken im Eis gefunden hat?
»Wir waren über die Entdeckung nicht besonders verwundert, bis PODS die Dichte genauer berechnet hatte. Wir haben sofort ein Team eingeflogen, das den Brocken analysieren sollte. Wie sich herausgestellt hat, ist der Findling wesentlich dichter als jedes andere Gestein auf Ellesmere Island. Dichter sogar als irgendein Gestein im Umkreis von sechshundertfünfzig Kilometern.«
Rachel betrachtete das Eis zu ihren Füßen. Sie stellte sich den Felsbrocken bildlich vor, der irgendwo da unten steckte. »Wollen Sie damit sagen, dass jemand ihn dorthin geschafft hat?«
Ekstrom schaute sie belustigt an. »Der Stein wiegt mehr als acht Tonnen und steckt über sechzig Meter tief im Eis. Das bedeutet, dass er seit mindestens dreihundert Jahren unberührt dort unten liegen muss.«
Rachel folgte Ekstrom in einen langen und engen
Gang. Sie war müde. Zwei bewaffnete Sicherheitskräfte der NASA
standen zu beiden Seiten Wache. »Ich darf wohl annehmen, dass es
für das Vorhandensein des Felsbrockens und für diese
Geheimnistuerei eine logische Erklärung gibt«, sagte sie und
schaute Ekstrom an.
»Selbstverständlich«, antwortete Ekstrom mit ausdruckslosem Gesicht. »PODS hat einen Meteoriten entdeckt.«
Rachel blieb abrupt stehen und starrte Ekstrom an. »Einen Meteoriten!« Eine Welle der Enttäuschung rollte über sie hinweg.
Nach dem Wirbel, den der Präsident um die Entdeckung veranstaltet hatte, hätte sie etwas Aufregenderes erwartet. Diese Entdeckung rechtfertigt angeblich alles, was die NASA in der Vergangenheit verschleudert und verbockt hat? Was ging in Herneys Kopf eigentlich vor? Zugegeben, Meteoriten waren sehr selten, doch die NASA entdeckte dauernd neue.
»Dieser Meteorit ist einer der größten, die je gefunden wurden«, sagte Ekstrom. »Wir halten ihn für das Bruchstück eines Riesenmeteoriten, der nach Berichten des achtzehnten Jahrhunderts im Eismeer niedergegangen ist. Es handelt sich mit großer Wahrscheinlichkeit um ein Bruchstück, das beim Einschlag davongeschleudert wurde und auf dem Milne-Gletscher gelandet ist, wo es in den vergangenen dreihundert Jahren allmählich immer tiefer im Schnee begraben wurde.« Rachel runzelte die Stirn. Diese Eröffnung änderte wenig. Sie bekam immer mehr den Eindruck, Zeugin eines überzogenen Manövers einer verzweifelten NASA und eines hoffnungslosen Präsidenten geworden zu sein, die in ihrem Kampf ums Überleben einen Fund der NASA zu einem weltbewegenden Ereignis aufzubauschen versuchten.
»Sie sehen nicht besonders beeindruckt aus«,
bemerkte Ekstrom.
»Ich glaube, ich habe etwas… anderes erwartet.«
Ekstroms Augen wurden schmal. »Ein Meteorit von dieser Größe ist ein ausnehmend seltener Fund, Miss Sexton. Auf der ganzen Welt gibt es nur sehr wenige größere Exemplare.«
»Aber ich…«
»Für uns liegt das Aufregende nicht in der Größe des Meteoriten.«
Rachel schaute Ekstrom überrascht an.
»Dieser Meteorit, Miss Sexton, weist Eigenschaften auf, die bisher noch bei keinem Meteoriten, ob groß oder klein, gefunden worden sind.« Er wies den Gang hinunter. »Wenn Sie mir jetzt bitte folgen würden. Ich möchte Sie jemand vorstellen, der qualifizierter ist als ich, um diesen Fund mit Ihnen zu diskutieren.«
»Qualifizierter als der Direktor der NASA?«, wunderte sich Rachel.
»Qualifizierter als ich, Miss Sexton, insofern dieser Mann kein Angestellter des Staates ist. Ich dachte mir, Sie als professionelle Datenanalystin würden es vorziehen, Ihre Informationen aus neutraler Quelle zu beziehen.«
Touche. Rachel folgte dem NASA-Direktor durch den engen Gang, der vor einem schweren schwarzen Vorhang endete. Auf der anderen Seite war vielstimmiges Gemurmel zu hören, das aus einem hallenden großen Raum zu kommen schien.
Ohne ein weiteres Wort zog Ekstrom den Vorhang beiseite.
Rachel stand in blendender Helligkeit. Blinzelnd machte sie ein paar zögernde Schritte voran. Nachdem ihre Augen sich an die Helligkeit gewöhnt hatten, blickte sie in ein riesiges Rund.
Beeindruckt hielt sie den Atem an.
»Mein Gott, wo bin ich?«, flüsterte sie.
20
Das CNN-Fernsehstudio außerhalb von Washington, D.C. ist eines der weltweit zweihundertzwölf Studios, die via Satellit mit dem globalen Hauptquartier des Senders Turner Broadcasting System in Atlanta verbunden sind.
Es war dreizehn Uhr fünfundvierzig, als Senator Sedgewick Sexton in seiner Limousine auf den Parkplatz des Senders rollte.
Zufrieden stieg er aus und schritt mit Gabrielle auf den Eingang zu. Drinnen wurden sie von einem übertrieben lächelnden Produzenten mit Schmerbauch begrüßt.
»Senator Sexton«, sagte der Produzent. »Herzlich willkommen.
Fantastische Neuigkeiten! Wir haben soeben erfahren, wen das Weiße Haus gegen Sie in den Ring schickt.« Der Produzent grinste wie ein Hausierer. »Ich hoffe, Sie sind zu jeder Schandtat bereit!« Er deutete durch die Glasscheibe des Regieraums hinaus ins Studio.
Von der anderen Seite der Glasscheibe starrte Sexton durch eine Wolke aus Zigarettenqualm das hässlichste Gesicht der US-Politik entgegen.
»Marjorie Tench!«, platzte Gabrielle heraus. »Warum ist die hier angetanzt?«
Sexton hatte keine Ahnung, doch was immer der Grund sein mochte, Marjorie Tenchs Anwesenheit war eine fantastische Neuigkeit und setzte ein klares Zeichen, dass der Präsident allmählich kalte Füße bekam. Weshalb sonst hätte er seine Chefberaterin ins Feuer schicken sollen? Zach Herney fuhr sein schwerstes Kaliber auf. Sexton konnte es nur recht sein.
Je stärker der Feind, desto süßer der Sieg.
Dem Senator war klar, dass Marjorie Tench eine gerissene Gegnerin war, doch wenn er sich diese Frau betrachtete, fragte er sich unwillkürlich, ob der Präsident sich nicht gewaltig geirrt hatte. Die gute Marjorie war wirklich kein angenehmer Anblick. Im Moment saß sie zusammengekrümmt auf einem Stuhl, wobei sich der rechte Arm mit der Zigarette in einem trägen Auf und Ab zu ihren Lippen bewegte wie die Klaue einer fressenden Gottesanbeterin.
Mann o Mann, dachte Sexton, wenn es je ein Gesicht gegeben hat, das besser beim Radio geblieben wäre…
Bei den wenigen Gelegenheiten, da Sexton die gelbsüchtige Visage der Chefberaterin des Präsidenten in den Printmedien gesehen hatte, war es ihm jedes Mal unbegreiflich gewesen, dass er in eines der mächtigsten Gesichter Washingtons blickte.
»Das gefällt mir nicht«, flüsterte Gabrielle.
Sexton erwiderte nichts. Ihm gefiel die Situation umso besser.
Nicht nur, dass Marjorie Tench kein mediengängiges Gesicht hatte – noch willkommener war Sexton ihre bekannte Einstellung zu einem der Hauptstreitpunkte. Sie war eine der lautstärksten Verfechterinnen der These, dass die zukünftige Führungsrolle der USA in der Welt nur durch ihre Überlegenheit auf technologischem Gebiet garantiert werden könne. Marjorie war eine eifrige Advokatin von staatlichen Forschungs- und Entwicklungsprogrammen auf dem Gebiet der Hochtechnologie – und vor allem eine rückhaltlose Befürworterin der NASA. Viele waren der Ansicht, dass der Präsident sich nur aufgrund des hinter den Kulissen von Marjorie Tench ausgeübten Drucks so unverdrossen hinter die angeschlagene Weltraumbehörde stellte.
Sexton fragte sich, ob der Präsident vielleicht Marjorie Tench für all ihre schlechten Ratschläge bezüglich der NASA opfern wollte. Will er seine Chefberaterin den Wölfen zum Fraß vorwerfen!
Gabrielle Ashe musterte Marjorie Tench durch die Trennscheibe.
Sie empfand ein wachsendes Unbehagen. Diese Frau war schlau wie ein Fuchs; außerdem war ihr Erscheinen ein unerwarteter Schachzug. Das Zusammentreffen dieser beiden Faktoren ließ bei Gabrielle sämtliche Warnlichter aufflammen.
Sie spürte, dass dem Senator vor Vorfreude über den leichten Sieg bereits der Mund wässrig wurde, was keineswegs dazu beitrug, ihre Besorgnis zu mindern. Sexton hatte die ungute Angewohnheit, zu sehr auf die Tube zu drücken, wenn er Oberwasser bekam. Die NASA hatte sich bei den Umfragen als willkommener Stimmenfänger erwiesen, doch für Gabrielles Geschmack war Sexton ein bisschen zu viel auf diesem Thema herumgeritten. Viele Kandidaten hatten ihre Kampagne in den Sand gesetzt, weil sie unbedingt einen K.-o.-Sieg einheimsen wollten, wo es gereicht hätte, nach Punkten zu bestehen.
Sexton strebte zur Studiotür. Gabrielle packte ihn am Ärmel.
»Ich weiß, was in Ihnen vorgeht«, flüsterte sie, »aber behalten Sie einen klaren Kopf. Werden Sie nicht übermütig.«
»Übermütig? Ich?« Er grinste.
»Denken Sie daran – diese Frau weiß, was sie tut.«
»Das weiß ich auch«, sagte Sexton und lächelte überlegen.
21
Der hochgewölbte Innenraum der Habisphäre wäre überall auf der Welt ein überraschender Anblick gewesen, doch die Tatsache, dass die Konstruktion ausgerechnet auf einem arktischen Gletscher errichtet worden war, machte es für Rachel besonders schwer, den Eindruck zu verdauen.
Als sie in die aus weißen, ineinander greifenden Dreiecken zusammengesetzte futuristische Kuppel hinaufschaute, kam sie sich wie in einem überdimensionalen Sanatorium vor. Die sanft gekrümmte Wandung ruhte auf einem Boden aus massivem Eis.
Ringsum waren wie die Soldaten zahllose nach oben gerichtete Halogenstrahler aufgestellt, deren blendendes Licht dem gewaltigen Innenraum eine geradezu überirdische Helligkeit verlieh.
Durch ein Dickicht mobiler wissenschaftlicher Arbeitsplätze schlängelten sich Wege aus schwarzen Schaumgummiläufern über den Eisboden. Dreißig oder vierzig NASA-Mitarbeiter waren inmitten der elektronischen Gerätschaften emsig bei der Arbeit. Aufgeregt schwatzend steckten sie immer wieder die Köpfe zusammen. Rachel spürte die elektrisierende Spannung in diesem Raum.
Es war die pure Entdeckerfreude.
Während Rachel mit dem NASA-Direktor am äußeren Rand der Kuppel entlangging, wurde sie von einigen Leuten erkannt und mit überraschten Blicken bedacht. Das Getuschel war wegen der Akustik in der Halle deutlich zu vernehmen.
Ist das nicht die Tochter von Senator Sexton?
Was hat die hier zu suchen?
Unbegreiflich, dass der
Chef mit ihr redet!
Rachel hätte es nicht gewundert, hätten überall Voodoo-Puppen ihres Vaters mit Nadeln im Leib gehangen. Sie spürte außer Feindseligkeit aber noch etwas anderes – eine heimliche Selbstgefälligkeit, als wüsste die NASA genau, wer zuletzt lachte.
Ekstrom führte Rachel zu einer Reihe zusammengestellter Tische, wo ein einzelner Mann mit dem Rücken zu ihr vor einem Computer saß. Im Unterschied zu allen anderen, die den einheitlichen Klimaschutzanzug der NASA trugen, war er in einen schwarzen Rollkragenpullover, Cordhose und Moonboots gekleidet.
Ekstrom bat Rachel um einen Moment Geduld, ging zu dem Mann und wechselte ein paar Worte mit ihm. Der Angesprochene nickte und fuhr seinen Computer herunter. Ekstrom trat wieder zu Rachel.
»Mr Tolland wird Sie jetzt übernehmen«, sagte er. »Er ist auch einer der Rekruten des Präsidenten – Sie dürften also gut miteinander auskommen. Ich stoße später wieder zu Ihnen«, verabschiedete sich Ekstrom.
»Gut. Danke.«
»Ich darf wohl annehmen, Sie haben schon von Mr Tolland gehört?«
Rachel schüttelte den Kopf. »Der Name sagt mir nichts.«
»Der Name sagt Ihnen nichts?«, sagte der Mann mit dem Rollkragenpullover, der inzwischen zu ihnen getreten war. Seine freundliche Stimme klang voll und angenehm. »Das ist die beste Neuigkeit des heutigen Tages. Unvorbelastet jemand entgegenzutreten, war mir schon lange nicht mehr vergönnt.«
Als Rachel den Neuankömmling anblickte, wäre sie am liebsten im eisigen Boden versunken. Sie hatte das attraktive Gesicht augenblicklich erkannt. Jeder Amerikaner kannte es.
Ihre Wangen glühten. »Oh«, sagte sie, während sie einander die Hand gaben, »Sie sind Michael Tolland.«
Als Rachel vom Präsidenten eröffnet worden war, er habe zur Bestätigung der NASA-Entdeckung angesehene unabhängige Wissenschaftler beauftragt, hatte sie sich ein paar verhutzelte Greise mit Rechenschiebern vorgestellt. Michael Tolland verkörperte das völlige Gegenteil. Er war einer der prominentesten Wissenschaftler Amerikas und präsentierte im Fernsehen eine wöchentliche Dokumentarfilmserie mit dem Titel »Wunderbare Welt der Meere«, in der er dem Zuschauer aus nächster Nähe atemberaubende Meeresphänomene vor Augen führte – Unterwasservulkane, drei Meter lange Meerwürmer, haushohe Killer-Flutwellen. Die Medien feierten ihn als Mischung aus Jacques Cousteau und Carl Sagan und priesen sein umfassendes Wissen, die mitreißenden Präsentationen und seine Abenteuerlust als jene Formel, mit der er die Einschaltquoten seiner Sendung in ungeahnte Höhen getrieben hatte. Es gab natürlich auch Kritiker, die anmerkten, dass Michael Tollands attraktives Äußeres und sein Charisma seiner Popularität speziell bei der weiblichen Zuschauerschaft keineswegs abträglich seien.
»Mr Tolland…«, Rachel rang ein bisschen nach Worten, »… ich bin Rachel Sexton.«
Tolland lächelte verbindlich. »Hi, Rachel. Sagen Sie doch Mike zu mir.«
Rachel suchte nach Worten. Es war alles ein bisschen viel auf einmal – die Habisphäre, der Meteorit, die Geheimnistuerei, und jetzt auch noch die unvermutete Begegnung mit dem Fernsehstar. »Es überrascht mich, Sie hier zu sehen«, sagte sie schließlich und versuchte, sich wieder zu fassen. »Als der Präsident mir sagte, er hätte unabhängige Wissenschaftler als Gutachter des Fundes der NASA hinzugebeten, dachte ich an…« Sie verstummte.
»… an richtige Wissenschaftler?« Tolland lächelte entwaffnend.
Rachel wurde wieder rot. »Nein, nein, so habe ich das nicht gemeint.«
»Seien Sie unbesorgt«, meinte Tolland, »seit ich hier bin, habe ich mir das ständig anhören müssen.« Er musterte Rachel neugierig. »Ekstrom hat mir gesagt, Ihr Vater sei Senator Sexton?«
Rachel nickte. Leider.
»Eine Sexton-Spionin hinter den Linien?«
»Frontlinien verlaufen nicht immer da, wo man sie vermutet.«
Eine unbehagliche Pause entstand.
»Was macht ein weltbekannter Ozeanograph mit einem Haufen Raketenbauer von der NASA auf einem Gletscher?«, fragte Rachel.
Tolland lachte leise. »Jemand, der aussah wie der Präsident, hat mich gebeten, ihm einen Gefallen zu tun. Ich habe den Mund aufgemacht, um zu sagen ›Hauen Sie ab!‹, aber was herauskam, klang wie ›Jawohl, Sir‹.«
Rachel musste das erste Mal an diesem Vormittag lachen.
»Willkommen im Club!«
Die meisten Prominenten wirken unscheinbarer, wenn man sie persönlich trifft, dachte Rachel, doch bei Michael Tolland war es umgekehrt. Seine braunen Augen waren so wach und leidenschaftlich wie im Fernsehen, und in seiner Stimme schwang die gleiche Bescheidenheit, Wärme und unaufdringliche Begeisterung mit. Er wirkte wie ein sportlicher Fünfundvierzigjähriger.
Sein dichtes schwarzes Haar wirkte stets wie
vom Wind zerzaust und fiel ihm mit einer widerspenstigen Tolle in
die Stirn. Das kräftige Kinn und sein ungekünsteltes Benehmen
flößten Vertrauen ein. Seine raue und schwielige Hand hatte Rachel
bei der Begrüßung daran erinnert, dass sie nicht eine typische
glatte Fernsehpersönlichkeit vor sich hatte, sondern einen
erfahrenen Seemann und Forscher.
»Offen gesagt«, meinte Tolland etwas verlegen, »ich glaube, dass ich mehr wegen meines Bekanntheitsgrads rekrutiert worden bin, als wegen meiner wissenschaftlichen Qualifikation. Der Präsident hat mich hergebeten, um einen Dokumentarfilm für ihn zu drehen.«
»Einen Dokumentarfilm? Über einen Meteoriten? Aber Sie sind doch Ozeanograph.«
»Genau das habe ich dem Präsidenten auch gesagt. Aber er meinte, er würde keinen Dokumentarfilmer kennen, der sich mit Meteoriten befasst. Außerdem würde meine Beteiligung die Glaubwürdigkeit seiner Entdeckung für das Publikum erhöhen.
Er hat offensichtlich vor, meinen Film heute Abend im Rahmen der großen Pressekonferenz vorzuführen, bei der er die Entdeckung bekannt geben wird.«
Ein Prominenter als Zeuge. Rachel bewunderte wieder einmal Zach Herneys politisches Fingerspitzengefühl. Der NASA war oft vorgeworfen worden, Entdeckungen nicht allgemein verständlich zu präsentieren. Diesmal sollte es anders sein. Man hatte den Meister der Vermittlung wissenschaftlicher Fakten höchstpersönlich bemüht – ein Gesicht, das den meisten Amerikanern bekannt war; einen Mann, der in wissenschaftlichen Dingen ihr Vertrauen genoss.
Tolland deutete verstohlen auf die andere Seite
der Kuppel, wo ein Medienbereich aufgebaut wurde. Ein blauer
Teppich war auf dem Eis ausgerollt worden, Fernsehkameras und
Scheinwerfer standen vor einem langen Tisch mit Mikrofonen. Im
Hintergrund wurde gerade eine große amerikanische Flagge
aufgehängt.
»Das ist für heute Abend«, erklärte Tolland. »Der NASA-Chef und einige seiner wichtigsten Wissenschaftler werden über eine Liveschaltung per Satellit mit dem Weißen Haus in Verbindung stehen, wenn der Präsident um zwanzig Uhr auf Sendung geht.«
Das ist anständig, dachte Rachel und nahm beifällig zur Kenntnis, dass Zach Herney nicht vorhatte, die NASA bei seiner Erklärung außen vor zu lassen.
Rachel seufzte. »Würde mir vielleicht endlich mal jemand erklären, was an diesem Meteoriten so besonders ist?«
Tolland hob die Brauen und lächelte sie geheimnisvoll an. »Das Besondere an diesem Meteoriten lässt sich viel besser zeigen als erklären.« Er gab Rachel ein Zeichen, ihm in den benachbarten Arbeitsbereich zu folgen. »Mein Kollege hat jede Menge Proben, die er Ihnen vorführen kann.«
»Proben? Sie haben Proben von dem Meteoriten?«
»Ja, sicher. Wir haben ein paar Kernbohrungen vorgenommen.
Schon die allerersten Proben, die zutage kamen, haben die NASA von der Bedeutung des Fundes überzeugt.«
Unsicher, was sie erwartete, folgte Rachel Tolland an den Experimentiertisch. Er war verlassen. Ein Becher Kaffee stand auf dem mit Gesteinsproben, Schieblehren und anderen Messgeräten übersäten Tisch und dampfte vor sich hin.
»Marlinson!«, rief Tolland und schaute sich um. Keine Antwort.
Er seufzte. »Vermutlich wollte er sich Sahne
für seinen Kaffee holen und hat sich verlaufen. Ich kann Ihnen
sagen, als ich in Princeton mit diesem Typen die ersten Semester
studiert habe, ging er regelmäßig in seinem eigenen Wohnheim auf
Nimmerwiedersehen verschütt. Jetzt hat er einen der begehrtesten
Preise im Bereich der Astrophysik bekommen. Da soll einer draus
schlau werden.«
Rachel schluckte. »Marlinson? Sie meinen doch nicht etwa den berühmten Corky Marlinson?«
Tolland lachte. »Genau den.«
Rachel war baff. »Corky Marlinson ist hier?« Marlinsons Theorien zum Verständnis von Gravitationsfeldern waren bei den Satelliteningenieuren des NRO legendär. »Dann ist auch Marlinson einer der vom Präsidenten gerufenen unabhängigen Wissenschaftler?«
»Ja, diesmal ein richtiger.« Tolland grinste.
Richtig ist richtig, dachte Rachel. Marlinson war so angesehen wie kaum ein anderer Forscher.
»Das unglaublich Paradoxe an Corky ist, dass er einem auf den Millimeter genau den Abstand zu Alpha Centauri sagen kann, aber den Schlips umbinden kann er sich nicht«, sagte Tolland genüsslich.
»Ich trage Betonschlipse«, näselte jemand gutmütig hinter ihnen. »Funktionstüchtigkeit vor Eleganz. Ihr Hollywoodtypen werdet das nie begreifen!«
Rachel und Tolland fuhren herum. Hinter einem hohen Turm aus aufeinander gestapelten elektronischen Geräten trat ein kleiner rundlicher Mann hervor. Mit seinen hervorquellenden Augen und dem spärlichen, penibel gekämmten Haar besaß er eine entfernte Ähnlichkeit mit einem Mops. Als er Tolland mit Rachel sprechen sah, blieb er wie angewurzelt stehen.
»Mann Gottes, Mike!«, rief er aus. »Da friert man sich am Nordpol den Arsch ab, und du reißt immer noch tolle Frauen auf! Ich hab’s doch gewusst, ich hätte zum Fernsehen gehen sollen.«
Michael Tolland fühlte sich sichtlich unwohl in seiner Haut.
»Miss Sexton, bitte sehen Sie Dr. Marlinson sein Betragen nach.
Was ihm an guten Manieren fehlt, macht er mit unzähligen, völlig nutzlosen und zufällig zusammengeklaubten Wissenskrümeln über unser Universum mehr als wett.«
Corky trat ein paar Schritt näher. »Es ist mir ein Vergnügen, Ma’am. Wie war doch bitte Ihr Name?«
»Rachel. Rachel Sexton.«
»Sexton?« Corky schniefte hörbar durch die Nase. »Sie sind doch hoffentlich nicht mit diesem kurzsichtigen, hirnamputierten Senator verwandt?«
Tolland zuckte zusammen. »Corky, Senator Sexton ist Rachels Vater.«
Corkys Lachen endete abrupt, und er ließ sich verzweifelt auf seinen Stuhl sinken. »Siehst du, Mike? Ist es da noch ein Wunder, dass ich bei Frauen kein Glück habe?«
22
Corky Marlinson führte Rachel und Tolland tiefer in seinen Arbeitsbereich. Mit den Bewegungen einer überspannten Spiralfeder, die jeden Augenblick auseinander zu fliegen droht, kramte er in seinen Gesteinsproben und Geräten.
»Also dann«, sagte er aufgeregt, »Miss Sexton, Sie stehen im Begriff, Corky Marlinsons dreißigsekündigen Crashkurs in Meteoritenkunde zu absolvieren.«
Tolland zwinkerte Rachel zu. »Haben Sie Geduld mit ihm. Er wollte eigentlich Schauspieler werden.«
»Ja, und Mike ein angesehener Wissenschaftler.« Corky suchte in einem Schuhkarton herum und brachte schließlich drei kleine Gesteinsbrocken zum Vorschein, die er nebeneinander auf seinen Arbeitstisch legte. »Hier sehen Sie die drei hauptsächlichen Arten von Meteoriten, die wir auf der Erde finden.«
Rachel betrachtete die drei Proben, die alle wie misslungene Kugeln von der Größe eines Golfballs aussahen. Sie waren in der Mitte durchgeschnitten, sodass man die polierten Querschnittflächen sehen konnte.
»Alle Meteoriten bestehen aus Nickeleisenlegierungen, Silikaten und Sulfiden in variierenden Anteilen. Sie werden anhand ihres Verhältnisses von Metall und Silikaten in Gruppen eingeteilt.«
Rachel hatte schon jetzt den Eindruck, dass Corkys Crashkurs in Meteoritenkunde in dreißig Sekunden kaum abgehandelt sein würde.
»Diese erste Probe hier«, sagte Corky, wobei er auf einen kohlschwarzen glänzenden Stein zeigte, »ist ein Eisenmeteorit. Sehr schwer. Der kleine Kerl ist vor einigen Jahren in der Antarktis heruntergekommen.«
Rachel studierte den Meteoriten. Er sah in der Tat unirdisch aus – ein schwerer, gräulicher Eisenklumpen mit einer verkohlten und geschwärzten Kruste.
»Man nennt die verkohlte äußere Schicht Schmelzrinde«, sagte Corky. »Sie entsteht durch die extreme Erhitzung beim Sturz des Meteoriten durch die Erdatmosphäre. Meteoriten haben stets diese verkohlte Kruste.« Corky griff rasch eine andere Probe.
»Hier haben wir einen so genannten Stein-Eisen-Meteoriten.«
Rachel betrachtete das Stück, das ebenfalls außen angekohlt war; allerdings hatte die Rinde einen leichten Stich ins Grüne.
Der Querschnittschliff sah wie eine Collage aus bunten kantigen Bruchstücken aus und glich dem Bild in einem Kaleidoskop.
»Hübsch«, bemerkte Rachel.
»Machen Sie Witze? Das ist hinreißend!« Corky ließ sich eine Minute lang über den hohen Olivinanteil aus, der den grünen Glanz hervorrief, um dann mit dramatischer Geste die dritte und letzte Probe zu ergreifen und sie Rachel zu reichen.
Rachel legte sich den Meteoriten auf die Handfläche. Er war graubraun, wie Granit etwa, und fühlte sich ein bisschen schwerer als irdisches Gestein an. Der einzige Hinweis, dass es sich um keinen irdischen Stein handelte, war auch hier die Schmelzrinde – die versengte Außenschicht.
»Das ist ein so genannter Steinmeteorit, die häufigste Klasse unserer Meteoriten«, erklärte Corky. »Mehr als neunzig Prozent der auf der Erde aufgefundenen Meteoriten gehören zu dieser Kategorie.«
Rachel war überrascht. Sie hatte sich Meteoriten stets wie die erste Probe vorgestellt – als metallische, fremdartig aussehende Klumpen. Der Meteorit in ihrer Hand sah alles andere als außerirdisch aus. Vom versengten Äußeren abgesehen sah er aus wie ein Stein, über den man an jedem beliebigen Strand stolpern konnte.
Corkys Augen quollen jetzt vor Aufregung fast
aus den Höhlen. »Der Meteorit, der hier im Eis des Milnegletschers
begraben ist, gehört zu den Steinmeteoriten, genau wie der, den Sie
in der Hand halten. Steinmeteoriten haben große Ähnlichkeit mit
unserem indigenen irdischen Gestein – das macht sie so schwer
auffindbar. Meist bestehen sie aus einer Mischung leichter
Silikate: Feldspat, Olivin, Pyroxen. Nichts Aufregendes.«
Rachel gab Corky die Probe zurück. »Der hier sieht aus wie ein Stein, den jemand in einen Kamin geworfen und liegen gelassen hat.«
Corky lachte auf. »Das müsste schon ein höllisch heißer Kamin sein! Der heißeste Hochofen erreicht bei weitem nicht die Temperaturen, denen ein Meteorit ausgesetzt ist, wenn er auf unsere Atmosphäre trifft!«
Tolland lächelte Rachel aufmunternd zu. »Und darauf kommt es an.«
»Stellen Sie sich einmal vor«, sagte Corky, während er Rachel den Meteoriten aus der Hand nahm, »dieser kleine Bursche wäre so groß wie ein Haus.« Er hielt sich den Meteoriten hoch über den Kopf. »Jetzt fliegt er durch den Weltraum… jagt durch unser Sonnensystem… starr von der Weltraumkälte knapp über dem absoluten Nullpunkt.«
Tolland lachte leise in sich hinein. Anscheinend hatte er Corkys Inszenierung von der Ankunft des Kometen auf Ellesmere Island schon einmal miterleben dürfen.
Corky hielt die Probe etwas niedriger. »Unser Meteorit nähert sich der Erde… kommt immer näher… wird von der Schwerkraft eingefangen und beschleunigt… beschleunigt weiter…«
Rachel schaute gebannt zu, wie Corky die Geschwindigkeit der Probe auf ihrer Bahn erhöhte, um die Beschleunigung durch die Erdanziehung darzustellen.
»Inzwischen bewegt er sich sehr schnell, mit über sechzehn Kilometern pro Sekunde – knapp zehntausend Kilometer pro Stunde. Hundertfünfunddreißig Kilometer über der Erde beginnt der Komet die Reibung der Erdatmosphäre zu spüren.« Mit heftigem Schütteln führte Corky die Probe etwas näher an den eisigen Grund. »Wenn er auf einhundert Kilometer Höhe gefallen ist, beginnt er zu glühen. Die Atmosphäre wird immer dichter, die Reibung erreicht unglaubliche Werte! An der Oberfläche des Meteoriten schmelzen Materiepartikel, und die Luft beginnt zu leuchten… zu brennen.« Corky ließ brutzelnde und zischende Klangeffekte ertönen. »Jetzt ist er an der Achtzig-Kilometer-Marke vorbeigestürzt. Das Äußere hat sich auf über achtzehnhundert Grad Celsius aufgeheizt.«
Staunend beobachtete Rachel den Astrophysiker.
»Sechzig Kilometer!« Corkys Stimme überschlug sich.
»Unser Meteorit trifft auf dichtere Luftschichten. Die Luft ist zu dick! Er wird brutal abgebremst – mit einer Verzögerungskraft von mehr als dem Dreihundertfachen der Erdanziehung!«
Corky verzögerte dramatisch das Niedergehen der Probe in seiner Hand. »Der Meteorit kühlt ab und hört schlagartig zu glühen auf. Er ist jetzt in der dunklen Flugphase. Seine Oberfläche verlässt den flüssigen Zustand und erhärtet zur verkohlten Schmelzrinde.«
Corky kniete sich aufs Eis, um den Einschlag auf der Erde darzubieten, den Gnadenstoß. Rachel hörte Tolland aufstöhnen.
»Und jetzt rast unser großer Meteorit durch die untere Atmosphäre…« Auf den Knien führte Corky den Meteoriten auf einer schwach gekrümmten Bahn weiter nach unten. »Er fliegt auf das Eismeer zu… auf einer flachen Bahn… verliert an Höhe… fast sieht es so aus, als würde er vom Eismeer wieder abprallen… er stürzt weiter… und…«
Corky setzte die Probe aufs Eis.
»Rumms!«
Rachel sprang auf.
»Der Einschlag ist verheerend. Der Meteorit explodiert!
Bruchstücke fliegen davon, schleudern und hüpfen übers Meer.«
Corky ließ die Probe in Zeitlupe über einen imaginären Ozean Rachels Füßen entgegenpoltern. »Ein Bruchstück trudelt Ellesmere Island entgegen…« Er schob die Probe vor Rachels Zehen.
»Es springt aus dem Meer und pflügt aufs Land.« Corky schob die Probe über die Kappe von Rachels Schuh die Schnürung hinauf und ließ sie am Rist zur Ruhe kommen. »Zu guter Letzt bleibt der Meteorit hoch oben auf dem Milnegletscher liegen, wo er rasch von Schnee und Eis bedeckt und vor der Erosion durch Witterungseinflüsse geschützt wird.« Corky erhob sich und lächelte.
Rachel war der Mund offen stehen geblieben. »Ich muss schon sagen, Dr. Marlinson, diese Erklärung war ganz außerordentlich…«
»Erhellend?«, erkundigte sich Corky.
Rachel lächelte. »Genau das richtige Wort.«
Corky gab Rachel den Meteoriten zurück. »Sehen Sie sich einmal den Querschnitt an.«
Rachel betrachtete das Schnittbild, konnte aber nichts Auffälliges erkennen.
»Sie müssen den Schliff schräg ins Licht halten«, sagte Tolland.
Seine Stimme war warm und einfühlsam. »Schauen
Sie ganz genau hin.«
Rachel hielt sich den Brocken ganz nah vor die Augen und neigte ihn gegen das aus der Kuppel reflektierte helle Halogenlicht. Jetzt sah sie es – kleine metallische Kügelchen glitzerten auf der angeschliffenen Steinoberfläche. Wie winzige Quecksilbertröpfchen von ungefähr einem Millimeter Durchmesser waren sie zu Dutzenden über den Querschnitt verteilt.
»Diese kleinen Einschlüsse nennt man ›Chondren‹«, sagte Corky. »Sie kommen ausschließlich in Meteoriten vor.«
Rachel beäugte die Körnchen. »So etwas habe ich noch nie in einem irdischen Stein gesehen.«
»Das werden Sie auch nicht«, erklärte Corky. »Chondren sind eine geologische Erscheinung, die auf der Erde nicht vorkommt.
Manche Chondren sind ungeheuer alt und bestehen möglicherweise aus der allerersten Materie, die sich in unserem Universum gebildet hat. Andere – wie die, die Sie in der Hand halten – sind wesentlich jünger. Die Chondren in diesem Meteoriten sind höchstens hundertneunzig Millionen Jahre alt.«
»Hundertneunzig Millionen Jahre ist jung?«
»O ja. Nach kosmologischem Maßstab ist das erst gestern gewesen. Worauf es hier aber ankommt, ist die Tatsache, dass diese Probe Chondren enthält – der schlüssige Beweis, dass es sich um meteoritisches Material handelt.«
»Verstehe«, sagte Rachel. »Chondren sind also das Gütezeichen.«
»Und falls Ihnen«, sagte Corky und stieß einen gewaltigen Seufzer aus, »Schmelzrinde und Chondren noch nicht als Beweis genügen, haben wir Astronomen noch eine dritte Methode, den meteoritischen Ursprung von Gestein zweifelsfrei nachzuweisen.«
»Nämlich?«
Corky zuckte lässig mit den Schultern. »Wir benutzen ein petrographisches Polarisationsmikroskop, ein Röntgenfluoreszenzspektrometer, einen Neutronenaktivierungsanalysator oder ein induktionsgekoppeltes Plasmaspektrometer und messen das ferromagnetische Verhältnis.«
Tolland stöhnte auf. »Alles nur Angeberei! Corky möchte bloß die schlichte Mitteilung machen, dass man Meteoriten auch durch eine Messung der chemischen Bestandteile nachweisen kann.«
»Nur mal sachte, mein Seepferdchen!«, protestierte Corky. »Wir wollen doch die Wissenschaft den Wissenschaftlern überlassen!«
Er wandte sich wieder Rachel zu. »In irdischem Gestein findet sich mineralischer Nickel immer nur in entweder sehr hohen oder in sehr niedrigen Prozentsätzen. Bei Meteoriten jedoch liegt der Nickelanteil stets im mittleren Bereich. Wenn wir also eine Probe untersuchen und feststellen, der Nickelanteil liegt innerhalb einer mittleren Bandbreite, haben wir damit einen über jeden Zweifel erhabenen Beweis, dass es sich um einen Meteoriten handelt.«
Rachel verzweifelte allmählich. »Wunderbar, meine Herren, da haben wir also mit Schmelzrinde, Chondren und mittlerem Nickelgehalt den unwiderleglichen Nachweis, dass unsere Probe aus dem All stammt.«
Sie legte das Stück auf Corkys Arbeitsplatte. »Aber wo komme ich ins Bild?«
Corky ließ wieder einen gewaltigen Seufzer hören. »Möchten Sie eine Probe von dem Meteoriten sehen, den die NASA im Eis unter unseren Füßen gefunden hat?«
Wenn es sein muss – bitte.
Corky griff in seine Brusttasche und zog eine kleine, gut einen Zentimeter dicke Steinscheibe von der Größe einer CD hervor.
Das Material schien von ähnlicher Zusammensetzung zu sein wie der Steinmeteorit, den Rachel in der Hand gehalten hatte. »Diese Scheibe stammt aus einer Kernbohrung, die wir gestern vorgenommen haben«, erläuterte Corky und reichte Rachel die Probe.
Das Stück sah gewiss nicht weltbewegend aus. Ähnlich wie bei der Probe zuvor handelte es sich um leicht ins Orange spielendes weißes, schweres Gestein. Ein Teil des Randbereichs war schwarz verkohlt, offenbar ein Segment der Außenhaut des Meteoriten. »Hier kann man ein Stück der Schmelzrinde erkennen«, sagte Rachel.
Corky nickte. »Richtig, diese Probe wurde im Randbereich des Meteoriten erbohrt, deshalb enthält sie ein bisschen Rinde.«
Rachel hielt die Scheibe schräg gegen das Licht. »Ich kann auch die Chondren sehen.«
»Sehr gut«, sagte Corky. Die Erregung färbte seine Stimme.
»Und auch ohne das gute Stück in mein petrographisches Polarisationsmikroskop gesteckt zu haben, kann ich Ihnen jetzt schon sagen, dass der Nickelgehalt im mittleren Bereich liegt. Wir haben es demnach nicht mit irdischem Gestein zu tun. Herzlichen Glückwunsch! Sie konnten uns also bestätigen, dass der Stein in Ihrer Hand aus dem Weltraum stammt.«
Rachel blickte verwirrt hoch. »Nun, Dr. Marlinson, es ist ein Meteorit und stammt aus dem Weltall. Ist mir darüber hinaus vielleicht etwas entgangen?«
Corky und Tolland tauschten einen wissenden
Blick. Tolland legte Rachel vertraulich die Hand auf die Schulter.
»Drehen Sie das Ding mal um.«
Rachel drehte die Scheibe um und betrachtete die andere Seite.
Ihr Hirn brauchte einen winzigen Augenblick, um zu verarbeiten, was sie sah.
Die Erkenntnis traf sie wie ein Donnerschlag.
Unmöglich! Sie schnappte nach Luft. Während sie auf das Stück Stein starrte, merkte sie, dass ihre Definition für »unmöglich« sich radikal geändert hatte. In den Stein war eine Form eingebettet, die in einer irdischen Probe nicht unbedingt etwas Außergewöhnliches sein musste, in einem Meteoriten jedoch war sie schlichtweg unvorstellbar.
»Das… das ist ja…«, sagte Rachel stockend. Das Wort wollte ihr kaum über die Lippen kommen. »Das ist ja ein Käfer! Dieser Meteorit enthält ein fossiles Insekt!«
Tolland und Corky strahlten. »Willkommen an Bord!«, sagte Corky.
Von einem Sturm der Emotionen geschüttelt, war Rachel einen Moment nicht in der Lage, auch nur ein Wort zu sagen, aber selbst in diesem Zustand war unübersehbar, dass das Fossil vormals ein lebender biologischer Organismus gewesen war. Der versteinerte Abdruck war ungefähr viereinhalb Zentimeter lang und sah aus wie die Bauchseite eines großen Käfers oder kriechenden Insekts. Sieben Beinpaare waren unter einen äußeren schützenden Panzer eingeklappt, der wie bei einem Gürteltier in eine Reihe beweglicher Segmente aufgegliedert zu sein schien.
Rachel war schwindelig geworden. »Ein Insekt aus dem All…«
»Es handelt sich um eine Assel«, verbesserte Corky. »Insekten haben drei Beinpaare und nicht sieben.« Rachel hörte ihn gar nicht. Sie war in die Betrachtung des Fossils vertieft. Die Gedanken wirbelten durch ihren Kopf.
»Man kann deutlich die Segmentierung des Rückenpanzers erkennen, wie bei unseren irdischen Asseln«, sagte Corky, »aber die beiden vorstehenden schwanzartigen Anhängsel legen eine nähere Verwandtschaft zu den Läusen nahe.«
Corkys Worte drangen schon gar nicht mehr bis zu Rachel vor.
Welcher Art das versteinerte Wesen angehörte, war völlig gleichgültig. Die einzelnen Stücke des Puzzles fügten sich schlagartig zu einem Bild – die Geheimnistuerei des Präsidenten, die Entdeckerfreude der NASA…
In diesem Meteoriten steckt ein Fossil! Nicht nur ein kleiner Klecks Bakterien oder Mikroben, sondern eine höher entwickelte Lebensform! Der definitive Beweis, dass es im Universum auch anderswo Leben gibt!
23
Als das Streitgespräch zehn Minuten währte, fragte sich Senator Sexton, weshalb er sich überhaupt wegen Marjorie Tench Sorgen gemacht hatte. Sie wurde als Gegnerin gewaltig überschätzt. Obwohl der Chefberaterin der Ruf gnadenlosen Scharfsinns vorauseilte, hatte sie sich eher als Opferlamm denn als ernst zu nehmende Gegnerin erwiesen.
Zugegeben, anfangs hatte sie kurzzeitig die Oberhand gewonnen, indem sie auf dem Vorleben des Senators herumgeritten war und ihn als frauenfeindlich dargestellt hatte, doch just in dem Moment, als sie unverkennbar Oberwasser bekam, beging sie einen völlig unnötigen Fehler. Als sie vom Senator wissen wollte, wie er Verbesserungen des Erziehungssystems zu finanzieren gedächte, ohne gleichzeitig die Steuern zu erhöhen, machte Marjorie eine hämische Anspielung auf Sextons dauernde Seitenhiebe auf die NASA. Sexton hatte vorgehabt, das Thema NASA erst gegen Ende der Sendung aufs Tapet zu bringen, doch Marjorie Tench hatte ihm den Gefallen jetzt schon getan. Dumme Kuh!
»Da wir gerade von der NASA sprechen«, schaltete Sexton sich wie nebenbei ein, »würde ich von Ihnen gern etwas zu den Gerüchten hören, dass bei der NASA unlängst wieder etwas schief gegangen sein soll.«
Marjorie Tench erwiderte ohne mit der Wimper zu zucken:
»Ich fürchte, dieses Gerücht ist noch nicht zu mir durchgedrungen.« Ihre Zigarettenstimme raspelte wie Sandpapier.
»Also kein Kommentar?«
»Kein Kommentar.«
Sexton frohlockte. Im Klartext hieß »kein Kommentar« in der Welt der Mediensprache »schuldig im Sinne der Anklage«.
»Ich verstehe«, sagte Sexton. »Und was ist an den Gerüchten, dass zwischen dem Präsidenten und dem Direktor der NASA ein geheimes Dringlichkeitsgespräch stattgefunden hat?«
Marjorie Tench blickte erstaunt in die Kamera. »Ich weiß nicht, auf welches Gespräch des Präsidenten Sie sich beziehen. Der Präsident führt viele Gespräche.«
»Selbstverständlich.« Sexton entschloss sich zum direkten Angriff. »Mrs Tench, Sie sind doch eine große Fürsprecherin der Weltraumbehörde, oder irre ich mich?«
Marjorie seufzte. Sextons Lieblingsthema schien sie zu langweilen. »Ich bin überzeugt, dass Amerika unbedingt seinen technologischen Vorsprung wahren muss, sei es auf dem Gebiet des Militärs, der Nachrichtendienste oder der Telekommunikation.
Die NASA gehört selbstverständlich mit in dieses Bild.«
Bei einem Blick in den Regieraum sah Sexton in Gabrielles Augen das Signal, das Thema fallen zu lassen. Aber er hatte Blut geleckt. »Aus reiner Neugierde würde mich interessieren, Ma’am, ob wir hinter der unablässigen Unterstützung, die der Präsident dieser doch offenbar kränkelnden Behörde angedeihen lässt, Ihren Einfluss vermuten dürfen?«
Marjorie Tench schüttelte den Kopf. »Nein. Der Präsident ist aus eigenem Antrieb ein Verfechter der NASA. Er trifft seine Entscheidungen nach eigenem Ermessen.«
Sexton wollte seinen Ohren nicht trauen. Da hatte er Marjorie Tench doch soeben eine Vorlage zugespielt, den Präsidenten wenigstens zum Teil herauszuhauen, indem sie für die NASA-Finanzierung selbst den Buckel hinhielt. Stattdessen hatte sie den Ball gleich wieder in die Hälfte des Präsidenten gehauen. Der Präsident trifft seine Entscheidungen nach eigenem Ermessen. Das hörte sich an, als würde sich Marjorie Tench bereits von einer in Schieflage geratenen Wahlkampagne distanzieren. Eigentlich keine große Überraschung. Wenn der Staub sich gelegt hatte, würde Marjorie sich einen neuen Arbeitgeber suchen müssen.
In den nächsten paar Minuten ging der Schlagabtausch unentschieden weiter. Marjorie Tench machte ein paar lauwarme Versuche, das Thema zu wechseln, während Sexton ihr weiterhin mit dem NASA-Budget zu Leibe rückte.
»Senator«, setzte sie sich zur Wehr, »Sie wollen das Budget der NASA radikal kürzen, aber machen Sie sich überhaupt eine Vorstellung, wie viele Jobs im Bereich der Hochtechnologie in diesem Fall verloren gingen?«
Es hätte nicht viel gefehlt, und Sexton hätte ihr ins Gesicht gelacht. Diese Ziege soll der klügste Kopf von Washington sein? Marjorie hatte offensichtlich Nachhilfe über die demographische Struktur des Landes nötig. Die paar Hightech-Jobs fielen überhaupt nicht ins Gewicht im Vergleich zu der riesigen Zahl der schwer arbeitenden Arbeiterschaft Amerikas.
Sexton schlug zu. »Hier geht es um Einsparungen in Millionenhöhe, Marjorie, und wenn das zur Folge haben sollte, dass ein paar NASA-Wissenschaftler sich in ihre BMWs setzen müssen, um ihre gut zu vermarktenden Fähigkeiten anderswo an den Mann zu bringen – meinetwegen. Das kann mich nicht von meinem Kurs der Ausgabenkürzungen abbringen.«
Marjorie Tench verstummte, als müsste sie den letzten Schlag erst verdauen.
Der CNN-Moderator schaltete sich ein. »Miss Tench, wollen Sie dazu etwas sagen?«
Sie räusperte sich. »Ich bin einfach sehr überrascht«, sagte sie schließlich, »dass Mr Sexton so großen Wert darauf zu legen scheint, sich als strikter Gegner der NASA zu profilieren.«
Sextons Augen wurden schmal. Ein wackerer Versuch, meine Dame. »Ich bin kein Gegner der NASA. Gegen diesen Vorwurf möchte ich mich verwahren. Ich sage nur, dass das Budget der NASA ein gutes Beispiel für das Ausufern der Staatsausgaben ist, das Ihr Präsident auf seine Fahne geschrieben zu haben scheint.
Die NASA hat behauptet, sie könnte für fünf Milliarden Dollar das Spaceshuttle bauen. Gekostet hat es zwölf Milliarden. Die NASA hat erklärt, sie könnte die Weltraumstation für acht Milliarden Dollar bauen, inzwischen rechnet man schon mit mehr als einhundert Milliarden.«
»Amerika ist die führende Nation der Welt geworden«, hielt Marjorie Tench dagegen, »weil wir uns hohe Ziele gesetzt haben und uns auch in schwierigen Zeiten nicht davon haben abbringen lassen.«
»Mit diesem phrasenhaften Gerede von Nationalstolz können Sie bei mir keinen Eindruck schinden, Marjorie. Die NASA hat in den letzten zwei Jahren ihren Haushalt dreimal hoffnungslos überzogen. Jedes Mal kam sie mit eingezogenem Schwanz zum Präsidenten gekrochen und hat um noch mehr Geld gebettelt, um ihre Fehler auszubügeln. Nennen Sie das Nationalstolz?
Wenn Sie dieses Wort schon in den Mund nehmen, sollten Sie von guten und leistungsfähigen Schulen reden, von einem allgemeinen und erschwinglichen Gesundheitssystem, von Kindern, die etwas gelernt haben und in einem Land aufwachsen, in dem sie etwas werden können. Das ist Nationalstolz!«
Marjorie Tench schaute ihn ungerührt an. »Senator, ich möchte Sie ganz direkt etwas fragen.«
Sexton gab keine Antwort, wartete ab.
»Wenn ich Ihnen sage, dass wir die Raumforschung leider nicht für weniger Geld bekommen können, als die NASA derzeit ausgibt, würden Sie sich dann dafür einsetzen, dass die NASA überhaupt abgeschafft wird?« Der Satz kam überlegt und mit Entschiedenheit.
Die Frage knallte wie ein Steinbrocken vor Sexton auf den Tisch. Vielleicht war Marjorie Tench doch nicht so dumm. Sie hatte ihn mit einer Fangfrage vor eine hypothetische Alternative gestellt, die keine war, um den taktierenden Gegner zu zwingen, mit einem klaren Ja oder Nein ein für alle Mal Farbe zu bekennen.
Instinktiv versuchte Sexton auszuweichen. »Für mich steht fest, dass die NASA bei einem verantwortungsbewussten Management für erheblich weniger Geld Weltraumforschung betreiben könnte, als wir derzeit…«
»Senator Sexton, beantworten Sie bitte meine Frage. Die Erforschung des Alls ist ein gefährliches und kostspieliges Geschäft.
Es ist ungefähr so, wie ein Passagierflugzeug zu bauen. Das muss man entweder richtig machen – oder man soll die Finger davon lassen. Das Risiko ist zu groß. Ich bleibe bei meiner Frage: Wenn Sie Präsident werden sollten, und Sie stünden vor der Entscheidung, die Finanzierung der NASA auf dem bisherigen Niveau weiterzuführen, oder das Weltraumprogramm Amerikas ersatzlos zu streichen, was würden Sie tun?«
Mist. Sexton schielte durch die Studioscheibe zu Gabrielle hinein. Ihr Gesichtsausdruck spiegelte wider, was Sexton ohnehin wusste. Du hast eine Botschaft zu verkünden. Nimm den Stier bei den Hörnern. Keine Ausflüchte. Sexton setzte eine entschlossene Miene auf. »Wenn ich mich zu entscheiden hätte, würde ich die derzeitigen Haushaltsmittel der NASA unserem Schulsystem zugute kommen lassen. Unsere Kinder liegen mir mehr am Herzen als der Weltraum.«
Auf Marjorie Tenchs Gesicht zeichnete sich unverhohlenes Entsetzen ab. »Ich bin fassungslos. Habe ich richtig gehört? Als Präsident würden Sie das Weltraumprogramm unserer Nation abschaffen?«
Sexton wurde allmählich ungehalten. Er spürte, wie er von seiner Gegnerin Worte in den Mund gelegt bekam. Er wollte dagegenhalten, doch Marjorie hatte schon wieder das Wort ergriffen.
»Sie sagen also, Senator, nur um das einmal festzuhalten, Sie wollen die Weltraumagentur abschaffen, der wir unsere Mondlandung verdanken?«
»Ich sage nur, dass der Wettlauf ins All vorüber ist. Die Zeiten haben sich geändert. Im Alltagsleben des Mannes auf der Straße spielt die NASA keine Rolle mehr. Gleichwohl schieben wir der NASA immer noch Milliarden zu, als wäre sie Thema Nummer eins.«
»Dann glauben Sie also nicht, dass unsere Zukunft im All liegt?«
»Selbstverständlich liegt unsere Zukunft im All, aber die NASA ist ein überlebter Dinosaurier! Warum lassen wir den Weltraum nicht von der Privatwirtschaft erforschen? Kann es denn richtig sein, dass jedes Mal, wenn ein ehrgeiziger NASA-Ingenieur für Milliarden Dollar einen Schnappschuss von Jupiter machen will, der amerikanische Steuerzahler noch tiefer in die Tasche greifen muss? Die Amerikaner sind den Ausverkauf der Zukunft ihrer Kinder leid, nur damit eine schrottreife Behörde weiterhin Geld zum Fenster hinauswerfen darf, wobei sie für ihre gigantischen Ausgaben viel zu wenig auf die Beine bekommt!«
Marjorie Tench seufzte dramatisch. »Die NASA bekommt also kaum etwas auf die Beine? Wenn man einmal vom SETI-Programm absieht, hat die NASA enorme Erfolge verbuchen können.«
Sexton zuckte bei der Erwähnung des Wortes SETI durch seine Opponentin zusammen. Wie konnte sie nur so ungeschickt sein? Danke für die Erinnerung! Die Suche nach extraterrestrischer Intelligenz war das schlimmste Fass ohne Boden in der ganzen Geschichte der NASA gewesen. Die NASA hatte zwar versucht, das Image des Programms durch Umbenennung in »Origins« und gewisse Veränderungen der Zielsetzung ein bisschen aufzupolieren, aber die Lage war so trostlos wie eh und je.
Sexton nahm die Steilvorlage an. »Marjorie, nur weil Sie selbst davon angefangen haben, will ich kurz darauf eingehen.«
Die Präsidentenberaterin schien seltsamerweise begierig zu sein, seine Einlassung zu hören.
Sexton räusperte sich. »Die meisten Leute wissen gar nicht, dass sich die NASA seit nunmehr fünfunddreißig Jahren auf der Suche nach außerirdischem Leben befindet. Ein teueres Unternehmen, diese Schatzsuche – riesige, mit Antennenschüsseln voll gestellte Areale, Millionen an Gehältern für Wissenschaftler, die im Dunkeln sitzen und sich leere Tonbänder anhören! Das ist eine beschämende Vergeudung von Ressourcen!«
»Sie behaupten also, über unseren Köpfen gibt es nichts?«
»Ich sage nur, wenn irgendeine andere staatliche Behörde über einen Zeitraum von fünfunddreißig Jahren fünfundvierzig Millionen Dollar verpulvert hätte, ohne auch nur das bescheidenste Resultat zu präsentieren, hätte man ihr schon längst den Laden dichtgemacht.« Sexton machte eine Pause, um seine Worte einwirken zu lassen. »Nach fünfunddreißig Jahren vergeblicher Suche liegt es für mich auf der Hand, dass wir niemals außerirdisches Leben finden werden.«
»Und wenn doch?«
Sexton verdrehte die Augen. »Du lieber Himmel! Verehrte Mrs Tench, wenn ich mich irren sollte, fresse ich einen Besen!«
Der bohrende Blick der Präsidentenberaterin war auf den Senator gerichtet. »Ich werde Ihre Worte nicht vergessen, Senator.«
Marjorie lächelte zum ersten Mal in der ganzen Sendung. »Ich glaube, das werden wir alle nicht.«
Präsident Zach Herney stellte zehn Kilometer entfernt im Oval Office den Fernseher ab und schenkte sich einen Drink ein. Senator Sexton hatte den Köder geschluckt, wie von Marjorie versprochen – mit Haut und Haaren.
24
Michael Tolland strahlte, als Rachel sprachlos die Meteoritenscheibe mit dem Fossil in ihrer Hand betrachtete. Ein Ausdruck unschuldigen Erstaunens legte sich auf ihr schönes und zartes Gesicht – wie bei einem kleinen Mädchen, das zum ersten Mal das Christkind sieht.
Ich weiß, wie dir zumute ist, dachte er.
Tolland hatte das gleiche Erlebnis vor achtundvierzig Stunden gehabt. Auch er hatte keine Worte finden können.
Selbst jetzt noch machten ihn die wissenschaftlichen und philosophischen Implikationen des Meteoritenfunds sprachlos, durch den er sich gezwungen sah, seine Einstellung zur Natur von Grund auf neu zu überdenken. Als Ozeanograph hatte Tolland einige bislang unbekannte Arten von Tiefseelebewesen entdeckt, doch die Entdeckung dieses »Weltraumkäfers« bedeutete einen Durchbruch ganz eigener Art. Im Gegensatz zu Hollywood, das Außerirdische vielfach als kleine grüne Männchen darstellte, waren sich sämtliche Astrobiologen und bedeutenden Wissenschaftler einig, dass extraterrestrisches Leben, sofern man es überhaupt jemals entdeckte, allein schon wegen der schieren Anzahl und Anpassungsfähigkeit der irdischen Insektenarten höchstwahrscheinlich etwas Insektenartiges haben würde.
Insekten gehören zur Ordnung der Arthropoden – Lebewesen mit einem harten Außenskelett und Gliederfüßen. Bei über eineinviertel Millionen bekannten und schätzungsweise fünfhunderttausend noch zu klassifizierenden Arten sind die »Käfer« auf der Erde zahlreicher als sämtliche anderen Tierarten zusammen.
Sie machen fünfundneunzig Prozent der Arten unseres Planeten aus – und erstaunliche vierzig Prozent seiner Biomasse.
Dennoch ist das Beeindruckendste weniger das Zahlenpotenzial der Insekten, als ihre Widerstandskraft. Vom antarktischen Eiskäfer bis zum Sonnenskorpion im Tal des Todes gedeihen Insekten unter für alle anderen Arten tödlichen Temperatur-, Trockenheits- und Druckverhältnissen. Zudem werden sie mit der tödlichsten Kraft sämtlicher im Universum bekannten Kräfte fertig – mit der radioaktiven Strahlung. Nach einem Atombombentest im Jahr 1945 hatten Offiziere der Air Force einige Zeit später in Strahlenschutzanzügen das Explosionszentrum untersucht und fassungslos festgestellt, dass sich dort Schaben und Ameisen tummelten, als wäre nichts geschehen. Astronomen sind der Ansicht, dass die Arthropoden aufgrund ihres schützenden Außenskeletts die wahrscheinlichsten Kandidaten für die Besiedelung der vielen strahlungsgesättigten Planeten im All sind, auf denen ansonsten nichts gedeihen kann.
Die Astrobiologen haben offenbar Recht behalten, dachte Tolland. E. T. ist ein Käfer.
Rachel drehte das Fossil noch immer in den Händen. Sie hatte weiche Knie bekommen. »Ich kann es einfach nicht glauben«, sagte sie. »Ich hätte niemals gedacht…«
Tolland lächelte. »Lassen Sie sich ruhig Zeit, sich an den Gedanken zu gewöhnen«, sagte er. »Ich habe vierundzwanzig Stunden gebraucht, bis ich wieder wusste, wo mir der Kopf steht.«
Ein ungewöhnlich großer Asiate gesellte sich zu der Gruppe.
»Wie ich sehe, haben wir einen Neuzugang«, sagte er. Bei der Ankunft des Mannes schien Corky und Tolland augenblicklich die gute Laune zu vergehen. Der magische Augenblick war vorüber. »Dr. Wailee Ming«, stellte der Mann sich vor. »Leiter des Instituts für Paläontologie an der Universität von Kalifornien in Los Angeles.«
Der Mann besaß die blasierte Steifheit eines barocken Aristokraten und zupfte unentwegt an der deplatzierten Fliege, die er unter seinem knielangen Kamelhaarmantel trug. Wailee Ming gehörte offenbar nicht zu den Leuten, die sich von der Abgelegenheit eines Ortes in der Eleganz ihres Auftretens beirren ließen.
»Ich bin Rachel Sexton.« Rachel bebte immer noch, als sie Mings manikürte Hand schüttelte. Er war zweifellos ebenfalls einer der vom Präsidenten einberufenen unabhängigen Gutachter.
»Miss Sexton, es wird mir ein Vergnügen sein, Ihnen alle Fragen zu beantworten, die Sie zu diesen Fossilien haben«, sagte Ming und zupfte an seiner Fliege. »Mein paläontologisches Spezialgebiet sind die Arthropoden und die Mygalomorphen. Augenscheinlich liegt das hervorstechendste Merkmal dieses Organismus darin, dass er…«
»… von einem anderen Planeten stammt«, ergänzte Corky.
Stirnrunzelnd räusperte sich Ming. »Das hervorstechendste Merkmal dieses Organismus liegt darin, dass er sich perfekt in unser irdisches Darwinsches Ordnungs- und Klassifikationssystem einfügt.«
Rachel blickte auf. Die können dieses Ding klassifizieren? »Sie meinen nach Stamm, Gattung, Art und so weiter?«
»Genau«, bestätigte Ming. »Hätte man diese Spezies auf unserer Erde gefunden, würde man sie den Isopoden zuordnen, und sie würde sich zusammen mit etwa zweitausend Arten von Asseln in einer Gattung befinden.«
»Asseln?«, staunte Rachel. »So groß?«
»Für die Systematik ist nicht die Größe ausschlaggebend.
Hauskatzen und Tiger sind ja auch verwandt. Die Systematik bezieht sich auf Merkmale des Körperbaus. Diese Spezies ist eindeutig eine Assel. Sie hat den abgeplatteten Körper, sieben Beinpaare sowie die Bruttasche, die wir auch im Körperbau von Holzasseln, Kugelasseln, Strandflöhen und Kellerasseln finden.
Die anderen Fossilien zeigen spezialisiertere…«
»Die anderen Fossilien?«
Ming schaute Corky und Tolland an. »Sie weiß es noch nicht?«
Seine Züge hellten sich auf. »Miss Sexton, dann haben Sie den guten Teil der Nachricht ja noch gar nicht gehört!«
»Es gibt noch mehr Fossilien«, platzte Corky heraus, eindeutig in der Absicht, Ming die Tour zu vermasseln. »Viel mehr!« Corky kramte hastig einen großen braunen Umschlag hervor, aus dem er einen vielfach gefalteten großformatigen Papierbogen zog, den er vor Rachel auf seinem Tisch ausbreitete. »Nachdem wir einige Kernbohrungen vorgenommen hatten, haben wir eine Röntgenkamera hinuntergelassen. Das hier ist die Wiedergabe eines Querschnitts durch den Meteoriten.«
Beim Blick auf den Ausdruck der Röntgenaufnahme musste Rachel sich setzen. In dem dreidimensional wiedergegebenen Querschnitt drängten sich Dutzende dieser »Asseln«.
»Bei paläolithischen Befunden beobachten wir oft starke Konzentrationen. Vielfach sind Organismen en masse in Schlammlawinen geraten, die Nester und manchmal ganze Populationen unter sich begraben haben.«
Corky grinste. »Wir glauben, dass dieser Meteorit ein ganzes Nest repräsentiert.« Er deutete auf eines der Geschöpfe auf dem Röntgenbild. »Das da ist Mami!«
Rachel betrachtete das fragliche Geschöpf und riss die Augen auf. Die Assel musste an die sechzig Zentimeter lang sein.
»Ganz schön groß für eine Assel«, sagte Corky.
Rachel nickte fassungslos. Vor ihrem inneren Auge sah sie auf einem fernen Planeten Asseln im Brotlaibformat herumkrabbeln.
»Bei uns auf der Erde bleiben die Insekten relativ klein, weil die Schwerkraft ihrem Wachstum Grenzen setzt«, erklärte Ming. »Sie können nicht größer werden, als die Tragfähigkeit ihres Außenskeletts erlaubt. Auf Planeten mit einer geringeren Schwerkraft jedoch könnten sich Insekten ganz anderer Größenordnungen entwickeln.«
»Stellen Sie sich vor, Sie müssten Mücken von der Größe eines Kondors mit der Fliegenklatsche erledigen«, witzelte Corky. Er nahm Rachel die Probe aus der Kernbohrung aus der Hand und steckte sie in die Brusttasche.
Ming bedachte ihn mit einem finsteren Blick. »Das sollten Sie nicht einfach so mitgehen lassen!«
»Beruhigen Sie sich«, sagte Corky. »Wo das hier herkam, liegen noch acht Tonnen davon.«
Rachel betrachtete das vor ihr liegende Material eingehend.
»Aber wie kann es sein, dass Leben aus dem Weltall unserem irdischen Leben so ähnlich ist? Sie haben doch gesagt, dass dieses Krabbeltier in unser Darwinsches Klassifikationssystem passt.«
»Exakt«, erwiderte Corky. »Und ob Sie’s glauben oder nicht, viele Astronomen haben sogar vorhergesagt, dass extraterrestrisches Leben dem Leben auf unserer Erde sehr ähnlich sein würde.«
»Aber warum?«, wollte Rachel wissen. »Diese Art kommt doch aus einer völlig anderen Umwelt.«
»Die Panspermien-Hypothese.« Corky grinste breit.
»Wie bitte?«
»Die Panspermien-Hypothese besagt, dass das Leben von anderswo auf die Erde eingeschleppt wurde.«
Rachel stand auf. »Jetzt kann ich nicht mehr folgen.«
Corky wandte sich Hilfe suchend an Tolland. »Mike, für Urmeere und dergleichen bist du zuständig.«
Tolland war froh, endlich auch einmal etwas sagen zu können.
»Die Erde, Rachel, war vor Jahrmilliarden ein lebloser Planet.
Dann explodierte das Leben quasi über Nacht. Viele Biologen glauben, dass dieser explosionsartige Beginn des Lebens das geheimnisvolle Ergebnis einer begünstigenden Mischung von Elementen in den Urmeeren gewesen ist. Aber es ist uns nie gelungen, diesen Vorgang im Laboratorium nachzuvollziehen. Gläubige Wissenschaftler haben dieses Misslingen als Gottesbeweis ausgelegt und argumentiert, es könne kein Leben geben, es sei denn, Gott hätte die Urmeere mit seinem Finger berührt und das Leben in sie gesenkt.«
»Aber wir Astronomen sind auf eine andere Erklärung für dieses über Nacht auf der Erde explodierende Leben gekommen«, erklärte Corky.
»Die Panspermien-Hypothese«, sagte Rachel, die nun verstanden hatte, wovon die Rede war. Sie hatte schon einmal von dieser Theorie gehört, ohne ihren Namen zu kennen. »Die Theorie, in die Ursuppe stürzende Meteoriten hätten die ersten Keime von mikrobenartigem Leben auf die Erde transportiert.«
»Volltreffer«, sagte Corky. »Die Keime wanderten ins Urmeer ein und brachten das Leben hervor.«
»Und wenn das stimmt«, folgerte Rachel, »haben die irdischen und außerirdischen Lebensformen ein und dieselbe Abstammung.«
»Wieder ein Volltreffer.«
Panspermismus, dachte Rachel. Sie war kaum in der Lage, die gesamte Tragweite der Implikationen zu begreifen. »Dann ist dieses Fossil also nicht nur der Beweis dafür, dass es auch anderswo im Universum Leben gibt, es ist zugleich der Beweis für die Panspermien-Theorie… dass der Keim des Lebens auf der Erde von irgendwo anders im Universum zu uns gekommen ist.«
»Dritter Volltreffer!« Corky nickte Rachel begeistert zu. »Letzten Endes könnten wir alle Außerirdische sein.« Corky streckte hinter dem Kopf zwei Finger wie Antennen aus; dann fing er an, wie ein seltsames Insekt zu schielen und gefräßig mit der Zunge zu wackeln.
Tolland schaute Rachel in gespielt fassungslosem Entsetzen an.
»Und so was ist nun die Krone der Schöpfung.«
25
Als Rachel zwischen Michael Tolland, Corky und Dr. Ming durch die Habisphäre ging, kam sie sich vor, als würde sie auf Traumwolken schreiten.
»Geht es Ihnen gut?«, erkundigte sich Tolland, der sie beobachtet hatte.
Rachel schenkte ihm ein zaghaftes Lächeln. »Danke. Es ist nur ein bisschen viel auf einmal.«
Ihre Gedanken eilten zurück zu jener berüchtigten NASA-Entdeckung ALH840001 von 1997 – einem Marsmeteoriten, der nach Angaben der NASA fossile Spuren außerirdischen Lebens enthielt. Dummerweise hatten sich ein paar Wochen nach der triumphalen Pressekonferenz der NASA mehrere unabhängige Wissenschaftler gemeldet und den Nachweis erbracht, dass die »Lebensspuren« im Meteoriten lediglich durch irdische Verunreinigung entstandenes Kerogen waren. Die Pleite hatte der Glaubwürdigkeit der NASA einen gewaltigen Schlag versetzt.
Die »New York Times« hatte bei dieser Gelegenheit in einer ihrer Ausgaben eine neue Lesart der Abkürzung NASA vorgeschlagen – »Nicht Absolut Saubere Arbeit«.
In der gleichen Ausgabe hatte der Paläontologe Stephen Jay Gould die Problematik von ALH840001 dahingehend zusammengefasst, dass der »Beweis« eine auf chemische Sachverhalte gestützte Schlussfolgerung war, und nicht ein »harter« Tatbestand, wie ein unzweideutiger Fund eines Panzers oder Knochens.
Diesmal jedoch konnte die NASA mit unwiderlegbarem Beweismaterial aufwarten. Diesmal konnte unmöglich ein skeptischer Wissenschaftler daherkommen und diese Fossilien in Frage stellen. Diesmal musste die NASA nicht mit ins Aschgraue vergrößerten Fotos von angeblichen mikroskopisch kleinen Bakterien hausieren gehen, sondern konnte authentische Meteoritenproben mit darin eingebetteten, deutlich sichtbaren Organismen vorweisen. Einen halben Meter große Asseln!
Rachel musste unwillkürlich lächeln, als ihr einfiel, dass sie sich als Kind für einen Song von David Bowie begeistert hatte, in dem von »Spiders from Mars« die Rede war – Spinnentiere vom Mars. Wer hätte damals gedacht, dass der britische Popstar gar nicht so weit davon entfernt gewesen war, eine der großartigsten Entdeckungen der Astrobiologie vorherzusagen!
Der Refrain des Songs klang in Rachel nach, als Corky sie ansprach. »Hat Mike sich vor Ihnen schon mit seiner Dokumentation aufgespielt?«
»Nein«, sagte Rachel, »aber ich würde gerne mehr darüber hören.«
Corky gab Tolland einen Klaps auf den Rücken. »Leg los, mein Junge. Sag ihr, warum der Präsident will, dass der wichtigste Moment in der Geschichte der Wissenschaft von einem schnorchelnden Fernsehstar eingeläutet wird.«
»Aber nur, wenn es dir wirklich nichts ausmacht, Corky«, entgegnete Mike.
»Gut, dann erkläre ich es eben«, sagte Corky und quetschte sich zwischen Rachel und Tolland. »Miss Sexton, wie Sie vielleicht schon wissen, wird der Präsident heute Abend auf einer Pressekonferenz die Weltöffentlichkeit von dem Meteoriten unterrichten. Da ein großer Teil der Menschheit bekanntlich aus Dummköpfen besteht, hat der Präsident Mike ins Boot geholt und ihm aufgetragen, alles auf das trostlose Niveau dieser Leute herunterzublödeln.«
»Danke, Corky«, sagte Tolland, »das hast du sehr schön erklärt«. Er schaute Rachel an. »Corky möchte eigentlich sagen, weil den Leuten so viele wissenschaftliche Daten vermittelt werden müssen, hatte der Präsident die Idee, dass vielleicht ein kurzes Fernsehfeature über den Meteoriten dazu beitragen könnte, dem Durchschnittsamerikaner die Informationen leichter verständlich zu machen, da die Leute – man glaubt es kaum –, nur in den seltensten Fällen ein Diplom in Astrophysik haben.«
»Wussten Sie schon, Rachel, dass unser Präsident ein heimlicher Fan von ›Wunderbare Welt der Meere‹ ist?«, sagte Corky und schüttelte in gespielter Empörung den Kopf. »Zach Herney lässt sich von seiner Sekretärin Mikes Sendungen auf Video aufnehmen, um am Ende eines langen Tages bei diesen Bildern seine Seele baumeln zu lassen.«
Tolland zuckte die Schultern. »Der Mann hat eben Geschmack.«
Rachel begriff erst jetzt, wie raffiniert der Plan des Präsidenten war. Politik war ein Spiel mit den Medien. Rachel konnte sich ausmalen, welche Begeisterung und wissenschaftliche Glaubwürdigkeit das Gesicht Michael Tollands im Fernsehen verbreiten würde. Zach Herney hatte sich der Schützenhilfe des idealen Mannes für seinen NASA-Coup versichert. Skeptiker würden es schwer haben, das Datenmaterial des Präsidenten anzuzweifeln, wenn es vom angesehensten wissenschaftlichen Fernsehmann der Nation präsentiert und obendrein von angesehenen Forschern aus dem Bereich der zivilen Wissenschaft gestützt wurde.
»Mike hat bereits eine Stellungnahme von uns
unabhängigen Wissenschaftlern und von den meisten NASA-Spezialisten
auf Video aufgenommen. Und ich möchte wetten, dass Sie als Nächste
auf seiner Darstellerliste stehen.«
Rachel drehte sich um und schaute Corky an. »Ich? Wovon reden Sie? Ich habe keinerlei Referenzen. Ich bin Geheimdienstreferentin.«
»Warum sind Sie dann vom Präsidenten hierher geschickt worden?«
»Wenn ich das wüsste! Er hat es mir noch nicht gesagt.«
Ein amüsiertes Grinsen huschte über Corkys Gesicht. »Sie sind Geheimdienstreferentin für das Weiße Haus und befassen sich mit der Kondensation und Authentifikation von Daten, richtig?«
»Ja, aber nichts Wissenschaftliches.«
»Und sind Sie nicht die Tochter des Mannes, der seine Wahlkampagne auf die Kritik der angeblichen Geldverschwendung der NASA im Weltraum aufgebaut hat?«
Rachel wusste, was jetzt kam.
Ming meldete sich zu Wort. »Miss Sexton, Sie müssen doch zugeben, dass eine Stellungnahme aus Ihrem Munde dieser Dokumentation eine ganz andere Glaubwürdigkeit verleihen würde.
Wenn der Präsident Sie schon hierher geschickt hat, Hegt es doch auf der Hand, dass er von Ihnen einen entsprechenden Beitrag erwartet.«
Wieder schoss Rachel William Pickerings besorgte Bemerkung durch den Kopf, dass sie vor irgendeinen Karren gespannt werden sollte. Tolland schaute auf die Uhr. »Wir sollten langsam dort hinüber gehen«, sagte er mit einer Kopfbewegung zur Mitte der Habisphäre. »Es dürfte so weit sein.«
»Was denn?«, wollte Rachel wissen.
»Das Hinaufziehen des Meteoriten. Die NASA holt ihn an die Oberfläche. Er dürfte jeden Moment auftauchen.«
Rachel war fassungslos. »Heißt das, dass ihr einen acht Tonnen schweren Stein aus sechzig Meter massivem Eis herausbuddeln wollt?«
»Sie glauben doch nicht im Ernst, dass die NASA eine Entdeckung dieses Kalibers im Eis stecken lässt?«, entgegnete Corky gut gelaunt.
»Das nicht, aber…« Rachel hatte bislang nirgendwo in der Habisphäre schweres Räumgerät entdeckt. »Wie will die NASA den Meteoriten denn nach oben bekommen?«
Corky schwellte die Brust. »Kein Problem. Sie befinden sich schließlich in einem Raum, in dem es von Raketenspezialisten nur so wimmelt.«
»Unsinn«, sagte Dr. Ming streng und schaute Rachel an. »Dr. Marlinson beliebt, sich mit fremden Federn zu schmücken. In Wirklichkeit waren alle hier ziemlich ratlos, wie man den Meteoriten aus dem Eis bekommen sollte. Erst Dr. Mangor hat einen vernünftigen Weg aufgezeigt.«
»Ich habe Dr. Mangor noch gar nicht kennen gelernt.«
»Er ist von der Universität New Hampshire, Fachgebiet Glaziologie«, sagte Tolland.
»Viertes und letztes Mitglied unseres vom Präsidenten engagierten unabhängigen Teams von Wissenschaftlern. Dr. Ming hat ganz richtig gesagt, dass Dr. Mangor eine Lösung gefunden hat.«
»Okay«, sagte Rachel. »Und was hat der Mann vorgeschlagen?«
»Die Frau«, sagte Dr. Ming verschmitzt. »Dr. Mangor ist eine Frau.«
»Darüber könnte man sich streiten«, meckerte Corky. Er schaute Rachel an. »Übrigens, Dr. Mangor wird Sie nicht ausstehen können.«
Tolland warf Corky einen verärgerten Blick zu.
»Nein, wird sie nicht«, verteidigte sich Corky. »Sie wird die Konkurrenz nicht mögen.«
Rachel wusste nicht, wovon die Rede war. »Entschuldigung, aber ich kann nicht ganz folgen.«
»Achten Sie einfach nicht auf ihn«, sagte Tolland. »Leider ist es dem Nationalen Komitee der Wissenschaften entgangen, dass Corky nicht ganz zurechnungsfähig ist. Sie und Dr. Mangor werden großartig miteinander auskommen. Sie ist eine ausgezeichnete Fachfrau und gilt als eine der besten Gletscherforscherinnen der Welt. Sie hat sogar ein paar Jahre in der Antarktis verbracht, um dort die Eisbewegungen zu studieren.«
»Seltsam«, bemerkte Corky. »Nach meinen Informationen wurde sie von ihrer Universität mit einem Stipendium ins Eis geschickt, damit auf dem Campus endlich wieder Ruhe und Ordnung einkehren.«
Ming schien die Bemerkung krumm zu nehmen. »Ist Ihnen bekannt, dass Dr. Mangor dort unten beinahe ums Leben gekommen wäre?«, stieß er zornig hervor. »Sie hat sich in einem Sturm verirrt und fünf Wochen lang von Seehundspeck gelebt, bis man sie endlich gefunden hat.«
»Wie ich die Geschichte kenne, hat kein Mensch nach ihr gesucht«, flüstere Corky Rachel zu.
26
Die Fahrt in der Limousine vom CNN-Studio zurück zu Sextons Büro kam Gabrielle Ashe sehr lang vor. Der Senator saß ihr gegenüber und schaute zum Fenster hinaus, tief in Gedanken.
»Da haben die Marjorie Tench für eine Nachmittagssendung im Kabelnetz aufgeboten!«, sagte er und wandte sich Gabrielle mit einem selbstgefälligen Lächeln zu. »Das Weiße Haus wird offenbar nervös.«
Gabrielle nickte unverbindlich. Der zufriedene Ausdruck, den sie im Gesicht von Marjorie Tench gesehen zu haben glaubte, als diese ins Auto stieg, verursachte ihr Kopfschmerzen.
Sextons Handy meldete sich. Wie die meisten Politiker verteilte er die Telefonnummern, unter denen er zu erreichen war, nach der Wichtigkeit der potenziellen Anrufer. Derjenige, der ihn gerade anrief, musste ganz oben auf der Liste stehen, denn der Anruf kam über den Privatanschluss des Senators, den selbst Gabrielle nur im äußersten Notfall zu benutzen wagte.
»Senator Sedgewick Sexton«, meldete er sich. Es klang wie eine Melodie.
Wegen der Fahrgeräusche konnte Gabrielle den Anrufer nicht hören. Sexton lauschte und sprach begeistert in das kleine Gerät hinein. »Fantastisch! Ich bin froh, dass Sie mich angerufen haben. Um achtzehn Uhr? Passt das? Ausgezeichnet. Ich habe hier in Washington eine kleine Wohnung, ganz privat, sehr gemütlich.
Sie haben doch die Adresse? Okay. Ich freue mich auf unser Treffen. Ich sehe Sie dann heute Abend.«
Sexton drückte auf den Knopf. Er sah sehr selbstzufrieden aus.
»Ein neuer Sexton-Fan?«, erkundigte sich Gabrielle.
»Es werden immer mehr«, sagte der Senator. »Der Mann ist ein Schwergewicht.«
»Anzunehmen. Sie treffen ihn schließlich in Ihrer Wohnung?«
Normalerweise verteidigte Sexton die geheiligte Intimität seiner vier Wände wie ein Löwe.
Sexton zuckte die Achseln. »Ja, ich dachte mir, ich sollte mich persönlich ein bisschen um ihn kümmern. Der Mann könnte uns auf der Zielgeraden Rückenwind geben. Ich muss mich um diese persönlichen Verbindungen kümmern, wissen Sie. Wie immer geht es nur um’s Vertrauen.«
Gabrielle nickte und holte Sextons Terminplaner hervor. »Soll ich den Termin in Ihren Kalender eintragen?«
»Nicht nötig. Ich wollte heute sowieso einen gemütlichen Abend zu Hause verbringen.«
Gabrielle blätterte das Datum auf. Zum fraglichen Termin war in Sextons Handschrift bereits ein großes »P. E.« eingetragen. Es war Sextons persönliches Kürzel für »privates Event« oder »private Einladung« – welche Lesart stimmte, wusste niemand so genau. Der Senator verordnete sich von Zeit zu Zeit selbst einen P.-E.-Abend, an dem er sich in seinem Apartment verkroch, die Telefone abhängte und das tat, was ihm am meisten Spaß machte – mit ein paar alten Kumpels einen heben und so tun, als gäbe es keine Politik. Gabrielle blickte ihn erstaunt an. »Sie lassen sich einen vorgemerkten P.-E.-Termin vom Geschäft wegfressen? Ich bin beeindruckt.«
»Der Mann hat mich eben zufällig an einem Tag angesprochen, an dem ich abends frei bin. Ich werde mich ein bisschen mit ihm unterhalten. Mal sehen, was er zu sagen hat.«
Gabrielle hätte gern gefragt, wer der geheimnisvolle Anrufer eigentlich war, doch Sexton hatte absichtlich vage geantwortet.
Gabrielle wusste inzwischen, wann sie sich mit einer Antwort zu bescheiden hatte.
Der Wagen bog von der Umgehungsstraße ab und fuhr zurück zu Sextons Büro. Gabrielle betrachtete das P. E. mit dem der Termin im Kalender reserviert war. Sie hatte das seltsame Gefühl, dass Sexton mit diesem Anruf gerechnet hatte.
27
Das Zentrum der NASA-Habisphäre wurde von einem fünfeinhalb Meter hohen dreibeinigen Gestell aus Montageteilen beherrscht, das wie eine Mischung aus einem Ölbohrturm und einem misslungenen Modell des Eiffelturms aussah. Rachel konnte sich nicht vorstellen, wie man damit einen gewaltigen Meteoriten aus dem Eis heben wollte. Unter dem Turm standen mehrere mit Stahlplatten verschraubte schwere Winden, die ihrerseits von starken Klammern auf dem Eis festgehalten wurden.
Stahltrossen liefen von den Winden zunächst zur Turmspitze hinauf und von dort über Rollen senkrecht nach unten, wo sie in schmalen Bohrlöchern im Eis verschwanden. Einige kräftig gebaute NASA-Männer hielten im wechselweisen Einsatz an den Winden die Stahltrossen unter Spannung. Bei jedem Anziehen glitten die Trossen ein paar Zentimeter weiter aus den Bohrlö-
chern heraus. Es war, als würde ein großer Anker gelichtet.
Irgendetwas verstehe ich hier nicht, dachte Rachel, während sie mit den anderen näher an den Arbeitsbereich herantrat. Die Männer schienen den Meteoriten direkt durch das Eis hochzuhieven.
»Gleichmäßig anziehen, verdammt!«, rief ganz in der Nähe eine weibliche Stimme mit dem Charme einer Kettensäge.
Rachels suchender Blick fiel auf eine kleine Frau in einem gelben ölverschmierten Schneeanzug, die mit dem Rücken zu ihr stand. Es war unschwer zu erkennen, dass sie die Operation leitete. Sie stampfte auf und ab wie ein unzufriedener Feldwebel und machte sich gelegentlich Notizen auf einem Clipboard.
»Nun kommt mir bloß nicht damit, dass ihr nicht mehr könnt!«
»He, Norah!«, rief Corky, »nun hör schon auf, die armen Jungs von der NASA herumzukommandieren. Flirte lieber ein bisschen mit mir.«
Die Frau drehte sich noch nicht einmal um. »Das kann doch nur wieder dieser Marlinson mit seiner Piepsstimme sein! Junge, komm wieder, wenn du die Pubertät hinter dir hast!«
Corky wandte sich an Rachel. »Norah wärmt uns die Herzen mit ihren Scherzen.«
»Ich hab’s gehört, du Weltraumlümmel!«, kam die Retourkutsche, wobei Dr. Mangor kaum von ihren Notizen aufblickte.
»Und wenn dir mein Hintern zu dick ist, dann denk dran, dass die Schneehosen dreißig Pfund dazulügen.«
»Keine Bange«, rief Corky, »mich schafft weniger dein Hintern als dein gewinnender Charakter.«
»Zieh Leine!«
Corky lachte. »Norah, es gibt was Neues. Sieht so aus, als wärst du nicht die einzige Frau, die der Präsident engagiert hat.«
»Na klar, er hat ja dich als Waschweib engagiert.«
Tolland mischte sich ein. »Norah, hätten Sie vielleicht einen Augenblick Zeit, damit ich Sie mit jemand bekannt machen kann?«
Beim Klang von Tollands Stimme ließ Norah alles liegen und stehen und drehte sich um. Ihr ruppiges Benehmen fiel schlagartig von ihr ab. »Mike!« Strahlend kam sie herangelaufen. »Ich habe Sie seit Stunden nicht mehr gesehen.«
»Ich habe meinen Dokumentarfilm geschnitten.«
»Und wie mache ich mich?«
»Brillant. Sie sehen sehr gut aus.«
»Er hat mit Spezialeffekten gearbeitet«, sagte Corky.
Norah überging die Bemerkung. Sie betrachtete Rachel mit einem höflichen, aber distanzierten Lächeln. »Mike, ich hoffe, Sie werden mir nicht untreu!«, sagte sie und schaute Tolland an.
In Tollands wettergegerbtes Gesicht schlich sich eine leichte Röte, während er die Damen miteinander bekannt machte. »Norah, ich möchte Ihnen Rachel Sexton vorstellen, Miss Sexton arbeitet im Umfeld der Nachrichtendienste und ist auf Bitten des Präsidenten hergekommen. Senator Sedgewick Sexton ist ihr Vater.«
Norah quittierte die Vorstellung mit einem verwirrten Blick.
»Ich werde nicht einmal so tun, als würde ich das begreifen.«
Ohne den Handschuh abzulegen, gab sie Rachel einen halbherzigen Händedruck. »Willkommen auf dem Gipfel der Welt.«
Rachel lächelte. »Danke schön.« Überrascht bemerkte sie, dass Norah Mangor ungeachtet ihrer harten Stimme angenehme verschmitzte Züge hatte. Ihre braunen Haare waren von grauen Fäden durchzogen, ihre Augen blickten mutig und scharf wie zwei Eiskristalle. Sie hatte eine stählerne Selbstsicherheit, die Rachel auf Anhieb gefiel.
»Norah, haben Sie eine Minute Zeit, Rachel zu erklären, was Sie gerade tun?«, sagte Tolland.
Norah wölbte die Brauen. »Ihr beide nennt euch wohl schon beim Vornamen? Mein lieber Schwan.«
»Was hab ich dir gesagt, Mike?«, stöhnte Corky.
Norah Mangor führte Rachel zum Arbeitsgerüst, gefolgt vom Rest der Gruppe.
»Sehen Sie die Bohrlöcher im Eis unter dem dreibeinigen Gestell?«, fragte Norah und deutete auf mehrere runde Löcher. Ihr ursprünglicher aggressiver Tonfall war einer neuen Stimmlage gewichen, in der sich Begeisterung für ihre Arbeit ausdrückte.
Nickend betrachtete Rachel die etwa dreißig Zentimeter großen Löcher im Eis, in denen jeweils eine Stahltrosse verschwand.
»Diese Löcher stammen noch von den Kernbohrungen für die Proben und die Röntgenaufnahmen vom Meteoriten. Durch diese Löcher haben wir extrem belastbare Schrauben mit Ösen am Kopf eingeführt und unten in den Meteoriten eingedreht. Anschließend haben wir an langen Stahltauen Haken angebracht und uns damit die Ösen geangelt. Jetzt holen wir die Trossen wieder ein. Diese Milchgesichter werden zwar ein paar Stunden kurbeln müssen, bis der Meteorit oben ist, aber er kommt allmählich.«
»Ich verstehe nicht ganz«, sagte Rachel. »Der Meteorit steckt doch unter Tausenden von Tonnen Eis. Wie kriegen Sie ihn da durch?«
Norah zeigte hinauf zur Spitze des Gerüsts, von wo ein schmales rotes Lichtbündel senkrecht aufs Eis strahlte. Rachel hatte den Strahl zuvor schon bemerkt und ihn für eine Messmarke gehalten, die den Punkt anzeigt, unter dem das Objekt in der Tiefe begraben war.
»Das ist ein Galliumarsenid-Laser«, erklärte Norah.
Als Rachel den Strahl genauer betrachtete, sah sie, dass er durch ein winziges Schmelzloch im Eis weit in die Tiefe drang.
»Der Strahl ist äußerst energiereich und sehr heiß«, sagte Norah. »Wir heizen den Meteoriten zum Hochziehen auf.«
Rachel begriff sofort die geniale Einfachheit des Plans dieser Frau und war beeindruckt. Norah hatte den Strahl so ausgerichtet, dass er sich nach unten bis zum Meteoriten »durchfraß«. Der Meteorit war zu dicht, um ebenfalls zu schmelzen, und heizte sich von der absorbierten Hitze so lange auf, bis das Eis um ihn herum zu schmelzen begann. Wenn die NASA-Mannschaft mit den Winden auf den Meteoriten Zug ausübte, schmolz der heiße Stein sich von selbst einen Kanal nach oben durch das Eis bis hinauf zur Oberfläche. Das Schmelzwasser sickerte einfach am Meteoriten vorbei und sammelte sich unter ihm im Schmelzschacht. Als würde man mit einem heißen Messer durch tiefgefrorene Butter schneiden.
Norah wies auf die an den Winden schuftenden Männer. »Die Generatoren würden diese Belastung nicht schaffen, deshalb muss ich Muskelkraft einsetzen.«
»Das ist doch Quatsch«, rief einer der schwer arbeitenden Männer dazwischen. »Sie hat ihren Spaß daran, uns schwitzen zu lassen. Das ist der Grund!«
»Nun mal langsam«, erwiderte Norah. »Ihr habt euch die ganze Zeit beschwert, dass ihr friert. Das ist jetzt wohl behoben. Und nun macht schön weiter.«
Die Windenmannschaft lachte.
»Wieso stehen hier überall diese Pylonen herum?«, fragte Rachel und deutete auf die rotweißen Absperrhüte, die scheinbar zufällig um das Hebegerüst verteilt waren. Ähnliche Markierungen hatte sie schon an anderen Stellen der Kuppel gesehen.
»Die gehören zur Ausrüstung jedes Glaziologen«, sagte Norah.
»Wir nennen sie RUBBS – ›reintreten und Bein brechen‹. Sie hob einen der Hüte hoch. Ein anscheinend bodenloses rundes Loch kam darunter zum Vorschein, das in die Tiefe des Gletschers führte. »Hier sollte man nicht hintreten.« Norah stellte den Pylon wieder an seinen Platz zurück. »Wir haben überall auf dem Gletscher Bohrungen vorgenommen, um seine innere Struktur zu überprüfen. Wie überall in der Archäologie ist die Tiefe, in der ein Objekt begraben liegt, ein Maßstab dafür, wie lange es dort gelegen hat. Je weiter unten es gefunden wird, desto länger hat es dort gelegen. Wenn wir ein Objekt unter dem Eis finden, können wir den Zeitraum seiner Ablagerung nach der Dicke der Eisschicht datieren, die sich darüber angesammelt hat. Zur Überprüfung der Genauigkeit unserer Messungen führen wir eine großräumige Untersuchung des Messgebiets durch, um sicherzustellen, dass das betreffende Gebiet ein einziges massives Eisstück ist und nicht etwa durch Erdbeben, Verwerfungen, Lawinen oder was sonst noch gestört wurde.«
»Und wie sieht es bei diesem Gletscher aus?«
»Absolut einwandfrei«, erklärte Norah. »Eine perfekte Tafel aus einem Stück. Keine Bruchlinien oder glazialen Verwerfungen.
Dieser Meteorit wurde in der Atmosphäre nahezu vollkommen abgebremst und hatte dann einen sehr steilen, so genannten ›statischen Fall‹. Er hat seit seinem Aufprall im Jahre 1716 unberührt im Eis geruht.«
Rachel glaubte, nicht richtig gehört zu haben. »Sie wissen genau, in welchem Jahr er heruntergekommen ist?«
Die Frage schien Norah zu überraschen. »Na klar, deshalb hat man mich doch gerufen. Ich kann im Eis lesen.« Sie deutete auf einen Stapel zylindrischer Eisstäbe. Sie sahen aus wie durchsichtige Fahnenstangen und waren jeder mit einem grellorangenen Anhänger markiert. Norah führte Rachel zu den Stäben. »Wenn Sie genau hinschauen, können Sie die einzelnen Schichten im Eis erkennen.«
Rachel bückte sich zu dem Stab hinunter. Aus der Nähe konnte sie sehen, dass er aus zahllosen Eisschichten mit ganz gering voneinander abweichender Durchsichtigkeit und Klarheit bestand. Die Dicke der Schichten variierte von papierdünn bis etwa sieben Millimeter.
»Jeden Winter gibt es massive Schneefälle auf den Eisschelf, die im Frühjahr antauen«, erklärte Norah. »Das erzeugt eine Kompressionsschicht pro Jahreszyklus, die man zählen kann. Wir fangen einfach ganz oben an – beim letzten Winter – und zählen rückwärts.«
»Wie das Zählen von Jahresringen bei einem Baum.«
»Ganz so einfach ist es nicht, Miss Sexton. Vergessen Sie nicht, dass wir uns durch viele Meter Eisschichten hindurchlesen müssen. Wir müssen uns an klimatologischen Gegebenheiten orientieren – Niederschlagsaufzeichnungen, Luftverschmutzungen und Ähnliches.«
Tolland und die anderen traten zu ihnen. Tolland lächelte Rachel an. »Sie weiß eine ganze Menge über Eis, nicht wahr?«
Rachel war seltsam erleichtert, Tolland zu sehen. »Ja, ich bin beeindruckt.«
Tolland nickte. »Übrigens, das von Dr. Mangor errechnete Datum 1716 stimmt genau. Die NASA hatte dieses Jahr schon errechnet, bevor wir herkamen. Dr. Mangor hat dann selbst Bohrkerne gezogen und eigene Tests angestellt. Sie konnte die Arbeit der NASA bestätigen.«
Rachel war beeindruckt.
»Zufällig kennen wir Berichte von frühen Forschungsreisenden«, ergänzte Norah, »die im nördlichen Kanada in eben diesem Jahr, 1716, einen hellen Feuerball am Nordhimmel gesichtet haben. Der Meteorabsturz wurde nach dem Namen des Expeditionsleiters als Jungersol-Meteor bekannt.«
Corky meldete sich wieder zu Wort. »Aus der Übereinstimmung der Bohrkerndaten und der historischen Aufzeichnungen ergibt sich also der eindeutige Beweis, dass wir es mit einem Bruchstück desselben Meteoriten zu tun haben, den Jungersol nach seinen Aufzeichnungen 1716 gesehen hat.«
»Dr. Mangor!«, rief einer der NASA-Männer an den Winden.
»Die Verspleißung der Trossenenden ist schon zu sehen!«
»Leute, die Führung ist vorbei«, sagte Norah. »Der Augenblick der Wahrheit ist gekommen.« Sie schnappte sich einen Klappstuhl und kletterte hinauf. »Alle mal herhören«, schrie sie so laut sie konnte, »in fünf Minuten ist es so weit!«
Wie die pawlowschen Hunde beim Futtersignal ließen die Wissenschaftler alles liegen und stehen und kamen nun überall aus der Kuppel zum Arbeitsbereich.
Die Fäuste in die Hüften gestemmt, nahm Norah Mangor ihre Domäne in Augenschein. »Okay, dann wollen wir die Titanic mal heben.«
28
»Platz da!«, rief Norah und drängte sich durch die anwachsende Menge. Die Windenmannschaft hielt inne. Norah kontrollierte die Spannung der Trossen und den festen Sitz der Verankerungen.
»Hau-ruck!«, rief einer der Männer. Die Mannschaft legte sich ins Zeug, und die Stahltrossen funkelten weitere fünfzehn Zentimeter aus den Bohrlöchern.
Wahrend die Trossen sich Stück um Stück höher bewegten, spürte Rachel die Leute erwartungsvoll immer weiter nach vorne drängen. Corky und Tolland standen ganz in der Nähe. Sie sahen aus wie zwei Jungen an Weihnachten. Auf der anderen Seite des Arbeitsbereichs war NASA-Direktor Lawrence Ekstrom eingetroffen und hatte Stellung bezogen, um den Extraktionsvorgang zu überwachen.
»Das Greifzeug kommt!«, rief einer der Männer an den Winden.
Den aus den Löchern austretenden silbrigen Stahltrossen folgte gelbes Kettengeschirr. »Noch zwei Meter! Langsam!«
Die unmittelbar um das Gerüst stehenden Zuschauer verfielen in gespanntes Schweigen, wie die Teilnehmer einer Seance, die auf die Klopfzeichen eines Geistes warten – keiner wollte etwas verpassen.
Dann sah Rachel ihn kommen.
Unter den dünner werdenden Eisschichten tauchte der Umriss des Meteoriten auf, anfangs nur ein dunkler, rechteckiger, verschwommener Schatten, der mit jedem Augenblick deutlicher wurde, während er durch das schmelzende Eis langsam nach oben stieg.
»Mehr Zug!«, rief ein Techniker. Die Männer hebelten an den Winden. Das Gerüst knarrte unter der gewaltigen Last.
»Noch anderthalb Meter! Gleichmäßig anziehen!«
Rachel sah, wie sich das Eis über dem Stein wie der Bauch eines schwangeren Tieres aufzuwölben begann. Um die Eintrittsöffnung des Laserstrahls herum gab an der Spitze der Wölbung eine Partie des Oberflächeneises nach, schmolz zusammen und versickerte in der größer werdenden Öffnung.
»Der Geburtskanal weitet sich«, rief jemand. »Noch neunzig Zentimeter!«
Nervöses Gelächter erklang.
»Okay, Laser ausschalten!«
Ein Schalter knackte, der Strahl verlosch.
Und dann geschah es.
Wie eine urtümliche Gottheit brach das Haupt des gewaltigen Steinbrockens dampfend und zischend durch das krachende Eis.
Von Nebelschwaden umwogt, stieg er höher. Die Männer an den Winden hebelten mit äußerster Anstrengung. Endlich löste sich der ganze Block aus der eisigen Umklammerung und hing heiß und tropfend über dem mit brodelndem Wasser gefüllten offenen Schacht.
Rachel war wie betäubt. Wie eine riesige verschrumpelte Pflaume hing der tropfende Meteorit an den Stahlseilen. Die raue nasse Oberfläche glitzerte im Scheinwerferlicht. An einem Ende war er glatt und rund – augenscheinlich der Bereich, an dem die Reibungshitze beim Durchgang durch die Atmosphäre einen Teil seiner Materie weggebrannt hatte.
Beim Anblick der verkohlten Schmelzrinde sah
Rachel vor ihrem inneren Auge den Meteoriten Jahrhunderte zuvor in
einem wilden Feuerball zur Erde rasen. Jetzt baumelte er wie ein
gefangenes Untier in seinen Schlingen vor ihr, während das Wasser
von seinem Leib tropfte.
Die Jagd war vorbei.
In diesem Moment wurde Rachel vollends von der Dramatik der Geschehnisse gepackt. Das Objekt vor ihr war der Sendbote einer Millionen Kilometer entfernten anderen Welt. Und in diesem Stein gefangen wartete der Beleg – nein, der absolute Beweis – dass die Menschheit im Universum nicht allein war.
Von der Euphorie des Augenblicks erfasst, brachen alle in lautes Freudengeschrei und Beifall aus. Selbst Ekstrom schien sich dem nicht entziehen zu können. Er beglückwünschte seine Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen und klopfte ihnen begeistert auf die Schulter. Rachel wurde von einem freudigen Mitgefühl für die NASA überkommen, die in der Vergangenheit vom Pech verfolgt gewesen war. Endlich wendete sich das Blatt. Die NASA hatten den Erfolg verdient.
Das gähnende Loch im Eis sah jetzt wie ein kleines Tauchbecken mitten in der Kuppel aus. Die Oberfläche des sechzig Meter tiefen Schmelzwasserpools schwappte noch eine Weile gegen die eisigen Wandungen des Schachts und beruhigte sich schließlich.
Die Wasserlinie lag gut einen Meter zwanzig unter dem Niveau der Gletscheroberfläche, hervorgerufen durch den fehlenden Rauminhalt des Meteoriten und das geschrumpfte Volumen des nun zu Wasser geschmolzenen Eises.
Norah Mangor stellte unverzüglich RUBB-Hüte um das Loch herum auf. Das Loch war zwar leicht zu erkennen, aber falls jemand aus Neugier zu nahe treten und hineinfallen sollte, sah es schlecht für ihn aus. Die Wände des Schachts bestanden aus massivem glattem Eis, das keine Möglichkeit bot, sich festzuhalten. Hier kam keiner ohne Hilfe heraus.
Lawrence Ekstrom kam quer übers Eis. Er ging direkt auf Norah Mangor zu und schüttelte ihr fest die Hand. »Gut gemacht, Dr. Mangor!«
»Ich möchte doch annehmen, dass ich viel gedrucktes Lob zu sehen bekomme«, meinte sie.
»Daran wird es nicht fehlen«, versicherte Ekstrom. Er wandte sich an Rachel. Er sah aus, als wäre ihm ein Stein vom Herzen gefallen. »Nun, Miss Sexton, ist die professionelle Skeptikerin jetzt überzeugt?«
Rachel konnte sich eines Lächelns nicht erwehren. »Überwältigt wäre ein besseres Wort.«
»Gut. Kommen Sie bitte mit.«
Rachel folgte dem NASA-Direktor durch die Kuppel zu einem großen Blechkasten, der wie ein Frachtcontainer aussah. Er hatte Tarnbemalung und trug mit einer Schablone aufgespritzt die Buchstaben P-S-C.
»Von dort drinnen können Sie den Präsidenten anrufen«, sagte Ekstrom.
Ein abhörsicheres Kommunikationsmodul, dachte Rachel. Diese mobilen Kommunikationszellen gehörten auf dem Schlachtfeld zur Standardausrüstung, doch Rachel hatte nicht erwartet, bei einem friedlichen NASA-Einsatz darauf zu stoßen. Doch Ekstrom kam schließlich aus dem Pentagon und wusste zweifellos, wie man an solch ein Spielzeug herankam. Rachel konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass ohne Einwilligung des Direktors der NASA kein Kontakt mit der Außenwelt möglich war.
Du bist wohl nicht die Einzige, die nicht mehr erreichbar ist.
Nachdem Ekstrom ein paar Worte mit einem der Wächter vor dem Modul gewechselt hatte, wandte er sich wieder an Rachel.
»Viel Glück«, sagte er und ging.
Der Wachposten pochte an die Tür des Containers. Sie wurde von innen geöffnet. Ein Techniker steckte den Kopf heraus und winkte Rachel zu sich herein.
Drinnen war es dunkel und stickig. Im bläulichen Lichtschimmer eines Computermonitors konnte Rachel Racks mit Telefoneinrichtungen, Funk- und Satellitenkommunikationsgeräten erkennen. Sie musste jetzt schon gegen die Platzangst kämpfen.
Die kalte Luft in dem Gehäuse roch verbraucht und schal, wie ein Keller im Winter.
»Miss Sexton, bitte setzen Sie sich«, sagte der Techniker, der irgendwo einen Bürostuhl herbeigezaubert und vor den Monitor gerollt hatte. Er baute vor Rachel ein Mikrofon auf und stülpte ihr einen Kopfhörer über die Ohren. Aus einem Logbuch für Verschlüsselungspassworte tippte er eine lange Folge von Symbolen auf der Tastatur eines Geräts. Auf dem Monitor vor Rachels Augen erschien eine digitale Stoppuhr.
00:60 Sekunden.
Als die Uhr mit dem Countdown begann, nickte der Techniker zufrieden. »Eine Minute, bis die Verbindung hergestellt wird.« Er drehte sich um und verschwand. Die Tür schlug hinter ihm zu.
Rachel konnte hören, wie von außen abgeschlossen wurde.
Großartig.
Während sie im Dunkeln saß und die langsam rückwärts laufende Zeitanzeige verfolgte, wurde ihr bewusst, dass dies der erste Augenblick seit dem frühen Morgen war, der ihr allein gehörte. Als sie heute früh aufgewacht war, hatte sie keinen Schimmer davon gehabt, was sie an diesem Tag erwarten würde.
Außerirdisches Leben. Mit dem heutigen Tag war der größte aller Mythen kein Mythos mehr.
Erst nach und nach dämmerte es Rachel, dass dieser Meteoritenfund für die Wahlkampagne ihres Vaters eine absolute Katastrophe war. Die Finanzierung der NASA war zwar politisch längst nicht so umstritten wie die Sozialausgaben, die Ausgaben für ein öffentliches Gesundheitssystem und die Diskussion um die Freigabe der Abtreibung, doch ihr Vater hatte die NASA nun mal zu seinem Thema gemacht. Jetzt ging der Schuss gewaltig nach hinten los. In ein paar Stunden würden die Amerikaner wieder in einen Taumel der Begeisterung über einen Triumph der NASA fallen. Den Träumern würden die Tränen in die Augen steigen; Wissenschaftler würden den Mund aufsperren; Kinder würden ihrer Phantasie freien Lauf lassen. Die Frage von Dollars und Cents würde man im Hochgefühl dieses großartigen Augenblicks als kleinlich abtun. Der Präsident würde als Held wie der Phönix aus der Asche steigen, während der nüchterne Senator inmitten der Begeisterung als engstirniger Geizkragen ohne jeden Sinn fürs Abenteuer dastehen würde.
Das Piepsen des Computers riss Rachel aus ihren Gedanken.
00:05 Sekunden.
Der Bildschirm begann plötzlich zu flackern. Ein verwaschenes Bild des Wappens vom Weißen Haus baute sich auf und zerfloss wieder. Das Gesicht des Präsidenten erschien auf dem Bildschirm.
»Hallo, Rachel«, sagte er. In seinen Augen
funkelte es schalkhaft. »Ich darf wohl annehmen, dass Sie einen
interessanten Nachmittag hatten.«
29
Senator Sedgewick Sextons Büro befand sich im Philip-A.-Hart-Bürogebäude des Senats an der C-Street nordöstlich vom Kapitol. Das Gebäude war ein neomoderner Gitterbau aus weißen Rechtecken, der nach Ansicht mancher Kritiker eher nach einem Gefängnis als nach einem Bürogebäude aussah. Viele der Menschen, die dort arbeiteten, sahen es genauso.
Im dritten Stock ging Gabrielle Ashe mit langen Schritten nervös vor ihrem Computerterminal auf und ab. Sie hatte eine E-Mail auf dem Bildschirm, aus der sie nicht schlau wurde.
Die ersten beiden Zeilen lauteten:
SEDGEWICK HAT AUF CNN EINEN GUTEN EINDRUCK GEMACHT.
ICH HABE WEITERE INFORMATIONEN FÜR SIE.
Gabrielle hatte in den letzten Wochen wiederholt Botschaften wie diese erhalten. Der Absender bediente sich einer Scheinadresse, die Gabrielle allerdings bis in eine »whitehouse.gov.«-
Domäne zurückverfolgen konnte. Anscheinend war ihr geheimnisvoller Informant ein Insider des Weißen Hauses. Wer immer es war, er hatte sich in letzter Zeit als Quelle wertvoller politischer Informationen erwiesen, einschließlich des Tipps über die geheime Dringlichkeitssitzung des Präsidenten mit dem Chef der NASA.
Anfangs hatte Gabrielle nichts von den E-Mails gehalten, doch bei Überprüfung der Tipps hatte sich zu ihrer Überraschung herausgestellt, dass die Informationen durch die Bank stimmig und hilfreich waren – geheime Informationen über Budgetüberschreitungen der NASA, Planungen kostspieliger Missionen, Daten, die bewiesen, dass die Suche der NASA nach extraterrestrischem Leben unverantwortlich überfinanziert und zugleich erschütternd unergiebig war, wobei selbst behördeninterne Meinungsumfragen warnend darauf hinwiesen, dass dieses Thema den Präsidenten Wählerstimmen kosten würde.
Da der Senator Gabrielles Fähigkeiten außerordentlich schätzte, hatte sie ihn nicht darüber informiert, dass sie per E-Mail inoffizielle Schützenhilfe aus dem Weißen Haus bekam, sondern die Informationen mit dem Bemerk an ihn weitergegeben, sie stammten aus »einer ihrer Quellen«. Sexton war stets hocherfreut gewesen und hatte nicht gefragt, wer diese Quelle sei. Vermutlich nahm er an, dass Gabrielle sich die Informationen mittels sexueller Gefälligkeiten verschaffte, was ihn merkwürdigerweise nicht im Geringsten anzufechten schien.
Gabrielle hielt inne und betrachtete die neu eingetroffene Botschaft. Was dahinter steckte, war klar: Es gab jemanden im Weißen Haus, dem daran lag, dass Senator Sexton diese Wahl gewann und der sein Scherflein dazu beitrug, indem er Sexton Munition für die Angriffe auf die NASA zur Verfügung stellte.
Aber wer? Und warum?
Eine Ratte, die das
sinkende Schiff verlassen will, dachte Gabrielle. In Washington
war es keineswegs ungewöhnlich, dass ein Angestellter des Weißen
Hauses, der einen Machtwechsel kommen sah, dem mutmaßlichen
Amtsnachfolger heimliche Gefälligkeiten erwies in der Hoffnung,
sich dem neuen Mann für die bisherige oder eine andere
gleichwertige Position zu empfehlen. Es sah so aus, als wollte
jemand, der mit Sextons Sieg rechnete, sich rechtzeitig gute Karten
sichern.
Die Botschaft auf dem Bildschirm machte Gabrielle nervös, denn sie wich von allen bisher empfangenen ab. Die erste Zeile war nicht das Problem, wohl aber die zweite: EINGANG EASTAPPOINTMENT GATE, 16:30.
KOMMEN SIE ALLEIN.
Noch nie hatte der Informant ein persönliches Treffen vorgeschlagen. Außerdem hätte Gabrielle sich für ein Treffen unter vier Augen einen weitaus geeigneteren Ort vorstellen können.
East Appointment Gate? Soweit ihr bekannt war, gab es in Washington nur ein East Appointment Gate, nämlich den Eingang zum Weißen Haus. Ein Treffen vor dem Weißen Haus? Das sollte wohl ein Witz sein!
Wie Gabrielle bereits wusste, war eine Antwort per E-Mail nicht möglich. Ihre Botschaften waren stets als unzustellbar zurückgekommen. Der Absender war anonym, was kaum überraschen konnte.
Wäre es besser, Sexton zu fragen? Sie verwarf den Gedanken schnell wieder. Er war in einer Besprechung. Außerdem würde sie ihm dann auch über all die anderen E-Mails reinen Wein einschenken müssen. Sie sagte sich, dass der Vorschlag zu einem Treffen in aller Öffentlichkeit wohl den Zweck hatte, ihr ein Gefühl der Sicherheit zu geben. Schließlich hatte der Informant ihr in den letzten paar Wochen immer nur geholfen. Er oder sie war offensichtlich ein Freund.
Gabrielle las die E-Mail ein letztes Mal und schaute auf die Uhr. Sie hatte noch eine Stunde Zeit.
30
Nachdem der Meteorit erfolgreich aus dem Eis geborgen war, hatte sich die Nervosität von NASA-Direktor Ekstrom ein wenig gelegt, jetzt nimmt alles von selbst seinen Lauf, sagte er sich, während er durch die Kuppel zum Arbeitsbereich von Michael Tolland hinüberging. Jetzt kann uns nichts mehr aufhalten.
»Wie läuft’s?«, erkundigte sich Ekstrom, während er hinter Tolland trat.
Tolland sah von seinem Monitor auf. Er wirkte müde, aber begeistert. »Ich bin fast durch. Ich habe nur noch ein paar Sequenzen von der Bergungsaktion hineingeschnitten, die Ihre Leute aufgenommen haben. Ich bin jeden Moment fertig.«
»Sehr gut«. Der Präsident hatte Ekstrom ans Herz gelegt, Tollands Dokumentation so schnell wie möglich ins Weiße Haus zu überspielen.
Ekstrom war anfangs überhaupt nicht von der Idee des Präsidenten begeistert gewesen, Michael Tolland für dieses Projekt einzusetzen, hatte seine Meinung aber geändert, nachdem er den Rohschnitt der Dokumentation gesehen hatte. Die lebendige Schilderung des erfahrenen Fernsehmannes und die Interviews mit den unabhängigen Wissenschaftlern fügten sich zu einer spannenden und informativen viertelstündigen wissenschaftlichen Sendung zusammen. Tolland hatte mühelos etwas erreicht, was der NASA oft misslungen war – eine wissenschaftliche Entdeckung für das Verständnis des amerikanischen Durchschnittsbürgers aufzubereiten, ohne dabei herablassend zu wirken.
»Wenn Sie fertig sind, können Sie den Filmbeitrag jemandem vom Medienbereich überlassen«, sagte Ekstrom. »Er wird ihn dann dem Weißen Haus übermitteln.«
»Wird gemacht«, sagte Tolland und widmete sich wieder seiner Arbeit.
Ekstrom begab sich zum nördlichen Teil der Kuppel, wo der Aufbau des »Medienbereichs« inzwischen beendet war. Erleichtert stellte er fest, dass sich das Ergebnis sehen lassen konnte.
Auf dem Eis war ein großer blauer Teppich ausgerollt worden, in dessen Mitte vor Stellwänden mit dem NASA-Symbol ein großer Tisch mit Mikrofonen stand. Als Hintergrunddekoration hing von der Kuppelwölbung eine riesige amerikanische Flagge herab.
Als Blickfang und zur Vervollständigung des optischen Geschehens war der Meteorit auf einem Palettenschlitten an den Ehrenplatz unmittelbar vor dem Pressetisch transportiert worden.
Der NASA-Direktor freute sich, dass im Medienbereich bereits festliche Stimmung herrschte. Ein Großteil seiner Mitarbeiter hatte sich um den Meteoriten versammelt und wärmte sich die Hände an dem immer noch aufgeheizten Steinklotz wie Camper an einem Lagerfeuer.
Ekstrom sah den richtigen Augenblick gekommen,
um die Kartons hervorzuholen, die im Hintergrund des Medienbereichs
auf dem Eis gestanden hatten. Er hatte sie am Vormittag aus
Grönland einfliegen lassen.
»Ich gebe einen aus!«, rief er, riss einen Karton auf und verteilte Bierdosen an seine Leute.
»Danke, Boss«, rief einer, »das Zeug ist sogar kalt!«
»Ich hab’s auch auf Eis gelegt.« Ekstrom lachte, was selten genug vorkam.
»Moment mal!«, rief ein anderer, der seine Bierdose mit gespielter Entrüstung betrachtete. »Das Zeug kommt ja aus Kanada.
Wo bleibt da Ihr Patriotismus?«
»Leute, wir müssen unser Budget einhalten. Ich musste den billigsten Stoff kaufen, der zu kriegen war.«
Allgemeines Gelächter.
»Alle Souvenirjäger herhören!«, rief ein Mann vom NASA-Fernsehteam in sein Megaphon. »Wir schalten jetzt um auf Studiobeleuchtung. Vor vorübergehender Blindheit wird gewarnt!«
»Und keine Knutscherei im Dunkeln!«, rief einer dazwischen.
»Das ist ein Familienprogramm!«
Ekstrom lachte in sich hinein. Er freute sich über die Flachserei seiner Leute, während an den Scheinwerfern letzte Einstellungen vorgenommen wurden.
»Umschalten auf Studiolicht in fünf, vier, drei, zwei…«
Die Halogenlichter verloschen. Es wurde schlagartig dunkel.
Eine mit Händen greifbare Schwärze erfüllte die Kuppel.
Jemand schrie theatralisch auf.
»Wer zwickt mich da in den Hintern?«, kreischte eine schrille Stimme und lachte.
Die Dunkelheit dauerte nur einen Augenblick.
Alles blinzelte, als die intensive Helligkeit der Scheinwerfer die
Finsternis zerriss.
Der Nordsektor der NASA-Kuppel hatte sich in ein Fernsehstudio verwandelt. Der Rest der Habisphäre wirkte wie eine Scheune bei Nacht. Das einzige Licht war das schwache Streulicht der Scheinwerfer vom Kuppeldach. Lange Schatten griffen in die verlassenen Arbeitsbereiche.
Ekstrom trat zurück ins Halbdunkel. Es erfüllte ihn mit Genugtuung, wie seine Leute um den angestrahlten Meteoriten herum feierten. Er kam sich vor wie ein Vater, der seine Kinder um den Weihnachtsbaum herumhüpfen sieht.
Bei Gott, das haben sie sich verdient, dachte er, ohne zu ahnen, was für eine Katastrophe ihm bevorstand.
31
Das Wetter schlug um.
Wie ein Unglücksbote warf sich der Gletscherwind mit klagendem Geheul gegen das Zelt der Delta-Force-Mannschaft. Delta-1 hatte die Sturmsicherungen des Zelts dicht gezogen. Er ging wieder hinein zu seinen Kameraden. Sie erlebten diese Wetterlage nicht zum ersten Mal. Es würde nicht lange anhalten.
Delta-2 betrachtete die Liveübertragung, die ihnen der Mikroboter zuspielte. »Schau dir das mal an«, sagte er zu Delta-1.
Delta-1 kam zum Bildschirm. Das Innere der Kuppel lag in vollkommener Dunkelheit, bis auf die hell erleuchtete Zone um den Medienbereich im Nordsektor. Der restliche Raum zeichnete sich nur als schwache Kontur ab. »Das braucht uns nicht zu stören«, sagte er. »Sie testen nur die Beleuchtung für den Fernsehspot heute Abend.«
»Die Beleuchtung stört mich nicht.« Delta-2 deutete auf den schwarzen Klecks mitten im Eis – das wassergefüllte Loch, aus dem der Meteorit herausgezogen worden war. »Das stört mich.«
Delta-1 betrachtete das Loch. Drumherum standen immer noch die Pylonen. Die Wasseroberfläche sah ruhig aus. »Ich kann nichts Ungewöhnliches erkennen.«
»Dann schau mal genau hin.« Mit feinen Bewegungen seines Joysticks ließ Delta-2 den Mikroboter in Spiralen zum Loch hinuntersteigen.
Als Delta-1 den dunklen Schmelzwasserpool aus der Nähe betrachtete, sah er etwas, das ihn erschrocken zurückfahren ließ.
»Was, zum Teufel…«
Delta-3 kam dazu und besah sich das Bild. Auch er riss die Augen auf. »Verflucht, ist das das Bergungsloch? Ist das in Ordnung, was ich da im Wasser sehe?«
»Nein, ist es nicht«, sagte Delta-1. »Ganz und gar nicht.«
32
Rachel Sexton saß zwar in einer großen Blechkiste, die ihrerseits fast fünftausend Kilometer von Washington, D. C, aufgebaut war, aber sie stand nicht weniger unter Druck, als wäre sie direkt ins Weiße Haus bestellt worden. Der Monitor vor ihr lieferte ein gestochen scharfes Bild von Präsident Zach Herney, der im Kommunikationsraum des Weißen Hauses vor dem Staatswappen saß. Die Tonverbindung war von bester Qualität und absolut störungsfrei; von einer kaum wahrnehmbaren Verzögerung abgesehen, hätte Präsident Herney auch von nebenan mit ihr sprechen können.
Das Gespräch war launig und direkt. Der Präsident wirkte zufrieden, wenn auch keineswegs überrascht über Rachels positive Bewertung des Fundes der NASA und der Entscheidung des Präsidenten, Michael Tolland als seinen Sprecher einzusetzen.
Der Präsident war sehr freundlich und zu Scherzen aufgelegt.
»Ich bin sicher, Sie stimmen mir zu, dass in einer perfekten Welt der Nutzen dieser Entdeckung rein wissenschaftlicher Art wäre«, sagte Herney. Sein Tonfall war ernster geworden. »Leider leben wir nicht in einer perfekten Welt. Dieser Triumph der NASA wird in dem Moment, da ich ihn bekannt gebe, zum politischen Zankapfel.«
»Angesichts der überzeugenden Beweisführung und der Persönlichkeiten, die Sie als Kronzeugen gewonnen haben, kann ich mir nicht vorstellen, wie die Öffentlichkeit oder Ihre Gegner daran vorbeikommen werden, diese Entdeckung als erwiesene Tatsache anzuerkennen.«
Herney lachte kurz auf. Es klang fast traurig. »Natürlich werden meine politischen Gegner die Tatsachen nicht abstreiten. Aber sie werden ihnen nicht gefallen.«
Rachel fiel auf, dass der Präsident die Erwähnung ihres Vaters sorgfältig vermied. Er sprach lediglich von »politischen Gegnern«. »Und Sie gehen davon aus, dass die Opposition aus rein politischen Motiven ›Schiebung‹ schreien wird?«
»So läuft dieses Spiel nun mal. Es braucht nur der Hauch eines Verdachts aufzukommen, dass diese Entdeckung ein vom Weißen Haus zusammen mit der NASA ausgehecktes politisches Betrugsmanöver ist, und plötzlich gehen die Untersuchungen los.
In den Zeitungen wird keine Rede mehr davon sein, dass die NASA den Beweis für außerirdisches Leben gefunden hat, und die Medien werden anfangen, nach Beweisen für eine politische Verschwörung zu graben. Leider ist es so, dass im Zusammenhang mit dieser Entdeckung schon der Schatten eines solchen Verdachts schlecht ist – für die Wissenschaft, fürs Weiße Haus und für unser Land.«
»Das ist dann wohl der Grund, weshalb Sie mit dem Gang an die Öffentlichkeit gewartet haben, bis Sie die volle Bestätigung und die Zustimmung namhafter unabhängiger Wissenschaftler besaßen.«
»Mein Ziel ist, dieses Material auf eine über jeden Zweifel erhabene Weise zu präsentieren, sodass jede Skepsis bereits im Keim erstickt wird. Ich möchte, dass diese Entdeckung auf würdevolle Art und Weise gefeiert wird, wie es ihr zukommt. Das ist das Mindeste, was wir der NASA schuldig sind.«
Was will der eigentlich von dir!, fragte sich Rachel.
»Sie sind eine Frau, die sich in einer einmaligen Position befindet, mir zu helfen. Ihre Erfahrungen als Analystin und Ihre familiäre Verbundenheit mit meinem Gegner verleihen Ihnen eine enorme Glaubwürdigkeit, was diese Entdeckung angeht.«
Rachel spürte ihre Illusionen zusammenbrechen. Er will dich vor seinen Karren spannen… genau wie Pickering gesagt hat!
»Da das nun zwischen uns klar ist«, fuhr Herney fort, »möchte ich Sie bitten, die Entdeckung persönlich und ganz offiziell zu bestätigen, in Ihrer Funktion als meine nachrichtendienstliche Referentin… und als die Tochter meines politischen Gegenspielers.«
Jetzt war es heraus. Herney will, dass ich für ihn den Kopf hinhalte.
Rachel hatte geglaubt, dass Zach Herney solche politischen Winkelzüge nicht nötig habe. Wenn sie sich öffentlich hinter die Entdeckung stellte, würde das Meteoritenthema für ihren Vater automatisch eine persönliche Frage, denn von da an konnte der Senator die Glaubwürdigkeit der Entdeckung nicht mehr angreifen, ohne gleichzeitig die Glaubwürdigkeit seiner Tochter in Frage zu stellen – für einen Kandidaten, der stets das Loblied der intakten Familie gesungen hatte, ein Todesurteil.
»Offen gestanden, Sir«, sagte Rachel mit festem Blick auf den Monitor, »bin ich ein wenig erstaunt über Ihre Bitte.«
Der Präsident blickte verwundert. »Und ich dachte, Sie würden begeistert sein, mir helfen zu können.«
»Begeistert? Sir, die Meinungsverschiedenheiten mit meinem Vater einmal beiseite gelassen – Ihr Ansinnen bringt mich in eine unmögliche Position. Ich habe schon genug Probleme mit meinem Vater, auch ohne dass ich mich mit ihm öffentlich auf einen Kampf auf Leben und Tod einlasse. Bei all meiner bekanntermaßen mangelnden Sympathie für ihn ist er schließlich immer noch mein Vater. Dass ich in der Öffentlichkeit gegen ihn antreten soll, empfinde ich als unter Ihrem Niveau, Sir.«
»Nun mal langsam.« Herney hob begütigend die Hände. »Wer sagt denn etwas von öffentlich?«
»Ich ging davon aus, dass ich mich gemeinsam mit dem Direktor der NASA um zwanzig Uhr für die Pressekonferenz aufs Podium setzen soll.«
Herneys schallendes Lachen dröhnte im
Lautsprecher.
»Rachel, wofür halten Sie mich? Glauben Sie wirklich, ich würde von Ihnen verlangen, Ihrem Vater vor laufender Kamera ein Messer in den Rücken zu stoßen?«
»Aber Sie haben doch gesagt…«
»Und glauben Sie wirklich, ich hätte Interesse daran, dass sich der Direktor der NASA das Rampenlicht mit der Tochter seines Erzfeindes teilt? Rachel, ich möchte Ihnen nicht zu nahe treten, aber diese Pressekonferenz ist eine wissenschaftliche Präsentation.
Ich glaube nicht, dass Ihre Kenntnisse von Meteoriten, Fossilien oder Eisstrukturen die Glaubwürdigkeit des Vorgangs unterstreichen könnten.«
Rachel spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht schoss. »An welche Art von Hilfestellung haben Sie dann gedacht?«
»An eine, die Ihrer Position eher angemessen ist.«
»Sir?«
»Sie sind meine nachrichtendienstliche Referentin. Sie informieren meinen Mitarbeiterstab über Vorgänge von nationaler Tragweite.«
»Sie brauchen meine Bestätigung für Ihre Mitarbeiter?«
Herney wirkte immer noch amüsiert über das Missverständnis.
»So ist es. Die Skepsis, mit der ich mich außerhalb des Weißen Hauses konfrontiert sehe, ist ein Klacks im Vergleich zu dem Gegenwind, der mir derzeit von meinem Stab im Weißen Haus ins Gesicht weht. Wir befinden uns inmitten einer ausgewachsenen Meuterei. Mein Kredit innerhalb des Hauses steht auf null.
Mein Stab hat mich angefleht, bei der NASA den Rotstift anzusetzen. Ich habe mich darüber hinweggesetzt, aber es war politischer Selbstmord.«
»Bis heute.«
»Genau. Wir haben uns heute Vormittag schon darüber unterhalten, dass politischen Zynikern der Zeitpunkt verdächtig vorkommen muss, und derzeit gibt es keine größeren Zyniker als meine Mitarbeiter. Deshalb liegt mir daran, dass die Information, wenn meine Leute zum ersten Mal damit konfrontiert werden, aus dem Munde…«
»Wie? Sie haben Ihre Mitarbeiter noch nicht über den Meteoriten unterrichtet?«
»Nur einige meiner wichtigsten Berater. Die Geheimhaltung dieser Entdeckung hatte oberste Priorität.«
Rachel konnte es nicht fassen. Kein Wunder, dass rings um ihn alles meutert.
»Aber das ist nicht mein Arbeitsgebiet. Man kann einen Meteoriten schwerlich als geheimdienstliches Vorkommnis betrachten.«
»Gewiss nicht im herkömmlichen Sinn. Aber sämtliche Elemente Ihrer üblichen Arbeit Hegen hier durchaus vor – komplexe Daten, aus denen das Wesentliche herausgefiltert werden muss, weitreichende politische Streuwirkungen…«
»Sir, ich bin keine Spezialistin für Meteoriten. Wäre es nicht besser, Ihren Stab vom NASA-Direktor unterrichten zu lassen?«
»Das kann nicht Ihr Ernst sein! Ekstrom gilt im ganzen Haus als der Buhmann schlechthin, als ein Klinkenputzer, der mir ein ums andere Mal fadenscheiniges Gelumpe angedreht hat.«
Rachel musste ihm Recht geben. »Wie steht es mit Corky Marlinson? Als Koryphäe auf dem Gebiet der Astrophysik ist er weitaus kompetenter als ich.«
»Rachel, meine Mitarbeiter sind Politiker und keine Wissenschaftler. Sie haben Dr. Marlinson kennen gelernt. Ich halte ihn für einen ausgezeichneten Mann, aber wenn ich einen Astrophysiker auf meine von ihrer linken Gehirnhälfte dominierten Intellektuellen mit ihrem Schubladendenken loslasse, habe ich am Ende nur noch einen Haufen geblendete Karnickel im Scheinwerferlicht. Ich brauche jemanden, der sich verständlich ausdrücken kann, und das sind Sie, Rachel. Meine Mitarbeiter kennen Ihre Arbeit, und angesichts Ihres Familiennamens können sich meine Leute keine unvoreingenommenere Sprecherin wünschen.«
Rachel spürte, wie der umgängliche Stil des Präsidenten ihre Vorbehalte schwinden ließ. »Aber Sie geben immerhin zu, dass es nicht ohne Bedeutung für Ihre Bitte war, dass ich die Tochter ihres Gegenspielers bin.«
Der Präsident lachte ein wenig unbeholfen. »Natürlich hat es damit zu tun. Aber Sie müssen wissen, dass meine Mitarbeiter auf jeden Fall unterrichtet werden, egal, wie Sie sich entscheiden.
Rachel, Sie sind nicht der Kuchen, Sie sind lediglich der Zuckerguss. Sie sind nun mal die geeignetste Person für dieses Briefing und zufällig auch die Tochter des Mannes, der meine Leute nach der Wahl aus dem Weißen Haus werfen möchte. Ihre Glaubwürdigkeit ist auf doppelte Weise gesichert.«
»Sie hätten Vertreter werden sollen.«
»Ohne Scherz – das bin ich. Und Ihr Vater ebenso. Um ehrlich zu sein, ich würde jetzt gern zur Sache kommen.« Der Präsident nahm die Brille ab und schaute Rachel in die Augen. Sie spürte eine Macht von ihm ausgehen, die sie auch von ihrem Vater kannte. »Ich bitte Sie einerseits um einen Gefallen«, sagte er, »andererseits ist die Sache in meinen Augen ein Teil Ihrer Arbeit.
Also, wie lautet Ihre Antwort? Werden Sie die
Unterrichtung meiner Mitarbeiter übernehmen, ja oder nein?«
Rachel kam sich in dem kleinen Kommunikationscontainer wie in einer Falle vor. Es geht doch nichts über einen geschickten Verkäufer.
Selbst in fünftausend Kilometer Entfernung spürte Rachel noch, wie Herneys Wille förmlich auf sie eindrang. Zudem war ihr klar, dass seine Bitte vollkommen in Ordnung war, ob es ihr gefiel oder nicht.
»Ich muss eine Bedingung stellen«, sagte Rachel.
Herney hob die Brauen. »Und welche?«
»Das Zusammentreffen mit Ihren Leuten findet vertraulich statt. Keine Medien. Ich mache eine vertrauliche Unterrichtung, keine öffentliche Erklärung.«
»Sie haben mein Wort. Das Treffen findet in einem privaten Rahmen statt.«
Rachel seufzte. »Also gut.«
Der Präsident strahlte. »Ausgezeichnet.«
Rachel schaute auf die Uhr. Zu ihrer Überraschung war es schon kurz nach vier. »Moment mal«, sagte sie, »wenn Sie um zwanzig Uhr live vor die Kameras wollen, haben wir ja gar keine Zeit mehr. Selbst mit dieser widerwärtigen Rakete, in der Sie mich hierher geschickt haben, könnte ich nicht in vier Stunden wieder im Weißen Haus sein. Außerdem muss ich mir zurechtlegen, was ich sage und…«
Der Präsident schüttelte den Kopf. »Ich fürchte, wir haben uns nicht richtig verstanden. Sie werden die Unterrichtung per Videokonferenz vornehmen.«
»Oh.« Rachel zögerte. »An welche Uhrzeit haben Sie denn gedacht?«
»Jetzt sofort«, sagte Herney und grinste. »Die
Leute sind bereits versammelt. Sie alle starren auf einen großen
dunklen Fernsehschirm und warten, dass Sie anfangen.«
Rachel durchfuhr es eiskalt. »Sir, ich bin völlig unvorbereitet. Es ist unmöglich, dass ich…«
»Erzählen Sie einfach, was passiert ist. Das kann doch nicht so schwer sein.«
»Aber…«
»Rachel«, sagte der Präsident und beugte sich weit vor, »Ihr Beruf ist das Sammeln und Aufbereiten von Daten. Darauf verstehen Sie sich wie niemand sonst. Erzählen Sie einfach, was dort oben los ist.« Er griff nach einem Knopf an seiner Videoübertragungsanlage, hielt aber kurz inne. »Ich glaube, Sie werden mit Befriedigung feststellen, dass Sie aus einer machtvollen Position heraus sprechen.«
Rachel wusste mit der Bemerkung nichts anzufangen, aber für Fragen war es zu spät. Der Präsident hatte bereits auf den Knopf gedrückt.
Der Monitor erlosch für einen Moment. Als wieder ein Bild erschien, bot sich Rachel der einschüchterndste Anblick ihres Lebens. Direkt vor ihren Augen lag das Oval Office im Weißen Haus. Es war dermaßen überfüllt, dass es nicht einmal mehr Stehplätze gab. Der gesamte Mitarbeiterstab schien sich eingefunden zu haben. Und jeder starrte sie an. Wie Rachel jetzt erst bemerkte, schaute sie vom Schreibtisch des Präsidenten herab.
Aus einer machtvollen Position heraus sprechen… Rachel war jetzt schon schweißnass.
Nach ihrem Gesichtsausdruck zu schließen, waren die Mitarbeiter des Präsidenten mindestens so überrascht, Rachel zu sehen, wie umgekehrt Rachel erstaunt war, diese Leute zu erblicken.
»Miss Sexton?«, rief eine kratzige Stimme. Rachel suchte im Meer der Gesichter nach dem Sprecher. Es war eine hagere Frau, die soeben in der ersten Reihe Platz nahm. Marjorie Tench. Sie war unverkennbar, sogar im dichtesten Gedränge.
»Vielen Dank, dass Sie zu uns sprechen wollen, Miss Sexton«, sagte Marjorie Tench ein wenig von oben herab. »Der Präsident sagte soeben, Sie hätten uns etwas mitzuteilen.«
33
Der Paläontologe Wailee Ming saß allein in der Dunkelheit in seinem privaten Arbeitsbereich. Er dachte über die Geschehnisse nach. Seine Sinne waren hellwach. Er genoss die Vorfreude auf den bevorstehenden Abend. Bald bin ich der berühmteste Paläontologe der Welt. Hoffentlich brachte Michael Tollands Dokumentation seine Kommentare in aller Ausführlichkeit.
Während Ming noch im Gefühl seines bevorstehenden Ruhms schwelgte, lief eine sanfte Vibration durch das Eis unter seinen Füßen. Er sprang auf. Seine bei den zahlreichen Erdbeben von Los Angeles geschulten Instinkte ließen ihn selbst die kleinsten Erschütterungen des Untergrunds wahrnehmen. Allerdings wurde ihm sofort bewusst, wie töricht seine Reaktion auf diese völlig normale Vibration gewesen war. Es ist nur das Kalben des Gletschers, sagte er sich erleichtert. Er hatte sich immer noch nicht daran gewöhnt. Alle paar Stunden rumpelte von weit her eine Detonation durch die Nacht, wenn irgendwo an der Gletscherzunge ein gewaltiger Eisblock abbrach und ins Meer stürzte. Norah Mangor hatte es sehr nett ausgedrückt: Da werden neue Eisberge geboren.
Ming blieb stehen und streckte sich. Sein Blick schweifte durch die Kuppel. Weit drüben im hellen Schein der Fernsehscheinwerfer kam die Feier allmählich in Gang. Ming war kein großer Partylöwe. Er drehte sich um und schlenderte in die andere Richtung davon.
Das Labyrinth der verlassenen Arbeitsbereiche mutete ihn an wie eine Geisterstadt. Die Kuppel hatte etwas von einem Mausoleum. Die Kühle im Innern schien sich zu verstärken. Ming knöpfte seinen langen Kamelhaarmantel bis unters Kinn zu.
Ein Stück vor ihm war die Mündung des Bergungsschachts zu erkennen, jene Stelle, an der das großartigste Fossil der Menschheitsgeschichte geborgen worden war. Das gewaltige dreibeinige Bergungsgerüst hatte man inzwischen weggeräumt. Das Wasserloch mit den Pylonen darum herum sah wie ein von der Polizei gesichertes Riesen-Schlagloch auf einem großen eisigen Parkplatz aus. Ming schlenderte hinüber. Aus sicherer Entfernung betrachtete er das sechzig Meter tiefe Loch. Das eiskalte Wasser würde bald wieder gefroren und sämtliche Spuren menschlicher Anwesenheit getilgt sein.
Das Wasser bot einen schönen Anblick, sogar bei Dunkelheit.
Besonders bei Dunkelheit.
Ming glaubte, sich getäuscht zu haben. Dann sah er genauer hin.
Hier stimmt etwas nicht.
Ming betrachtete das Wasser. Seine Beschaulichkeit wurde von einem plötzlichen Wirbelwind widersprüchlichster Empfindungen fortgefegt. Blinzelnd starrte er wieder und wieder auf die Erscheinung. Dann hob er den Blick. Er sah sich in der Kuppel um… Fünfzig Meter weiter, im Medienbereich, feierten die Leute. Hier, in der Dunkelheit, konnte ihn gewiss kein Mensch sehen.
Ich müsste es sofort melden… oder nicht?
Wieder schaute Ming ins Wasser. Was sollte er melden? Hatte er es mit einer optischen Täuschung zu tun? Mit einer merkwürdigen Reflexion?
Unsicher trat Ming in den Ring aus Pylonen und kauerte sich am Rand des Lochs nieder. Der Wasserspiegel lag gut einen Meter unterhalb der Eiskante. Er beugte sich noch tiefer, um besser sehen zu können, ja, irgendetwas stimmte hier nicht. Es war unübersehbar, hatte aber erst erkennbar werden können, als in der Kuppel die Lichter erloschen waren.
Ming richtete sich auf, wollte zum Medienbereich hinüberrennen. Doch schon nach den ersten Schritten blieb er wie vom Blitz getroffen stehen. Allmächtiger! Es riss ihn herum, und er trat wieder ans Loch. Seine Augen weiteten sich, als ihn die volle Wucht der Erkenntnis traf.
»Unmöglich!«, platzte es aus ihm heraus.
Und doch wusste er, dass es keine andere Erklärung gab. Jetzt bloß keinen Denkfehler!, ermahnte er sich. Es muss eine näher liegende Erklärung geben. Doch je fieberhafter er nachdachte, desto einleuchtender kam ihm die Erscheinung vor, die er vor sich hatte.
Jede andere Erklärung ist ausgeschlossen. Eigentlich war unvorstellbar, dass die NASA und Corky Marlinson einem so unglaublichen Fehler aufgesessen waren, doch Ming beklagte sich nicht.
Das ist jetzt Wailee Mings große Entdeckung!
Zitternd vor Erregung lief Ming zu einem
Arbeitstisch und stöberte nach einem Becherglas. Er brauchte nur
eine kleine Wasserprobe.
Niemand würde das für möglich halten!
34
Rachel betrachtete die Versammlung vor ihr auf dem Monitor. »Als Geheimdienstreferentin des Weißen Hauses«, sagte sie und versuchte das Zittern in ihrer Stimme zu unterdrücken, »gehört es zu meinen Pflichten, weltweit brisante Situationen zu analysieren und dem Präsidenten sowie dem Stab des Weißen Hauses zu berichten.«
Sie tupfte die Perlenkette aus Schweißtropfen an ihrem Haaransatz ab und verfluchte im Stillen den Präsidenten, der ihr ohne jede Vorwarnung diese Fernsehkonferenz aufgehalst hatte.
»Noch nie hat eine Dienstreise mich an einen so abgelegenen Ort geführt. Sie werden es kaum glauben, aber während ich in diesem Moment zu Ihnen spreche, befinde ich mich nördlich des Polarkreises auf einer Eistafel, die an die hundert Meter dick ist.«
In den Gesichtern der Versammlung vor ihr auf dem Monitor zeichnete sich Spannung ab. Die Leute hatten sich zwar denken können, dass man sie nicht von ungefähr alle ins Oval Office gestopft hatte, doch es dürfte wohl keiner damit gerechnet haben, dass es um Entwicklungen jenseits des Polarkreises ging.
Wieder rannen Schweißtropfen über Rachels Stirn. Reiß dich zusammen. Das hier ist dein Job. »Es ist mir eine große Ehre, dass ich heute zu Ihnen sprechen darf. Es erfüllt mich mit Stolz und vor allem… mit Aufregung.«
Teilnahmslose Blicke.
Mist!, dachte Rachel und wischte sich schon wieder zornig den Schweiß ab. Kotz dich aus, wenn dich was drückt, hätte ihre Mutter gesagt. Der Spruch war der Inbegriff sämtlicher Überzeugungen von Rachels Mutter. Man kann mit allem fertig werden, wenn man nur mutig die Wahrheit sagt, egal, ob man dabei eine gute Figur macht oder nicht.
Rachel atmete tief durch, setzte sich kerzengerade hin und schaute fest in die Kamera. »Tut mir Leid, Leute, wenn ihr euch fragt, weshalb ich hier über dem Polarkreis wie ein Affe schwitze… ich bin ein bisschen nervös.«
Die Gesichter vor ihr schienen einen Augenblick lang verwundert dreinzuschauen. Jemand lachte leise.
»Außerdem hat mich euer Chef mit einer Vorwarnung von ungefähr zehn Sekunden in diese Generalversammlung seiner Mitarbeiter geschickt. Meinen ersten Besuch im Oval Office hatte ich mir eigentlich nicht als Feuertaufe vorgestellt.«
Diesmal lachten schon einige Zuhörer mehr.
»Außerdem«, fuhr Rachel fort und senkte den Blick an den unteren Bildrand des Monitors, »hatte ich nicht damit gerechnet, gleich am Schreibtisch des Präsidenten zu sitzen… und schon gar nicht oben drauf.«
Herzhaftes Gelächter. Viele grinsten. Rachel spürte, wie sie sich allmählich entspannte. Sprich einfach frisch von der Leber weg.
»Ich möchte kurz die Situation erläutern.« Rachels Stimme klang nun wieder wie ihre eigene. »Präsident Herneys Zurückhaltung gegenüber den Medien in der letzten Woche bedeutet keineswegs, dass er das Interesse an seiner Wahlkampagne verloren hätte. Es gab vielmehr ein Ereignis, das seine ganze Aufmerksamkeit beansprucht hat. Ein Ereignis, dem eine weit höhere Wichtigkeit beizumessen war.«
Rachel hielt inne, um Blickkontakt mit ihrem Publikum aufzunehmen.
»An einem Ort namens Milne-Eisschelf, der sich hochdroben in der Arktis befindet, ist ein wissenschaftlich bedeutsamer Fund gemacht worden. Heute Abend um zwanzig Uhr wird der Präsident eine Pressekonferenz geben und die Weltöffentlichkeit davon in Kenntnis setzen. Der Fund wurde von den tüchtigen und kompetenten Mitarbeitern einer amerikanischen Organisation gemacht, die in letzter Zeit vom Pech verfolgt war. Sie haben es verdient, dass das Blatt sich wendet. Ich spreche von der NASA.
Sie können stolz darauf sein, dass Ihr Präsident in letzter Zeit in geradezu hellseherischer Weitsicht der NASA unbeirrbar die Stange gehalten hat. Nun scheint diese Loyalität belohnt zu werden.«
Die Einmaligkeit dieses historischen Augenblicks wurde Rachel erst in diesem Moment in vollem Umfang bewusst. Ein Kloß bildete sich in ihrer Kehle, doch sie sprach unverdrossen weiter.
»Als Nachrichtendienstlerin mit dem Spezialgebiet der Analyse und Verifikation von Datenmaterial gehöre ich zu dem kleinen Kreis von Personen, an den der Präsident sich gewandt hat, um die Ergebnisse der NASA begutachten zu lassen. Ich habe das Material persönlich in Augenschein genommen und mich mit einigen Spezialisten – staatlichen und nichtstaatlichen – darüber ausgesprochen, mit Männern und Frauen von ausgezeichnetem wissenschaftlichem Ruf, deren Rang sich jeder politischen Einflussnahme entzieht. Nach meiner fachlichen Einschätzung handelt es sich bei dem Material, das ich Ihnen jetzt vorlegen möchte, eindeutig um Tatsachenmaterial, dessen Auswertung und Bewertung nach absolut objektiven Maßstäben erfolgt ist. Darüber hinaus bin ich der Meinung, dass der Präsident im Bewusstsein seiner Verantwortung gegenüber seinem Amt und dem amerikanischen Volk bewundernswerte Sorgfalt und Zurückhaltung bewiesen hat, indem er eine Ankündigung, die er liebend gern schon vor einer Woche gemacht hätte, so lange hinausgezögert hat.«
Rachel beobachtete, wie in der Menge vor ihr verwunderte Blicke getauscht wurden, bevor alle wieder gebannt auf den Bildschirm starrten. Sie wusste, dass man ihren Ausführungen nun mit ungeteilter Aufmerksamkeit folgen würde.
»Meine Damen und Herren, Sie werden jetzt etwas hören, was auch Sie gewiss für eine der überwältigendsten Informationen halten werden, die Ihnen je in diesem Büro bekannt gegeben wurden.«
35
Der Blick aus der Vogelperspektive, der zurzeit von dem in der Kuppel kreisenden Mikroboter zu den Männern der Delta Force übertragen wurde, wäre preisverdächtig gewesen, hätte es sich um ein Avantgarde-Filmfestival gehandelt – die düstere Lichtführung, das glitzernde Wasserloch, der vornehm gekleidete Asiate, der bäuchlings auf dem Eis lag, den Kamelhaarmantel wie ausgebreitete Schwingen um den Körper drapiert und offensichtlich bemüht, eine Wasserprobe zu entnehmen.
»Das müssen wir verhindern«, sagte Delta-3.
Delta-1 pflichtete ihm bei. Der Milne-Eisschelf barg Geheimnisse, zu deren Schutz dieses Kämpferteam gewaltsame Mittel anzuwenden berechtigt war.
»Aber wie sollen wir ihm einen Strich durch die Rechnung machen?«, sagte Delta-2, der immer noch den Joystick in den Fingern hielt. »Dieser Mikroboter ist harmlos wie eine Fliege.«
Delta-1 runzelte die Stirn. Das Modell, das in der Kuppel schwebte, war ein reiner Aufklärungsroboter, der einer längeren Flugzeit und Reichweite zuliebe bis aufs Allernotwendigste abgespeckt war. Er war in der Tat so tödlich wie eine Stubenfliege.
»Wir müssen den Einsatzleiter anrufen«, sagte Delta-3.
Delta-1 starrte auf das Bild des in prekärer Lage über die Eiskante hängenden Dr. Wailee Ming. Kein Mensch war in der Nä-
he – und in eiskaltem Wasser versagte meistens sofort die Stimme. »Gib mir die Steuerung.«
»Was hast du vor?«, wollte der Mann am Joystick wissen.
»Was man uns beigebracht hat!«, zischte Delta-1. »Improvisieren!«
36
Wailee Ming lag auf dem Bauch neben dem Bergungsloch. Er streckte den rechten Arm über die Kante und versuchte, die Wasserprobe zu nehmen. Seine Augen spielten ihm garantiert keinen Streich. Jetzt, da sich sein Kopf nur einen guten Meter über der Wasseroberfläche befand, konnte er das Phänomen deutlich sehen.
Das gibt es doch nicht!
Mit äußerster Anstrengung versuchten seine Finger mit dem Becherglas die Wasseroberfläche zu erreichen. Nur noch ein paar Zentimeter!
Der Arm war einfach zu kurz. Ming rutschte noch etwas näher an das Loch. Er presste die Stiefelspitzen fest aufs Eis und klammerte sich mit der Linken an den Eisrand. Wieder streckte er den rechten Arm nach unten. Fast. Er rutschte noch ein klein wenig näher. Jawohl! Der Rand des Glases tauchte ins Wasser.
Fassungslos schaute Ming in den kleinen Strudel des ins Glas einströmenden Wassers.
Dann geschah plötzlich und ohne jede Vorwarnung etwas vollkommen Unerklärliches. Aus der Dunkelheit jagte wie aus der Pistole geschossen ein kleiner Metallgegenstand heran. Ming sah ihn nur für den Bruchteil einer Sekunde, dann war er ihm ins rechte Auge geflogen.
Der Reflex zum Schutz des Auges ist so tief im Menschen verankert, dass Mings linke Hand, an den Eisrand geklammert und dem Auge relativ nahe, mehr aus Überraschung als aus Schmerz schützend hochschoss – obwohl Ming sich der katastrophalen Folge für sein Gleichgewicht bewusst war. Die Bewegung der Hand war noch nicht abgeschlossen, als Ming auch schon die Quittung erhielt. Weit vornübergelehnt und der einzigen festen Stütze beraubt, bekam er das Übergewicht. Er ließ das Schöpfglas fahren. Verzweifelt versuchte er, auf dem glatten Eis Halt zu finden, doch er glitt aus. Kopfüber stürzte er in das dunkle Loch.
Der Fall war nur gut einen Meter tief, doch
beim Eintauchen hatte Ming das Gefühl, mit achtzig Sachen auf
Asphalt geprallt zu sein. Das Eiswasser brannte wie ätzende Säure
auf seinem Gesicht. Eine Welle der Panik überrollte ihn.
Ming steckte kopfunter im Dunkeln. Für den Augenblick orientierungslos, wusste er nicht mehr, wo die Oberfläche war. Der dicke Kamelhaarmantel hielt den Kälteschock von seinem Körper fern – aber nur ein oder zwei Sekunden lang.
Es gelang ihm, sich aufzurichten. Spuckend tauchte er mit dem Kopf aus dem Wasser. Er versuchte Luft zu schnappen, als das Wasser an Brust und Rücken seine Kleidung durchdrang und die Kälte ihn am ganzen Körper in einen eisigen Schraubstock presste. »Hilfe…«, stieß er keuchend hervor, doch seine Lungen fassten kaum genug Luft für ein Röcheln. Er hatte das Gefühl, sein Atem würde stillstehen.
Ming strampelte sich an die Wandung des Lochs heran und versuchte sich an der Wand aus lotrechtem Eis hinaufzuziehen.
Nirgends ein Halt. Seine Stiefel traten unter Wasser gegen die Wand, fanden aber keine Stütze. Er streckte sich nach oben, reckte sich dem Rand entgegen… nur noch dreißig Zentimeter!
Mings Muskeln versagten ihm jetzt schon fast den Dienst. Verzweifelt mit den Beinen strampelnd versuchte er, sich aus dem Wasser zu heben, um den Rand packen zu können. Sein Körper fühlte sich an wie Blei, und die Lungen waren wie von einer Python zusammengepresst. Der voll gesaugte Kamelhaarmantel zerrte jede Sekunde stärker an ihm. Ming versuchte, den Mantel loszuwerden, doch der schwere Stoff klebte an ihm wie angeleimt.
»Helft… mir…!«
Die Woge der Angst schlug über ihm zusammen.
Ming hatte einmal gelesen, Ertrinken sei die schrecklichste Art zu sterben. Nie hätte er sich träumen lassen, dass er selbst einmal an der Schwelle des nassen Todes stehen würde. Seine Muskeln verweigerten den Befehlen seines Gehirns zusehends die Gefolgschaft. Nur mühsam hielt er den Kopf noch über Wasser. Mings taube Finger kratzten an der Wandung, doch die nasse Kleidung zog ihn immer weiter nach unten.
Seine Schreie tönten nur noch in seinem eigenen Hirn.
Dann ging er unter. Niemals hatte er sich vorgestellt, das nackte Entsetzen über den unmittelbar bevorstehenden Tod noch bei Bewusstsein ertragen zu müssen. Und doch war er es, der längs der Wandung eines sechzig Meter tiefen Eiskanals allmählich immer tiefer sank. Vor seinen Augen raste der Film seines Lebens vorbei, die Kindheit, die Karriere. Ob man ihn jemals wiederfinden würde? Oder würde er auf den Grund sinken und in der Tiefe zu Eis erstarren… im Gletscher eingesargt für alle Zeiten? Mings Lungen schrien nach Sauerstoff. Immer noch schlug er mit angehaltenem Atem mit den Beinen. Auftauchen… Luft!
Er kämpfte gegen den Atemreflex, biss die gefühllosen Lippen aufeinander. Luft! Die Strampelei war fruchtlos. Luft!!! Im tödlichen Kampf der Instinkte behielt der Atemreflex die Oberhand.
Ming atmete ein.
Das in die Lungen einbrechende Eiswasser fühlte sich an wie siedendes Öl. Ming glaubte von innen zu verbrennen. Wasser tötet grausamerweise nicht sofort. Sieben entsetzliche Sekunden lang saugte Ming eisiges Wasser ein und stieß es wieder aus, ohne dass sein Körper bekam, was er so verzweifelt benötigte.
Endlich spürte Ming im Hinabgleiten in die
eisige Dunkelheit sein Bewusstsein schwinden. Er war froh über die
rettende Ohnmacht. Ringsumher im Wasser sah er winzige Lichtpunkte
aufglühen. Nie im Leben hatte er etwas so Schönes gesehen.
37
Der Eingang East Appointment Gate des Weißen Hauses liegt zwischen dem Gebäude des Schatzamts und dem East Lawn, der östlichen Rasenfläche vor dem Weißen Haus. Infolge der Zaunverstärkungen und der Betonhöcker, die nach dem Anschlag auf die Kaserne der Marines in Beirut installiert worden waren, herrscht an diesem Eingang keine anheimelnde Atmosphäre.
Gabrielle Ashe stand vor dem Eingang und sah mit wachsender Nervosität auf die Uhr. Es war inzwischen Viertel vor fünf geworden, ohne dass jemand versucht hätte, Kontakt mit ihr aufzunehmen.
EINGANG EAST APPOINTMENT GATE, 16:30 – KOMMEN SIE ALLEIN
Ich bin da, dachte sie, und wo bist du?
Gabrielle suchte in den Touristenscharen nach einem auffälligen Gesicht. Ein paar Männer musterten sie und gingen weiter.
Gabrielle fragte sich, ob es klug gewesen war, überhaupt herzukommen. Sie spürte, dass der Sicherheitsbeamte in seinem Wachhäuschen auf sie aufmerksam geworden war. Vermutlich hat mein Informant kalte Füße bekommen, dachte sie. Sie seufzte und wandte sich mit einem letzten Blick auf das Weiße Haus hinter dem unüberwindlichen Zaun zum Gehen.
»Miss Gabrielle Ashe?«, hörte sie den Sicherheitsbeamten hinter sich rufen.
Sie fuhr herum. Das Herz pochte ihr bis zum Hals. Ja?
Der Mann im Wachhäuschen, drahtig und mit humorlosem Gesicht, winkte sie herbei. »Ihr Gesprächspartner ist jetzt bereit, Sie zu empfangen.« Er entriegelte das Eingangstor und machte Gabrielle ein Zeichen, das wohl »Sie können jetzt reingehen« bedeutete.
Gabrielle blieb wie angewurzelt stehen. »Ich soll da hinein?«
Der Beamte nickte. »Man hat mich beauftragt, für die Verspätung um Verständnis zu bitten.«
Gabrielle schaute das geöffnete Tor an. Sie wagte immer noch nicht, einen Schritt zu tun. Was geht hier vor? So hatten wir nicht gewettet!
»Sind Sie nun Gabrielle Ashe, oder nicht?«, sagte der Sicherheitsmann ungeduldig.
»Ja, schon, aber…«
»Dann kann ich Ihnen nur dringend empfehlen, mir zu folgen.«
Mit einem Ruck setzte sich Gabrielle hinter dem Sicherheitsbeamten in Bewegung. Sie war kaum über die Schwelle getreten, als das Tor schon hinter ihr zuschlug.
38
Michael Tollands biologische Uhr war nach zwei Tagen ohne Sonnenlicht völlig verstellt. Seine Armbanduhr zeigte zwar Spätnachmittag an, aber sein Körper fand, es sei jetzt mitten in der Nacht. Er hatte die Dokumentation nach einem letzten Feinschliff als Videodatei auf eine Video-CD überspielt und war damit nun quer durch die dunkle Kuppel zum beleuchteten Medienbereich unterwegs. Dort angekommen händigte er die Scheibe dem für die Medienpräsentation verantwortlichen NASA-Techniker aus.
»Danke, Mike«, sagte der Techniker, während er mit einem viel sagenden Blinzeln die CD hochhielt. »Damit gehören wohl alle Sendungen, die man unbedingt gesehen haben muss, zum alten Eisen.«
Tolland lächelte matt. »Ich hoffe, der Präsident ist damit zufrieden.«
»Daran besteht für mich kein Zweifel. Ihre Arbeit ist jedenfalls getan. Sie können jetzt abschalten und mitfeiern.«
»Besten Dank.« Tolland blickte sich im Medienbereich um, wo die NASA-Leute ausgelassen den Meteoritenfund feierten und sich mit kanadischem Dosenbier zuprosteten. Tolland hätte auch Lust gehabt zu feiern, doch er fühlte sich körperlich und emotional wie ausgelaugt. Er hielt nach Rachel Sexton Ausschau, die aber augenscheinlich noch mit dem Präsidenten sprach.
Er will sie in die Sendung hineinnehmen, dachte er. Nicht, dass er die Idee schlecht gefunden hätte. Rachel würde eine perfekte Sprecherin für die Entdeckung abgeben. Abgesehen davon, dass sie gut aussah, hatte sie eine umgängliche Art und großes Selbstvertrauen, Eigenschaften, die Tolland bei den Frauen, mit denen er sonst Umgang hatte, selten antraf. Andererseits bestand dieser Umgang praktisch nur aus Frauen vom Fernsehen – meist entweder rücksichtslose Karrierefrauen oder strahlende Fernseh-»Persönlichkeiten«, die abseits der Kamera alles andere waren.
Tolland verdrückte sich unauffällig aus dem Gedränge der aufgekratzten NASA-Leute. Auf dem Netzwerk der Schaumgummiläufer machte er einen Spaziergang durch die Kuppel. Wohin wohl die anderen unabhängigen Wissenschaftler verschwunden waren? Falls sie nur halb so erschöpft waren wie er, hielten sie sich wahrscheinlich im Wohnbereich auf und nahmen vor dem großen Augenblick noch eine Mütze Schlaf. Ein Stückchen weiter konnte Tolland den Kreis der um das Bergungsloch aufgestellten Pylonen erkennen. Aus der Leere der Kuppelwölbung schien das Echo ferner Erinnerungen mit hohlem Klang zu ihm herabzuhallen. Tolland versuchte, sich nicht davon einfangen zu lassen. Vergiss die Geister der Vergangenheit, befahl er sich. Wenn er allein und erschöpft Augenblicke wie diesen erlebte – Augenblicke des persönlichen Triumphs und der Festlichkeit – setzten ihm diese Geister besonders zu. Sie sollte jetzt hier bei dir sein, flüsterte eine Stimme. Einsam in der Dunkelheit spürte Tolland seine Gedanken in längst vergessene Zeiten zurückgleiten.
Schon im Aufbaustudium hatte er sich in Celia Birch verliebt.
An einem Valentinstag hatte er sie in ihr Lieblingsrestaurant eingeladen. Das Dessert, das der Kellner Celia servierte, bestand aus einer Rose und einem Brillantring. Celia begriff sofort. Mit Tränen in den Augen sagte sie nur ein einziges Wort, das Michael Tolland überglücklich machte:
»Ja.«
Sie kauften ein kleines Haus bei Pasadena in Kalifornien. Celia bekam eine Anstellung als wissenschaftliche Lehrkraft. Die Bezahlung war nicht berühmt, aber es war ein Anfang. Zudem war es von dort nicht weit zum Scripps-Institut für Ozeanographie in San Diego, wo Tolland seinen Traumjob an Bord eines geologischen Forschungsschiffes ergattert hatte. Seine Arbeit bedingte immer wieder drei- bis viertägige Abwesenheiten von zu Hause, die ihm jedes Mal ein leidenschaftliches und erregendes Wiedersehen mit Celia bescherten.
Tolland nahm unterwegs manchmal einige seiner Abenteuer auf dem Meer für Celia auf Video auf. Es entstanden kleine Dokumentationen seiner Arbeit auf dem Forschungsschiff. Von einer dieser Reisen kehrte er mit einem Band zurück, das er mit körniger Videoamateur-Technik aus dem Bullauge eines Tiefsee-Tauchbootes geschossen hatte. Es war die erste Bilddokumentation eines bis dato völlig unbekannten, bizarren, chemotrophen Tintenfisches. Während Tolland bei der Aufnahme den Bildkommentar sprach, schlugen er und das Mini-U-Boot vor Begeisterung fast einen Purzelbaum.
Buchstäblich Tausende unentdeckter Arten leben in diesen Tiefen!, schwärmte er. Wir haben bislang gerade erst die Oberfläche angekratzt!
Hier unten warten Geheimnisse auf uns, von denen sich noch keiner eine Vorstellung machen kann!
Celia war hingerissen vom Überschwang und der Prägnanz der wissenschaftlichen Erklärungen ihres Mannes. Aus der Laune eines Augenblicks heraus zeigte sie das Band ihrer Klasse. Es wurde auf Anhieb ein Hit. Andere Lehrer wollten es ausleihen.
Eltern wollten es kopieren. Alle schienen ungeduldig auf Michaels nächste Folge zu warten. Celia hatte eine Idee. Sie rief eine Freundin vom College an, die mittlerweile bei der NBC arbeitete, und schickte ihr eine Kopie.
Zwei Monate darauf bat Michael Tolland seine Frau Celia, einen Strandspaziergang an Kingman Beach mit ihm zu machen.
Es war ihr ganz spezieller Platz, den sie immer aufsuchten, um sich von ihren Hoffnungen und Träumen zu erzählen.
»Es gibt etwas Neues«, sagte Tolland.
Celia blieb stehen und ergriff Michaels Hände. Das Wasser umspülte ihre Füße. »Was denn?«
Tolland konnte kaum noch an sich halten. »Letzte Woche hat mich das NBC-Fernsehen angerufen. Sie wollen, dass ich eine Dokumentarserie über die Ozeane mache. Das Ganze ist bereits beschlossene Sache. Anfang nächsten Jahres soll die Pilotsendung laufen! Ich kann es noch gar nicht glauben!«
Celia strahlte und küsste ihn. »Aber ich glaube es! Du wirst ganz groß rauskommen!«
Ein halbes Jahr darauf, während einer Segeltour bei Catalina, klagte Celia über Schmerzen in der Seite. Sie gaben anfangs nicht viel darauf, doch es wurde schlimmer. Celia ließ sich untersuchen.
In einem einzigen Augenblick zerplatzte Tollands Traum vom Leben und wurde zu einem Albtraum. Celia war krank, sehr krank. »Lymphknotenkrebs im fortgeschrittenen Stadium«, erklärten ihnen die Ärzte. »Sehr selten bei Patienten dieser Altersgruppe, aber nicht ausgeschlossen.«
Celia und Tolland suchten zahllose Ärzte und Kliniken auf, konsultierten Spezialisten, doch die Antwort war immer die Gleiche: unheilbar.
Damit finde ich mich nicht
so einfach ab! Tolland gab umgehend seinen Job im
Scripps-Institut auf, vergaß die Dokumentarserie für NBC und
konzentrierte seine ganze Kraft und Liebe auf Celia, um ihr zu
helfen, wieder gesund zu werden. Sie kämpfte tapfer gegen die
Krankheit an und ertrug die Schmerzen mit einer Würde, die seine
Liebe zu ihr noch vertiefte. Er machte mit ihr lange Spaziergänge
an Kingman Beach, kochte ihr gesunde Mahlzeiten, malte ihr aus, was
sie tun würden, wenn es ihr wieder besser ging.
Aber es sollte nicht sein.
Nur sieben Monate später saß Michael Tolland in einem kahlen Krankenzimmer am Bett seiner sterbenden Frau. Er konnte ihr Gesicht kaum noch erkennen. Das Wüten des Krebses fand seinesgleichen nur noch in der Brutalität der Chemotherapie. Celia war ein ausgemergeltes Skelett. Die letzten Stunden waren die schlimmsten.
»Michael«, sagte sie mit schwacher, kratziger Stimme. »Es ist Zeit lozulassen.«
»Ich kann nicht.« Seine Augen schwammen.
»Du bist ein Überlebenskünstler«, sagte Celia. »Du musst es jetzt sein. Versprich mir, dass du wieder jemand lieben wirst.«
»Ich will niemand mehr lieben.«
»Du wirst es lernen.«
Celia starb an einem Sonntagmorgen im Juni. Tolland kam sich vor wie ein vom Anker gerissenes Schiff, das ruderlos und mit zerbrochenem Kompass in sturmgepeitschter See treibt. Wochenlang war er nicht mehr Herr seiner selbst. Freunde versuchten ihm zu helfen, aber er war zu stolz, um ihr Mitgefühl zu ertragen.
Du musst dich
entscheiden, sagte er sich schließlich, krepieren oder arbeiten.
Kurz entschlossen stürzte er sich wieder in die Arbeit an der Sendung »Wunderbare Welt der Meere«.
Das Programm rettete ihm buchstäblich das Leben. In den vier folgenden Jahren ging die Sendung auf Erfolgskurs. Obwohl sich Tollands Freunde fleißig als Kuppler betätigten, hatte Tolland nur eine Hand voll Rendezvous. Sie waren ausnahmslos alle ein Fiasko und eine Enttäuschung auf beiden Seiten. Tolland ließ sich schließlich nicht mehr auf Verabredungen ein und machte das viele Reisen für sein fehlendes soziales Leben verantwortlich.
Seine Freunde wussten es allerdings besser. Michael Tolland war einfach noch nicht so weit.
Der Anblick des vor ihm auftauchenden Bergungslochs des Meteoriten riss Tolland aus seinen schmerzlichen Erinnerungen.
Fröstelnd schüttelte er die Gedanken ab und ging auf die Öffnung im Eis zu. In der verdunkelten Kuppel hatte das Schmelzwasser eine geradezu irreale und geheimnisvolle Schönheit gewonnen. Die Wasseroberfläche glitzerte wie ein mondbeschienener Teich. Einzelne Lichtpunkte in der obersten Wasserschicht zogen Tollands Aufmerksamkeit auf sich. Es sah aus, als hätte jemand blaugrünen Flitter aufs Wasser gestreut. Tolland betrachtete eine Zeit lang das Glitzern.
Das Ganze war sonderbar.
Im ersten Moment hatte er das Spiel der Lichter im Wasser für eine Reflexion der Scheinwerfer an der Peripherie der Kuppel gehalten. Jetzt stellte er fest, dass dem keineswegs so war. Das Glitzern hatte eine grünliche Färbung und schien rhythmisch zu pulsieren, als wäre die Wasseroberfläche lebendig und von innen beleuchtet. Neugierig geworden machte Tolland ein paar Schritte in den Kreis der Pylonen, um die Sache näher zu betrachten.
Hinten am Rand der Kuppel trat Rachel Sexton aus dem Kommunikationscontainer in die Dunkelheit. Sie blieb einen Augenblick orientierungslos stehen. Die Habisphäre tat sich vor ihr auf wie ein gähnender Höhlenschlund mit dem schwachen, von der Nordwandung reflektierten Streulicht der Scheinwerfer als einziger Lichtquelle. Instinktiv trieb es sie aus der unheimlichen Dunkelheit zum hell beleuchteten Medienbereich.
Rachel war mit dem Ergebnis der Unterrichtung des Mitarbeiterstabs des Weißen Hauses sehr zufrieden. Nach der anfänglichen Befangenheit hatte sie ihr ganzes Wissen über den Meteoriten flüssig vorgetragen. Während sie noch sprach, konnte sie den Gesichtsausdruck ihrer Zuhörer von Skepsis über Hoffnung in Begeisterung umschlagen sehen.
»Außerirdisches Leben!«, hörte sie jemanden ausrufen. »Wisst ihr, was das heißt?«
»Ja, das heißt, dass wir die Wahl gewinnen!«, rief jemand anders.
Während Rachel auf den Medienbereich zuging und sich die bevorstehende Ankündigung vorstellte, fragte sie sich unwillkürlich, ob ihr Vater den Keulenhieb des Präsidenten verdient hatte, der ihn völlig ungedeckt treffen und seiner Kampagne mit einem einzigen Schlag den Garaus machen würde.
Die Antwort konnte nur Ja lauten.
Wenn Rachel Sexton Mitleid mit ihrem Vater bekam, brauchte sie bloß an ihre Mutter zu denken. Der Schmerz und die Beschämung, die ihr Vater über sie gebracht hatte, waren unverzeihlich… sein ewiges verspätetes Nachhausekommen, mit hochmütigem Gesicht und dem Duft von Parfüm am Revers, sein heuchlerisches religiöses Getue, mit dem er sich tarnte, während er log und betrog, was das Zeug hielt, in dem sicheren Wissen, dass Katherine ihn niemals verlassen würde.
Jawohl, sagte sie sich, Senator Sexton wird genau das bekommen, was er verdient.
Im Medienbereich ging es hoch her. Jeder hielt eine Dose Bier in der Hand. Rachel kam sich vor wie auf einer Studentenfete.
Sie fragte sich, wo Michael Tolland steckte.
Corky Marlinson stand plötzlich neben ihr. »Sie vermissen Mike?«
Rachel wurde verlegen. »Ach nein, ich wüsste nur gern…«
Corky schüttelte mit gespieltem Unwillen den Kopf.
»Hab ich’s mir doch gedacht! Mike ist gerade weg. Ich glaube, er wollte sich ein bisschen aufs Ohr legen.« Er spähte in die düstere Kuppel. »Aber ich glaube, Sie haben Glück.« Er knuffte Rachel. »Mike gerät jedes Mal in Verzückung, wenn er Wasser sieht«, sagte er und deutete ins Dunkel.
Rachel folgte der Richtung seines ausgestreckten Zeigefingers, der in die Mitte der Kuppel wies. Michael Tolland stand dort und starrte ins Wasser des Bergungslochs.
»Was macht er denn da?«, wunderte sich Rachel. »Da ist es nicht ganz ungefährlich.«
»Vielleicht muss er mal pinkeln. Wollen wir ihn reinschubsen?«
Rachel und Corky gingen zum Loch hinüber.
»He, Wassermann, Badehose vergessen?«, rief Corky im Näherkommen.
Tolland drehte sich um. In der Düsternis sah Rachel sein wie von unten seltsam angestrahltes Gesicht. Er blickte sehr ernst.
»Mike, ist alles in Ordnung?«, fragte sie
besorgt.
»Nicht unbedingt.« Tolland wies aufs Wasser.
Corky stieg über die Pylonen und stellte sich neben Tolland an den Rand des Eislochs. Beim ersten Blick ins Wasser schien ihn sein Übermut augenblicklich zu verlassen. Rachel trat zu den beiden Männern. Überrascht sah sie auf der Wasseroberfläche blaugrüne Lichtkleckse schimmern. Sie flackerten wie winzige Neonröhren. Es sah wunderschön aus. Tolland ergriff einen kleinen Eisbrocken und warf ihn ins Wasser. Ein grünlich phosphoreszierender Strudel wallte an der Einschlagstelle auf.
»Mike, bitte, sag mir, dass du weißt, was das ist«, sagte Corky unbehaglich.
Tolland legte die Stirn in Falten. »Ich weiß verdammt genau, was das ist«, sagte er. »Aber es würde mich brennend interessieren, was es hier zu suchen hat.«
39
Wir haben hier Flagellaten«, sagte Tolland mit unverwandtem Blick in das lumineszierende Wasser.
»Flatulenzen?«, flachste Corky. »Du vielleicht.«
Rachel spürte, dass Tolland nicht nach Scherzen zumute war.
»Ich weiß nicht, wie es zu erklären ist«, meinte Tolland, »aber irgendwie sind biolumineszente Dinoflagellaten in dieses Wasser gelangt.«
»Bio – was?«, erkundigte sich Rachel. Geht es auch ohne Wissenschafts-Chinesisch?
»Einzelliges Plankton, das durch katalytische
Oxidation einen Leuchtstoff namens Luziferin erzeugt.«
Das soll kein Fachchinesisch gewesen sein?
Tolland stieß die Luft aus. »Corky, ist es irgendwie denkbar, dass der Meteorit lebende Organismen enthalten hat?«
Corky lachte laut auf. »Mach keine Witze, Mike!«
»Ich mache keine Witze.«
»Völlig ausgeschlossen! Und glaub mir – hätte die NASA nur den leisesten Verdacht gehabt, dass sich in diesem Stein lebendige extraterrestrische Organismen befinden, hätte sie ihn niemals ins Freie und an die Luft befördert.«
Tolland sah nicht überzeugt aus. Er war einerseits zwar erleichtert, andererseits tat sich nun ein noch größeres Geheimnis auf.
»Ohne Mikroskop kann ich nichts Genaues sagen«, meinte er.
»Aber für mich sieht das aus wie biolumineszentes Plankton von der Gattung Pyrrophyta, was so viel wie ›Feuerpflanze‹ heißt.
Das Eismeer wimmelt davon.«
»Warum hast du mich dann gefragt, ob es aus dem All stammen könnte?«, wollte Corky wissen.
»Weil der Meteorit im Gletschereis begraben war – im Süßwassereis der Schneefälle. In diesem Loch befindet sich dreihundert Jahre altes reines Gletscherschmelzwasser. Wie sollten Lebewesen aus dem Ozean dort hineingelangt sein?«
Tollands Überlegung folgte ein langes Schweigen.
An der Kante des Wasserlochs stehend versuchte Rachel geistig zu verarbeiten, was sie da sah. Biolumineszentes Plankton im Bergungsschacht. Was hat das zu bedeuten?
»Irgendwo da unten muss sich ein Riss im Eis befinden«, sagte Tolland. »Das ist die einzige Erklärung. Das Plankton muss mit dem durch den Riss einsickernden Meerwasser eingedrungen sein.«
Rachel verstand gar nichts mehr. »Eingesickert? Von wo?« Sie erinnerte sich an die lange Fahrt mit dem IceRover von der Landebahn am Meer hierher. »Von hier bis zur Küste sind es fast vier Kilometer.«
Corky und Tolland schauten Rachel entgeistert an. »Das Meer«, erklärte Corky, »befindet sich genau genommen unmittelbar unter unseren Füßen. Diese Eistafel schwimmt.«
Rachel schaute völlig verwirrt von einem der Männer zum anderen. »Sie schwimmt? Aber… wir befinden uns doch auf einem Gletscher!«
»Sicher befinden wir uns auf einem Gletscher«, sagte Tolland,
»aber wir befinden uns nicht über Land. Gletscher fließen gelegentlich über den Rand einer Landmasse hinaus ins offene Meer.
Da Eis leichter ist als Wasser, fließt der Gletscher einfach weiter und schwimmt auf dem Meer wie ein gewaltiges Floß aus Eis.
Das nennt man einen Eisschelf… den schwimmenden Abschnitt der Gletscherzunge.« Er hielt inne. »Wir befinden und derzeit ungefähr anderthalb Kilometer von der eigentlichen Küste entfernt auf dem Meer.«
Rachel bekam vor Schreck weiche Knie. Sie vergegenwärtigte sich ihre Situation. Den arktischen Ozean unter sich zu wissen, war ihr mehr als unheimlich.
Tolland spürte ihre Beklommenheit. Er stampfte mit dem Fuß auf das Eis. »Keine Bange. Das Eis ist fast hundert Meter dick, und sechzig Meter davon liegen im Wasser, wie ein Eiswürfel in einem Getränk. Das sorgt für eine hervorragende Stabilität. Auf diesem Schelf könnte man einen Wolkenkratzer bauen.«
Rachel nickte zögerlich und nur zum Teil
überzeugt. Doch von ihrem Unbehagen abgesehen verstand sie jetzt
Tollands Theorie von der Herkunft des Planktons. Er glaubt, es gibt einen Riss im Eis, der vom Bergungsloch bis ins Meer hinunterreicht, von wo
Plankton nach oben gelangen kann.
Vorstellbar war es, auch wenn Rachel sich dann mit einem anderen
Widerspruch konfrontiert sah. Norah Mangor hatte sich sehr
eindeutig zur Solidität des Gletschers geäußert und diese Aussage
auch mit zahllosen Bohrproben untermauert.
Rachel schaute Tolland an. »Ich dachte, die Solidität und Unversehrtheit des Gletschers sei das Fundament, auf dem sich das gesamte Datierungsverfahren nach Schichten aufbaut. Hat Dr. Mangor nicht gesagt, dass der Gletscher weder Verwerfungen noch Risse aufweist?«
Corky runzelte die Stirn. »Sieht so aus, als hätte unsere Eiskönigin gemogelt.«
Sag das lieber nicht zu laut, dachte Rachel, sonst kriegst du noch einen Eispickel aufs Haupt.
In die Betrachtung der phosphoreszierenden Lebewesen versunken, rieb Tolland sich das Kinn. »Es gibt buchstäblich keine andere Erklärung. Es muss ein Riss vorhanden sein. Der Auftrieb des vom Eisschelf verdrängten Meerwassers treibt die planktonreiche Suppe nach oben in das Loch.«
Das muss ja ein ganz schöner Riss sein, dachte Rachel. Wenn das Eis hier an die hundert Meter dick war und das Loch sechzig Meter tief, musste der hypothetische Riss durch vierzig Meter massives Eis hindurchgehen.
»Bitte, tu mir einen Gefallen«, sagte Tolland zu Corky. »Versuche Norah zu finden. Lass uns hoffen, dass sie uns etwas über diesen Gletscher verschwiegen hat. Und vielleicht kannst du auch Ming aufstöbern. Der kann uns möglicherweise auch etwas zu diesen Glühwürmchen sagen.«
Corky machte sich auf den Weg.
»Beeil dich«, rief Tolland ihm hinterher, »ich könnte schwören, dass die Biolumineszenz nachlässt.«
Rachel schaute in das Loch. Das grüne Leuchten war eindeutig schwächer geworden.
Tolland zog seinen Parka aus und legte sich am Rand des Lochs bäuchlings aufs Eis. Rachel schaute verwirrt zu. »Mike, was tun Sie da?«
»Ich möchte prüfen, ob Salzwasser eingeströmt ist.«
»Indem Sie sich ohne Jacke aufs Eis legen?«
»Genau.« Tolland kroch noch etwas näher ans Loch heran und ließ einen Jackenärmel in den Schacht bis zum Wasserspiegel hinunterbaumeln. »Ich praktiziere soeben ein überaus genaues Prüfverfahren für die Anwesenheit von Salzwasser, das von sämtlichen anerkannten Ozeanographen angewandt wird, das so genannte ›Ärmelleckverfahren‹.«
Im Zelt draußen auf dem Eisschelf fuhrwerkte Delta-1 mit dem Joystick und versuchte, den beschädigten Mikroboter über der am Loch im Eis versammelten Gruppe vor dem Absturz zu bewahren. Den Gesprächen war zu entnehmen, dass die Dinge rasch einer Wendung zustrebten.
»Ruf den Einsatzleiter an«, sagte er zu Delta-3. »Hier entwickelt sich ein ernstes Problem.«
40
Als junges Mädchen hatte Gabrielle Ashe unzählige Male die Führung durchs Weiße Haus mitgemacht und insgeheim davon geträumt, eines Tages in den Räumlichkeiten des Präsidenten zu arbeiten und dem Kreis anzugehören, dessen Entscheidungen die Zukunft des Landes bestimmten. Im Augenblick jedoch wäre sie an jedem anderen Ort der Welt lieber gewesen als ausgerechnet hier. Der Sicherheitsbeamte vom Osteingang führte Gabrielle in ein prunkvolles Foyer. Sie fragte sich, was in aller Welt der geheimnisvolle Informant ihr wohl beweisen wollte.
Gabrielle ins Weiße Haus einzuladen war hirnrissig. Was ist, wenn jemand mich erkennt? Als Senator Sextons rechte Hand war Gabrielle in der letzten Zeit ziemlich oft in den Medien erschienen.
Bestimmt würde jemand sie erkennen.
»Miss Ashe?« Ein freundlich dreinblickender Wachbeamter lächelte sie an. »Würden Sie bitte einmal dort hinüberschauen?« Er deutete in die Richtung.
Gabrielle folgte seiner Geste. Ein Blitzlicht flammte auf und blendete sie.
»Vielen Dank, Ma’am.« Der Wachbeamte führte sie zu einem Schreibtisch. »Würden Sie sich bitte hier ins Besucherbuch eintragen?« Er legte ihr einen schweren Lederfolianten vor und hielt ihr einen Kugelschreiber hin.
Gabrielle betrachtete die leere Seite im Besucherbuch. Sie erinnerte sich gehört zu haben, dass jeder Besucher für seinen Eintrag zur Wahrung der Vertraulichkeit stets eine eigene leere Seite zur Verfügung gestellt bekam. Sie trug ihren Namen ein.
Das wäre dann also das
Geheimtreffen.
Gabrielle ging durch eine Metalldetektorschleuse und ließ eine oberflächliche Abtastprozedur über sich ergehen.
Die Beamtin lächelte. »Angenehmen Besuch, Miss Ashe.«
Gabrielle folgte dem Sicherheitsbeamten fünfzehn Meter weit einen mit Keramikplatten belegten Flur hinunter zu einem weiteren Schreibtisch mit Sicherheitspersonal, wo Besucherpässe ausgegeben wurden. Gabrielles Hundemarke schob sich schon aus dem Schlitz der Einschweißmaschine. Der Beamte knipste ein Loch hinein, zog eine Kordel durch und hängte den fertigen Besucherpass Gabrielle um den Hals. Das Plastik war noch warm.
Das Foto war der Schnappschuss, der keine Minute zuvor weiter vorne aufgenommen worden war.
Gabrielle war beeindruckt. Wer kann da noch behaupten, dass die Bürokratie nichts leistet?
Der Sicherheitsbeamte führte Gabrielle tiefer in den Baukomplex hinein. Mit jedem Schritt fühlte sie sich unbehaglicher. Dem geheimnisvollen Urheber der Einladung konnte jedenfalls nicht daran gelegen sein, dass das Treffen vertraulich blieb. Gabrielle hatte einen offiziellen Ausweis erhalten, sich ins Besucherbuch eingetragen und wurde nun in aller Öffentlichkeit durch die Besucherscharen auf der ersten Etage des Weißen Hauses geführt.
»Und dies ist das Porzellanzimmer«, erklärte eine Führerin einer Touristengruppe. »Hier befindet sich das rot geränderte Porzellanservice für neunhundertzweiundfünfzig Dollar pro Person von Nancy Reagan, das 1981 eine Parlamentsdebatte über die Vergeudung öffentlicher Gelder ausgelöst hat.«
Der Sicherheitsbeamte führte Gabrielle um die Touristentraube herum zu einem großen Marmortreppenhaus, das gerade von einer anderen Touristengruppe erklommen wurde. »Sie werden jetzt gleich den fast dreihundert Quadratmeter großen East Room betreten«, erläuterte die Führerin, »wo die Präsidentengattin Abigail Adams die Wäsche von John Adams zum Trocknen aufgehängt hat. Von dort gehen wir weiter in den Roten Salon.
Hier pflegte Dolley Madison fremden Staatsoberhäuptern große Mengen Alkohol einzuflößen, bevor Präsident James Madison in Verhandlungen mit ihnen eintrat.« Die Touristen amüsierten sich köstlich. Gabrielle folgte dem Beamten am Treppenhaus vorbei durch eine Reihe leichter Absperrungen in einen weniger zugänglichen Teil des Gebäudes. Sie betraten einen Raum, den Gabrielle nur aus Büchern und vom Fernsehen her kannte. Sie hielt den Atem an.
Mein Gott, das ist ja der Kartenraum!
Keine Touristengruppe kam je hier herein. Wenn man die Wandtäfelungen beiseite klappte, kamen Lage um Lage Welt- und Länderkarten zum Vorschein. Hier hatte Roosevelt die Feldzüge des Zweiten Weltkriegs geplant. Und Präsident Clinton hatte den Raum für seine Affäre mit Monika Lewinsky genutzt.
Diesen Gedanken verdrängte Gabrielle jedoch rasch. Entscheidend war, dass der Kartenraum die Durchgangsstation zum Westflügel bildete – jenen Bereich innerhalb des Weißen Hauses, wo die eigentlichen Drahtzieher der Macht am Werk waren. Dass ihr Weg sie hierher führen würde, hätte Gabrielle zu allerletzt gedacht. Sie war davon ausgegangen, die E-Mails würden von einem unternehmungslustigen Praktikanten oder einer Sekretärin stammen, die in einem der weniger spektakulären Büros tätig waren. Offensichtlich ein Irrtum.
Du bist auf dem Weg in den Westflügel.
Der Sicherheitsbeamte begleitete sie bis ans
Ende eines mit dicken Teppichen ausgelegten Flurs. Vor einer Tür
ohne Namensschild blieb er stehen und klopfte an. Gabrielle pochte
das Herz.
»Es ist offen«, schnarrte es von drinnen.
Der Beamte öffnete die Tür und winkte Gabrielle hinein.
Gabrielle trat in den Raum. Drinnen war es schummrig; die Jalousien waren heruntergelassen. Gabrielle sah jemand in der Düsternis hinter dem Schreibtisch sitzen.
»Miss Ashe?«, erklang es hinter einer Wolke Zigarettenqualm.
»Ich begrüße Sie.«
Als Gabrielles Augen sich an das schwache Licht gewöhnt hatten, machte sie ein erschreckend bekanntes Gesicht aus. Sie wurde starr vor Überraschung. Das also ist der Absender der E-Mails.
»Nett, dass Sie gekommen sind«, sagte Marjorie Tench.
»Miss… Tench?«, sagte Gabrielle stockend. Die Stimme drohte ihr zu versagen.
»Nennen Sie mich Marjorie.« Die Chefberaterin des Präsidenten erhob sich und stieß wie ein Drache Rauch durch die Nüstern aus. »Wir werden noch gute Freundinnen.«
41
Norah Mangor stand neben Tolland, Rachel und Corky und schaute in das pechschwarze Loch des Bergungsschachts.
»Mike«, sagte sie, »du bist ein netter Kerl, aber du spinnst. Hier ist keine Spur von Biolumineszenz.«
Tolland wünschte, er hätte daran gedacht, eine
Videoaufnahme zu machen. Während Corky unterwegs gewesen war, um
Norah und Ming aufzuspüren, hatte das Leuchten rapide abgenommen
und dann innerhalb von ein paar Minuten ganz aufgehört.
Tolland warf noch einen Eissplitter ins Wasser, aber nichts tat sich, nichts wallte grün auf.
»Wo sind die Dinger denn hin?«, wollte Corky wissen.
Tolland hatte eine einleuchtende Erklärung. Biolumineszenz – einer der genialsten Verteidigungsmechanismen der Natur – war eine natürliche Reizantwort des Planktons auf Stress. Wenn ein Planktonteilchen spürte, dass es in Gefahr war, von einem größeren Organismus verschlungen zu werden, begann es zu leuchten, um den Angreifer zu verscheuchen, indem es dessen Fressfeinde anlockte. Im vorliegenden Fall befand sich das durch einen Riss eingedrungene Plankton plötzlich in einem Biotop wieder, das vorwiegend aus Süßwasser bestand. Während es im Süßwasser allmählich umkam, begann es in Panik zu leuchten. »Ich glaube, die Tierchen sind tot.«
»Sie sind alle ermordet worden«, spottete Norah. »Der Osterhase ist gekommen und hat sie alle gefressen.«
Corky schaute sie an. »Ich habe das Leuchten auch gesehen, Norah.«
»Bevor oder nachdem du LSD eingeworfen hast?«
»Warum sollten wir dir Geschichten erzählen?«
»Männer erzählen immer Geschichten.«
»Ja, wenn sie fremdgehen, aber nicht, wenn es um Biolumineszenz geht.«
Tolland seufzte. »Norah, wir brauchen uns bestimmt nicht darüber zu streiten, dass es unter dem Eis lebendiges Plankton gibt.«
Norah schaute ihn böse an. »Mike, bitte erklär
mir nicht meinen Beruf! Nur der Ordnung halber: Unter den
arktischen Eisschelfs leben über zweihundert Arten von Diatomeen
oder Kieselalgen. Vierzehn Arten von autotrophen Nannoflagellaten,
zwanzig heterotrophe Flagellatenarten, vierzig heterotrophe
Dinoflagellaten und mehrere Vielzellerarten, einschließlich
Flohkrebse, Ruderfüßer, Quallen und Fische. Noch Fragen?«
Tolland runzelte die Stirn. »Norah, natürlich weißt du mehr über die arktische Fauna als ich. Außerdem sind wir uns einig, dass es unter unseren Füßen jede Menge Leben gibt. Warum also sträubst du dich so dagegen, dass wir biolumineszentes Plankton gesehen haben?«
»Weil dieser Schacht hermetisch dicht ist, Mike. Er ist ein abgeschlossenes Süßwasserbiotop. Dass Meeresplankton hier hereingelangen kann, ist völlig unmöglich!«
»Ich habe aber Salz im Wasser geschmeckt«, beharrte Tolland.
»Sehr schwach zwar, aber eindeutig. Irgendwie kommt Salzwasser hier herein.«
»Na klar«, sagte Norah. »Du hast Salz geschmeckt. Du hast am Ärmel von deinem alten verschwitzten Parka geleckt, und jetzt weißt du genau, dass die Dichtemessungen vom PODS und die Auswertung von fünfzehn separaten Kernbohrungen nicht stimmen können.«
Tolland hielt ihr zum Beweis den feuchten Ärmel hin.
»Nein, Mike, ich werde nicht an deinem verdammten Ärmel lecken.« Sie schaute in das Loch. »Darf ich mal fragen, weshalb angebliches Plankton in Massen durch einen angeblichen Riss hereingeschwommen sein soll?«
»Wärme vielleicht?«, schlug Tolland vor. »Viele Meereslebewesen werden von Wärme angezogen. Um den Meteoriten zu bergen, haben wir ihn erwärmt. Das wärmere Biotop im Schacht könnte das Plankton angezogen haben.«
»Klingt logisch.« Corky nickte.
»Logisch!« Norah verdrehte die Augen. »Wisst ihr, für einen preisgekrönten Physiker und einen weltberühmten Ozeanographen seid ihr zwei ziemliche Schafsköpfe. Ist euch schon mal aufgefallen, selbst wenn es einen Riss geben sollte – und ich garantiere euch, es gibt keinen – , dass Meerwasser schon aus physikalischen Gründen unmöglich in diesen Schacht einströmen kann?« Sie schaute die beiden Männer mitleidig an.
»Aber Norah…«, setzte Corky an.
»Meine Herren! Wir befinden uns hier über dem Meeresspiegel.«
Sie stampfte mit dem Fuß aufs Eis. »Hallo, aufwachen! Diese Eistafel ragt mindestens dreißig Meter aus dem Wasser. Vielleicht erinnert ihr euch mal an den Abbruch am Ende des Schelfs? Wir sind hier höher als das Meer. Wenn es in diesem Schacht irgendwo einen Riss gäbe, müsste das Wasser hinauslaufen, und nicht hinein. Das Ganze nennt man Schwerkraft.« Norah deutete in den wassergefüllten Schacht. »Vielleicht ist euch aufgefallen, dass der Wasserspiegel die ganze Zeit konstant geblieben ist.«
Tolland und Corky schauten einander betroffen an.
»Mist«, sagte Corky, »daran habe ich nicht gedacht.«
Tolland kam sich wie ein Idiot vor. Norah hatte vollkommen Recht. Das Wasser müsste abfließen. Tolland stand eine ganze Weile schweigend da und überlegte.
»Okay«, seufzte er schließlich. »Die Risstheorie ist offensichtlich Blödsinn. Aber wir haben die Biolumineszenz im Wasser beobachtet. Es bleibt also nur der Schluss, dass wir es hier doch nicht mit einem geschlossenen System zu tun haben. Wie ich weiß, baut Norahs Datierung zum Großteil auf ihrer Annahme auf, dass der Gletscher ein einziger massiver Eisblock ist, aber…«
»Meine Annahme?« Norah wurde langsam ernsthaft böse.
»Nun vergiss mal nicht, Mike, dass das keineswegs nur meine Erhebungen sind. Die NASA ist zu den gleichen Ergebnissen gekommen. Alle haben bestätigt, dass dieser Gletscher aus einem Stück besteht. Von wegen Risse!«
Tolland schaute zum Medienbereich hinüber, wo sich die Leute tummelten. »Wie auch immer, ich denke jedenfalls, wir kommen nicht darum herum, Ekstrom Bescheid zu sagen und…«
»Das ist doch Schwachsinn!«, zischte Norah. »Leute, lasst euch sagen, diese Eismasse ist aus einem Guss! Das würde mir noch fehlen, mir meine Kerndaten auf den Kopf stellen zu lassen, nur weil einer an seinem Ärmel leckt und Halluzinationen bekommt!«
Sie stürmte davon, um ein paar Gerätschaften herbeizuholen.
»Ich nehme jetzt nach allen Regeln der Kunst eine Wasserprobe, und dann werde ich euch beweisen, dass es hier keine Spur von Salzwasserplankton gibt – tot oder lebendig!«
Rachel und die anderen sahen schweigend zu, als Norah mit einer sterilen Pipette, die an einer Schnur hing, dem Schmelzwasser eine Probe entnahm. Sie gab ein paar Tropfen in ein kleines Gerät, das aussah wie ein Miniteleskop, und richtete es auf den Lichtschein auf der Nordseite der Kuppel. Sie hatte kaum hineingeschaut, da begann sie zu fluchen.
»Himmel, Arsch und Zwirn!« Sie schüttelte den Apparat und spähte noch einmal hinein. »Mit diesem Refraktometer kann etwas nicht stimmen!«
»Salzwasser?«, erkundigte Corky sich
süffisant.
Norah runzelte die Stirn. »Ein kleiner Anteil. Ich lese hier drei Prozent ab – aber das ist vollkommen unmöglich. Dieser Gletscher ist dicht gepackter Schnee, reines Süßwasser. Da gibt es kein Salz.« Sie brachte ihre Probe zu einem Mikroskop, schaute prüfend hinein und stöhnte auf.
»Plankton?« Diesmal war Tolland der Sprecher.
»G. polyhedra«, gab sie zurück. Ihre Stimme war wieder ruhiger geworden. »Es ist eine der Planktonarten, die wir Glaziologen in der Regel unter einem Eisschelf finden.« Sie blickte Tolland an.
»Sie sind jetzt tot. Offensichtlich haben sie den Aufenthalt in einer stark verdünnten Salzwasserlösung nicht lange überlebt.«
Die vier standen in betroffenem Schweigen neben dem tiefen Schacht. Rachel überlegte, welche Folgen dieser unaufgelöste Widerspruch für die Entdeckung als solche zeitigen könnte. Das Dilemma schien im Gesamtzusammenhang der allgemeinen Bedeutung des Meteoriten nicht weiter tragisch, aber als Nachrichtenanalystin hatte Rachel manches Theoriegebäude schon wegen kleiner Unstimmigkeiten in sich zusammenfallen sehen.
»Was geht hier vor?«, sagte eine tiefe, grollende Stimme.
Alle schraken auf. Die bärenhafte Gestalt des NASA-Chefs löste sich aus dem Dunkel.
»Wir haben eine kleine Unstimmigkeit mit dem Wasser im Schacht entdeckt«, sagte Tolland. »Wir suchen gerade nach einer Erklärung.«
»Norahs Eisdaten sind im Eimer«, krähte Corky fast schon triumphierend.
»Mach bloß keinen Aufstand!«, flüsterte Norah.
Ekstrom trat zu ihnen und runzelte die buschigen Brauen.
»Was soll an den Eisdaten nicht
stimmen?«
Tolland gab einen unbestimmten Seufzer von sich. »Wir haben eine dreiprozentige Salzwasserbeimischung im Meteoritenschacht gemessen, was dem glaziologischen Befund widerspricht, dass der Meteorit in einem unberührten Süßwassergletscher eingeschlossen war.« Er hielt inne. »Außerdem haben wir Plankton entdeckt.«
Ekstrom sagte zornig: »Das ist nachweislich Unsinn! Dieser Gletscher weist keine Brüche auf. Die Messungen von PODS
haben das bestätigt. Der Meteorit war in einer festen Eismatrix eingeschlossen.«
Rachel wusste, dass Ekstrom Recht hatte. Nach den Dichtemessungen der NASA war das Eis bombenfest. Auf allen Seiten des Meteoriten weit und breit nur massives Eis. Keine Risse, keine Brüche. Rachel wusste schließlich, wie Dichtedaten zustande kamen. Doch da kam ihr eine merkwürdige Idee…
»Außerdem haben die Kernbohrungen von Dr. Mangor die Homogenität des Gletschers bestätigt«, sagte Ekstrom.
»Eben!«, sagte Norah und warf das Refraktometer auf einen Tisch. »Doppelt gemoppelt. Das Eis hat keinerlei Bruchlinien.
Von dieser Seite bekommen wir nicht den Hauch einer Erklärung für das Salzwasser und das Plankton.«
»Es könnte aber eine andere Erklärung geben«, sagte Rachel.
Sie war von der Festigkeit ihrer Stimme selbst überrascht. Das Brainstorming hatte bei ihr eine absolut unwahrscheinliche Erinnerung wachgerufen.
Alle schauten sie an. Die Skepsis stand in den Gesichtern.
Rachel lächelte. »Es gibt eine vollkommen einleuchtende Erklärung für das Vorhandensein von Salz und Plankton.« Sie schaute Tolland keck an. »Mike, ich wundere mich eigentlich, dass Sie nicht schon selbst darauf gekommen sind.«
42
Im Gletschereis eingefrorenes Plankton?« Rachels Erklärungsversuch schien Corky Marlington kaum zu beeindrucken.
»Ich möchte Ihnen nicht die Ernte verhageln«, sagte er, »aber normalerweise geht alles ein, wenn es gefriert. Und die kleinen Biester haben uns angeblitzt, wissen Sie noch?«
Tolland schenkte Rachel einen anerkennenden Blick. »Rachel hat vielleicht gar nicht so Unrecht. Es gibt eine Reihe von Arten, die ihre Lebensfunktionen herunterfahren können, wenn ihre Umwelt es erfordert. Ich habe mal einen Film darüber gedreht.«
Rachel nickte. »Sie haben eine nördliche Hechtart gezeigt, die sich im Eis der Seen einfrieren ließ und bei Tauwetter gewissermaßen wieder zum Leben erwachte. Sie haben auch von Mikroorganismen gesprochen, die im Dürreschlaf jahrzehntelang im Wüstensand stecken konnten und bei Regen wieder aufleben.«
Tolland lachte leise. »Sie haben ja tatsächlich meine Sendungen verfolgt.«
Rachel hob verlegen die Schultern.
»Worauf wollen Sie hinaus, Miss Sexton?«, fragte Norah.
»Auf eine Sache«, erwiderte Tolland an Rachels Stelle, »die mir schon längst hätte einfallen müssen. In dem besagten Programm habe ich auch eine Planktonart erwähnt, die in den polaren Eiskappen jeden Winter einfriert und im Eis überwintert. Im Sommer, wenn die Polarkappen wieder dünner werden, schwimmt sie davon. Zugegeben, die Art, von der in meiner Sendung die Rede war, ist nicht identisch mit der biolumineszenten Art, die wir hier gefunden haben, aber wir könnten es vielleicht mit dem gleichen Vorgang zu tun haben.«
Rachel war froh, dass Tolland sich so bereitwillig auf ihre Seite stellte. »Eingefrorenes Plankton könnte die Erklärung für all das sein, was wir hier beobachten. Irgendwann in der Vergangenheit könnten sich in diesem Gletscher Risse gebildet und mit planktonreichem Meerwasser gefüllt haben, die dann wieder zugefroren sind. Was, wenn es in diesem Gletscher gefrorene Salzwassereinschlüsse gibt? Gefrorenes Salzwasser mit gefrorenem Plankton? Man braucht sich nur vorzustellen, dass der Meteorit beim Heben einen gefrorenen Salzwassereinschluss passiert hat.
Das Salzwasser wäre geschmolzen und hätte das im Kälteschlaf befindliche Plankton freigesetzt – damit wäre die schwache Salzwasserbeimischung im Süßwasser zu erklären.«
»Ach herrje.« Norah stöhnte. »Auf einmal ist hier jeder Glaziologe.«
Auch Corky schien Einwände zu haben. »Aber hätte PODS denn nicht Salzwassereinschlüsse bei seinen Dichtemessungen erkennen müssen? Schließlich weichen die Dichtekoeffizienten von Meerwasser und Süßwasser voneinander ab.«
»Nur unwesentlich«, sagte Rachel.
»Vier Prozent ist ein wesentlicher Unterschied«, warf Norah ein.
»In einem Laboratorium schon«, gab Rachel zu bedenken, »aber PODS macht seine Messungen aus zweihundert Kilometer Höhe im All. Seine Computer sind so eingestellt, dass markante Unterschiede erkannt werden – Eis und Matsch, Granit und Kalkstein.« Sie wandte sich an Ekstrom. »Stimmt meine Vermutung, dass PODS bei Messungen aus dem All den Dichteunterschied von Meerwassereis und Süßwassereis vermutlich nicht auflösen kann?«
Ekstrom nickte. »Stimmt. Vier Prozent liegt im Messfehlerbereich von PODS. Der Satellit würde Meerwassereis und Süßwassereis als identisch einstufen.«
Tolland schien fasziniert zu sein. »Das würde auch den gleich bleibenden Wasserspiegel im Schacht erklären.« Er schaute Norah an. »Du sagst, die Planktonart aus dem Schacht, die du unter dem Mikroskop gesehen hast, heißt…?«
»G. polyhedra«, erklärte Norah. »Und jetzt möchtest du vermutlich gern wissen, ob G. polyhedra in der Lage ist, im Eis zu überwintern? Es wird dich freuen zu hören, dass die Antwort nur Ja lauten kann. Absolut. G. polyhedra lebt unter Eisschelfs. Sie bioluminesziert und kann im Eis überwintern. War es das?«
Alle blickten sich an. Norah hatte soeben Rachels These bestätigt, hätte nicht ein »aber« in ihrer Stimme mitgeschwungen.
»Willst du damit sagen, dass es möglich ist?«, erkundigte Tolland sich ein wenig verunsichert. »Die Theorie ergibt einen Sinn?«
»Sicher«, sagte Norah, »wenn man keine Ahnung hat.«
Rachel starrte sie an. »Wie bitte?«
Norah starrte zurück. »Miss Sexton, ich kann mir gut vorstellen, dass in Ihrem Beruf ein bisschen Ahnung eine gefährliche Sache ist, und ich kann Ihnen versichern, dass es sich in der Glaziologie genauso verhält.« Norah blickte in die Runde und schaute jeden Einzelnen genau an. »Ich möchte das ein für alle Mal klarstellen. Die von Miss Sexton vorgeschlagenen gefrorenen Salzwassereinschlüsse gibt es durchaus. Sie bilden aber keine Salzwasserkammern oder so etwas, sondern ein weitverzweigtes Netz von Salzwasseradern, die nicht dicker sind als ein menschliches Haar. Dieser Meteorit hätte sich durch ein verdammt dichtes Netz von Salzwasseradern schmelzen müssen, damit in einer Wassersäule von dieser Tiefe eine dreiprozentige Salzwasserbeimischung entsteht.«
Ekstrom blickte finster. »Also – möglich oder nicht?«
»Nie im Leben«, sagte Norah kategorisch. »Völlig unmöglich.
Meine Kernbohrungen hätten sonst auf Salzwassereis treffen müssen.«
»Werden Kernbohrungen im Allgemeinen nicht auf Verdacht angesetzt?«, fragte Rachel. »Wäre es denkbar, dass Sie rein zufällig an einem Meerwassereis-Einschluss vorbeigebohrt haben?«
»Ich habe die Bohrung direkt über dem Meteoriten angesetzt.
Außerdem habe ich nur ein paar Meter im Umkreis weitere Bohrungen vorgenommen. Sorgfältiger geht es nicht.«
»War auch nur eine Frage.«
»Unsere Diskussion ist ohnehin müßig«, betonte Norah.
»Meerwassereinschlüsse treten nämlich nur in Saisoneis auf – in Eis, das sich im Lauf der Jahreszeiten bildet und wieder abschmilzt. Der Milne-Eisschelf besteht aber aus gewachsenem Eis. Es hat sich im Gebirge gebildet und wandert en bloc bis zur Kalbungszone hinunter, wo es ins Meer stürzt. Gefrorenes Plankton hätte zur Erklärung dieses kleinen Rätsels zwar schön ins Konzept gepasst, aber ich weiß unter Garantie, dass es in diesem Gletscher kein Adersystem mit gefrorenem Plankton gibt.«
Wieder trat Stille ein.
Trotz der deutlichen Ablehnung, die ihre Theorie gefunden hatte, weigerte sich Rachels systematisch geschulter Geist, diese Abfuhr zu akzeptieren. Instinktiv wusste sie, dass die einfachste Lösung des Rätsels darin bestand, von gefrorenem Plankton im Gletscher auszugehen. Das Gesetz des geringsten Aufwands. Rachels Instruktoren beim NRO hatten es ihr eingehämmert, bis es ihr in Fleisch und Blut übergegangen war. Wenn mehrere Erklärungen möglich sind, ist die einfachste fast immer die richtige.
Falls Norah Mangors Untersuchungen der Bohrkerne fehlerhaft sein sollten, stand für sie viel auf dem Spiel. Rachel fragte sich, ob Norah das Plankton vielleicht schon früher bemerkt und ihre Behauptung über die Unversehrtheit des Gletschers als falsch erkannt hatte und sich jetzt nur herauszumogeln versuchte.
»Ich weiß nur«, sagte Rachel, »dass ich soeben dem ganzen Stab des Weißen Hauses erzählt habe, dieser Meteorit sei in einer unberührten Eismasse gefunden worden und hätte dort als Bruchstück des berühmten Jungersol-Meteoriten von jedem äußeren Einfluss abgeschirmt seit 1716 gelegen. Diese Tatsachen scheinen jetzt auf einmal ins Zwielicht zu geraten.«
Ekstrom schwieg. Seine Miene war ernst.
Tolland räusperte sich. »Ich muss Rachel zustimmen. Wir haben Salzwasser und Plankton im Wasser des Schachts gefunden.
Wie immer die Erklärung letzen Endes lauten mag, der Schacht ist offensichtlich kein geschlossenes System.«
Corky schaute unbehaglich drein. »Also, ich möchte hier nicht den Astrophysiker raushängen, aber wenn wir einmal richtig danebenliegen, handelt es sich gleich um Milliarden von Lichtjahren. Sind das bisschen Plankton und Salzwasser wirklich so wichtig? Davon, dass das Eis nicht völlig astrein ist, bleibt doch der Meteorit selber unberührt, oder? Wir haben immer noch die Fossilien. An ihrer Echtheit kann niemand zweifeln. Falls sich herausstellen sollte, dass wir mit den Befunden der Eisbohrkerne schief liegen, dürfte das doch kaum jemand interessieren. Das Einzige, was die Leute interessieren wird, ist die Tatsache, dass wir Beweise für Leben auf einem anderen Planeten gefunden haben.«
»Tut mir Leid, Dr. Marlinson«, schaltete Rachel sich ein. »Ich beschäftige mich vom Berufs wegen mit Datenanalyse und muss Ihnen deshalb leider widersprechen. Der kleinste Fehler in dem Material, das die NASA heute Abend präsentiert, kann verheerende Auswirkungen auf die Glaubwürdigkeit der ganzen Entdeckung haben. Einschließlich der Fossilien.«
Corky blieb der Mund offen stehen. »Wie meinen Sie das? Diese Fossilien kann man nicht wegdiskutieren!«
»Ich weiß es. Sie wissen es. Aber wenn die Öffentlichkeit Wind davon bekommt, dass die NASA wissentlich fragwürdiges Datenmaterial über Eisbohrkerne präsentiert hat – glauben Sie mir, dann wird sofort ein großes Ratespiel losgehen, was die NASA sonst noch an Leichen im Keller hat.«
»Meine Bohrkerndaten sind nicht fragwürdig!«, empörte Norah sich mit funkelnden Augen. Sie wandte sich Ekstrom zu. »Ich kann Ihnen beweisen, und zwar eindeutig, dass in diesem Eisschelf keine Spur von Salzwasser eingeschlossen ist.«
Der Direktor der NASA schaute sie an. »Und wie?«
Norah erklärte ihr Vorhaben. Als sie geendet hatte, musste Rachel zugeben, dass der Vorschlag sehr vernünftig klang.
Ekstrom wirkte nicht hundertprozentig
überzeugt. »Und das Ergebnis ist wirklich unanfechtbar?«
»Absolut«, versicherte Norah. »Wenn es in der Nähe des Meteoritenschachts auch nur ein bisschen Salzwasser gibt, wird man es sehen. Schon ein paar Tropfen werden in meiner Apparatur aufleuchten wie New York bei Nacht.«
Ekstrom runzelte die Brauen. »Wir haben nicht viel Zeit. In ein paar Stunden beginnt die Sendung.«
»Ich kann in zwanzig Minuten schon wieder zurück sein.«
»Wie weit, sagten Sie, müssen Sie auf den Gletscher hinaus?«
»Nicht weit. Zweihundert Meter würden genügen.«
Ekstrom nickte. »Und Sie gehen kein Risiko ein?«
»Ich nehme Fackeln mit«, erklärte Norah. »Und Mike.«
Tolland riss den Kopf hoch. »Mich?«
»Klar! Wir werden uns anseilen. Ich kann ein Paar starke Arme gut gebrauchen, wenn der Sturm noch zulegt.«
»Aber…«
»Sie hat Recht«, sagte Ekstrom zu Tolland. »Wenn sie schon rausgeht, dann nicht allein. Ich würde Norah gern ein paar von meinen Leuten mitgeben, aber es wäre mir ehrlich gesagt lieber, wenn diese Planktongeschichte unter uns bliebe, bis wir wissen, ob sie ein Problem darstellt oder nicht.«
Tolland nickte zögernd.
»Ich möchte auch mit«, sagte Rachel.
Norah fuhr herum. »Nichts da, Sie bleiben hier!«, zischte sie.
»Ach, übrigens«, sagte Ekstrom, als wäre ihm der Gedanke soeben erst gekommen, »es würde mich beruhigen, würden Sie sich im Standard-Vierersystem anseilen. Wenn Sie zu zweit gehen, und Mike verliert den Halt, werden Sie ihn kaum halten können.
Zu viert ist es wesentlich sicherer als zu
zweit.« Er schaute Corky an. »Das bedeutet, dass entweder Sie oder
Dr. Ming noch mitgehen.« Ekstrom blickte sich in der Kuppel um. »Wo
ist Dr. Ming überhaupt?«
»Ich habe ihn schon einige Zeit nicht mehr gesehen«, sagte Tolland. »Er hat sich wahrscheinlich ein bisschen hingelegt.«
Ekstrom schaute Corky an. »Dr. Marlinson, ich kann natürlich nicht von Ihnen verlangen, dass Sie mit nach draußen gehen, aber…«
»Ach, was soll’s«, sagte Corky. »Da wir uns ohnehin so großartig verstehen…«
»Nein!«, rief Norah. »Zu viert sind wir viel zu langsam. Mike und ich gehen allein!«
»Sie gehen nicht allein!«, sagte Ekstrom bestimmt. »Das Geschirr zum Anseilen ist nicht umsonst für Vierergruppen ausgelegt. Wir werden diese Exkursion so sicher wie nur möglich durchführen. Ein paar Stunden vor der größten Pressekonferenz in der Geschichte der NASA können wir keinen Unfall riskieren!«
43
Gabrielle fühlte sich in Marjorie Tenchs Büro außerordentlich unwohl. Was hat diese Frau mit dir vor? Marjorie Tench saß zurückgelehnt hinter ihrem Schreibtisch. Ein gewisses Vergnügen an Gabrielles Unbehagen war in ihren harten Zügen nicht zu übersehen.
Sie stippte eine Zigarette aus der Packung.
»Stört Sie der Rauch?«, erkundigte sie sich.
»Nein«, schwindelte Gabrielle.
Marjorie Tench hatte sich die Zigarette ohnehin schon angesteckt. »Während Ihrer Kampagne haben Sie und Ihr Kandidat ein bemerkenswertes Interesse an der NASA entwickelt.«
»Durchaus richtig«, sagte Gabrielle patzig. Sie versuchte gar nicht, ihren Ärger zu verbergen. »Vielen Dank für die kreative Schützenhilfe. Ich hätte gern eine Erklärung.«
Marjorie blickte Gabrielle unschuldig an. »Sie fragen sich, warum ich Ihnen per E-Mail Munition für Ihre Angriffe auf die NASA geschickt habe?«
»Die Informationen haben Ihrem Präsidenten geschadet.«
»Kurzfristig betrachtet, ja.«
Der bedrohliche Tonfall machte Gabrielle hellhörig. »Was soll das heißen?«
»Ganz ruhig, Gabrielle. Meine E-Mails haben nicht viel verändert. Senator Sexton hat schon lange vor meinem Auftreten auf der NASA herumgehackt. Ich habe ihm einfach nur zu einer klareren und eindeutigeren Position verholfen.«
»Zu einer eindeutigeren Position?«
»Genau.« Tench lächelte und zeigte ihre verfärbten Zähne.
»Die er übrigens heute Mittag auf CNN sehr wirkungsvoll dargelegt hat.«
Gabrielle rief sich Sextons Reaktion auf Marjorie Tenchs Fangfrage ins Gedächtnis. Ja, ich würde die NASA per Gesetz abschaffen.
Sexton hatte sich in die Ecke drängen lassen, sich aber in richtiger Einschätzung der Situation mit allem Nachdruck wieder herausgeboxt. Oder etwa nicht? Gabrielle hatte das Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmte. Marjorie Tench sah sehr zufrieden aus.
Die Präsidentenberaterin stand plötzlich auf. Auf dünnen Beinen schritt sie entschlossen durch das enge Büro und zu einem Wandsafe, aus dem sie einen großen braunen Umschlag nahm.
Sie kam zurück zum Schreibtisch und setzte sich.
Gabrielle beäugte das dicke Paket.
Marjorie Tench hielt lächelnd den Umschlag auf dem Schoß wie einen Lotteriegewinn. Ihre tabakverfärbten Fingernägel knipsten mit einem nervenaufreibenden Geräusch an der steifen Umschlagkante. Es klang nach perverser Vorfreude.
Gabrielle wusste, dass ihre Wahrnehmung von ihren eigenen Schuldgefühlen gefärbt war. Ihr erster Gedanke war, dass der Umschlag Beweismaterial für ihr Schäferstündchen mit dem Senator enthielt. Das ist lächerlich, dachte sie. Der Vorfall hatte sich lange nach Büroschluss hinter verschlossenen Türen im Dienstzimmer des Senators zugetragen. Und wenn das Weiße Haus belastendes Material hätte – wäre es damit nicht schon längst an die Öffentlichkeit gegangen? Könnte sein, dass sie Verdacht geschöpft haben, aber Beweise haben sie nicht, dachte Gabrielle.
Marjorie Tench drückte die Zigarette aus. »Miss Ashe, ob Sie es nun wissen oder nicht, Sie befinden sich mitten in einem Grabenkampf, der in Washington seit 1996 hinter den Kulissen geführt wird.«
Die Eröffnung traf Gabrielle vollkommen unvorbereitet. »Wie meinen Sie?«
Marjorie Tench steckte sich eine weitere Zigarette an. »Was wissen Sie von einer Initiative für ein ›Gesetz zur Kommerzialisierung des Weltraums‹?«
Gabrielle hatte noch nie davon gehört. Hilflos
hob sie die Schultern.
»Tatsächlich?«, sagte Marjorie Tench. »Ich bin überrascht – angesichts des Standpunkts, den Ihr Kandidat vertritt. Das Gesetz zur Kommerzialisierung des Weltraums wurde 1996 von Senator Walker vorgeschlagen. Er berief sich darauf, dass die NASA seit der Mondlandung nichts Nennenswertes mehr geleistet hätte und forderte die Privatisierung der NASA durch die sofortige Veräußerung ihrer Anlagen und ihres Vermögens an private Luft- und Raumfahrtunternehmen. Hierdurch würde dem System der Freien Marktwirtschaft die Möglichkeit zur wirtschaftlicheren und effektiveren Erforschung des Weltraums gegeben und gleichzeitig der Steuerzahler von der Last befreit, die ihm zurzeit durch die NASA aufgebürdet wird.« Gabrielle wusste zwar, dass die Kritiker der NASA die Privatisierung als Allheilmittel für die Nöte der Weltraumbehörde anpriesen, aber dass diese Idee bereits die Form einer Gesetzesvorlage angenommen hatte, war ihr nicht bekannt gewesen. »Dieses Kommerzialisierungsgesetz ist dem Kongress inzwischen viermal vorgelegt worden und wurde viermal angenommen. Gott sei Dank aber hat das Weiße Haus jedes Mal von seinem Vetorecht Gebrauch gemacht. Zachary Herney hat es zweimal getan.«
»Worauf wollen Sie hinaus?«
»Ich will darauf hinaus, dass Senator Sexton, falls er Präsident wird, dieses Gesetz ohne jeden Zweifel ratifizieren wird. Ich bin fest davon überzeugt, dass Sexton bei der ersten Gelegenheit den Totalausverkauf der NASA an kommerzielle Bieter betreiben wird. Kurz gesagt, Ihr Kandidat zieht die Privatisierung der Weltraumforschung der Finanzierung durch Steuergelder vor.«
»Meines Wissens hat der Senator sich nie
öffentlich zu irgendeinem Weltraum-Kommerzialisierungsgesetz
geäußert.«
»Sicher. Aber ich darf doch annehmen, dass Sie in Kenntnis seiner Politik über seine Unterstützung des Gesetzes nicht überrascht wären, oder?«
»Marktwirtschaftliche Systeme haben nun mal einen Hang zur Effizienz.«
»Ich werte Ihre Äußerung als ein Ja.« Marjorie Tench blickte Gabrielle eindringlich an. »Leider ist die Privatisierung der NASA ganz und gar abzulehnen. Das Weiße Haus hatte gute Gründe, das Gesetz seit seiner ersten Vorlage beharrlich zu verhindern.«
»Ich kenne die Argumente gegen die Privatisierung des Weltraums«, sagte Gabrielle. »Ich verstehe Ihre Bedenken.«
»So?« Marjorie Tench beugte sich vor. » Welche Argumente kennen Sie?«
»Nun, vor allem die üblichen Befürchtungen von Seiten der Wissenschaft, dass bei einer Privatisierung der NASA unsere gegenwärtige Weltraumforschung schnell zugunsten von profitableren Weltraumunternehmungen aufgegeben würde.«
»Wie wahr. Die Weltraumforschung wäre im Handumdrehen erledigt. Statt in die Erforschung unseres Universums zu investieren, würden private Weltraumgesellschaften auf Asteroiden Tagebau betreiben, Hotels für Touristen im All erbauen, kommerzielle Satellitenstarts anbieten. Würden private Unternehmen für Milliardenbeträge den Ursprung unseres Universums erforschen, wenn es ihnen in klingender Münze nichts einbringt?«
»Natürlich würden sie das nicht. Aber man würde zweifelsohne eine nationale Weltraumstiftung zur Finanzierung wissenschaftlicher Missionen ins Leben rufen«, entgegnete Gabrielle.
»Diese Stiftung haben wir bereits. Sie nennt
sich NASA.«
Gabrielle verstummte.
»Die Vernachlässigung der Wissenschaft zugunsten der Erwirtschaftung von Profit ist auch nur ein Nebenschauplatz«, sagte Marjorie Tench. »Dieses Problem ist von untergeordneter Bedeutung angesichts des Chaos, das im Weltraum ausbrechen würde, würden wir dort der Privatwirtschaft freie Hand gewähren. Wir würden uns im Wilden Westen wieder finden. Wir würden erleben, wie Pioniere auf dem Mond und auf Asteroiden ihre Claims abstecken und sie gewaltsam schützen. Ich weiß von Eingaben privater Firmen, die Reklametafeln im All errichten wollen, um vom nächtlichen Himmel herab ihre Werbebotschaft zu verkünden. Ich habe Anträge von Gesellschaften für Weltraumhotels und Touristenattraktionen gesehen, die im Rahmen ihrer Operationen sogar ihre Abfälle in den leeren Raum schießen wollen, um uns auf diese Weise mit um die Erde kreisenden Müllhalden zu beglücken. Erst gestern habe ich übrigens den Vorschlag eines Unternehmens in der Hand gehabt, das aus dem Weltall ein Mausoleum machen möchte, indem es unsere lieben Verstorbenen auf eine Kreisbahn um die Erde schießt. Man stelle sich vor, dass einer unserer Telekommunikationssatelliten mit einem Verblichenen zusammenstößt. Letzte Woche saß hier ein milliardenschwerer Großindustrieller, der um die Erlaubnis ersuchte, einen Asteroiden in eine erdnahe Umlaufbahn zu schleppen, um dort wertvolle Minerale abzubauen. Ich musste den Herrn daran erinnern, dass ein solches Unternehmen die Gefahr einer globalen Katastrophe birgt. Miss Ashe, ich kann ihnen versprechen, wenn dieses Gesetz durchkommt, werden sich in den Scharen der Himmelsstürmer nur wenige Weltraumforscher befinden. Die meisten werden Unternehmer mit geräumigen Taschen und kleinen Köpfen sein.«
»Das sind einleuchtende Argumente«, sagte Gabrielle, »aber ich bin sicher, dass Senator Sexton die Probleme sorgfältig abwägen wird, wenn er in die Lage kommen sollte, über die Ratifizierung eines Gesetzes zu entscheiden. Darf ich fragen, was das mit mir zu tun hat?«
Marjorie Tench blickte mit zusammengekniffenen Augen durch den Rauch ihrer Zigarette. »Viele Leute stehen Gewehr bei Fuß, um im Weltraum einen Haufen Geld zu verdienen. Sie haben ihre Lobby antreten lassen, um sämtliche Hindernisse aus dem Weg zu räumen und die Schleusen zu öffnen. Das Vetorecht des Präsidenten ist der einzige noch vorhandene Damm gegen die Privatisierung… gegen eine hemmungslose Anarchie im Weltall.«
»Dann möchte ich empfehlen, dass Zach Herney sein Veto ausspricht.«
»Ich befürchte nur, dass Ihr Kandidat nicht diese Klugheit besitzt – vorausgesetzt, er wird gewählt.«
»Ich kann nur wiederholen, dass Senator Sexton sorgfältig alle Fragen gegeneinander abwägen wird, falls er in die Lage kommen sollte, über die Ratifizierung des Gesetzes zu entscheiden.«
Marjorie Tench sah nicht allzu überzeugt aus. »Sind Ihnen die Summen bekannt, die der Senator für Anzeigenkampagnen ausgibt?«
Die Frage traf Gabrielle auf vertrautem Terrain. »Die Zahlen sind der Öffentlichkeit zugänglich.«
»Über dreihundert Millionen Dollar pro Monat.«
»Wenn Sie’s sagen«, erwiderte Gabrielle achselzuckend. Die Zahl stimmte ziemlich genau.
»Das ist sehr viel Geld.«
»Er hat sehr viel Geld.«
»Sicher, er hat gut vorausgeplant, oder besser, gut geheiratet«, erwiderte Marjorie Tench. »Die Sache mit seiner Frau Katherine ist sehr tragisch. Ihr Tod hat ihn hart getroffen.« Sie stieß einen übertriebenen Seufzer aus. »Der Unfall ist noch gar nicht so lange her, oder?«
»Kommen Sie bitte zur Sache.«
Unter bellendem Husten griff Marjorie Tench nach dem dicken Umschlag. Sie zog einen Packen zusammengeheftete Papiere heraus und hielt sie Gabrielle hin. »Sextons Finanzbelege.«
Gabrielle studierte erstaunt die Dokumente. Sie reichten mehrere Jahre zurück. Gabrielle war zwar nicht in Sextons finanzielle Interna eingeweiht, spürte jedoch, dass das Material authentisch war – Kontoauszüge, Kreditkartenabrechnungen, Kredite, Wertpapierfonds, Immobilienfonds, Passiva, Kapitalerträge und -verluste. »Das ist vertrauliches Material! Wo haben Sie das her?«
»Das braucht Sie nicht zu interessieren. Aber wenn Sie sich die Zahlen ein bisschen näher anschauen, werden Sie schnell zu dem Ergebnis kommen, dass Senator Sexton nicht so viel Geld hat, wie er derzeit ausgibt. Nach dem Tod seiner Frau hat er den größten Teil seiner Erbschaft mit Fehlinvestitionen, Anschaffungen von Luxusgütern und der Finanzierung eines augenscheinlich sicheren Sieges in den Vorwahlen verpulvert. Vor sechs Monaten war Ihr Kandidat so gut wie pleite.«
Gabrielle hatte das Gefühl, dass man ihr einen Bären aufbinden wollte. Wenn Sexton pleite gewesen war, hatte er es sich gewiss nicht anmerken lassen. Woche um Woche hatte er sich immer größere Werbeblocks im Fernsehen gekauft.
»Ihr Kandidat gibt derzeit viermal so viel Geld aus wie der Präsident – ohne dass er eigene Mittel besitzt.«
»Wir haben ein großes Spendenaufkommen.«
»Richtig. Ein Teil davon ist sogar legal.«
Gabrielle richtete sich kerzengerade auf. »Wie bitte?«
Marjorie Tench lehnte sich ihr über den Schreibtisch entgegen.
Gabrielle konnte ihren nikotingeschwängerten Atem riechen.
»Meine liebe Gabrielle, ich werde Ihnen jetzt eine Frage stellen, und ich möchte Ihnen empfehlen, genau nachzudenken, bevor Sie mir darauf antworten. Davon könnte es nämlich abhängen, ob Sie die nächsten paar Jahre hinter Gittern verbringen werden oder nicht. Ist Ihnen bekannt, dass Senator Sexton riesige Summen zur Finanzierung seiner Kampagne von Raumfahrtunternehmen zugeschoben bekommt, die bei einer Privatisierung der NASA Gewinne in Milliardenhöhe zu erwarten hätten?«
Gabrielle blickte empört. »Was für eine absurde Unterstellung!«
»Wollen Sie damit sagen, Sie hätten keine Ahnung von diesen Vorgängen?«
»Wenn irgendjemand im Bilde ist, ob der Senator Bestechungsgelder annimmt oder nicht, dann wohl ich!«
Marjorie Tench lächelte schmallippig. »Ich gehe davon aus, dass der Senator Ihnen manch tiefen Einblick gewährt, aber ich kann Ihnen versichern, dass Sie eine ganze Menge Einblicke offensichtlich noch nicht gewonnen haben.«
Gabrielle stand auf. »Jetzt reicht es mir. Das Gespräch ist beendet.«
»Ganz im Gegenteil«, sagte Marjorie Tench und kippte den restlichen Inhalt des Umschlags auf die Tischplatte. »Jetzt geht es erst richtig los.«
44
Rachel Sexton stand in der »Rumpelkammer« der Kuppel und schlüpfte in einen Mark-II-Überlebensanzug der NASA mit Mikroklimaregelung. Der einteilige schwarze Anzug mit Kopfhaube ähnelte einem Taucheranzug. Das zweilagige Material aus Memory-Schaumstoff enthielt ein System von Kanälen, durch die zur Regulierung der Körpertemperatur je nach Klima ein dichtes heißes oder kaltes Gel gepumpt wurde.
Während Rachel die eng sitzende Haube über den Kopf zog, fiel ihr Blick auf Ekstrom, der sich wie ein stummer Wächter an der Eingangstür aufgebaut hatte. Sein Missfallen, dass diese kleine Expedition notwendig geworden war, stand ihm unverkennbar ins Gesicht geschrieben.
Leise schimpfend verteilte Norah Mangor an alle die Ausrüstung. »Hier ist einer für Bauchgrößen«, rief sie, während sie Corky einen Anzug zuwarf.
Tolland hatte sich schon zur Hälfte in seinen Anzug gezwängt.
Als Rachel sämtliche Reißverschlüsse zugezogen hatte, griff Norah nach dem Stöpsel an der Seite und schloss sie an einen Druckschlauch an, der sich aus einem silbernen Stahlbehälter in Form einer Druckluftflasche für Taucher herausschlängelte.
»Einatmen«, sagte sie und öffnete das Ventil.
Rachel spürte das Gel zischend in den Anzug strömen. Das Schaummaterial dehnte sich und presste den Anzug samt der inneren Schicht der Kleidung an ihren Körper. Es war ein Gefühl, als würde man die Hand in einem Gummihandschuh ins Wasser tauchen. Die Haube blähte sich um ihren Kopf und presste gegen ihre Ohren. Sämtliche Geräusche drangen nur noch gedämpft an ihr Gehör. Ich stecke in einem Kokon.
»Das Beste am Mark II ist die Polsterung«, verkündete Norah.
»Du kannst auf den Hintern fallen und merkst nichts davon.«
Rachel glaubte ihr aufs Wort. Sie kam sich vor wie in einer großen Schaumgummimatratze.
Norah reichte ihr ein ganzes Bündel von Ausrüstungsgegenständen – ein Eisbeil, Karabinerhaken und Ösen – zum Anseilen –, um dann alles am Gürtel zu befestigen, der in Rachels Anzug eingearbeitet war. »Das viele Zeug, nur um zweihundert Meter weit zu gehen?«
Norah schaute sie mit zusammengekniffenen Augen an. »Sie wollen doch mitkommen, oder?«
Tolland nickte Rachel aufmunternd zu. »Norah will nur jedes Risiko ausschließen.«
Corky schloss sich an den Geltank an und blies seinen Anzug auf. Er kicherte. »Ich komme mir vor, als hätte ich einen riesigen Pariser an!«
Norah schnaubte verächtlich.
Rachel zog sich die schweren Stiefel an und schnallte Spikes darunter.
Tolland setzte sich neben sie. Er lächelte verhalten. »Sind Sie sicher, dass Sie mitkommen wollen?«
In seinen Augen spiegelte sich eine Besorgnis, der Rachel sich nicht entziehen konnte. Sie hoffte, mit einem tapferen Kopfnicken ihre wachsende Verunsicherung kaschieren zu können. Zweihundert Meter… das ist doch nicht weit. »Und Sie haben geglaubt, nur auf hoher See würde es abenteuerlich zugehen?«, sagte sie zu Tolland.
Tolland lachte in sich hinein, während er die
Eiskrallen an seinen Stiefeln befestigte. »Mir ist flüssiges Wasser
lieber als dieses gefrorene Zeug.«
»Ich kann weder das eine noch das andere besonders gut leiden«, sagte Rachel. »Ich bin als Kind ins Eis eingebrochen. Seitdem macht Wasser mich nervös.«
Tolland schaute sie mitfühlend an. »Das tut mir Leid. Wenn wir hier fertig sind, müssen Sie mich einmal auf der Goya besuchen.
Ich werde Sie von Ihrer Wasserscheu befreien. Versprochen?«
Die Einladung überraschte Rachel. Die Goya war Tollands Forschungsschiff. Jedermann kannte sie aus der Fernsehserie; zudem hatte sie eine Reputation als eins der merkwürdigsten Wasserfahrzeuge auf den Meeren der Welt. Ein Besuch auf der Goya würde sich für Rachel gewiss zur Nervenprobe auswachsen, aber sie hätte nicht gewusst, wie sie das Angebot ablehnen sollte.
»Die Goya liegt zurzeit zwölf Seemeilen vor der Küste von New Jersey vor Anker«, sagte Tolland, während er an den Klettverschlüssen seiner Eiskrallen fummelte.
»Vor New Jersey? Gleich vor unserer Haustür?«
»Ja. Der Meeresboden des Atlantiks ist unglaublich interessant.
Wir waren mitten in den Vorbereitungen für einen Dokumentarfilm, als der Präsident mich ohne anzuklopfen unterbrochen hat.«
Rachel lachte. »Wovon sollte der Film handeln?«
»Von Sphyrna mokarran und Megaplumes.«
Rachel runzelte die Stirn. »Ach so, jetzt bin ich im Bilde.«
Tolland hatte inzwischen die Spikes angelegt. Er sah auf. »Ganz im Ernst. Ich werde dort draußen ein paar Wochen lang mit Aufnahmen beschäftigt sein. Von Washington bis zur Küste vonJersey ist es nicht weit. Kommen Sie zu mir an Bord, wenn wir wieder zu Hause sind. Sie brauchen sich doch nicht ein Leben lang vor Wasser zu fürchten. Meine Mannschaft wird den roten Teppich für Sie ausrollen.«
»Gehen wir jetzt raus, oder soll ich euch beiden Champagner und Kerzen bringen lassen?«, rief Norah Mangor.
45
Gabrielle Ashe hatte keine Ahnung, was sie von den Dokumenten halten sollte, die Marjorie Tench vor ihr auf dem Schreibtisch ausgebreitet hatte. Es waren fotokopierte Faxmitteilungen, Mitschriften von Telefonaten und verschiedene Fotos, die alle den Verdacht zu stützen schienen, dass Senator Sexton heimlich mit privaten Unternehmen aus der Raumfahrtbranche im Gespräch war.
Marjorie Tench schob Gabrielle einen Stapel körnige Schwarzweiß-Fotos hin. »Ich nehme an, dass Sie nichts davon wissen.«
Gabrielle betrachtete die Bilder. Das erste Foto zeigte Sexton beim Aussteigen aus einem Taxi in einem unterirdischen Park-haus. Sexton fährt nie mit dem Taxi. Gabrielle betrachtete das zweite Foto – eine Aufnahme mit dem Teleobjektiv: Sexton beim Einsteigen in einen geparkten Minivan. Ein älterer Herr schien in dem Wagen auf ihn zu warten.
»Wer ist das?«, wollte Gabrielle wissen. Sie hatte den Verdacht, die Fotos könnten gefälscht sein.
»Ein hohes Tier von der SFF.«
Gabrielle war skeptisch. »Von der ›Space
Frontier Foundation‹?«
Die SFF war eine Art Interessenverband von privaten Luft- und Raumfahrtfirmen, Anbietern von Transportleistungen ins All, Unternehmern, Eignern von Risikokapital – alles, was es an privaten Initiativen mit Ambitionen im Weltall gab. Die SFF war von Natur aus kritisch gegen die NASA eingestellt und machte geltend, das Weltraumprogramm der Vereinigten Staaten würde mit unfairen Geschäftspraktiken private Wirtschaftsunternehmen daran hindern, eigene Projekte im Weltraum zu realisieren.
»Die SFF repräsentiert derzeit über einhundert Großunternehmen«, sagte Marjorie Tench, »darunter einige überaus kapitalkräftige Großkonzerne, die alle ungeduldig auf die Ratifizierung des Gesetzes über die Kommerzialisierung des Weltraums warten.«
Gabrielle ließ sich die Sache durch den Kopf gehen. Aus leicht einsehbaren Gründen war die SFF eine lautstarke Befürworterin von Sextons Programm. Wegen der umstrittenen Lobby-Taktiken der SFF hatte der Senator allerdings stets darauf geachtet, sich nicht in allzu große Nähe zu dieser Organisation zu begeben. Unlängst hatte die SFF behauptet, die NASA komme einem »gesetzwidrigen Monopol« gleich, da sie Verluste einfahren und dennoch im Geschäft bleiben könne, was de facto einen unlauteren Wettbewerb mit den privaten Konkurrenten darstelle.
Nach Darstellung der SFF hätten jedes Mal, wenn die Amerikanische Telefongesellschaft einen Satelliten ins AU bringen wollte, mehrere private Raketenbauer angeboten, die Aufgabe für kostengünstige fünfzig Millionen Dollar zu erledigen. Leider hätte die NASA regelmäßig mit einem Angebot von fünfundzwanzig Millionen dazwischengefunkt, obwohl der Auftrag sie in Wirklichkeit das Fünffache kostete. »Die NASA hält mit ihren Verlustoperationen die Tür zum Weltraum für andere verschlossen«, machten die Anwälte der SFF geltend. »Und der Steuerzahler kriegt die Rechnung präsentiert.«
»Diese Fotos beweisen, dass Ihr Kandidat geheime Kontakte mit einer Organisation pflegt, die Repräsentantin der privaten Raumfahrtindustrie ist«, sagte Marjorie Tench. Sie deutete auf ein weiteres Bündel Dokumente auf dem Tisch. »Wir haben auch einen internen SFF-Schriftwechsel, der beweist, dass die einzelnen Mitglieder nach Umsätzen gestaffelt zu gewaltigen Finanzleistungen aufgefordert wurden und die Gelder auf Konten bewegt wurden, die Senator Sexton kontrolliert. Diese privaten Raumfahrtunternehmen betreiben ein teures Lotteriespiel, um Sexton ins Amt zu hieven. Ich kann das nur so verstehen, dass er sich verpflichtet hat, im Fall seiner Wahl das Kommerzialisierungsgesetz zu ratifizieren und die NASA zu privatisieren.«
Gabrielle war nicht überzeugt. Sie betrachtete die Papiere. »Erwarten Sie von mir, dass ich glaube, das Weiße Haus hätte Beweismaterial für eindeutig illegale Wahlkampf-Finanzierungspraktiken seines Opponenten – und hält es aus irgendeinem Grund geheim?«
»Wie sehen Sie die Sache?«
Gabrielle blickte finster. »Ehrlich gesagt, bei Ihrem Talent, Leute zu manipulieren, glaube ich eher, dass Sie mich mit Dokumenten und Fotos weich kochen wollen, die ein tüchtiges junges Fälschertalent Ihres Stabes auf seinem PC zusammengebastelt hat.«
»Zugegeben, das wäre möglich. Stimmt aber nicht.«
»Nein? Dann erklären Sie mir bitte, wie Sie an
all diese internen Dokumente gekommen sind. Bei so vielen Firmen
solche Mengen an Beweismaterial zu stehlen, sprengt sogar die
Möglichkeiten des Weißen Hauses.«
»Das sehen Sie vollkommen richtig. Diese Informationen sind uns als ungebetenes Geschenk zugegangen.«
Gabrielle fragte sich, was das nun wieder heißen sollte.
»O ja, solche Geschenke erhalten wir häufig«, erklärte Marjorie Tench. »Der Präsident hat viele mächtige Freunde, die ihn gerne weiterhin im Amt sehen würden. Vergessen Sie nicht, dass Ihr Kandidat an vielen Stellen Einschnitte vornehmen will, viele davon unmittelbar hier in Washington. Senator Sexton zitiert bedenkenlos das FBI als Beispiel für einen behördlichen Wasserkopf. Auch die Steuerbehörde hat schon Streifschüsse abbekommen. Vielleicht sitzt irgendwo jemand in einem Büro und ärgert sich.«
Gabrielle wusste, was gemeint war. Mitarbeiter des FBI und des IRS hätten Zugang zu derlei Material und könnten es als anonyme Wahlhilfe ans Weiße Haus weiterleiten. Doch Gabrielle konnte einfach nicht glauben, dass Senator Sexton sich auf illegale Manöver zur Finanzierung seines Wahlkampfs eingelassen haben sollte. »Wenn dieses Material echt ist, was ich übrigens stark bezweifle«, sagte Gabrielle, »warum sind Sie damit dann nicht an die Öffentlichkeit gegangen?«
»Was glauben Sie?«
»Weil es gesetzwidrig zustande gekommen ist.«
»Das wäre kein Hinderungsgrund!«
»Natürlich wäre es ein Hinderungsgrund! Kein Untersuchungsausschuss würde solches Material zulassen!«
»Wie kommen Sie auf einen Untersuchungsausschuss? Wir müssten es einfach nur der Presse zuspielen. Am nächsten Tag schon könnte es jeder als Bericht ›aus gut unterrichteten Kreisen‹ mit Fotos, Dokumentation und allem Drum und Dran in der Zeitung lesen, und Sexton stünde bis zum Beweis des Gegenteils im Regen. Jeder würde seine lautstarke Anti-NASA-Kampagne als Eingeständnis werten, dass er Bestechungsgelder nimmt.«
Gabrielle wusste, dass Marjorie Tench Recht hatte. »Also gut.
Und warum haben Sie die Informationen trotzdem im Keller behalten?«
»Weil sie negativ besetzt sind. Der Präsident hat versprochen, den Wahlkampf nicht mit negativen Argumenten zu führen und möchte sich an dieses Versprechen halten, solange es irgend geht.«
Ach nein, wie edel! »Sie wollen mir erzählen, der Präsident ist so ein Tugendbold, dass er diese Sachen nicht an die Öffentlichkeit bringen will, weil sie den Leuten sauer aufstoßen könnten?«
»Die Affäre wirft ein negatives Licht auf unser ganzes Land.
Dutzende privater Unternehmen, in denen unzählige anständige Menschen arbeiten, sind darin verwickelt. Die Institution des Senats würde darunter leiden, ebenso die Moral unserer Nation.
Ein korrupter Politiker ist eine Belastung für alle Politiker. Die Amerikaner müssen ihren politischen Führern Vertrauen entgegenbringen können. Wir würden eine sehr hässliche Untersuchung bekommen, an deren Ende vermutlich ein Senator und Dutzende prominenter Manager aus der privaten Raumfahrtindustrie hinter Gittern landen würden.«
Der Gedanke leuchtete Gabrielle zwar ein, aber sie hatte immer noch Zweifel an Marjorie Tenchs Behauptungen.
»Und was hat das alles mit mir zu tun?«
»Um es auf einen einfachen Nenner zu bringen: Wenn wir dieses Material an die Öffentlichkeit bringen, wird Ihr Kandidat eine Untersuchung wegen illegaler Wahlkampffinanzierung über sich ergehen lassen müssen, seinen Sitz im Senat verlieren und höchstwahrscheinlich im Gefängnis landen.« Marjorie Tench machte eine Pause. »Es sei denn…«
Gabrielle bemerkte ein schlangenhaftes Funkeln in den Augen der Chefberaterin. »Es sei denn…?«
Marjorie Tench nahm einen tiefen Zug an der Zigarette. »Es sei denn, Sie helfen uns, das alles zu vermeiden.«
Drückende Stille breitete sich aus.
Marjorie Tench hustete rau. »Gabrielle, hören Sie mir gut zu.
Es gibt drei Gründe, weshalb ich mich entschlossen habe, Ihnen Einblick in diese peinlichen Dokumente zu gewähren: Erstens, um Ihnen vor Augen zu führen, dass Zach Herney ein Ehrenmann ist, für den die Unversehrtheit des Regierungsamts den Vorrang vor persönlichen Vorteilen hat. Zweitens, um Sie darauf aufmerksam zu machen, dass Ihr Kandidat nicht so honorig ist, wie Sie glauben. Und drittens, um Ihnen nahe zu legen, auf das Angebot einzugehen, das ich Ihnen jetzt machen werde.«
»Und das wäre?«
»Ich möchte Ihnen die Gelegenheit geben, das Richtige zu tun.
Das Patriotische. Sie wissen es vielleicht nicht, aber Sie befinden sich in der einmaligen Lage, Washington eine Menge unerquicklicher Skandale ersparen zu können. Wenn Sie bereit sind zu tun, was ich Ihnen vorschlagen möchte, könnten Sie sich damit möglicherweise einen Platz in der Mannschaft des Präsidenten sichern.«
Einen Platz in der
Mannschaft des Präsidenten? Gabrielle wollte ihren Ohren nicht
trauen. »Miss Tench, was immer in Ihnen vorgeht, ich mag es nicht,
wenn man versucht, mich zu erpressen, in die Zange zu nehmen oder
mir von oben herab zu kommen. Ich arbeite im Wahlkampfbüro von
Senator Sexton, weil ich seine Politik für richtig halte. Und wenn
dieses Spiel ein Beispiel für Zach Herneys Verständnis von Politik
sein sollte, ziehe ich es vor, nichts mit ihm zu tun zu haben. Wenn
Sie etwas gegen Senator Sexton in der Hand haben, möchte ich Ihnen
empfehlen, es der Presse zuzuspielen, wie Sie so schön sagen. Ich
halte die ganze Sache für einen abgefeimten Schwindel.«
Marjorie Tench seufzte gelangweilt. »Tut mir Leid, Gabrielle, ich weiß, dass Sie Ihrem Kandidaten vertrauen, aber seine illegalen Finanzierungspraktiken sind eine erwiesene Tatsache.« Sie senkte die Stimme. »Der Witz ist doch der: Natürlich werden der Präsident und ich mit dieser Spendengeschichte an die Öffentlichkeit gehen, falls uns nichts anderes übrig bleibt, aber das gibt eine Schlammschlacht größten Ausmaßes. In diesen Skandal ist eine ganze Reihe bedeutender amerikanischer Wirtschaftsunternehmen verwickelt. Viele unschuldige Leute werden dafür bezahlen müssen.« Sie zog an der Zigarette und blies den Rauch aus.
»Die Lösung, die der Präsident und ich uns in diesem Zusammenhang vorstellen, wäre eine Bloßstellung des Senators… anderer Art. Wir würden die Sache lieber auf kleiner Flamme kochen, ohne Unschuldige und Unbeteiligte hineinzuziehen.« Sie legte die Zigarette in den Aschenbecher und faltete die Hände. »Wir möchten ganz einfach, dass Sie Ihre Sexaffäre mit dem Senator öffentlich eingestehen.«
Gabrielle wurde stocksteif. Marjorie Tench hatte im Tonfall völliger Gewissheit gesprochen. Unmöglich! Es konnte einfach nicht sein. Es konnte keine Beweise geben. Es war nur ein einziges Mal zu Intimitäten gekommen, hinter verschlossenen Türen im Büro des Senators. Sie klopft nur auf den Busch. Sie hat nichts in der Hand. Gabrielle bemühte sich, mit fester Stimme zu sprechen.
»Sie sind recht großzügig mit Ihren Annahmen, Miss Tench.«
»Welche Annahme meinen Sie? Dass Sie mit Sexton eine Affäre hatten? Oder dass Sie Ihren Kandidaten fallen lassen?«
»Beides.«
Marjorie Tench lächelte knapp und stand auf. »Dann wollen wir dem Rätselraten ein Ende machen, zumindest in einem Punkt.« Sie ging wieder zum Wandsafe, nahm einen roten Umschlag mit dem Zeichen des Weißen Hauses heraus und schüttelte den Inhalt vor Gabrielle auf den Schreibtisch.
Dutzende von Farbfotos schlitterten über die Tischplatte. Der Boden schwankte unter Gabrielles Füßen. Sie spürte ihre gesamte Karriere wie ein Kartenhaus in sich zusammenbrechen.
46
Der Fallwind, der außerhalb der Kuppel den Gletscher heruntergefaucht kam, ähnelte in nichts den Winden, die Tolland von den Meeren kannte. Auf dem Meer wurde der Wind von Ebbe und Flut, von Kalt- und Warmfronten angetrieben, und seine Kraft schwoll an und ab. Der Gletscherfallwind jedoch gehorchte einem einfachen physikalischen Gesetz. Die Luft kühlte sich auf dem Eis des Gletschers ab, wurde dichter und schwerer und rollte wie ein Güterzug mit schwerer Kaltluft auf dem Rücken des Gletschers herunter. Es war der brutalste Wind, dem Tolland je ausgesetzt gewesen war. Dieser vollkommen gleichmäßige Wind wäre der Traum eines Seglers gewesen, hätte er als frische Brise mit zwanzig Knoten geblasen; zurzeit aber jagte er mit der Orkanstärke von achtzig Knoten übers Eis. Er war ein Albtraum, auch wenn man sich auf festem Grund befand. Wenn Tolland sich nach hinten fallen ließ, richtete ihn die Kraft des Luftdrucks in seinem Rücken mit Leichtigkeit wieder auf.
Das leichte Gefälle des Eisschelfs hinunter zum dreieinhalb Kilometer entfernten Meer machte den tobenden Luftstrom für Tolland noch aufreibender. Trotz der scharfen Spikes unter seinen Stiefeln hatte er das ungute Gefühl, der Orkan könnte ihn beim kleinsten Fehltritt packen und das endlose Gefälle hinunterwirbeln. Norah Mangors zweiminütiger Schnellkurs über die Sicherheit auf dem Gletscher kam ihm jetzt sehr ungenügend vor.
Das ist das Piranha-Eisbeil, hatte Norah gesagt, als sie allen das leichtgewichtige, T-förmige Spezialwerkzeug beim Ankleiden an den Gürtel geschnallt hatte. Standardblatt, Bananenblatt, Halbrundblatt, Hammer und Querbeil. Wenn man fällt oder davongeweht wird, muss man nur eine Hand an den Stiel und die andere auf den T-Balken des Werkzeugs legen, den Stiel ins Eis rammen und sich oben drauf fallen lassen. Mit den Spikes krallt man sich im Eis fest.
Nach diesem beruhigenden Spruch hatte Norah allen das Bergsteigergeschirr zum Anseilen angelegt. Sie hatten Schutzbrillen aufgesetzt und waren hinausgestapft in die Dunkelheit des Nachmittags.
Jetzt tappten vier Gestalten im von den Sicherungsleinen vorgegebenen Abstand von zehn Metern im Gänsemarsch den Gletscher hinunter. Norah ging vorneweg, gefolgt von Corky, Rachel und Tolland als Ankermann am Ende.
Je weiter sie sich von der Kuppel entfernten, desto mulmiger wurde es Tolland zumute. In seinem Anzug war ihm zwar warm; dennoch kam er sich vor wie ein Raumfahrer, der tapsig auf einem fernen Planeten herumwandert. Der Mond war hinter dicken Sturmwolken verschwunden, und das Eisfeld lag in undurchdringlicher Finsternis. Der Fallwind, der sich mit Macht gegen seinen Rücken warf, schien mit jeder Minute zuzulegen. Er strengte die Augen an, um durch die Schutzbrille etwas von seinem Umfeld zu erkennen. Die abgrundtiefe Gefährlichkeit des Ortes kroch ihm ins Bewusstsein. Bei allem Geheimhaltungsinteresse der NASA wunderte Tolland sich doch, dass Ekstrom es für klug befunden hatte, gleich vier Menschenleben hier draußen aufs Spiel zu setzen, und nicht nur zwei, zumal es sich bei den beiden zusätzlich ins Spiel gebrachten Personen um eine Senatorentochter und einen berühmten Astrophysiker handelte. Wie zu erwarten überkam ihn als Kapitän eines Schiffes das Gefühl besonderer Verantwortung für seine Begleiter Rachel und Corky.
»Immer hinter mir bleiben!«, rief Norah. Ihre Stimme wurde vom Sturm beinahe verschluckt. »Der Schlitten zeigt uns den Weg!«
Der Aluminiumschlitten mit einem starken Frontscheinwerfer, auf dem Norah ihre Gerätschaften transportierte, besaß die Form eines etwas zu groß geratenen Plastikkinderschlittens. Er war noch einsatzbereit gepackt gewesen mit den Apparaten, der Sicherheitsausrüstung, den Batterien und Fackeln, die Norah in den vergangenen Tagen auf dem Gletscher verwendet hatte.
Über die gesamte Ladung war eine ringsum
festgeknöpfte starke Plane gespannt. Ungeachtet der schweren Ladung
glitt das Gefährt mühelos auf seinen langen Kufen dahin. Auf dem
sanften Gefälle und erst recht bei diesem gnadenlosen Rückenwind
wäre er von alleine losgejagt, doch Norah hielt den Schlitten, der
schnurgerade seinen Weg nahm, fest unter Kontrolle.
Die Gruppe entfernte sich zusehends von der Kuppel. Tolland blickte über die Schulter zurück. Sie waren noch keine fünfzig Meter entfernt, als die blasse Rundung sich bereits in der Dunkelheit verlor.
»Haben Sie sich überlegt, wie wir zurückfinden?«, rief Tolland Norah zu. »Die Kuppel ist schon fast nicht mehr…« Laut zischend leuchtete in Norahs Hand eine Fackel auf und schuf um sie herum einen hellen Lichtkreis von ungefähr zwanzig Metern im Durchmesser. Norah kratzte mit dem Absatz eine Mulde in den Oberflächenschnee, wobei sie in Windrichtung einen kleinen Schutzwall anhäufte, bevor sie den kurzen Stiel der Fackel in den Untergrund stieß.
»Hightech-Brotkrumen«, rief sie.
»Brotkrumen?«, fragte Rachel verwundert und schirmte die Augen gegen die plötzliche Helligkeit ab.
»Wie bei Hänsel und Gretel«, rief Norah. »Die Fackeln werden uns den Rückweg weisen. Brennen eine Stunde lang.«
Norah drehte sich um und führte die Gruppe weiter den Gletscher hinunter in die Dunkelheit.
47
Als Gabrielle Ashe aus Marjorie Tenchs Büro stürmte, hätte sie beinahe eine Sekretärin über den Haufen gerannt. Vor Entsetzen sah sie nur noch die Fotos – ineinander verschlungene Leiber, verzückte Gesichter.
Sie hatte keinen Schimmer, wie die Fotos entstanden sein konnten, aber dass sie echt waren, wusste sie genau. Die Bilder waren augenscheinlich von oben mit einer versteckten Kamera in Senator Sextons Büro aufgenommen worden. Gott steh mir bei.
Eines der Fotos zeigte Gabrielle und Sexton beim Geschlechtsverkehr auf dem mit amtlichen Dokumenten übersäten Schreibtisch des Senators.
Vor dem Kartenraum wurde sie von Marjorie Tench eingeholt.
Sie hatte den roten Umschlag noch in der Hand. »Ich darf Ihrer Reaktion wohl entnehmen, dass Sie die Fotos für echt halten.«
Die Chefberaterin des Präsidenten schien sich zu amüsieren. »Ich hoffe, das genügt, um Sie zu überzeugen, dass das andere Material genauso echt ist. Es stammt aus der gleichen Quelle.«
Während Gabrielle den Flur hinunterrannte, hatte sie das Gefühl, am ganzen Körper schamrot zu werden. Wo ist der verdammte Ausgang?
Marjorie Tench hatte keine Mühe, Schritt zu halten. »Senator Sexton hat vor der ganzen Welt geschworen, dass Ihre Beziehung rein platonischer Natur sei. Sein Fernsehauftritt damals war sehr überzeugend. Ich habe eine Videoaufzeichnung davon in meinem Büro, falls Sie Ihr Gedächtnis auffrischen wollen.«
Gabrielle brauchte keine Gedächtnisauffrischung. Sie erinnerte sich nur allzu gut an die Pressekonferenz und Sextons ebenso unerbittliches wie inbrünstiges Nein.
»Was für ein Jammer«, sagte Marjorie Tench mit einem ironischen Unterton. »Senator Sexton blickt dem ganzen amerikanischen Volk treuherzig in die Augen und lügt wie gedruckt. Die Leute haben aber ein Recht auf die Wahrheit. Und sie werden die Wahrheit erfahren. Dafür werde ich höchstpersönlich sorgen.
Die einzige Frage ist, wie die Leute die Wahrheit erfahren. Wir sind der Meinung, am besten von Ihnen.«
Gabrielle fehlten die Worte. »Glauben Sie im Ernst, ich helfe Ihnen, meinen eigenen Kandidaten abzuschießen?«
Marjorie Tenchs Gesicht wurde hart. »Gabrielle, ich habe leider die besseren Karten. Ich gebe Ihnen die Chance, allen einen Haufen Scherereien zu ersparen, indem Sie sich hinstellen und die Wahrheit sagen. Ich brauche lediglich eine unterschriebene Erklärung von Ihnen.«
Gabrielle blieb ruckartig stehen. »Was?«
»Wenn wir eine unterzeichnete Erklärung in der Hand haben, können wir uns mit dem Senator ohne viel Lärm ins Benehmen setzen und unserem Land eine unschöne Schlammschlacht ersparen. Mein Angebot ist ganz einfach: Unterschreiben Sie mir eine Erklärung, und diese Fotos gelangen nie an die Öffentlichkeit.«
»Sie wollen eine Erklärung?«
»Juristisch betrachtet wäre eine beeidete Aussage natürlich besser, aber wir haben hier im Haus einen Notar, der in diesem Fall…«
»Sie sind ja verrückt!« Gabrielle schritt wieder aus.
Die Chefberaterin heftete sich an ihre Seite. Ihr Tonfall war wütend geworden. »Senator Sexton wird so oder so den Bach hinuntergehen. Gabrielle, ich mache Ihnen ein Angebot, aus dieser Sache herauszukommen, ohne Ihren nackten Hintern in den Morgenzeitungen zu sehen! Der Präsident ist ein Mann mit moralischen Grundsätzen. Er möchte nicht, dass diese Fotos veröffentlicht werden. Wenn Sie sich mit einer kleinen eidesstattlichen Erklärung in Ihren eigenen Worten zu dieser Sache bekennen, wären wir alle mit Anstand aus dieser Sache heraus.«
»Ich bin nicht käuflich.«
»Dafür ist Ihr Kandidat es umso mehr. Er ist gefährlich und bricht das Gesetz.«
»Er bricht das Gesetz? Sie sind es doch, die in Büros einbrechen und illegale Fotos machen! Haben Sie schon mal von Watergate gehört?«
»Wir haben nichts mit diesen Schmuddelaufnahmen zu tun.
Diese Fotos stammen aus der gleichen Quelle wie die Informationen über die Wahlkampfspenden der SFF. Es gibt jemand, der euch zwei auf dem Kieker hat.«
Gabrielle stürmte am Schreibtisch für die Ausgabe der Besucherausweise vorbei. Sie riss sich die Hundemarke ab und warf sie dem verdutzten Beamten hin. Marjorie Tench folgte ihr immer noch auf dem Fuß.
»Sie haben nicht mehr viel Zeit. Entscheiden Sie sich, Miss Ashe!« Sie waren inzwischen fast am Ausgang. »Entweder Sie bringen mir Ihre eidesstattliche Erklärung, in der Sie Ihre sexuelle Beziehung zu Senator Sexton eingestehen, oder der Präsident sieht sich gezwungen, heute Abend um zwanzig Uhr mit allem an die Öffentlichkeit zu gehen – Sextons Finanzmauscheleien, den Fotos von Ihnen und das ganze Drum und Dran. Und glauben Sie mir – dann werden Sie zusammen mit Sexton sang- und klanglos in der Versenkung verschwinden.«
Gabrielle sah das Ausgangstor vor sich und rannte darauf zu.
»Heute Abend um acht liegt die Erklärung auf meinem Schreibtisch. Seien Sie ein kluges Kind, Gabrielle!« Tench warf ihr den Umschlag mit den Fotos hinterher. »Das schenke ich Ihnen. Wir haben jede Menge davon.«
48
Langsam bewegte sich die Gruppe die eisige schräge Ebene hinab immer tiefer in die Nacht hinein. Rachel Sextons innerliches Frösteln verstärkte sich. Beunruhigende Gedanken schwirrten ihr durch den Kopf – der Meteorit, das phosphoreszierende Plankton, die unabsehbaren Folgen, falls Norah Mangor mit den Eisbohrkernen einen Fehler gemacht hatte.
Zehn Minuten und vier Fackeln später befand sich die Gruppe gut zweihundert Meter von der Kuppel entfernt. Norah blieb ohne Warnung abrupt stehen. »Genau hier!«, sagte sie wie ein Wünschelrutengänger, der geheimnisvollerweise die einzig richtige Stelle für eine Brunnenbohrung ausgemacht hat.
Rachel blickte zurück auf die schiefe Ebene. Die Kuppel war längst in der Düsternis der wolkenverhangenen Mondnacht verschwunden, aber die Linie der Fackeln war klar auszumachen.
Wie ein Leitstern blinkte in der Ferne das erste der Lichter, die, einer sorgfältig vermessenen Einflugschneise nicht unähnlich, in einer vollkommen geraden Linie verliefen.
»Deshalb habe ich unseren Schlitten den
Leithammel machen lassen«, rief Norah, als sie Rachel das Werk
bewundern sah. »Die Kufen sind vollkommen gerade. Wenn man den
Schlitten einfach laufen lässt, bewegt er sich garantiert
geradeaus.«
»Guter Trick«, rief Tolland. »Ich wünschte, so etwas gäbe es auch fürs offene Meer.«
Wir sind auf dem offenen Meer, ging es Rachel beim Gedanken an den Ozean unter ihren Füßen durch den Kopf. Sie stutzte. Für den Bruchteil einer Sekunde war das fernste Licht verloschen und sofort darauf wieder erschienen, als wäre etwas davor vorbeigezogen. Rachel wurde von Unruhe gepackt. »Norah!«, rief sie in den tosenden Wind. »Gibt es hier Eisbären?«
Norah reagierte nicht. Sie war mit der Vorbereitung der letzten Fackel beschäftigt.
»Eisbären fressen Seehunde«, rief Tolland. »Menschen greifen sie nur an, wenn man ihnen in die Quere kommt.«
»Aber hier gibt es doch Eisbären, oder?«
»Ja«, rief Tolland. »Schließlich hat die Arktis von den Eisbären ihren Namen. ›Arktos‹ ist das griechische Wort für Bär.«
Na, wunderbar, dachte Rachel und starrte nervös in die Finsternis.
Norah drückte die letzte Fackel in den Schnee. Um den rötlichen Lichtkreis herum hockte wie hinter einem zugezogenen schwarzen Samtvorhang in völliger Unsichtbarkeit die restliche Welt.
Norah stemmte die Füße auf den Boden und zog den Schlitten Hand über Hand bedächtig ein paar Meter zurück. Sie ließ Tolland das Führungsseil halten, kroch auf allen vieren um den Schlitten und klappte die Krallenbremsen an den Schlittenkufen herunter. Sie stand auf und schlug sich den Schnee vom Anzug.
»Das wäre geschafft«, rief sie. »Dann wollen wir mal anfangen.«
An der Leeseite des Schlittens fing sie an, die Plane aufzuknöpfen. Um zu helfen, machte Rachel sich an der anderen Seite des Schlittens ans Werk.
»Um Gottes willen, bloß nicht!«, rief Norah entsetzt.
Verwirrt prallte Rachel zurück.
»Niemals an der Luvseite aufmachen! Das gibt einen Windsack!
Der Schlitten würde davonrauschen wie ein Regenschirm im Windkanal!«
»Tut mir Leid, ich wollte nur…«
Norah starrte sie zornig an. »Sie und unser Preisträger wären besser drin geblieben.«
Das wären wir besser alle, dachte Rachel.
Amateure, zischte Norah vor sich hin. Sie verfluchte Ekstrom, der ihr Corky und Rachel aufgehalst hatte. Diese Komiker bringen es noch so weit, dass wir hier hopps gehen. Zurzeit hatte sie absolut keine Lust, den Babysitter zu spielen. »Mike«, rief sie, »helfen Sie mir mal mit dem GPR.« Tolland half die Apparatur auszupacken und auf dem Eis in Stellung zu bringen. Das »Ground Penetrating Radar«, kurz GPR genannte Gerät sandte Radarwellen in den Boden und machte die Beschaffenheit des Untergrunds sichtbar. Es sah aus wie drei an einem Aluminiumrahmen parallel zueinander montierte Miniatur-Schneepflugblätter. Der Apparat war nur knapp einen Meter lang und hatte einen Kabelanschluss für eine Bootsbatterie mit Spannungsregler auf dem Schlitten.
»Das soll ein Radargerät sein?«, rief Corky in den Wind.
Wortlos nickte Norah. Das GPR war weitaus besser als die Messapparatur des PODS-Satelliten geeignet, Meerwassereis aufzuspüren. Der Sender des GPR schickte Radarimpulse durch das Eis, die von Substanzen mit unterschiedlicher Kristallstruktur unterschiedlich reflektiert wurden. Reines Süßwasser gefror in einer flachen und geschichteten Gitterstruktur, während Meerwassereis wegen des Natriumgehalts eine verzweigte, eher netzartige Struktur bildete, von der die Radarwellen diffus in sämtliche Richtungen zurückgeworfen wurden und die im Gerät registrierten Reflexionen entsprechend schwächer waren.
Norah ließ das Gerät warmlaufen. »Ich werde eine Art Querschnittsaufnahme von der Eistafel rund um das Bergungsloch machen« rief sie. »Der Rechner im Gerät wird daraus ein Querschnittsbild des Gletschers zusammensetzen und anschließend ausdrucken. Salzwassereis, falls vorhanden, wird sich auf dem Ausdruck als dunkler Schatten abzeichnen.«
»Ich höre immer Ausdruck«, sagte Tolland. »Sie können hier draußen einen Ausdruck machen?«
Norah deutete auf ein Kabel, das vom GPR zu einem bislang noch unter der Plane verborgenen Apparat führte. »Etwas anderes als Ausdrucken geht nicht. Monitore leeren die Batterie zu schnell, deshalb drucken Glaziologen in der Feldforschung ihre Daten mit einem Thermodrucker aus. Die Farben sind zwar etwas matt, aber unter minus zwanzig Grad klumpt bei Laserdruckern der Toner. Das habe ich in Alaska lernen müssen.«
Norah scheuchte alle auf die tiefer gelegene Seite des GPR. Als sie zur Ausrichtung des Geräts Peilung nehmen wollte, konnte sie wegen des hellen Fackelscheins nichts erkennen. »Mike, ich muss das Gerät auf die Kuppel mit dem Meteoritenloch ausrichten«, rief sie, »aber hier blendet mich die Fackel. Ich gehe ein paar Schritte zurück, bis ich etwas sehen kann; dann strecke ich die Arme genau in Verlängerung der Linie der Fackeln aus. Sie können dann das GPR ausrichten.«
Tolland nickte und kniete sich neben das Gerät.
Norah Mangor grub die Spikes ins Eis und stemmte sich gegen den Sturm. Der Fallwind war heute viel stärker, als sie angenommen hatte. Es machte nichts – in ein paar Minuten würden sie hier fertig sein. Dann werden alle sehen, dass ich Recht hatte. Sie stapfte gut zehn Meter gegen den Sturm in die vermutete Richtung der Kuppel. Zugleich mit dem Erreichen der Lichtgrenze straffte sich das Sicherungsseil mit einem Ruck.
Norah schaute den Gletscher hinauf. Als ihre Augen sich an das grelle Weiß gewöhnt hatten, tauchte die Linie der Lichter ein paar Grad nach links versetzt auf. Norah veränderte ihre Position, bis sie exakt in Verlängerung der Lichterlinie stand, und zeigte mit ausgestreckten Armen wie eine Kompassnadel die genaue Richtung an. »Jetzt!«, rief sie. »Mike, Sie können einpeilen!«
Tolland besorgte die Feineinstellung. »Alles klar!«
Als Norah in Vorfreude auf den Heimweg mit einem letzten Blick die sanfte Steigung hinaufsah, geschah etwas Seltsames. Die vorletzte Fackel verlosch plötzlich. Bevor Norah sich über die Brenndauer Sorgen machen konnte, flammte die Fackel wieder auf. Wäre es nicht völlig ausgeschlossen gewesen, hätte Norah angenommen, dass jemand zwischen ihr und der Fackel hindurchgegangen war. Hier draußen konnte unmöglich jemand sein… es sei denn, Ekstrom hatte ein schlechtes Gewissen bekommen und NASA-Leute hinterhergeschickt, woran sie aber nicht so recht glauben wollte. Ach, das war nichts weiter, dachte sie. Vielleicht hat der Wind die Flamme kurzzeitig fast zum Erlöschen gebracht. Sie ging wieder zum Gerät. »Alles so weit klar?«
»Ich denke schon«, meinte Tolland.
Norah ging zur Steuerungseinheit auf dem Schlitten und drückte auf einen Knopf. Die Anlage gab ein kurzes akustisches Signal von sich. »Okay«, sagte sie, »fertig!«
»Das war’s schon?«, staunte Corky.
»Den Rest der Arbeit erledigt die Anlage. Der eigentliche Schuss dauert nur eine Sekunde.«
Der Thermodrucker auf dem Schlitten in seinem durchsichtigen Plastikgehäuse hatte bereits zu summen und zu klicken angefangen. Langsam schob sich ein breites Papierband heraus. Als das Gerät verstummte, griff Norah in den Kasten und riss den Ausdruck ab. Sie werden schon sehen, dachte sie und ging mit dem Papier zur Fackel hinüber, damit jeder die Abbildung gut erkennen konnte. Von wegen, Salzwasser! Alle waren zu Norah getreten.
Sie stand an der Flamme, den Ausdruck fest in der behandschuhten Hand. Mit einem tiefen Atemzug faltete sie das Papier auseinander, um den Befund zu prüfen. Das Bild vor ihren Augen ließ sie vor Schreck zusammenfahren.
»O Gott!« Norah starrte auf den Ausdruck und konnte nicht glauben, was sie sah. Der Ausdruck zeigte erwartungsgemäß einen klaren Querschnitt des wassergefüllten Bergungslochs. Doch niemals hätte Norah damit gerechnet, den schemenhaften Umriss einer menschlichen Gestalt in halber Höhe des Schachts schweben zu sehen. Das Blut stockte ihr in den Adern. »Mein Gott, da hängt eine Leiche!«
Alle starrten schweigend auf das Papier.
Die geisterhafte Gestalt schwebte mit dem Kopf nach unten in der engen Röhre. Um die Leiche herum bauschte sich etwas Schleierartiges wie eine Aura. Norah begriff, was diese Aura in Wirklichkeit war. Das Radargerät hatte den dicken Mantel des Opfers als feinen Schleier abgebildet. Es konnte nur ein langer, dicker Kamelhaarmantel sein.
»Das ist Ming!«, flüsterte sie. »Er muss ausgerutscht sein…«
Norah Mangor hätte nicht gedacht, dass die Entdeckung Mings der kleinere der Schrecken war, die der Ausdruck bereithielt. Als ihre Blicke den Schacht hinunterglitten, sah sie noch etwas.
Das Eis unter dem Bergungsschacht!
Norah starrte fassungslos auf das Papier. Ihr erster Gedanke war, dass mit der Messung etwas nicht geklappt hatte. Als sie das Bild genauer studierte, setzte das Begreifen ein wie ein sich langsam aufbauender Sturm. Die Ecken des Papierbogens flatterten wild im Wind, als sie sich näher zur Flamme beugte, um besser sehen zu können.
Aber… das war doch nicht möglich!
Da explodierte die Wahrheit jäh in ihrem Kopf. Sie hatte das Gefühl, in eine Lawine geraten zu sein. Jeder Gedanke an Ming wurde überrollt.
Jetzt begriff Norah alles. Das Salzwasser im Schacht! Sie ging neben der Fackel im Schnee in die Knie. Ihr Atem stockte. Das Papier noch immer in der Hand, begann sie zu zittern.
Die Wut kochte in ihr hoch. »Ihr Schweine!«, brüllte sie in Richtung der Kuppel. »Ihr verdammten Schweine!« Ihre Schreie verloren sich im Wind.
Nur fünfzig Meter entfernt stand Delta-1 in der Dunkelheit. Das CrypTalk dicht vor dem Mund, übermittelte er dem Einsatzleiter kurz und knapp: »Sie wissen Bescheid.«
49
Norah Mangor kniete immer noch auf dem Eis, als Michael Tolland ihr den Ausdruck aus den zitternden Händen nahm. Der schwebende Leichnam von Dr. Ming jagte ihm einen kalten Schauer über den Rücken, während er die Abbildung vor seinen Augen zu deuten versuchte.
Er sah den Bergungsschacht von der Oberfläche sechzig Meter tief ins Eis abfallen. Er sah Mings Leiche in der Röhre schweben.
Tollands Blicke glitten tiefer. Hier stimmte etwas nicht. Unmittelbar unter dem Bergungsschacht setzte eine dunkle massive Säule von Salzwassereis an und lief mit dem gleichen Durchmesser wie der Bergungsschacht senkrecht nach unten weiter bis zum freien Meerwasser unter dem Eisschelf.
»Mein Gott!«, rief Rachel. Sie hatte Tolland über die Schulter geschaut. »Das sieht ja aus, als ginge der Meteoritenschacht durch den ganzen Eisschelf hindurch bis hinunter ins Meer!«
Tolland stand wie versteinert. Sein Verstand weigerte sich, die einzige logische Erklärung anzuerkennen, und doch wusste er, dass es die Wahrheit war. Auch Corky stand der Schock ins Gesicht geschrieben.
»Da hat jemand von unten in den Schelf hochgebohrt!«, rief Norah außer sich vor Zorn. »Der Brocken ist künstlich von unten ins Eis eingebracht worden!«
So gern der Idealist in Tolland Norah widersprochen hätte, so gut wusste der Wissenschaftler in ihm, dass sie Recht hatte. Zwischen dem Milne-Eisschelf und dem Grund des Eismeers bestand ausreichend Abstand, dass ein Tauch- oder U-Boot darunter manövrieren konnte. Im Wasser wog alles wesentlich weniger. Selbst ein relativ kleines Fahrzeug wie Tollands Einmann-Forschungs-Tauchboot hätte den Meteoriten mit seinen Greifarmen transportieren können. Das U-Boot hätte vom offenen Meer her anfahren, unter den Schelf abtauchen und dann einen Schacht nach oben ins Eis treiben können. Anschließend hätte man mit einem verlängerten Greifarm oder mit luftgefüllten Ballons den Meteoriten den Schacht hinaufdrücken können. Wenn der Meteorit an Ort und Stelle war, würde das Meerwasser langsam gefrieren. Sobald der Schacht durch das Eis so weit verengt worden war, dass der Brocken nicht mehr herausfallen konnte, würde das Boot den Greifarm wieder einziehen und verschwinden. Mutter Natur würde auch den Rest der Bohrung verschließen, und sämtliche Spuren des Betrugs wären verwischt.
»Aber wozu, um Gottes willen?«, rief Rachel. Sie nahm Tolland den Ausdruck aus der Hand und studierte ihn. »Warum sollte jemand so etwas tun?«, fragte sie. »Kann es nicht doch ein Gerätefehler sein?«
»Niemals! Außerdem liefert uns der Ausdruck die perfekte Erklärung für die Leuchtbakterien im Wasser«, sagte Norah.
Wie Tolland zugeben musste, war Norahs Darlegung von erschreckender Logik. Phosphoreszierende Dinoflagellaten wären in der Bohrung instinktiv nach oben geschwommen und direkt unter dem Meteoriten im Eis eingefroren. Später, als Norah den Brocken aufheizte, war die Eisschicht unmittelbar unter dem Meteoriten ebenfalls geschmolzen. Das Plankton wurde freigesetzt, schwamm wieder seinem Instinkt gehorchend nach oben und gelangte bis an die Oberfläche in der Kuppel, wo es aus Mangel an Salzwasser allmählich einging.
»Das ist doch Wahnsinn!«, rief Corky. »Die NASA
hat einen Meteoriten mit extraterrestrischen Fossilieneinschlüssen!
Weshalb sollte es darauf ankommen, wo er gefunden wird? Weshalb
soll sich die NASA die Mühe machen, das Ding in einen Eisschelf
einzulöten?«
»Was weiß ich?«, wehrte sich Norah. »Ein GPR-Ausdruck lügt jedenfalls nicht. Man hat uns reingelegt! Dieser Meteorit ist kein Bruchstück des Jungersol-Meteoriten. Er kann noch nicht lange im Eis stecken, höchstens ein Jahr, sonst wäre das Plankton hin!«
Sie war schon damit beschäftigt, ihre Gerätschaften einzupacken und auf dem Schlitten zu verstauen. »Wir müssen schleunigst zurück und etwas unternehmen! Der Präsident ist drauf und dran, sich mit falschen Daten vor die Kameras zu stellen! Die NASA hat ihn ausgetrickst!«
»Moment mal!«, rief Rachel. »Wir sollten mindestens noch eine weitere Aufnahme machen. Das ergibt doch alles keinen Sinn!
Wer wird uns glauben?«
»Jeder!«, rief Norah. »Ich werde in die Kuppel marschieren und noch eine Kernbohrung vom Grund des Meteoritenschachts ziehen. Wenn ich Salzwasser hinaufhole, wird auch der letzte Zweifler überzeugt sein, das garantiere ich Ihnen!«
Norah löste die Krallenbremsen des Geräteschlittens, schwang ihn herum und stapfte in Richtung Kuppel. Die Krallenstiefel ins Eis gestemmt, zog sie den Schlitten mit bemerkenswerter Leichtigkeit hinter sich her.
»Los, voran!«, rief sie und zog die angeseilte Mannschaft mit sich aus dem schwindenden Licht des beleuchteten Kreises. »Ich weiß nicht, was die NASA hier eigentlich abzieht, aber ich habe keine Lust, mich als Bauer in diesem Schachspiel…«
Norah Mangors Kopf flog in den Nacken, als wäre
sie mit der Stirn gegen einen unsichtbaren Balken gelaufen. Sie
stieß einen gutturalen Schrei aus, wankte und fiel rückwärts aufs
Eis. Fast gleichzeitig wurde Corky herumgerissen. Mit einem
Aufschrei griff er sich an die Schulter und ging schmerzverkrümmt
zu Boden.
Ein kleiner Gegenstand pfiff knapp an Rachels Schläfe und dem Ohr vorbei. Den Ausdruck in ihrer Hand, Mings Leiche, den Meteoriten und den rätselhaften Schacht durchs Eis hatte sie augenblicklich vergessen. Instinktiv ging sie in die Hocke und zog Tolland zu sich herunter.
»Was ist das?«, rief Tolland.
Rachel, die ziemlich ratlos war, tippte auf einen Hagelsturm, der Eisgeschosse vom Gletscher herunterblies. Das Sperrfeuer aus murmelgroßen Geschossen konzentrierte sich unerklärlicherweise plötzlich auf Rachel und Tolland. Ringsumher schlug es ein und ließ kleine Eisfontänen aufspritzen. Rachel warf sich zu Boden und suchte hinter dem Schlitten Deckung. Einen Moment später kam auch Tolland herangekrochen.
Tolland sah Norah und Corky schutzlos auf dem Eis liegen.
»Wir müssen sie mit dem Seil in Deckung ziehen«, rief er und zerrte an der Leine, doch sie hatte sich in den Kufen verfangen.
Rachel stopfte den Ausdruck in eine Tasche mit Klettverschluss an ihrem Anzug. Tolland versuchte die Leine freizubekommen. Der Hagelschlag prasselte jetzt erst richtig auf den Schlitten ein. Mutter Natur schien Norah und Corky links liegen zu lassen und nur noch Rachel und Tolland aufs Korn zu nehmen. Eines der Hagelkörner wurde von der Schutzplane des Schlittens aufgefangen, prallte gedämpft ab und fiel Rachel vor die Nase. Als Rachel die Geschosse sah, gefror ihr das Blut in den Adern. Es waren künstlich erzeugte Eiskugeln mit einem feinen Grat ringsum, kirschgroß und makellos rund mit glatter, wie poliert aussehender Oberfläche. In einer Presse erzeugte Musketenkugeln aus Eis.
Eisgeschosse!
Von Berufs wegen war Rachel mit der noch geheimen neuen »IM«-Waffentechnik – improvisierte Munition – wohl vertraut.
Es gab Schneegewehre, die Eiskugeln verschossen, Wüstengewehre, die Sand zu Glasprojektilen umschmolzen, Wassergewehre, deren Druckwasserstöße Knochen brechen konnten. In den Gewehrkolben gestopfter Schnee lieferte nach Bedarf jene Eismunition, mit der sie jetzt beschossen wurden.
Rachels Kenntnis der Waffentechnologie ließ nur einen entsetzlichen Schluss zu: Die Angreifer waren Kämpfer einer U.S. Spezialeinsatztruppe, die als Einzige bei Feldeinsätzen mit den geheimen IM-Waffensystemen ausgerüstet waren. Die Chance, diesen Angriff zu überleben, war mehr als gering.
Ein Geschoss kreischte durch eine Lücke in der Gerätelast des Schlittens und traf Rachel in der Magengegend. Selbst in ihrem dick gepolsterten Anzug hatte sie das Gefühl, einen Huftritt bekommen zu haben. Ihr wurde schwarz vor Augen, und sie fiel nach hinten. Im Fallen suchte sie Halt am Schlitten.
Tolland hechtete zu ihr, jedoch zu spät. Zusammen mit Rachel wurde er unter eine Lawine aus elektronischen Geräten begraben.
»Das sind… Geschosse!«, japste Rachel mit dem letzten Rest Puste. »Laufen Sie!«
50
Für Gabrielle Ashe konnte der U-Bahn-Zug der Washington MetroRail gar nicht schnell genug Abstand vom Weißen Haus gewinnen. Starr aufgerichtet saß sie in einer verlassenen Ecke des Waggons, während draußen am Fenster verwischte dunkle Schatten vorbeijagten. Sie hielt Marjorie Tenchs großen roten Umschlag auf dem Schoß. Er schien Zentner zu wiegen.
Ich muss unbedingt mit Sexton reden, dachte Gabrielle, während die U-Bahn Fahrt aufnahm. Jetzt sofort.
Im düsteren Zwielicht des Waggons hatte Gabrielle das Gefühl eines psychedelischen Albtraums. Kurz aufflammende Lichter fegten vorbei wie Stroboskopblitze in einer Diskothek. Die Canyons der mächtigen Tunnelmauern schlossen sie von allen Seiten ein.
Sagt mir, dass es nicht wahr ist!
Sie starrte den Umschlag an. Schließlich löste sie die Verschlussklammer und zog eines der Fotos heraus. Die Waggonbeleuchtung flackerte. Das stoßweise Licht fiel auf eine schockierende Szenerie – Sedgewick Sexton, splitternackt, das Gesicht voll der Kamera zugewandt; daneben, ebenfalls nackt, Gabrielles dunklere Gestalt.
Fröstelnd steckte sie das Foto in den Umschlag zurück und klammerte ihn mit zitternden Fingern wieder zu.
Es ist vorbei.
Als die Bahn vor L’Enfant Plaza den Tunnel verließ und den ebenerdigen Streckenabschnitt erklomm, kramte Gabrielle hastig das Handy heraus. Sie wählte Sextons private Handynummer, doch es meldete sich nur die Mailbox. Verwundert rief sie im Büro des Senators an. Die Sekretärin nahm ab.
»Hier Gabrielle. Ist der Chef da?«
»Wo haben Sie gesteckt? Er hat Sie gesucht!« Die Stimme der Sekretärin klang gereizt.
»Ich hatte eine Besprechung, die kein Ende fand. Ich muss den Chef unbedingt sofort sprechen.«
»Da müssen Sie sich bis morgen gedulden. Er ist in Westbroke.«
Sextons Washingtoner Wohnung befand sich im Westbroke Apartmentgebäude. »Dort hab ich es schon versucht, aber er nimmt nicht ab«, sagte Gabrielle.
»Er hat für heute Abend ein P.E. eingetragen«, sagte die Sekretärin. »Er ist schon ziemlich früh weg.«
Gabrielle runzelte die Stirn. Persönliches Event. Vor lauter Aufregung hatte sie gar nicht daran gedacht. Sexton hatte sich einen ruhigen Abend zu Hause gegönnt und wollte nicht gestört werden. Er war sehr eigen mit seinen P.-E.-Terminen. Ich will von keinem etwas hören, es sei denn, das Haus steht in Flammen, pflegte er immer zu sagen. Gabrielle war allerdings der Ansicht, dass Sextons Haus lichterloh in Flammen stand. »Sie müssen unbedingt versuchen, ihn an die Strippe zu bekommen«, sagte sie zu der Sekretärin.
»Das geht nicht.«
»Es ist sehr dringend! Ich muss unbedingt…«
»Es geht wirklich nicht«, sagte die Sekretärin. »Er hat mir beim Hinausgehen seinen Piepser auf den Schreibtisch geknallt und nachdrücklich gesagt, dass er heute den ganzen Abend ungestört bleiben möchte. Er war sehr bestimmt.«
Sie machte eine kleine Pause. »Bestimmter noch
als sonst.«
Mist. »Okay, danke.« Gabrielle legte auf.
»Nächste Station L’Enfant Plaza«, verkündete der Lautsprecher im Waggon, »Anschlüsse in alle Richtungen.«
Gabrielle schloss die Augen. Im Ansturm der verheerenden Bilder versuchte sie, klaren Kopf zu bewahren. Die peinlichen Fotos von ihr und dem Senator… der Stapel Dokumente, die nahe legten, dass Sexton Bestechungsgelder nahm… Gabrielle hatte immer noch Marjorie Tenchs Raucherstimme im Ohr. Heute abend um acht liegt die Erklärung auf meinem Schreibtisch.
Während die U-Bahn mit quietschenden Bremsen in die Station einfuhr, versuchte Gabrielle sich die Reaktion des Senators vorzustellen, falls die Fotos in der Presse erschienen. Der Gedanke, der ihr zuerst durch den Kopf schoss, schockierte und beschämte sie.
Er würde alles abstreiten.
War das wirklich ihre Einschätzung?
Ja. Sexton würde lügen. Wie ein Weltmeister.
Wenn diese Fotos ohne Gabrielles gleichzeitiges Eingeständnis der Affäre in die Medien gelangten, würde der Senator sie einfach zu einer gemeinen Fälschung erklären.
Schließlich befanden wir uns im Zeitalter der digitalen Fotonachbearbeitung. Jeder, der schon einmal im Internet gesurft hatte, war irgendwann auf Fotos von Prominenten gestoßen, deren Köpfe digital auf einen anderen Körper montiert worden waren, oft auf den Körper von Pornodarstellern bei irgendeiner Schweinerei. Gabrielle hatte schon einmal erlebt, mit welch treuherzigem Blick in die Fernsehkamera der Senator die Affäre absolut glaubwürdig abzustreiten vermochte. Sie zweifelte nicht daran, dass Sexton es fertig brachte, aller Welt einzureden, die Fotos seien ein mieser Versuch, seine Karriere zu zerstören. Sexton würde mit beleidigtem Zorn um sich schlagen, sich vielleicht sogar in Andeutungen ergehen, der Präsident höchstselbst habe die Fälschungen angeordnet.
Kein Wunder, dass das Weiße Haus nicht an die Öffentlichkeit gegangen ist. Die Sache mit den Fotos konnte böse ins Auge gehen. So eindeutig die Bilder waren, sie bewiesen gar nichts.
Gabrielle spürte plötzlich einen Hoffnungsschimmer.
Marjorie Tenchs rücksichtsloser Überfall hatte einen erschütternd einfachen Hintergrund. Auf einmal lag alles klar auf der Hand. Das Weiße Haus brauchte Gabrielle. Wenn sie sich nicht zu der Affäre bekannte, waren die Fotos wertlos! Allmählich kehrte ihr Selbstvertrauen wieder.
Als der Zug hielt und die Türen aufgingen, öffnete sich ganz hinten in Gabrielles Kopf ebenfalls eine Tür. Ein ermutigender Gedanke nahm Gestalt an.
Vielleicht ist die ganze Geschichte von den Bestechungsgeldern nur eine Lüge?
Was hatte Gabrielle denn wirklich zu Gesicht bekommen?
Wieder nichts Eindeutiges – ein paar Fotokopien von Bankbelegen, ein flaues Foto von Sexton in einer Tiefgarage. Das alles konnten Fälschungen sein. Hatte Marjorie Tench vielleicht falsche Bankbelege mit echten Sexfotos zusammengekoppelt, in der Hoffnung, Gabrielle würde ihr das ganze Paket als echt abkaufen?
Es wäre eine Spielart des Trittbrettfahrens. In der Politik wurde unentwegt mit diesem Verfahren gearbeitet, um zweifelhafte Ziele zu erreichen.
Sexton hat keinen Dreck am Stecken, beruhigte sich Gabrielle. Das Weiße Haus steckte in der Bredouille und hatte versucht, Gabrielle mit einem gewagten Spiel fertig zu machen, damit sie die Affäre öffentlich zugab. Die Distanzierung von Sexton musste mit einem öffentlichen Eklat garniert sein. Es passt alles zusammen, dachte Gabrielle.
Bis auf eines…
Was nicht in dieses Bild passte, waren die E-Mails von Marjorie Tench mit der Munition gegen die NASA. Das bedeutete doch, dass der NASA tatsächlich daran gelegen sein musste, dass Sexton sich gegen sie aus dem Fenster lehnte, damit sie ihn besser packen konnte – oder nicht? Doch Gabrielle verstand, dass es selbst dafür eine absolut logische Erklärung geben konnte.
Vielleicht kamen die E-Mails gar nicht von Marjorie Tench!
Es war denkbar, dass die Präsidentenberaterin unter ihren Mitarbeitern einen Verräter erwischt hatte, der Gabrielle mit Daten fütterte. Sie hatte den Kerl rausgeschmissen und dann die letzte E-Mail mit dem Treffen selbst abgeschickt . Marjorie Tench hat dich hereinlegen wollen, indem sie so getan hat, als hätte sie die NASA-Daten selbst durchsickern lassen.
Gabrielle starrte auf den Bahnsteig. Entsprachen ihre Theorien der Wirklichkeit, oder war es bloßes Wunschdenken? Wie auch immer, sie musste unbedingt mit Sexton reden. Jetzt sofort.
Die automatischen Türschließer zischten. Gabrielle packte den Umschlag mit den Bildern und stürmte in letzter Sekunde aus dem Waggon. Sie hatte ein neues Fahrtziel.
Die Westbroke Apartments.
51
Flüchten oder kämpfen?
Tollands Instinkte drängten ihn zur Flucht, doch der nüchterne Verstand erinnerte ihn daran, dass er noch durch das Seil mit Norah Mangor verbunden war. Und wohin hätte er auch fliehen sollen? Die Kuppel wäre auf viele Kilometer im Umkreis der einzige sichere Ort gewesen, und die Angreifer, wer sie auch sein mochten, hatten sich weiter oben auf dem Gletscher postiert und schnitten ihm den Weg ab. Hinter ihm fächerte sich die kahle Eistafel zu einer mehr als dreieinhalb Kilometer breiten Eiszunge auf, die mit einem senkrechten Abbruch ins Eismeer endete. In diese Richtung zu fliehen, hätte den sicheren Tod durch Erfrieren bedeutet. Abgesehen davon, dass eine Flucht schon aus diesen praktischen Gründen ausschied, kam es für Tolland nicht in Frage, die anderen im Stich zu lassen.
Norah und Corky lagen immer noch deckungslos da, an Rachel und Tolland angeseilt. Tolland kauerte im Hagel der Eisgeschosse neben Rachel hinter dem umgestürzten Schlitten. Fieberhaft durchsuchte er den Wirrwarr der heruntergefallenen Ausrüstung nach irgendeiner Waffe, einer Signalpistole, einem Funkgerät…
irgendetwas.
»Laufen sie weg!«, rief Rachel, die immer noch kaum Luft bekam.
Der Geschosshagel endete abrupt. Selbst im Toben des Windes schien die Nacht plötzlich still zu werden.
Tolland spähte vorsichtig hinter dem Schlitten hervor. Ein geisterhafter Anblick bot sich seinen Augen. Drei Gestalten in weißen Anzügen kamen geräuschlos auf Skiern aus dem Dunkel geglitten. Sie hatten keine Skistöcke bei sich, dafür übergroße Schießprügel, die keiner Schusswaffe glichen, die Tolland je gesehen hatte. Auch die kurzen futuristischen Skier wirkten bizarr und sahen eher wie überlange Inlineskates aus.
Ganz ruhig, als wäre der Kampf längst gewonnen, kamen die Gestalten neben dem nächstliegenden Opfer zum Stehen – der bewusstlosen Norah Mangor. Tolland erhob sich auf die Knie und spähte über den Schlitten zu den Angreifern hinüber. Durch gespenstisch aussehende elektronische Schutzbrillen starrten sie zurück, offensichtlich desinteressiert.
Jedenfalls im Moment noch.
Delta-1 betrachtete ungerührt die Frau, die bewusstlos auf dem Eis vor ihm lag. Er war darauf gedrillt, Befehle auszuführen, ohne nach dem Grund zu fragen.
Die Frau trug einen dicken schwarzen Kälteschutzanzug. An ihrer Schläfe prangte eine große Beule. Sie atmete stoßweise und flach. Es war an der Zeit, den Auftrag zu beenden.
Delta-1 kniete neben der Bewusstlosen nieder. Seine Kameraden richteten die Gewehre auf die verbliebenen Ziele – den kleinen, ebenfalls besinnungslosen Mann auf dem Eis und die beiden anderen hinter dem umgestürzten Schlitten.
Es wäre ein Leichtes gewesen, alle zusammen unschädlich zu machen, doch die restlichen Opfer waren unbewaffnet und konnten nirgendwohin. Übereiltes Vorgehen wäre unbedacht gewesen. Niemals die Kräfte aufspalten, wenn es nicht unbedingt sein muss. Stets nur mit einem Gegner befassen. Sie würden ihre Opfer schön der Reihe nach erledigen, wie man es sie gelehrt hatte.
Und es würde nicht die geringsten Spuren geben,
wie die Opfer gestorben waren.
Delta-1 zog einen Handschuh aus und packte eine Hand voll Schnee. Er zwängte die Kiefer der Frau auseinander und stopfte ihr den Schnee mit aller Kraft in Rachen und Luftröhre. In spätestens drei Minuten würde sie tot sein. Diese Technik des Tötens war eine Erfindung der russischen Mafia. Dort hieß sie »belaya smert«, der weiße Tod. Das Opfer erstickte, lange bevor der Schnee im Rachen schmolz. Doch die Leiche war noch warm genug, um den Eisknebel aufzutauen. Selbst wenn irgendwann der Verdacht aufkommen sollte, dass es hier auf dem Eis nicht mit rechten Dingen zugegangen war – es gab keine Mordwaffe und keine Spur einer gewaltsamen Einwirkung. Die Eisgeschosse würden sich im Schnee und Eis verlieren, und die Beule am Kopf der Frau ließ einen bösen Sturz vermuten – nicht verwunderlich bei diesem Sturm. Die anderen drei Opfer würden wehrlos gemacht und auf die gleiche Weise liquidiert werden. Das Delta-Team würde die Leichen auf den Schlitten laden und ein paar hundert Meter weit weg, ab vom Kurs, in den Schnee legen.
Viele Stunden würden vergehen, bis man die offensichtlich erfrorenen Opfer auffand. Die Suchmannschaft würde sich wundern, wie die Verunglückten so weit vom Kurs abgekommen waren, nicht jedoch über ihren Tod: Die Fackeln der Opfer waren ausgebrannt, das Wetter bedrohlich, und wer sich auf dem Milne-Eisschelf verirrte, war ohnehin ein sicherer Todeskandidat.
Delta-1 hatte sein tödliches Werk beendet. Er hakte das Sicherheitsseil des Opfers aus. Er würde es später wieder einklinken, doch die beiden hinter dem Schlitten sollten nicht etwa glauben, sie könnten ihm mit dem Seil einen Streich spielen.
Keuchend hatte Tolland den brutalen Mord beobachtet. Die Angreifer wandten sich jetzt Corky zu.
Du musst etwas unternehmen!
Corky war zu sich gekommen und versuchte sich aufzusetzen.
Einer der Kämpfer drückte ihn wieder zu Boden, setzte sich auf ihn und presste seine Arme mit den Knien aufs Eis. Corky schrie vor Schmerz, doch der Schrei verlor sich im tosenden Sturm.
Hektisch durchwühlte Tolland die vom Schlitten gestürzten Gerätschaften. Irgendetwas, womit man sich wehren konnte, musste doch zu finden sein! Aber seine Hände griffen immer nur in elektronische Apparaturen, vom Eiskugelhagel bis zur Unkenntlichkeit zerschmettert. Neben ihm versuchte Rachel benommen, mithilfe des Eisbeils den Oberkörper aufzurichten. »Weg, Mike! Weg…«
Tolland beäugte das Eisbeil, das an einer Schlaufe an Rachels Handgelenk hing. Es könnte als Waffe taugen… Er schätzte die Erfolgsaussichten eines Angriffs mit einem kleinen Eisbeil gegen drei Bewaffnete ab.
Selbstmord.
Tollands suchender Blick hatte hinter Rachel einen dicken Vinylsack erspäht. Mit einem Stoßgebet, dass sich eine Signalpistole oder ein Funkgerät darin befinden möge, zog er den Sack zu sich heran. Eine große, sorgfältig zusammengefaltete Mylarfolie steckte darin. Wertlos. Es war ein kleiner Wetterballon, der als Nutzlast Messgeräte vom Gewicht eines Heimcomputers tragen konnte. Norahs Ballon half hier auch nicht weiter, schon gar nicht ohne eine Heliumflasche zum Füllen.
Tolland fühlte sich so hilflos wie seit Jahren nicht. Tiefste Verzweiflung. Völlige Hilflosigkeit. Und dazu noch Corkys Schreie.
Wie in dem Klischee von dem Film des eigenen Lebens, der kurz vor dem Tod vor dem inneren Auge vorbeirast, schossen Tolland Bilder aus seiner Kindheit durch den Kopf. Für den Bruchteil einer Sekunde segelte er vor San Pedro und lernte ein uraltes Matrosenvergnügen: Spinnakerfliegen. An einem Tau, in das Knoten geknüpft waren, schwebte er am Spinnaker hängend über dem Meer auf und nieder und wurde manchmal kreischend ins Wasser getaucht, je nach der Laune des Windes und des geblähten Spinnakersegels.
Das war’s! Spinnakerfliegen!
Tolland riss die Schutzhülle des Ballons auf. Er machte sich keine Illusionen. Sein Plan war im wahrsten Sinn des Wortes ein Versuchsballon. Aber hier zu bleiben bedeutete für sie alle den sicheren Tod. Er umklammerte das Mylarpaket. Am Lastkarabiner hing ein Warnschildchen: VORSICHT, NUR BEI WINDGESCHWINDIGKEITEN UNTER ZEHN KNOTEN BENUTZEN!
Zum Teufel damit! Mit dem Mylarpaket unterm Arm kroch er zu Rachel. Sie hatte sich auf einen Ellbogen aufgestützt. Er kroch ganz nahe an sie heran. Sie blickte ihn verwirrt an.
»Halten Sie das mal fest!«, rief er und ließ Rachel das Ballonpaket halten, um die Hände freizubekommen. Er hakte den Lastkarabiner des Ballons an einer Öse seines Sicherungsgeschirrs ein, um ihn dann durch eine Öse an Rachels Geschirr zu führen
An der Hüfte zusammengewachsen.
Zwischen ihnen schlängelte sich das Sicherungsseil zu Corky hinüber… und noch einmal zehn Meter weiter zum leeren Karabiner neben Norah Mangor.
Norah hat es erwischt,
sagte sich Tolland, da ist nichts mehr zu
machen. Die Angreifer hatten sich auf den zappelnden Corky
geworfen. Gleich würden sie auch ihm Schnee in den Hals stopfen. Es
war allerhöchste Zeit.
Tolland riss Rachel das Mylarpaket aus den Händen und schleuderte es in die stürmische Luft. »Festhalten, es geht los!«
»Mike…?«
Der heulende Sturm fuhr in das Paket. Mit einem Knall entfaltete sich das Mylar und blähte sich, als hätte man die Reißleine eines Fallschirms gezogen. Tolland spürte einen ungeheuren Ruck an seinem Geschirr. Er merkte sofort, dass er die Kraft des Fallwindorkans gewaltig unterschätzt hatte. Im Bruchteil einer Sekunde wurden er und Rachel herumgerissen. Eine wilde Fahrt den Gletscher hinunter begann. Das Seil, das zu Corky führte, wurde straff und riss ihn mit einem zweiten Ruck unter seinen Angreifern heraus. Der Mann auf seiner Brust machte einen Purzelbaum rückwärts. Mit einem markerschütternden Schrei wurde Corky jäh übers Eis gezerrt. Knapp am Schlitten vorbei schwenkte er auf Kiellinie ein. Hinter ihm schlingerte ein Seil…
die Sicherheitsleine, an der Norah Mangor gehangen hatte.
Nichts mehr zu machen.
Wie ein Gewirr aus menschlichen Marionetten riss es die drei Leiber den Gletscher hinunter. Ein paar Eisgeschosse pfiffen vorbei, doch Tolland wusste, dass er den Angreifern vorerst einen Strich durch die Rechnung gemacht hatte. Die weißen Gestalten verschwammen zu hellen Flecken im Lichtkreis der Fackel. Tolland spürte durch die Polsterung seines Anzug hindurch, dass sie mit gnadenloser Beschleunigung über den eisigen Grund rasten. Die Erleichterung über die geglückte Flucht verflog schnell. Noch höchstens dreieinhalb Kilometer, dann hörte der Milne-Eisschelf mit einem jähen Abbruch abrupt auf – und dann… ein dreißig Meter tiefer Sturz in die tödliche Brandung des Polarmeers.
52
Marjorie Tench lächelte. Sie befand sich auf dem Weg zum eine Etage tiefer gelegenen »Communications Office« des Weißen Hauses, der Nachrichtenstation, in der die im Stock darüber – in der Bulletinabteilung »Communications BullPen« – formulierten Presseverlautbarungen herausgegeben wurden. Das Treffen mit Gabrielle Ashe hatte hervorragend geklappt. Ob es ihr gelungen war, Gabrielle so sehr einzuschüchtern, dass sie ihr die schriftliche Erklärung mit dem Eingeständnis der Affäre liefern würde, stand noch dahin, doch es war auf alle Fälle den Versuch wert gewesen. Gabrielle wäre gut beraten, sich von Sexton abzusetzen, dachte Marjorie. Das arme Mädchen hat ja keine Ahnung, wie schlimm der Senator auf die Nase fallen wird.
In ein paar Stunden würde die Pressekonferenz des Präsidenten mit der Ankündigung des Meteoriten Sexton den Boden unter den Füßen wegreißen. Das war ausgemacht. Gabrielle Ashe, falls sie mitspielte, würde ihm den Fangschuss verpassen. Dann konnte Sexton mit Schimpf und Schande einpacken. Man würde Gabrielles Erklärung am kommenden Morgen zusammen mit der Dokumentation von Sextons früherer gegenteiliger Beteuerung an die Medien weiterleiten.
Ein sauberer Doppeltreffer.
In der Politik genügte es nicht, Wahlen zu gewinnen. Es galt, sie mit fliegenden Fahnen zu gewinnen, den Schwung zu haben, die eigenen Visionen umzusetzen. Im historischen Rückblick hatte kein Präsident, der sich mit einer knappen Mehrheit ins Amt gequetscht hatte, viel bewegen können. Er war vom ersten Moment an geschwächt, und der Kongress schien ihm das immer wieder aufs Butterbrot zu schmieren.
Marjorie Tench war an der Tür des Communications Office angelangt. Sie war vom Kampfgeist beflügelt. Politik war Krieg.
Sie atmete tief durch und schaute auf die Uhr. 18:15. Der erste Schuss konnte abgegeben werden.
Sie trat ein.
Das Communications Office war klein. Diese effizienteste Massenkommunikationsstation der Welt war mit nur fünf Mitarbeitern besetzt, die sich im Augenblick wie startbereite Wettkampfschwimmer über ihre elektronischen Geräte beugten.
Marjorie staunte immer wieder, wie diese kleine Dienststelle in der Lage war, mit ihren elektronischen Verbindungen zu zehntausenden Nachrichtenquellen rund um den Globus – vom größ-
ten Fernsehmulti bis zu den kleinsten Provinzblättern – mit zwei Stunden Vorlauf quasi auf Knopfdruck ein Drittel der Weltbevölkerung zu erreichen.
Fax-Computer schoben Presseerklärungen in die Eingangskörbe der Redaktionen von Radio, Fernsehen, Print- und Internet-Medien zwischen Maine und Moskau. E-Mail-Massensendungen gingen an Online-Nachrichtendienste. Selbstwählautomaten spielten Tausenden von Redakteuren Tonbandtexte zu. Eine Nachrichten-Internetseite wurde mit Updates laufend auf dem letzten Stand gehalten. Nachrichtenkanäle mit der Möglichkeit zu Liveschaltungen – CNN, NBC, ABC, CBS und ausländische Sendegesellschaften – wurden mit Angeboten von kostenlosen Liveübertragungen nach allen Regeln der Kunst bearbeitet. Welche Sendung bei diesen Sendern auch gerade lief, eine wichtige Erklärung des Präsidenten war allemal eine Programmunterbrechung wert.
Vollständige Nachrichtensättigung.
Wie ein General, der seine Truppen inspiziert, schritt Marjorie Tench wortlos zum Kopierer und nahm ein Exemplar der
»Blitzmeldung« heraus, die inzwischen abschussbereit in sämtlichen Übertragungsgeräten steckte.
Beim Durchlesen lachte sie leise in sich hinein. Nach den sonst gültigen Maßstäben war es eher ein Reklametext als eine Verlautbarung, aber der Präsident hatte das Communications Office angewiesen, bedenkenlos auf die Tube zu drücken – und das hatte man getan. Dieser Text war perfekt, reich an Reizwörtern und arm an Inhalt. Eine tödliche Kombination. Redaktionen, die ankommende Meldungen durch automatische Stichwort-Filterprogramme schickten, würden es auf ihrem Bildschirm blinken sehen wie Glühwürmchen in einer Juninacht.
Von: Weißes Haus, Communications Office
Betreff: Dringliche Erklärung des Präsidenten
Der Präsident der Vereinigten Staaten wird heute Abend 20:00 Eastern Standard Time im Briefing Room des Weißen Hauses eine dringliche Pressekonferenz abhalten. Das Thema der Erklärung unterliegt derzeit noch der Geheimhaltung. Audio- und Videoübertragungen stehen live über die üblichen Kanäle zur Verfügung.
Marjorie Tench legte das Blatt zurück und nickte anerkennend in die Runde. Die Leute waren mit Leib und Seele dabei. Sie zündete eine Zigarette an, rauchte ein paar Züge. Die Spannung knisterte im Raum. »Meine Damen und Herren«, sagte sie schließlich, »dann mal los.«
53
Logische Überlegung spielte für Rachel Sexton keine Rolle mehr. Der Meteorit, der rätselhafte Ausdruck des Radarbildes in ihrer Tasche, Ming, der grauenvolle Angriff – sie dachte nicht mehr darüber nach. Es ging nur noch um eines.
Überleben.
Das Eis fegte unter ihr hindurch wie eine endlose glatte Autobahn. Sie spürte keinen Schmerz, sie spürte gar nichts. Lag es am dicken Schutzanzug, oder war sie vor Angst betäubt? Sie wusste es nicht. Rachel und Tolland waren an der Hüfte zusammengeklammert. Einander zugekehrt und auf der Seite liegend hielten sie sich in einer ungeschickten Umarmung aneinander fest. Irgendwo vor ihnen blähte sich der Ballon wie der Bremsfallschirm hinter einem Dragster. Corky sauste in wilden Schlangenlinien hinter ihnen her. Die Fackel an der Stelle des Überfalls war so gut wie nicht mehr zu erkennen.
Der Zischton der Nylonanzüge auf dem Eis wurde
zunehmend höher. Sie hatten keine Ahnung, wie schnell sie
inzwischen dahinsausten, aber der Wind blies mit über einhundert
Kilometer in der Stunde, und die Rutschbahn flitzte von Sekunde zu
Sekunde schneller unter ihnen durch. Der luftundurchlässige
Mylarballon zeigte keinerlei Neigung, nachzugeben oder zu
reißen.
Wir müssen abkoppeln, dachte Rachel. Sie rasten von einer tödlichen Gefahr geradewegs in die nächste. Bis zum Meer sind es vielleicht noch anderthalb Kilometer! Beim Gedanken an eiskaltes Wasser kamen schreckliche Erinnerungen in ihr hoch.
Immer noch nahm das Tempo zu. Hinter ihnen gellten Corkys Schreckensschreie. Bei dieser Geschwindigkeit würden sie in wenigen Minuten über den Eisabbruch in den klirrend kalten Ozean geschleudert werden.
Tolland dachte offensichtlich das Gleiche. Er kämpfte schon mit dem Lastkarabiner des Ballons. »Ich kann uns nicht ausklinken«, rief er. »Der Zug ist zu stark!«
Rachel hoffte auf ein kurzes Nachlassen des Sturms, aber der Fallwind blies mit monotoner Brutalität. Rachel warf sich herum und stemmte die Fußsohlen mit den Spikes aufs Eis. Eine Eisstaubfahne gischtete hinter ihnen auf. Die Fahrt nahm kaum wahrnehmbar ab.
»Jetzt!«, rief sie und hob die Füße. Für den Bruchteil einer Sekunde ließ der Zug auf der Ballonleine unmerklich nach. Tolland griff nach dem Karabiner. Doch er hätte es genauso gut lassen können.
»Noch einmal!«, brüllte er.
Diesmal rammte auch Tolland die Füße aufs Eis. Die Bremswirkung war deutlich stärker.
Auf Tollands Zeichen hörten sie gleichzeitig zu
bremsen auf.
Der Ballon zog sofort wieder an, während Tolland die Karabinerklinke aufdrückte. Es gelang ihm zwar nicht, den Karabiner auszuhaken, doch er war nahe daran. Mit ein bisschen mehr Entlastung müsste es klappen.
Rachel nahm alle Kraft und Zuversicht zusammen und knallte die Spikes aufs Eis. Mit durchgedrücktem Rücken legte sie ihr ganzes Gewicht auf die Spikes. Tolland tat es ihr nach. Die Erschütterungen fuhren ihnen wie Schockwellen durch die angespannte Muskulatur. Rachel hatte das Gefühl, die Fersen würden ihr abgerissen.
»Noch ein bisschen… noch ein bisschen!« Sie wurden langsamer. Tolland krümmte sich, drückte verbissen die Klinke auf, hebelte am Karabiner. Noch ein winziges Stück…
Die Klettverschlüsse von Rachels Spikes gaben nach. Die Stahlspitzen flogen davon, purzelten über Corky hinweg und verschwanden in der Nacht. Der Ballon ruckte sofort wieder an und schleuderte Rachel und Tolland herum. Der Karabiner flog Tolland aus der Hand.
Als wäre er wütend über das Bremsmanöver, zerrte der Ballon seine Last den Gletscher hinunter zum Meer. Der dreißig Meter tiefe Absturz ins Eismeer konnte nicht mehr lange auf sich warten lassen, doch Rachel wusste, dass zuvor noch eine weitere Gefahr auf sie lauerte. Drei hohe Schneewälle standen im Weg.
Die Aussicht, drei steile Wälle mit hohem Tempo hinauf- und wieder heruntergeschleudert zu werden, erfüllte Rachel mit Entsetzen, Schutzanzug hin oder her. Verzweifelt zermarterte sie ihr Hirn, wie sie von dem Ballon freikommen könnten. Dann hörte sie ein helles Scheppern von Leichtmetall auf Eis.
Das Eisbeil!
Das leichte Aluminiumwerkzeug trudelte an der Fangleine neben ihrem Bein. Rachel zog es heran, packte den Griff und begann, mit der Sägezahnschneide an dem dicken gestrafften Nylontrageseil zu säbeln, so gut es in ihrer unglücklichen Körperhaltung ging.
»Ja!«, rief Tolland, griff nach seinem eigenen Beil und machte sich an der gleichen Stelle von der anderen Seite ans Werk.
Wir schaffen es!, jubelte Rachel.
Plötzlich fuhr die silbrige Mylarblase vor ihnen wie in einem Aufwind nach oben. Entsetzt sah Rachel einen weißen Wall auf sich zurasen. Ein fürchterlicher Schlag gegen ihre Seite raubte ihr den Atem und riss ihr das Beil aus der Hand. Zusammen mit Tolland wurde sie jäh in die Luft katapultiert. Tief unter ihnen erstreckte sich die erste Landebahn, doch die angespleißte Leine hielt und trug die hochgeschleuderten Leiber über den Trog hinweg. Einen Moment lang konnten sie sehen, was vor ihnen lag: Noch zwei Wälle, ein kurzes Plateau, und dann der Steilabfall ins Meer. Wie ein Kommentar zu Rachels Entsetzen gellte hinter ihnen Corkys Schrei, als auch er durch die Luft segelte.
Mit einem Knall wie ein Schuss riss plötzlich die Ballonleine.
Der ausgefranste Rest schnappte zurück und peitschte Rachel ins Gesicht. Sofort begann der Sturz, während die Ballonhülle aufs Meer hinausflatterte.
In ihren Geschirren verfangen, stürzten Rachel und Tolland dem Boden entgegen. Sie flogen knapp über den Grat des zweiten Schneewalls hinweg und landeten auf der abschüssigen anderen Seite. Das Gefälle und die Schutzanzüge minderten den Aufprall. In einem Gewirr von Armen und Beinen schossen sie in einer Schneewolke die Böschung hinunter in den mittleren Eistrog. Instinktiv breitete Rachel Arme und Beine aus, um zu bremsen. Der letzte Wall raste auf sie zu. In Sekundenschnelle jagte sie mit Tolland den Schneehang hinauf. Wieder ein Moment der Schwerelosigkeit, als die Kimme des Walls unter ihnen hindurchfuhr. Rachel empfand lähmendes Entsetzen, als die Todesfahrt auf der anderen Seite hinunter und über die letzen fünfundzwanzig Meter des Milne-Eisschelfs begann.
Rachel spürte Corkys Widerstand am Sicherheitsseil. Ihre Fahrt verringerte sich, jedoch zu wenig und zu spät. Das Ende des Gletschers jagte auf sie zu. Rachel stieß einen schrillen Schrei aus.
Die Kante des Eisabbruchs war erreicht. Dann kam der Sturz.
54
Die Hausverwaltung der Westbroke Apartments pries den Wohnkomplex als eine der besten Adressen Washingtons.
Gabrielle eilte durch die vergoldete Drehtür in die Marmorlobby, in der ein künstlicher Wasserfall vor sich hin toste.
Der Portier am Empfang blickte erstaunt auf. »Miss Ashe? Ich wusste gar nicht, dass Sie heute Abend bestellt waren.«
Gabrielle ließ diese Vorgabe nicht ungenutzt. »Ich bin viel zu spät dran«, sagte sie. Die Uhr über ihr zeigte achtzehn Uhr zweiundzwanzig.
Der Portier kratzte sich am Kopf. »Der Senator hat mir eine Liste gegeben, aber da stehen Sie nicht drauf…«
»Tja, die unverzichtbaren Leute werden immer
vergessen.« Sie lächelte dem Mann aufmunternd zu und ging an ihm
vorbei zum Aufzug.
Der Portier schaute ihr mit sichtlichem Unbehagen hinterher.
»Ich muss Sie auf alle Fälle oben anmelden«, sagte er und griff nach dem Telefon.
»Danke.« Gabrielle stieg in den Aufzug und fuhr nach oben.
Ruf nur an. Der Senator nimmt sowieso nicht ab. Im neunten Stock stieg sie aus und ging den eleganten Etagenflur hinunter. Vor Sextons Tür am Ende des Ganges saß ein Muskelpaket von Leibwächter gelangweilt auf einem Stuhl. Gabrielle war überrascht, was die Sicherheitsvorkehrung betraf, allerdings nicht so überrascht wie der Leibwächter über Gabrielles Erscheinen.
»Ich weiß, ich weiß«, rief sie schon auf halbem Weg, »heute ist P.-E.-Abend. Der Senator darf nicht gestört werden.«
Der Wachmann, der inzwischen aufgesprungen war, nickte eifrig. »Ich habe strikte Anweisung, keinen Besucher…«
»Es ist aber sehr dringend.«
Der Wächter versperrte mit dem Körper den Zugang zur Tür.
»Der Senator gibt einen privaten Empfang.«
»Ach ja?« Gabrielle hielt dem Mann den roten Umschlag mit dem Zeichen des Weißen Hauses unter die Nase. »Ich komme geradewegs aus dem Oval Office und muss dem Senator unverzüglich diese Dokumente übergeben. Da werden die alten Kumpels, mit denen er sich heute einen netten Abend macht, ein paar Minuten ohne ihn auskommen müssen. So, und jetzt lassen sie mich bitte hinein!«
Der rote Umschlag zeigte Wirkung. Die Forschheit des Wächters schwand.
Wenn er bloß nicht verlangt, dass du den
Umschlag aufmachst, dachte Gabrielle.
»Geben Sie mir den Umschlag«, sagte der Leibwächter. »Ich bringe ihn hinein.«
»Auf gar keinen Fall! Ich habe Anweisung vom Weißen Haus, diese Dokumente eigenhändig zu übergeben. Und wenn Sie mich jetzt nicht bald hineinlassen, können wir beide uns morgen Früh einen neuen Job suchen. Geht das in Ihren Kopf?«
Dem Wächter war deutlich anzusehen, dass er einen inneren Kampf ausfocht. Offensichtlich hatte der Senator sich heute Abend besonders nachdrücklich jeden Besuch verbeten. Gabrielle zog die letzte Trumpfkarte. Sie hielt dem Wachmann den Umschlag vor die Augen, senkte die Stimme und sprach den Satz, vor dem sich jeder Sicherheitsbeamte Washingtons am meisten fürchtet.
»Sie verstehen nicht, worum es hier geht.«
Die Sicherheitsleute der Politiker wussten nie, worum es ging, und das war ihnen verhasst. Sie waren Figuren im Dunkeln, niemals gewiss, ob sie sich stur an die Anweisungen halten sollten, oder ob eine Krise vorlag.
Der Leibwächter schluckte schwer. Er betrachtete noch einmal den Umschlag. »Okay, aber ich werde dem Senator sagen, dass Sie mir die Pistole auf die Brust gesetzt haben, um reinzukommen.«
Er schloss die Tür auf. Gabrielle drängte sich sofort an ihm vorbei, falls er es sich doch noch anders überlegte. Kaum war sie drinnen, schloss sie leise die Tür hinter sich.
Aus Sextons Wohnraum am Ende des Flurs drang ein Chor von Männerstimmen in die Diele. Das heutige P.E. war offenbar nicht so privat, wie nach Sextons Telefonat vom frühen Nachmittag zu vermuten war.
Gabrielle kam an einer Garderobennische vorbei, in der ein halbes Dutzend teure Herrenmäntel hing. Ein paar Aktenkoffer standen auf dem Boden. Die Arbeit blieb heute Abend in der Garderobe. Gabrielle wollte schon weitergehen, als ihr Blick an einem der Aktenkoffer hängen blieb. Er trug ein Namensschildchen mit einem auffälligen Firmenlogo.
Eine feuerrote Rakete.
Gabrielle kniete sich hin, um das Schildchen zu lesen.
SPACE AMERICA, INC.
Aufmerksam geworden, schaute sie sich die anderen Köfferchen an.
BEAL AEROSPACE… MICROCOSM, INC…. ROTARY ROCKET COMPANY… KISTLER AEROSPACE.
Gabrielle hörte Marjorie Tenchs Raucherstimme. Ist Ihnen bekannt, dass Senator Sexton riesige Summen von Raumfahrtunternehmen zugeschoben bekommt?
Gabrielles Puls begann zu rasen. Sie schaute den abgedunkelten Flur hinunter zum Türbogen an Sextons Wohnraum. Sie wusste, sie hätte sich bemerkbar machen, sich melden müssen. Stattdessen schlich sie lautlos zum Türbogen. Einen halben Meter davor blieb sie im Halbdunkel stehen… und lauschte dem Gespräch im Zimmer dahinter.
55
Während Delta-3 zurückblieb, um die Leiche Norah Mangors und den Schlitten zu bergen, fuhren die beiden anderen Kämpfer ihren Opfern den Gletscher hinunter hinterher.
Sie hatten Elektroskier an den Füßen – im Prinzip nichts anderes als Skier mit Raupenantrieb, sozusagen kleine Snowmobils für die Füße. Man kontrollierte die Geschwindigkeit durch das Zusammenpressen von Daumen und Zeigefinger im rechten Handschuh, wo ein druckempfindliches Steuerelement eingebaut war. Eine starke Gel-Batterie legte sich wie ein Stiefel um den Fuß und diente gleichzeitig der Wärmeisolation und dem geräuschlosen Antrieb. Die Batterien wurden beim Bergabfahren durch die kinetische Energie der Antriebsraupen für den nächsten Anstieg wieder aufgeladen.
Delta-1 ließ sich genau vor dem Wind den Gletscher hinunterwehen und hielt Ausschau auf das vor ihm liegende Gelände.
Sein Nachtsichtgerät in Brillenbauart war mit dem Patriot-Modell der Marines, das wie ein Feldstecher gehalten werden musste, überhaupt nicht zu vergleichen. Verschiedene Linsensysteme ermöglichten den Einsatz vom Vergrößerungsglas bis hin zum Fernrohr. Die Welt bildete sich nicht in der üblichen Grünfärbung, sondern in einem transparenten Blauton ab, der speziell für stark reflektierendes Gelände wie der Schnee und das Eis im Hochgebirge oder in der Arktis entwickelt worden war.
Als er sich dem ersten Schnee wall näherte, erkannte er ein paar streifenförmige frische Spuren in der Böschung. Augenscheinlich hatten die drei Ausreißer entweder nicht daran gedacht, sich beizeiten von ihrem selbst gemachten Schleppsegel abzukoppeln, oder sie hatten es nicht geschafft. Wie auch immer – wenn sie nicht vor dem dritten Wall freigekommen waren, befanden sie sich jetzt irgendwo draußen in Eismeer. Delta-1 wusste, dass der Schutzanzug die normale Überlebensdauer im Wasser um eine gewisse Zeitspanne verlängerte, aber die kräftige ablandige Strömung trieb die Opfer aufs Meer hinaus, wo sie unweigerlich ertrinken würden.
Delta-1 konnte also auf das sichere Ende der Opfer vertrauen, doch Vertrauen war gut, Kontrolle war besser. Die Ausbilder hatten es ihm immer wieder eingebläut.
Michael Tolland lag reglos da. Es hatte ihn übel durchgeschüttelt, aber gebrochen war wohl nichts. Der gepolsterte Schutzanzug hatte zweifellos schwere Verletzungen verhindert. Als er die Augen öffnete, war anfangs alles noch unscharf; alles schien irgendwie gedämpft… ruhiger. Der Wind heulte immer noch, aber längst nicht mehr so wild.
Wir sind doch vom Gletscher heruntergeflogen, oder nicht…?
Tolland sah nun wieder klar. Er lag auf eisigem Grund, fast im rechten Winkel quer über Rachel, die verhakten Karabiner zwischen ihnen. Er konnte Rachels Gesicht nicht sehen, spürte aber, dass sie noch atmete. Er rollte sich von ihr herunter. Seine Muskeln wollten ihm kaum mehr gehorchen.
»Rachel…?« Tolland war nicht sicher, ob er überhaupt einen Laut herausgebracht hatte. Er rief sich die letzten Sekunden der schrecklichen Rutschpartie ins Gedächtnis. Er war mit Rachel abgestürzt, doch der Fall war merkwürdig kurz gewesen. Statt des erwarteten Sturzes ins Meer waren sie nur ungefähr drei Meter tief auf einen Eisvorsprung gefallen, auf dem sie mit Corky als Schleppanker zum Liegen gekommen waren.
Tolland hob den Kopf und schaute in Richtung Meer. Nicht weit von ihm endete das Eis mit einem senkrechten Abbruch.
Der anbrandende Wellenschlag dröhnte von unten herauf. Tolland blickte zum Gletscher zurück. Knapp zwanzig Meter hinter sich konnte er im Dunkel der Nacht gerade noch eine überhängende Eiswand ausmachen. Jetzt begriff er, was geschehen war.
Sie waren vom Gletscher auf die ebene Oberfläche eines tiefer liegenden Eispfeilers vom Format eines Eishockeyfeldes gerutscht. Die Fläche lag tiefer, weil der bereits ein Stück weit abgesackte Pfeiler im Begriff war, sich abzuspalten und ins Meer abzugehen.
Der Gletscher kalbt, dachte Tolland und betrachtete die instabile Plattform, auf der er lag. An drei Seiten von senkrechten Abgründen begrenzt, hing der breite rechteckige Pfeiler wie ein riesiger Balkon an der Gletscherflanke. Die Verbindung zum Gletscher war alles andere als stabil. Im Grenzbereich zur Gletscherflanke des Milne-Eisschelfs klaffte ein fast anderthalb Meter breiter Spalt. Die Schwerkraft gewann allmählich die Oberhand.
Noch beunruhigender war der Anblick von Corky Marlinson, der zehn Meter entfernt am Ende der straff gespannten Sicherheitsleine bewegungslos auf dem Eis lag.
Tolland versuchte aufzustehen. Er löste den Karabiner, der ihn an Rachel kettete.
Rachel versuchte sich aufzusetzen. Sie sah mitgenommen aus.
»Wir sind also doch nicht… abgestürzt?«, fragte sie verwundert.
»Wir sind eine Etage tiefer auf einen Eisblock gefallen«, sagte Tolland. »Ich muss mich um Corky kümmern.«
Tolland versuchte aufzustehen, doch seine Beine
waren zu wackelig. Er packte das Sicherungsseil und zog Corky
vorsichtig übers Eis zu sich heran.
Corky Marlinson sah ramponiert aus. Er hatte seine Schutzbrille verloren; auf der Wange prangte eine schlimme Platzwunde, und seine Nase blutete. Doch Tollands Befürchtung, Corky könne tot sein, erwies sich rasch als voreilig. Corky schlug die Augen auf und funkelte Tolland wütend an.
»Mann, o Mann«, sagte er, »da ist dir aber ein toller Trick eingefallen!«
Tolland fiel ein Stein vom Herzen.
Rachel hatte sich inzwischen mit schmerzverzerrtem Gesicht aufgesetzt und schaute sich um. »Der Eisblock kann jeden Moment abgehen. Wir sollten schleunigst hier weg.«
Tolland nickte. Die Frage war nur, wie.
Sie hatten keine Zeit, sich über einen Ausweg Gedanken zu machen. Oben auf dem Gletscher war ein wohl bekanntes hohes Surren zu vernehmen. Tollands suchender Blick erfasste zwei weiß verhüllte Gestalten, die auf Skiern herangeglitten kamen und wie auf ein Zeichen gleichzeitig an der Gletscherkante stoppten. Die beiden Männer hielten einen Moment inne und blickten auf ihre Opfer herab wie Schachgroßmeister vor dem entscheidenden Zug zum Matt.
Delta-1 war überrascht, die drei entkommenen Opfer noch lebend anzutreffen. Doch sie waren auf einen Teil des Gletschers gestürzt, dessen unvermeidlicher Abgang ins Meer bereits begonnen hatte. Es wäre möglich gewesen, die Zielpersonen auf die gleiche Weise zu liquidieren wie zuvor schon die Frau, aber beim Blick über die Eiskante drängte sich Delta-1 eine wesentlich sauberere Lösung auf, bei der obendrein keine Leichen gefunden werden konnten.
Delta-1 betrachtete den klaffenden Spalt, der sich zwischen dem Eisschelf und dem anhängenden Eisblock auftat. Er spürte den vertrauten heißen Adrenalinschub vor dem Töten. Aus seiner Gefechtstasche zog er einen schweren, zitronenförmigen Gegenstand, der zur Standardausrüstung militärischer Kommandoeinheiten gehörte. Es war eine Blend- und Erschütterungsgranate, die den Angreifer durch eine Schockwelle und einen Lichtblitz vorübergehend außer Gefecht setzte. Heute allerdings hatte Delta-1 dieser Waffe eine tödliche Wirkung zugedacht.
Er baute sich knapp vor der Kante auf. Wie tief reichte der Spalt wohl hinab? Sechs Meter? Fünfzehn Meter? Es war im Grunde gleichgültig. Der Plan würde in jedem Fall funktionieren.
Mit der Ruhe des Profikillers stellte er auf der Drehskala des Zeitzünders dreißig Sekunden Verzögerung ein, zog den Sicherungsstift heraus und ließ die Granate in den Spalt fallen. Dann zog er sich mit seinem Partner rasch auf die Kimme des letzten Schneewalls zurück und wartete. Gleich würde sich ihnen ein Anblick für Kenner bieten.
Auch in ihrem benommenen Zustand erkannte Rachel, was die Angreifer soeben in den Spalt geworfen hatten. Nach einem entsetzlichen Moment der Verzögerung schoss von unten ein Lichtblitz durchs Eis. Ein geisterhaftes Leuchten ließ die Gletscherwand hundert Meter im Umkreis weißlich aufflammen.
Dann kam die Erschütterung – kein anschwellendes Rumpeln wie bei einem Erdbeben, sondern eine harte, unvermittelte, ohrenbetäubend krachende Schockwelle. Rachel spürte, wie der brutale Stoß durchs Eis jagte und ihren Körper stauchte.
Mit einem Übelkeit erregenden Knacken platzte der Eispfeiler von der Gletscherfront ab, als hätte man einen Keil zwischen den Eisschelf und den Eisblock getrieben. Rachel und Tolland starrten einander an. Das Entsetzen gefror ihnen auf den Gesichtern. Corky schrie in Panik auf.
Rachel fühlte sich schwerelos über dem abgehenden, viele tausend Tonnen schweren Eisblock schweben, während sie der eiskalten See entgegenstürzte.
Der Fall ins Bodenlose begann.
56
Begleitet vom ohrenbetäubenden Knirschen und Krachen der Eismassen jagte der riesige Block am Abbruch des Milne-Eisschelfs herunter. Gewaltige Gischtwolken schossen in die Höhe. Mit dem Eintauchen verlangsamte sich die Fahrt in die Tiefe. Die schwerelos stürzenden Körper von Rachel, Tolland und Corky wurden brutal abgebremst.
Als der fallende Eisblock, von der eigenen Wucht getrieben, immer tiefer ins Wasser tauchte, sah Rachel, wie ihr die schäumende Wasseroberfläche in scheinbarer Verzögerung entgegenschwappte, ähnlich einem Bungeespringer, dessen Leine ein wenig zu lang ist. Das Wasser stieg… stieg… stieg. Der Albtraum ihrer Kindheit kehrte wieder. Das Eis… das Wasser… die Dunkelheit. Die Urangst erfasste sie.
Der Eisblock versank. Das Wasser des Eismeers schlug über ihm zusammen. Inmitten der strömenden Wasserwirbel wurde Rachel in die Tiefe gesaugt. Das Salzwasser brannte auf ihrer bloßen Gesichtshaut wie Feuer. Der eisige Grund sank unter ihren Füßen weg. Rachel kämpfte darum, an der Oberfläche zu bleiben. Das Gel in ihrem Anzug gab ihr Auftrieb. Sie schluckte Salzwasser. Spuckend durchstieß sie die Wasseroberfläche. Sie konnte die beiden anderen in der Nähe sehen; in den Sicherungsleinen verheddert, strampelten sie, um an der Oberfläche zu bleiben. Auch Rachel begann Wasser zu treten.
»Er kommt wieder hoch!«, brüllte Tolland in diesem Moment.
Rachel spürte das Meer unter sich aufwallen. Die unter Wasser zum Stillstand gekommene Eistafel stieg wie eine anfahrende Lokomotive nach einem Richtungswechsel wieder nach oben.
Ein lautes Grollen durchlief das Wasser, während der Rand der riesigen Tafel langsam am Gletscherabbruch emporschrammte.
Schnell und schneller stieg der Eisblock in den dunklen Fluten auf. Rachel fühlte sich emporgehoben. Inmitten wirbelnder Wasserfluten bekamen ihre Füße wieder Kontakt mit dem Eis. Der riesige Brocken durchbrach die Wasseroberfläche. Schwankend und pendelnd suchte er eine stabile Lage. Das ablaufende Wasser spülte Rachel über die gewaltige Eisfläche zum Rand. Flach auf dem Bauch rutschend, raste sie auf die Kante zu.
Halt dich fest!, hörte sie die Stimme ihrer Mutter rufen, wie damals in ihrer Kindheit, als sie unter das Eis zu geraten drohte.
Festhalten! Nicht untergehen!
Ein furchtbarer Ruck riss Rachel nur wenige Meter vor dem Rand der Eistafel herum. Die Rutschpartie endete. Zehn Meter entfernt war Corkys schlaffer Körper ebenfalls ruckartig zum Stillstand gekommen. Noch aneinander geleint, hatte das abfließende Wasser sie in entgegengesetzte Richtungen gespült. Auf allen vieren erschien hinter Corky eine weitere dunkle Gestalt, hielt sich an Corkys Sicherheitsleine fest und spuckte Salzwasser.
Michael Tolland.
Der letzte Schwall war abgeflossen, und tödliche Ruhe breitete sich aus. Eine schreckliche Kälte breitete sich in Rachels Körper aus. Ihre Glieder schmerzten. Auf Händen und Knien kroch sie auf dem immer noch schwankenden, neugeborenen Eisberg zu den beiden anderen hinüber.
Hoch oben auf dem Gletscher spähte Delta-1 durch die Nachtsichtgläser in die schwarzen Wasserstrudel rings um den jüngsten arktischen Tafeleisberg. Es überraschte ihn nicht, dass er keine Leichen im Wasser treiben sah. Es war dunkel, und die Opfer trugen schwarze Schutzanzüge mit Kopfhauben.
Delta-1 suchte erfolglos den gewaltigen Eisblock ab, der in der starken ablandigen Strömung rasch aufs offene Meer hinaustrieb.
Die Scharfeinstellung der Gläser ließ sich nur ungenau nachführen. Als Delta-1 schon den Blick abwenden wollte, sah er etwas Unerwartetes.
Drei schwarze Punkte auf dem Eis.
Sind das Leichen?
»Hast du was gesehen?«, wollte Delta-2 wissen.
Delta-1 erwiderte nichts. Er stellte die stärkste Vergrößerung ein. Im Blassblau des Eisbergs sah er drei menschliche Gestalten bewegungslos beieinander liegen; ob tot oder lebendig, war nicht zu erkennen. Es war auch nicht wichtig. Falls sie noch lebten, würden sie trotz der Schutzanzüge in längstens einer Stunde tot sein. Sie waren nass, ein Sturm zog auf, und sie trieben auf eines der tödlichsten Meere der Welt hinaus. Man würde die Leichen niemals finden.
»Nur ein paar Schatten«, sagte Delta-1. »Lass uns zur Basis zurückfahren.«
57
Senator Sedgewick Sexton stellte den Cognacschwenker auf dem Kaminsims seines eleganten Apartments ab und stocherte im Feuer, um seine Gedanken zu sammeln. Hinter ihm im Wohnraum saßen sechs Männer. Der Smalltalk war zu Ende. Die Männer schwiegen erwartungsvoll. Es war an der Zeit, dass Sexton zur Sache kam. Sie wussten es. Er wusste es.
Politik hieß Verkaufen.
Du musst Vertrauen schaffen. Sie müssen begreifen, dass du ihre Probleme verstehst.
Sexton wandte sich den Herren zu. »Wie Ihnen bekannt sein dürfte, habe ich mich in den letzten sechs Monaten mit vielen Männern in Ihrer Position getroffen.« Er lächelte und setzte sich.
Die Leute auf gleicher Ebene ansprechen. »Sie sind die Ersten, mit denen ich mich in meinen eigenen vier Wänden treffe, denn bei Ihnen handelt es sich um außergewöhnliche Männer. Ich betrachte es als Ehre, mit Ihnen zusammenzutreffen.«
Sexton faltete die Hände und blickte der Reihe nach jedem Einzelnen in der Runde in die Augen. Dann sah er seinen ersten Gesprächspartner an, einen hünenhaften Mann mit Cowboyhut.
»Space Industries, Houston«, sagte Sexton.
»Sir, ich freue mich, dass Sie kommen konnten.«
Der Texaner grunzte mürrisch. »Ich kann Washington nicht ausstehen.«
»Das kann ich nur zu gut verstehen«, sagte Sexton. »Washington war sehr unfair zu Ihnen.«
Der Texaner starrte unter seiner Hutkrempe hervor. Er sagte nichts.
»Vor zwölf Jahren haben Sie der U.S.-Regierung angeboten, für lächerliche fünf Milliarden Dollar eine Raumstation zu bauen.«
»Yeah, hab ich. Die Zeichnungen habe ich immer noch.«
»Aber die NASA hat dazwischengefunkt und die Regierung überzeugt, dass die Raumstation ein Projekt der NASA sein müsste.«
»Richtig. Vor fast zehn Jahren hat die NASA zu bauen angefangen.«
»Vor zehn Jahren. Aber die NASA-Station ist immer noch nicht voll betriebsbereit. Außerdem hat das Projekt das Zwanzigfache Ihres Angebots verschlungen. Mich als amerikanischen Steuerzahler macht so etwas krank.« Beifälliges Gemurmel erhob sich in der Runde. Sexton ließ den Blickkontakt zu der Gruppe nicht abreißen. »Ich weiß sehr wohl«, sagte er und wandte sich nun an alle, »dass eine Reihe der von Ihnen vertretenen Gesellschaften mit dem Angebot hervorgetreten ist, die Spaceshuttle-Flüge für nur fünfzig Millionen Dollar pro Flug abzuwickeln.«
Allgemeines Nicken.
»Aber die NASA unterbietet Sie mit achtunddreißig Millionen Dollar pro Flug – obwohl die NASA bei jedem Flug tatsächliche Kosten von mehr als hundertfünfzig Millionen Dollar hat!«
»Mit diesen Methoden verbaut man uns den Weg
ins All«, sagte einer der Männer. »Als privates Unternehmen kann
man unmöglich gegen eine Konkurrenz antreten, die sich
Shuttle-Einsätze mit vierhundert Prozent Verlust leisten kann, ohne
aus dem Geschäft zu fliegen.«
»Das ist von vornherein ein Unding!«, sagte Sexton.
Beifälliges Nicken ringsum.
Sexton wandte sich an den Unternehmertyp, der neben ihm saß. Er hatte die Akte über den Mann mit Interesse gelesen. Wie viele der Unternehmer, die Sextons Kampagne finanzierten, war auch dieser Mann früher Raketeningenieur im militärischen Bereich gewesen. Aus Unzufriedenheit über die schlechte Bezahlung und die bürokratischen Hemmnisse hatte er die militärische Laufbahn aufgegeben, um sein Glück in der zivilen Raumfahrtindustrie zu suchen.
»Kistler Aerospace«, sagte er und nickte betroffen. »Ihr Unternehmen hat eine Rakete entworfen und gebaut, die Nutzlasten für nur zweitausend Dollar pro Pfund befördern kann, verglichen mit den zehntausend Dollar pro Pfund bei der NASA.«
Sexton machte eine Kunstpause. »Dennoch fehlt es Ihnen an Kunden.«
»Woher sollen wir auch Kunden nehmen?«, erwiderte der Mann. »Erst letzte Woche hat uns die NASA wieder unterboten und der Firma Motorola nur achthundertzwölf Dollar pro Pfund für den Abschuss eines Telekommunikationssatelliten berechnet.
Der Staat hat bei diesem Start neunhundert Prozent Verlust eingefahren.«
Sexton nickte. »Man kann inzwischen nicht mehr die Augen davor verschließen«, sagte er, »dass die NASA hart daran arbeitet, jede Konkurrenz im Weltraum abzuwürgen. Sie bietet ihre eigenen Leistungen zu Dumpingpreisen an, um unsere privaten Raumfahrtunternehmen kaputtzumachen.«
»Ich bin es leid«, sagte der Texaner, »an Uncle Sam Unternehmenssteuern abzudrücken, damit er mir mit diesem Geld meine Kunden klaut.«
»Recht haben Sie!«, pflichtete Sexton ihm bei.
»An dem Verbot, als Werbeträger aufzutreten, gehen wir bei Rotary Rocket noch zugrunde«, sagte ein hochmodisch gekleideter Mann. »Die Gesetze gegen den Abschluss von Werbeverträgen sind kriminell.«
»Ganz meine Meinung«, empörte sich Sexton. Er hatte zur Kenntnis nehmen müssen, dass die NASA Bundesgesetze gegen Werbeaufschriften auf Weltraumfahrzeugen durchzudrücken geholfen hatte, was ihr Weltraummonopol zusätzlich absicherte.
Anstatt privaten Gesellschaften zu gestatten, mit Werbeverträgen und Firmenlogos die Finanzierung aufzubessern – wie es zum Beispiel im Rennsport längst üblich war –, durften auf Weltraumfahrzeuge nur die Aufschrift »USA« und der Name des Herstellers aufgebracht werden. In einem Land, das jährlich einhundertfünfundachtzig Milliarden Dollar für Werbung ausgab, fand kein einziger Werbedollar den Weg in die Schatullen der Weltraumunternehmen.
»Das ist Halsabschneiderei«, schimpfte einer der Männer.
»Das stimmt leider«, sagte Sexton. »Aber ich kann Ihnen versprechen, dass ich mich im Fall meiner Wahl nachdrücklich für die Abschaffung dieser Vorschriften einsetzen werde. Der Weltraum muss für die Werbung so zugänglich gemacht werden, wie es jeder Quadratmeter dieses Planeten bereits ist!«
Sexton betrachtete sein Publikum. Seine Stimme
wurde ernst, und er suchte den Blickkontakt. »Ich bin davon
überzeugt, es ist an der Zeit, dass die Amerikaner sich im
Interesse unserer Zukunft an die Wahrheit gewöhnen. Es ist an der
Zeit, die Amerikaner mit dem Gedanken vertraut zu machen, dass die
NASA ihnen nicht den Weg in den Himmel ebnet, sondern im Gegenteil
ein Hindernis auf dem Weg der Erforschung des Weltraums darstellt.
Mit der Raumforschung verhält es sich wie mit jedem anderen
Forschungszweig. Es grenzt an einen kriminellen Akt, ausgerechnet
auf diesem Gebiet die Industrie ausschließen zu wollen. Nehmen Sie
nur die Computerindustrie, die uns geradezu jede Woche einen neuen
explosiven Fortschritt meldet. Und warum? Weil die
Computerindustrie nach dem Prinzip der freien Marktwirtschaft
funktioniert! Hier erhalten Effizienz und Zukunftsvisionen in Form
von Profiten ihren verdienten Lohn.
Man stelle sich vor, die Computerindustrie bestünde nur aus Staatsunternehmen. Wir würden heute noch mit dem Abakus rechnen! Im Weltraum geht es nicht voran, also sollten wir die Forschung in die Hände der Privatwirtschaft legen, wohin sie gehört. Die Amerikaner würden sich wundern über das Wachstum, die Zahl der neu geschaffenen Arbeitsplätze und die vielen eingelösten Träume. Ich bin überzeugt, dass das System der Marktwirtschaft uns neue Höchstleistungen im Weltraum bescheren würde. Wenn ich gewählt werde, wird es mir ein persönliches Anliegen sein, die Tore zu unserer letzten unbekannten Grenze weit aufzustoßen!«
Sexton hob den Cognacschwenker.
»Meine Freunde, Sie sind heute Abend hergekommen, um sich ein Bild davon zu machen, ob ich Ihr Vertrauen verdiene. Ich hoffe, ich bin auf dem richtigen Weg zu diesem Ziel. Man braucht Investoren, um ein Unternehmen aufzubauen, und man braucht auch Investoren für den Aufbau einer Präsidentschaft.
Aktieneigner erwarten Gewinne, und auch Sie als politische Investoren dürfen Gewinne erwarten. Ich habe für Sie heute Abend eine ganz einfache Botschaft: Investieren Sie in mich, und ich werde es Ihnen niemals vergessen. Niemals. Wir haben ein und dasselbe Ziel.«
Sexton hielt seinen Besuchern das Glas entgegen und prostete ihnen zu.
»Mit Ihrer Hilfe, liebe Freunde, werde ich das Weiße Haus erobern – und Ihre Wunschträume werden sich erfüllen.«
Wie versteinert stand Gabrielle Ashe nur drei Meter entfernt im Halbdunkel. Aus dem Wohnraum drang das melodische Klingen von kristallenen Cognacschwenkern und das Knacken des Kaminfeuers.
58
Der junge NASA-Techniker rannte in Panik durch die Kuppel. Er fand NASA-Direktor Ekstrom allein in der Nähe des Medienbereichs. »Sir«, rief der Techniker im Herbeilaufen, »es hat ein Unglück gegeben!«
Ekstrom drehte sich um. »Was ist los? Ein Unfall? Wo?«
»Im Bergungsschacht ist soeben die Leiche von Dr. Wailee Ming aufgetaucht!«
Ekstroms Gesicht war ausdruckslos. »Dr. Ming?
Aber…«
»Wir haben ihn herausgezogen. Doch es war zu spät. Er ist bereits tot.«
»Um Gottes willen! Wie lange hat er dringesteckt?«
»Vielleicht eine Stunde. Es sieht aus, als wäre er hineingefallen und langsam auf den Grund gesunken. Als die Leiche sich aufgebläht hat, ist er wieder nach oben getrieben.«
Ekstroms rötlicher Teint färbte sich scharlachrot. »Verdammt nochmal! Weiß sonst noch jemand davon?«
»Niemand, Sir. Nur noch ein Kollege. Wir haben Ming herausgezogen, aber wir haben gedacht, wir sagen besser erst Ihnen Bescheid, bevor…«
»Sie haben vollkommen richtig gehandelt.« Ekstrom stieß einen tiefen Seufzer aus. »Lassen Sie die Leiche von Dr. Ming sofort irgendwo verschwinden. Und zu niemandem ein Wort!«
Der Techniker war verdutzt. »Aber, Sir…«
Ekstrom legte dem Mann seine Pranke auf die Schulter. »Hören Sie mir gut zu. Das ist ein tragisches Unglück, das ich zutiefst bedaure. Sobald ich Zeit habe, werde ich mich eingehend mit dem Vorfall befassen. Im Moment habe ich diese Zeit aber nicht.«
»Sie wollen also, dass ich die Leiche verstecke?«
Ekstroms Augen fixierten den Mann. »Denken Sie doch mal nach. Wir könnten allen Bescheid sagen, aber was wäre damit gewonnen? Wir haben noch eine knappe Stunde bis zu unserer Pressekonferenz. Jetzt einen tödlichen Unfall bekannt zu geben, hätte verheerende Auswirkungen auf die Stimmung. Es würde dem Meteoriten den Glanz nehmen. Dr. Ming hat leider nicht aufgepasst. Ich sehe nicht ein, dass die NASA die Rechnung für seinen Fehler bezahlen soll. Diese zivilen Wissenschaftler haben sich schon genug in unserem Erfolg gesonnt. Das hätte mir noch gefehlt, dass uns einer von denen mit einem blödsinnigen Fehltritt unseren großen Auftritt versaut. Der Unfall von Dr. Ming bleibt geheim, bis die Pressekonferenz vorbei ist. Haben Sie mich verstanden?«
Der Mann nickte. »Ich werde die Leiche verstecken.«
59
Michael Tolland war lange genug zur See gefahren, um die Gnadenlosigkeit und Gleichgültigkeit des Ozeans gegenüber seinen Opfern zu kennen. Er lag erschöpft auf der großen Eisfläche. In der Ferne konnte er gerade noch den schemenhaften Umriss des Milne-Eisschelfs ausmachen. Er wusste, dass der mächtige arktische Strom von den Elisabeth-Inseln ausgehend in einem gewaltigen Bogen um die Polkappe herumschwenkte und irgendwann die nordrussische Küste streifte. Nicht, dass es irgendetwas geändert hätte. Bis dahin würden Monate vergangen sein.
Wir haben noch dreißig Minuten… bestenfalls fünfundvierzig.
Ohne die mit Gel gefüllten Schutzanzüge wären sie längst tot.
Die Anzüge hatten dafür gesorgt, dass sie nicht nass geworden waren – der wichtigste Punkt für das Überleben bei Kälte. Außerdem hatte das Thermo-Gel die Stürze gedämpft. Jetzt halfen die Anzüge, den letzten verbliebenen Rest Körperwärme noch eine kleine Weile zu bewahren.
Bald würde die Unterkühlung einsetzen. Es würde
mit dem Taubwerden der Extremitäten beginnen, wenn sich das Blut
zur Versorgung der lebenswichtigen Organe in den Kernbereich des
Körpers zurückzog. Als Nächstes würde es wegen der Verlangsamung
von Puls und Atmung zu einer Unterversorgung des Gehirns mit
Sauerstoff und damit zu Halluzinationen kommen.
Dann würde der Körper als letzte wärmesparende Maßnahme sämtliche Funktionen außer Herzschlag und Atmung einstellen.
Anschließend kam die Bewusstlosigkeit. Als Letztes würden das Atmungs- und Kreislaufzentrum des Gehirns aussetzen.
Tolland schaute Rachel an. Er wünschte, er könnte etwas tun, um sie zu retten.
Die Taubheit, die sich allmählich in Rachels Körper breit machte, war weniger unangenehm, als sie befürchtet hatte. Fast war es wie eine willkommene Betäubung. Das Morphium der Natur. Sie hatte ihre Schutzbrille eingebüßt. Vor Kälte gelang es ihr kaum, die Augen zu öffnen.
Sie konnte Tolland und Corky nahe bei sich auf dem Eis liegen sehen. Tolland schaute sie an. Bedauern sprach aus seinem Blick.
Corky bewegte sich, hatte aber augenscheinlich große Schmerzen. Seine rechte Wange war aufgeplatzt und blutig.
Rachel zitterte unkontrolliert, doch in ihrem Kopf suchte sie fieberhaft nach einer Antwort. Wer? Warum? Die Schwere, die sich in ihr ausbreitete, beeinträchtigte ihr Denken. Nichts ergab einen Sinn. Sie spürte, wie ihr Körper allmählich abschaltete.
Eine unsichtbare Kraft lullte sie ein, drängte sie in den Schlaf. Sie versuchte, dagegen anzukämpfen. Lodernder Zorn packte sie. Sie bemühte sich, seine Glut noch mehr anzufachen.
Man hat versucht, uns
umzubringen. Sie lugte hinaus in die unbarmherzige See. Die
Angreifer hatten so gut wie gewonnen. Wir
sind praktisch schon tot. Rachel
wusste, sie würde die Wahrheit über das tödliche Spiel auf dem
Milne-Eisschelf nicht mehr ans Licht kommen sehen, aber sie war
sich ziemlich sicher, den Schuldigen zu kennen. Direktor Ekstrom
hatte am meisten zu gewinnen. Er hatte sie aufs Eis
hinausgeschickt. Er hatte Verbindungen zum Pentagon und zu den
Spezialeinheiten. Aber was hatte Ekstrom
davon, den Meteoriten ins Eis einzuschmuggeln?
Wer konnte überhaupt etwas davon
haben?
Rachel dachte an Zach Herney. War der Präsident ein Mitverschwörer oder eine ahnungslose Schachfigur? Herney weiß nichts davon. Er ist unbeteiligt. Der Präsident war offensichtlich von der NASA hereingelegt worden. In vielleicht einer Stunde würde er mit der NASA-Entdeckung vor die Öffentlichkeit treten – bewaffnet mit einem Videoband, in dem sich vier zivile Wissenschaftler für die Echtheit verbürgten.
Vier tote Wissenschaftler.
Rachel konnten nichts mehr tun, um die Pressekonferenz aufzuhalten, doch sie schwor sich, dass der Urheber dieses Angriffs, wer immer es war, nicht ungeschoren davonkommen sollte.
Sie nahm ihre ganze Kraft zusammen und versuchte sich aufzusetzen. Ihre Glieder waren wie Blei. In den Gelenken von Armen und Beinen explodierte der Schmerz, als sie sich mühsam hinkniete. In ihrem Kopf drehte sich alles. Tolland sah sie mit forschendem Blick an. Rachel hatte das Gefühl, dass er annahm, sie wolle beten. Das wollte sie keineswegs, obwohl ein Gebet derzeit mindestens so hilfreich war wie das, was Rachel sich vorgenommen hatte. Sie griff nach dem Eisbeil, das zum Glück immer noch an der Fangleine an ihrem Gürtel hing. Mit steifen Fingern packte sie den Stiel und stieß ihn mit aller Kraft, die ihr geblieben war, aufs Eis. Das Blut in ihren Adern war wie Sirup.
Tolland schaute Rachel verwundert zu. Er versuchte sich auf den Ellbogen aufzustützen. »Rachel…?«
Sie gab keine Antwort. Sie brauchte jetzt all ihre Kraft.
»Ich glaube… so weit nördlich kann uns… das SAA… nicht mehr hören…«, sagte Tolland.
Rachel schaute ihn erstaunt an. Sie hatte nicht bedacht, dass Tolland als Ozeanograf vermutlich verstand, was sie vorhatte.
Richtig gedacht, aber ich rufe nicht das SAA.
Sie hämmerte weiter ihre Signale aufs Eis.
SAA war die Abkürzung von »Subozeanische Abhör-Anlage«, einer Hinterlassenschaft des Kalten Krieges. Da der Schall im Wasser Hunderte von Kilometern geleitet wird, war es möglich, mit den neunundfünfzig Unterwassermikrofonen des SAA einen erstaunlich großen Prozentsatz der Weltmeere abzuhören. Bedauerlicherweise gehörte diese abgelegene arktische Region nicht zu diesem Prozentsatz, aber Rachel wusste, dass auf dem Meeresgrund auch noch andere ihre Lauscher aufsperrten. Sie pochte unverdrossen weiter ihr primitives Signal.
TOK – TOK – TOK.
TOK – TOK – TOK.
TOK – TOK – TOK.
Sie gab sich keinen Illusionen hin, dass ihr Tun den anderen und ihr das Leben retten könnte. Sie spürte bereits eine frostige Starre nach ihrem Körper greifen. Sie hatte vielleicht noch eine halbe Stunde Leben in sich. Eine Rettung lag nicht mehr im Bereich des Möglichen. Aber es ging ihr nicht um Rettung.
TOK – TOK – TOK.
TOK – TOK – TOK.
TOK – TOK – TOK.
»Die Zeit… ist gegen uns…«, sagte Tolland.
Es geht nicht um uns, dachte Rachel, es geht um die Information in meiner Tasche. Sie rief sich den verräterischen Ausdruck des Radarbildes in ihrer Anzugtasche vor Augen. Ich muss dafür sorgen, dass der Ausdruck in die Hände des NRO kommt, und zwar schnell.
Rachel war dem Delirium nahe, aber sie war sicher, dass man ihr Signal auffangen würde. Mitte der Achtzigerjahre hatte das NRO die SAA durch eine dreißigmal leistungsfähigere Anlage ersetzt. »Classic Wizard« hieß das zwölf Millionen Dollar teuere Ohr des NRO auf dem Meeresgrund. Innerhalb der nächsten Stunden würden die Cray-Supercomputer der Horchstation des NRO und des Nationalen Sicherheitsdienstes NSA in Menwith Hill eine anomale Signalsequenz an einem der arktischen Hydrophone registrieren, das Pochen als SOS-Signal identifizieren, die Koordinaten einpeilen und ein Rettungsflugzeug der grönländischen U.S.-Luftwaffenbasis Thule in die Luft beordern. Das Flugzeug würde drei Personen auf einem Eisberg finden. Erfroren. Tot. Eines der Opfer war eine Mitarbeiterin des NRO… und sie hatte ein merkwürdiges Dokument auf Thermopapier in der Tasche.
Einen GPR-Ausdruck. Norah Mangors Vermächtnis.
Bei der Untersuchung des Ausdrucks würde der geheimnisvolle Schacht unter dem Meteoriten ans Tageslicht kommen. Rachel hatte keine Ahnung, wie es dann weitergehen würde, aber das Geheimnis würde jedenfalls nicht mit ihnen zusammen auf dem Eis untergehen.
60
Zur Amtsübernahme eines Präsidenten gehört auch ein Gang durch drei schwer bewachte Lagerhäuser, in denen unschätzbare Einrichtungsgegenstände des Weißen Hauses aufbewahrt werden: Schreibtische, Tafelsilber, Büroeinrichtungen, Betten und andere Gegenstände, die bei den Vorgängern bis zurück zu George Washington in Gebrauch gestanden haben. Bei der Besichtigungstour wird es dem neuen Präsidenten freigestellt, nach Belieben Gegenstände zur Möblierung des Weißen Hauses für die Zeit seiner Amtsperiode auszusuchen. Nur das Bett im Lincoln-Schlafzimmer, in dem Lincoln ironischerweise nie genächtigt hat, steht auf Dauer im Weißen Haus.
Der Schreibtisch, an dem Zach Herney zurzeit im Oval Office saß, hatte früher einmal seinem Idol Harry Truman gehört. Nach modernen Maßstäben war er noch nicht einmal besonders groß, aber für Zach Herney war er eine tägliche Erinnerung daran, dass hier alles ging oder gar nichts. »The buck stops here« hatte Harry S. Truman gesagt, der schwarze Peter bleibt immer hier hängen.
Wenn in Zach Herneys Administration etwas schief ging, traf die Verantwortung letztlich immer ihn selbst. Herney begriff seine Verantwortung als Ehre und tat sein Bestes, seinen Stab zu motivieren, mit Freude und Engagement alles Erforderliche zu leisten.
»Mr President?«, rief seine Sekretärin durch den Türspalt herein. »Die Verbindung steht jetzt.«
Herney griff nach dem Telefonhörer. Er hätte diesen Anruf lieber in einem etwas privateren Rahmen geführt, aber das war zurzeit wirklich nicht möglich. Wie die Stechmücken hatten sich zwei Maskenbildner auf ihn gestürzt und fummelten ihm im Gesicht und an den Haaren herum. Ein Fernsehteam war unmittelbar vor seinem Schreibtisch mit dem Aufbau beschäftigt, abgesehen von dem Schwarm von Beratern und PR-Leuten, die aufgeregte Strategiediskussionen führten.
Eine Stunde bis Sendebeginn.
Herney drückte auf den leuchtenden Knopf an seiner privaten Telefonkonsole. »Lawrence? Sind Sie dran?«
»Ja, ich bin’s.« Die Stimme des NASA-Direktors kam von weit her. Sie klang abgespannt.
»Ist bei euch alles okay?«
»Bei uns zieht ein Sturm auf, aber meine Leute haben mir versichert, dass die Satellitenverbindung nicht darunter leiden wird.
Wir stehen in den Startlöchern. Noch eine Stunde. Der Countdown läuft.«
»Ausgezeichnet. Wie ist die Stimmung? Ich hoffe doch, gut?«
»Sehr gut. Meine Mitarbeiter sind ganz aus dem Häuschen. Wir haben gerade ein paar Biere geköpft.«
Herney lachte. »Das freut mich zu hören. Ich habe Sie eigentlich nur angerufen, um mich bei Ihnen zu bedanken, bevor wir dieses Ding durchziehen. Heute Abend wird es rundgehen.«
»Das wird es bestimmt, Sir. Auf diesen Augenblick haben wir lange warten müssen…« Ekstrom brach ab. Sein Ton war ungewohnt zurückhaltend.
Herney zögerte, bevor er sprach. »Hört sich an, als wären Sie erschöpft.«
»Ich brauche ein bisschen Sonne und ein richtiges Bett.«
»Lawrence, noch eine Stunde! Lächeln Sie in die Kamera, freuen Sie sich an Ihrem Erfolg, und dann schicken wir Ihnen ein Flugzeug, das Sie nach Washington zurückholt.«
»Darauf freue ich mich schon.« Lawrence verstummte erneut.
Als geschickter Unterhändler war Herney gewohnt, auf Untertöne zu achten und auf das zu hören, was zwischen den Worten zum Ausdruck kam. Irgendetwas in der Stimme des NASA-Direktors irritierte ihn. »Sind Sie sicher, dass bei Ihnen alles in Ordnung ist?«
»Absolut. Alle Systeme arbeiten einwandfrei.« Ekstrom schien darauf bedacht, das Thema zu wechseln. »Haben Sie den endgültigen Schnitt von Tollands Dokumentation schon gesehen?«
»Gerade eben. Phantastische Arbeit«, sagte Herney.
»Ja. Sie hatten einen guten Riecher, Tolland in das Projekt einzubinden.«
»Sind Sie mir wegen der Wissenschaftler immer noch gram?«
»Zum Teufel, ja!«, brummte Ekstrom gutmütig. Seine Stimme hatte wieder die gewohnte Festigkeit.
Herney war beruhigt. Ekstrom geht es gut, dachte er. Er ist nur ein bisschen abgespannt. »Okay, wir sehen uns in einer Stunde über Satellit. Wir werden den Leuten etwas geben, worüber sie reden können!«
»Genau.«
»Übrigens, Lawrence, Sie haben da oben einen verteufelt guten Job abgeliefert.« Herneys Stimme war ruhig und bestimmt. »Das vergesse ich Ihnen nie.«
Delta-3 hatte im Toben des Sturms große Mühe, Norah Mangors Schlitten aufzurichten und mit der herabgestürzten Ausrüstung zu beladen. Er verstaute alles, knöpfte die Abdeckplane fest, legte Norah Mangors Leiche quer darüber und band sie fest. Er wollte sich gerade mit dem Schlitten ins Gelände aufmachen, als seine Partner den Gletscher heraufgeglitten kamen.
»Kommando zurück!«, brüllte Delta-1 ihm durch den Sturm entgegen. »Die anderen drei sind vom Gletscher abgegangen.«
Delta-3 war nicht überrascht. Er begriff sofort, dass man mit einer einzigen Leiche nicht irgendwo auf dem Gletscher einen Unfall vortäuschen konnte. Diese Lösung würde mehr Fragen aufwerfen als beantworten. »Hinterherschmeißen?«, fragte er.
Delta-1 nickte ihm und Delta-2 zu. »Ich sammle die Fackeln ein. Ihr beseitigt den Schlitten mit der Leiche.«
Delta-3 und sein Partner bugsierten den schwer beladenen Schlitten den Gletscher hinab und über die Schneewälle. Am Gletscherabbruch angekommen, gaben sie ihm einen Stoß. Norah Mangor und ihre Ausrüstung glitten lautlos über die Kante und stürzten ins Eismeer.
Saubere Lösung, dachte Delta-3.
Auf dem Rückweg zur Basis registrierte er befriedigt, dass der Sturm bereits ihre Spuren verwehte.
61
Das Atom-Unterseeboot Charlotte war vor fünf Tagen ins Polarmeer abkommandiert worden. Ihr Aufenthalt in diesen Gewässern unterlag strengster Geheimhaltung.
Dieses Boot der Los-Angeles-Klasse war zum lautlosen Lauschen konstruiert. Die zweiundvierzig Tonnen schwere Turbinenanlage besaß eine federnde Aufhängung, die sämtliche Vibrationen absorbierte. Ungeachtet ihrer Konstruktion für den geheimen Einsatz gehörte die Charlotte mit ihren einhundertzehn Metern Länge von Bug bis Heck zu den größten Aufklärungs-Unterseebooten, die die Meere berühren. Getaucht hatte sie eine Wasserverdrängung von 6927 Tonnen und eine Marschgeschwindigkeit von fünfunddreißig Knoten, also erstaunliche dreiundsechzig Kilometer pro Stunde. Mit seiner maximalen Tauchtiefe von fast fünfhundert Metern gehörte das mit einhundertachtundvierzig Mann besetzte Boot zum Modernsten, was es an U-Booten gab.
Der Techniker, der im Sonar-Raum vor dem Oszillatorbildschirm saß, war einer der Besten seines Fachs. Er war ein wandelndes Lexikon von Geräuschen und Wellenmustern. Er konnte einige Dutzend russischer U-Boote an ihrem Schraubengeräusch erkennen, die Stimmen von Hunderten von Meeresbewohnern identifizieren und die Lage von Unterwasservulkanen sogar noch vor dem fernen Japan haargenau bestimmen.
Zurzeit jedoch beschäftigte ihn ein dumpfes, regelmäßiges Pochen. Das an sich völlig eindeutige Geräusch kam gänzlich unerwartet.
»Du wirst mir nicht glauben, was ich da in meiner Mickymaus habe«, sagte er zu seinem Assistenten und reichte ihm den Kopfhörer.
Der Angesprochene setzte die Kopfhörer auf. »Mein Gott, das kommt klar wie eine Glocke!«, sagte er mit ungläubiger Miene.
»Was jetzt?«
Der Sonarmann hatte sich schon über Bordtelefon mit dem Kapitän in Verbindung gesetzt, der kurz darauf im Sonar-Raum erschien, um sich das über Lautsprecher eingespielte Geräusch anzuhören.
TOK – TOK – TOK.
TOK – TOK – TOK
TOK – TOK – TOK.
Der Kapitän lauschte mit ausdruckslosem Gesicht. Das Signal wurde langsamer, unregelmäßiger, schwächer.
»Koordinaten?«, fragte der Kapitän.
Der Techniker räusperte sich. »Es kommt von der Wasseroberfläche, Sir. Ungefähr drei Meilen Steuerbord.«