Der vierte Mann

Der Domherr Parfitt schnaufte ein wenig. Für einen Mann in seinem Alter wurde es langsam beschwerlich, Zügen nachrennen zu müssen. Einmal war seine Figur nicht mehr die alte, und mit dem Verlust seiner Schlankheit hatte sich gleichzeitig eine rasch eintretende Atemnot bemerkbar gemacht Diese entschuldigte der Domherr, wie auch jetzt, stets würdevoll mit den Worten: «Mein Herz, verstehen Sie?»

Er sank mit einem Schnaufer der Erleichterung in die Ecke des Abteils erster Klasse. Die Wärme des geheizten Zuges empfand er als äußerst angenehm. Draußen fiel Schnee. Er hatte Glück gehabt, für die lange Nachtreise noch einen

Eckplatz zu erwischen. Diese Reise war sowieso lästig.

Die anderen drei Eckplätze waren schon besetzt. Während er dies feststellte, bemerkte der Domherr Parfitt, daß ihn der Mann in der entfernten Ecke ihm gegenüber freundlich und erkennend anlächelte. Dieser Mann war glattrasiert, sein Gesichtsausdruck war leicht spöttisch, und die Haare an den Schläfen begannen grau zu werden. Auf den ersten Blick stand fest, daß sein Beruf mit dem Gesetz in Zusammenhang stehen mußte. Niemand hätte ihn auch nur einen Moment lang einer anderen Berufsgruppe zugeteilt. Tatsächlich war Sir George Durand ein berühmter Rechtsanwalt.

«Guten Abend», bemerkte er freundlich, «Sie mußten wohl ordentlich rennen, was?»

«Ist für mein Herz gar nicht gut, fürchte ich», sagte der Domherr. «Welcher Zufall, Sie hier zu treffen, Sir George. Fahren Sie weit nach Norden?»

«Nach Newcastle», sagte Sir George lakonisch. Dann fügte er hinzu: «Kennen Sie übrigens Dr. Campbell Clark?»

Der Mann, der auf derselben Seite des Abteils saß wie der Domherr, verbeugte sich höflich.

«Wir trafen uns auf dem Bahnsteig», fuhr der Rechtsanwalt fort. «Ein zweiter Zufall.»

Parfitt musterte Dr. Campbell Clark mit deutlichem Interesse. Den Namen hatte er schon oft gehört. Dr. Clark war einer der ersten Nervenärzte und Spezialist für Geisteskrankheiten, sein letztes Buch. Das Problem des Unbewußten gehörte zu den meistdiskutierten Büchern des Jahres.

Parfitt sah ein viereckiges Kinn, eindringliche blaue Augen und rötliches Haar, in dem noch kein grauer Schimmer zu bemerken war, das jedoch dünn zu werden schien. Er empfing auch den Eindruck einer starken Persönlichkeit.

Als wäre es das Natürlichste von der Welt, musterte der Domherr nun den Mann, der ihm gegenübersaß. Parfitt erwartete bereits, auch dort einem erkennenden Blick zu begegnen, doch der vierte Mitreisende erwies sich als ein völlig Fremder – ein Ausländer, wie der Domherr annahm. Er war dunkler im Typ, als Erscheinung unbedeutend. In einen dicken Mantel gemummt, schien er fast eingeschlafen zu sein.

«Der Domherr Parfitt aus Bradchester?» fragte Dr. Campbell Clark mit angenehmer Stimme.

Der Domherr sah geschmeichelt aus. Seine wissenschaftlichen Predigten waren zu einem Schlager geworden – besonders seitdem auch die Zeitungen sie druckten. Ja, das war es, was die Kirche brauchte – moderne, interessante Aussagen.

«Ich habe Ihr Buch mit großem Interesse gelesen, Dr. Campbell Clark», sagte er. «Obwohl es wegen der fachlichen Diktion hier und da für mich ein wenig schwer verständlich war.»

Durand unterbrach sie: «Möchten Sie sich lieber unterhalten oder schlafen, Hochwürden? Ich muß zugeben, daß ich seit einiger Zeit an Schlaflosigkeit leide und daß mir persönlich. das erstere lieber wäre.»

«Ganz meine Meinung, auf jeden Fall», sagte Parfitt. «Ich schlafe selten auf Nachtreisen, und das Buch, das ich mitgenommen habe, ist ziemlich langweilig.»

«Wir bilden jedenfalls eine vorbildliche Versammlung, in der alle Kräfte vertreten sind, die Kirche, das Gesetz und die Medizin», bemerkte der Arzt lächelnd.

«Wir könnten also eine allumfassende Meinung über irgendein Problem bilden», lachte Durand, «die Kirche vom geistlichen Blickwinkel her, ich für die rein weltlichen und rechtlichen Standpunkte, und Sie, Doktor, für das weite Feld vom pathologischen bis zum parapsychologischen Standpunkt Ich denke, wir drei könnten jedwedes Problem erschöpfend behandeln.»

«Nicht so vollständig, wie Sie glauben», widersprach Dr. Campbell «Es fehlte nämlich ein Standpunkt, den Sie ausgelassen haben und der ziemlich wichtig ist»

«Nämlich?»

«Der Standpunkt des sogenannten Mannes auf der Straße.»

«Ist der so wichtig? Hat nicht der ‹Mann auf der Straße› gewöhnlich unrecht?»

«Fast immer. Aber er hat etwas, das bei der Meinung der Experten fehlt – den persönlichen Standpunkt. Denn schließlich geht nichts ohne persönliche Verbindungen, wissen Sie. Zu dieser Meinung bin ich durch meinen Beruf gekommen. Auf jeden Patienten, der zu mir kommt und wirklich krank ist, kommen wenigstens fünf, denen nichts anderes fehlt als die Fähigkeit, mit anderen harmonisch zusammenzuleben. Das äußert sich dann auf alle möglichen Arten, aber im Grunde ist es immer dasselbe: Eine rauhe Oberfläche erzeugt seelische Reibungen mit der Umwelt.»

«Ich stelle mir vor, eine Menge Ihrer Patienten hat es mit den Nerven», bemerkte der Domherr verächtlich. Seine eigenen Nerven waren ausgezeichnet

«Ach, was meinen Sie damit?» Der andere wandte sich ihm zu, schnell wie der Blitz

«Nerven! Die Leute gebrauchen dieses Wort und lachen darüber, wie Sie es jetzt tun. ‹Ach, es ist nichts›, sagen sie dann, ‹es sind nur meine Nerven.› Aber mit diesem Wort haben sie dieses ungelöste und schwierigste Problem berührt. Sie können so ziemlich jedes x-beliebige körperliche Leiden haben und davon geheilt werden. Aber wir wissen noch heutzutage nur wenig mehr von den hundert und aber hundert Formen von Geisteskrankheiten als – nun, sagen wir – zur Zeit von Königin Elizabeth I »

«Ach, du liebe Güte», sagte der Domherr Parfitt, ein wenig beschämt über sein eigenes lachen. «Ist das wirklich so?»

«Erinnern Sie sich doch, es ist eine Gnade Gottes», fuhr Dr. Campbell Clark fort «In früheren Zeiten betrachtete man den Menschen einfach als Tier: Körper und Seele – mit Schwerpunkt auf ersterem.»

«Körper, Seele und Geist», berichtigte der Geistliche sanft.

«Geist?» Der Arzt lächelte merkwürdig. «Was meint ihr Kleriker eigentlich mit Geist? Ihr habt das niemals klar definiert, wissen Sie. Durch die ganzen Jahrhunderte hindurch habt ihr euch um eine exakte Erklärung herumgedrückt.»

Der Domherr räusperte sich, um seine Antwort vorzubereiten, doch zu seinem Ärger wurde ihm keine Gelegenheit dazu gegeben.

Der Arzt fuhr fort: «Sind wir überhaupt sicher, daß es Geist und nicht vielmehr Geister heißen muß?»

«Geister?» fragte Sir George Durand mit hochgezogenen Augenbrauen.

«Ja.» Campbell Clark warf ihm unwillkürlich einen Blick zu. Er beugte sich vor und tippte dem anderen auf die Brust. Er sagte ernst: «Sind Sie sicher, daß in dieser Struktur nur ein einziger sitzt? Das ist doch der Körper, wie Sie wissen; eine begehrenswerte Residenz, die man möblieren muß für sieben, einundzwanzig, einundvierzig, siebzig oder wieviel Jahre auch immer. Und am Ende schafft der Bewohner die Sachen hinaus – nach und nach -, dann geht alles aus dem Haus heraus... und das Haus verkommt, wird eine Stätte des Ruins, des Verfalls. Sie sind der Herr des Hauses – wir werden das zugeben. Aber waren Sie sich niemals der Anwesenheit anderer bewußt? Der leise auftretenden Diener, die man nur bemerkt an der Arbeit, die sie leisten – und deren Erledigung Ihnen niemals bewußt wurde? Oder der Freunde, mit ihren Stimmungen, die Sie für die Zeit ihrer Anwesenheit, wie man so sagt, zu einem anderen machten? Sie sind der König im Schloß, ganz richtig, aber seien Sie davon überzeugt, der Teufel ist auch drin.»

«Mein lieber Clark», grunzte der Rechtsanwalt, «was Sie da sagen, verursacht mir ein äußerst unangenehmes Gefühl. Ist mein eigenes Wesen wirklich das Schlachtfeld einander bekämpfender Persönlichkeiten? Ist das der Wissenschaft letzter Schluß?»

Jetzt war es an dem Arzt, die Achseln zu zucken.

«Ihr Körper jedenfalls.» sagte er trocken. «Und wenn der Körper so ein Schlachtfeld ist, warum nicht auch der Geist?»

«Sehr interessant.» sagte der Domherr Parfitt, «eine großartige Wissenschaft.» Für sich dachte er, aus dem Gedanken kann ich eine aufsehenerregende Predigt machen...

Dr. Campbell Clark hatte sich in seine Polster zurückgelehnt, seine momentane Aufregung war verflogen. In trockenem Berufston bemerkte er: «Es ist jedenfalls eine Tatsache, daß ich heute abend wegen eines Falles von Persönlichkeitsspaltung nach Newcastle fahre. Sehr interessanter Fall. Natürlich eine Art Nervenkrankheit, aber ziemlich ernst.

«Persönlichkeitsspaltung?», wiederholte Sir George Durand gedankenvoll. «Das ist nicht allzu selten, glaube ich. Es gibt auch so etwas wie Gedächtnisschwund, nicht wahr? Ich erinnere mich an einen Fall, den wir neulich im Erbschaftsgericht hatte.»

Dr. Clark nickte.

«Ein klassischer Fall dafür war der von Felicie Bault», sagte er. «Sie werden bestimmt davon gehört haben.»

«Natürlich», entgegnete der Domherr Parfitt «Ich erinnere mich, in den Zeitungen darüber gelesen zu haben aber das ist schon eine ganze Weile her, mindestens sieben Jahre.»

Dr. Clark nickte.

«Dieses Mädchen wurde in Frankreich sehr bekannt. Wissenschaftler aus der ganzen Welt kamen zu ihr, um sie zu sehen. Sie hatte nicht weniger als vier verschiedene Persönlichkeiten. Sie wurden bekannt als Felicie 1, Felicie 2, Felicie 3 und so weiter.«

«Nahm man nicht auch dabei vorsätzlichen Betrug an?» fragte Sir George lebhaft.

«Die Verschiedenartigkeit der Persönlichkeiten von Felicie 3 und Felicie 4 war ein bißchen anzweifelbar», gab der Arzt zu. «Aber die wesentlichen Tatsachen bleiben. Felicie Bault war ein Bauernmädchen aus der Normandie. Sie war das dritte von fünf Kindern, die Tochter eines Säufers und einer geistig nicht gesunden Mutter. Während eines seiner Saufgelage erwürgte der Vater die Mutter und wurde daraufhin, soweit ich mich entsinnen kann, lebenslänglich eingesperrt. Fehde war damals fünf Jahre alt Mitleidige Leute kümmerten sich um die Kinder, und Felicie wurde von einer unverheirateten englischen Adeligen aufgenommen und erzogen. Die Dame hatte eine Art Heim für notleidende Kinder. Sie konnte mit Felicie wenig anfangen. Sie beschrieb das Mädchen als anomal langsam und dumm, als jemand, dem man nur mit allergrößter Mühe Lesen und Schreiben beibringen konnte und dessen Hände ungeschickt seien. Diese Dame, Miss Slater, versuchte, aus dem Mädchen eine Hausgehilfin zu machen. Sie fand auch einige Anstellungen für Felicie, als sie alt genug dazu war, diese Stellungen anzunehmen. Aber nirgendwo blieb sie lange, und zwar wegen ihrer Dummheit und ungewöhnlichen Faulheit.»

Der Arzt machte eine Pause, und der Domherr, der die Beine übereinander schlug und sein Reisegepäck näher zusammenschob, bemerkte plötzlich, daß der Mann, der ihm gegenübersaß, sich leicht bewegte. Seine Augen, die er bisher geschlossen gehalten hatte, waren jetzt geöffnet, und sein Blick war mit spöttischem und undefinierbarem Ausdruck auf den würdigen Domherrn gerichtet. Es hatte den Anschein, als ob der Mann zugehört und sich heimlich über das amüsiert habe, was er gehört hatte.

«Es gibt da eine Fotografie, die Felicie Bault im Alter von siebzehn zeigt», fuhr der Arzt fort

«Sie zeigt sie als ungeschlachtes Bauernmädchen von recht derbem Körperbau. Nichts auf dem Bild deutet darauf hin, daß sie bald eine der bekanntesten Persönlichkeiten in Frankreich werden würde. Fünf Jahre später, mit 22, hatte Felicie Bault eine schwere Nervenkrankheit, und bei der Genesung begann sich das seltsame Phänomen zu manifestieren. Das Folgende sind Tatsachen, die von vielen berühmten Wissenschaftlern bestätigt wurden. Die Persönlichkeit der Felicie 1 war nicht unterscheidbar von der Felicie Bault, die das Mädchen die zweiundzwanzig Jahre hindurch gewesen war. Felicie 1 schrieb Französisch nur schlecht und recht. Sie sprach keine Fremdsprachen und konnte nicht Klavier spielen. Felicie 2 dagegen sprach fließend Italienisch und sogar etwas Deutsch. Ihre Handschrift war der der Felicie 1 sehr unähnlich, sie schrieb fließend Französisch, und zwar mit gutem Ausdruck. Sie konnte über politische Fragen und Kunst diskutieren, und sie spielte leidenschaftlich gern Klavier. Felicie 3 hatte mit Felicie 2 viel gemeinsam. Sie war intelligent und offensichtlich gut erzogen, doch was Moral und Charakter anging, war sie das extreme Gegenteil. Sie schien ein äußerst verdorbenes Geschöpf zu sein – aber nur im pariserischen, nicht im provinziellen Sinne. Sie kannte alle Gaunerausdrücke von Paris und die Sprache der eleganten Halbwelt. Ihre Redewendungen waren unflätig, und sie schimpfte wüst auf die Religion und die sogenannten ‹feinen Leute›. Schließlich gab es noch Felicie 4 – ein verträumtes, dösiges, halbirres Geschöpf, besonders fromm und angeblich hellseherisch begabt. Diese vierte Persönlichkeit war unbefriedigend und wenig aufschlußreich. Man hat manchmal angenommen, sie sei ein vorsätzlicher Betrug auf Kosten von Felicie 3 – eine Art Scherz, den sie sich leichtgläubigen Zuhörern gegenüber erlaubte.»

Der Arzt machte eine kleine Pause.

«Hierzu muß ich sagen, allerdings muß ich Felicie 4 davon ausschließen, daß jede Persönlichkeit verschieden und völlig getrennt von jeder anderen war und von den anderen Persönlichkeiten keine Kenntnis hatte. Felicie 2 war unzweifelhaft die dominierende und blieb manchmal vierundzwanzig Stunden lang vorherrschend, dann mochte urplötzlich für ein oder zwei Tage wieder Felicie 1 erscheinen. Danach vielleicht Felicie 3 oder 4, aber die beiden letzteren blieben selten länger als ein paar Stunden bemerkbar. Jeder Wechsel wurde von heftigen Kopfschmerzen begleitet, von schwerem Schlaf, und jedesmal trat ein absoluter Gedächtnisschwund der vorangegangenen Persönlichkeit ein. Die gerade herrschende Persönlichkeit nahm das Leben da wieder auf, wo sie es verlassen hatte, und war sich der Zeit, die dazwischen lag, nicht bewußt.»

«Bemerkenswert», murmelte der Domherr, «sehr bemerkenswert. Wie wenig wir doch von den Wundern des Universums wissen!»

«Wir wissen, daß es dann ein paar sehr schlaue Betrüger gab.», bemerkte der Rechtsanwalt trocken.

«Der Fall der Felicie Bault wurde von Rechtsanwälten, Ärzten und Wissenschaftlern untersucht», sagte Dr. Campbeil Clark schnell. «Der bekannte Quimbellier, Sie werden sich erinnern, führte eingehende Untersuchungen durch und bestätigte die Ansichten der Wissenschaftler. Warum sollte uns das überhaupt so sehr überraschen? Wir finden doch häufig Eier mit zwei Dottern, oder etwa nicht? Oder Zwillingsbananen? Warum keine Doppelseele oder, wie in diesem Fall, eine vierfache Seele – in einem einzigen Körper?»

«Doppelseele?» protestierte der Domherr.

Dr. Campbell Clark wandte ihm seinen durchdringenden blauen Blick zu.

«Wie sollen wir das anders bezeichnen? Vorausgesetzt, daß die Persönlichkeit überhaupt die Seele ist?»

«Es ist gut, daß so etwas nur selten als ‹Laune der Natur› auftritt», bemerkte Sir George.

«Wenn dieser Fall normal wäre, würde das zu recht hübschen Komplikationen führen.»

«Dieser Fall ist allerdings ungewöhnlich», stimmte der Arzt zu. «Es ist jammerschade, daß keine längeren Studien betrieben werden konnten. Durch Felicies unerwarteten Tod wurde allem ein rasches Ende gesetzt.»

«Dieser Tod war sonderbar, wenn ich mich recht erinnere», sagte der Rechtsanwalt langsam.

Dr. Campbell Clark nickte.

«Eine völlig unerklärliche Geschichte. Das Mädchen wurde eines Morgens tot im Bett gefunden. Sie war offensichtlich erdrosselt worden. Aber zu jedermanns Überraschung konnte ohne jeden Zweifel bewiesen werden, daß sie sich selbst erdrosselt hatte. Die Male an ihrem Hals stammten von ihren eigenen Fingern. Eine Selbstmordart, die, obwohl körperlich nicht unmöglich, eine beachtliche Muskelkraft und große menschliche Willensstärke erfordern. Was das Mädchen zu einer solchen Wahnsinnsanstrengung getrieben hat, wurde nie herausgefunden. Ihr seelisches Gleichgewicht muß immer labil gewesen sein, aber damit endete alles. Der Vorhang fiel für immer über das Geheimnis der Felicie Bault.»

In diesem Moment lachte der Mann in der vierten Ecke auf.

Die drei anderen fuhren herum wie von der Tarantel gestochen. Sie hatten die Existenz des vierten vollkommen vergessen. Als sie auf den Platz starrten, auf dem er saß – noch immer eingemummt in seinen Mantel -, lachte er wieder.

«Sie müssen entschuldigen, Gentlemen», sprach er in perfektem Englisch, das nichtsdestoweniger einen ausländischen Klang hatte.

Er setzte sich auf und entblößte ein blasses Gesicht mit kleinem, pechschwarzem Schnurrbart.

«Ja, Sie müssen entschuldigen», sagte er und verbeugte sich spöttisch. «Aber wirklich!

Wurde in der Wissenschaft jemals das letzte Wort gesprochen?»

«Wissen Sie etwas von dem Fall, über den wir sprechen?» fragte der Arzt höflich.

«Von dem Fall? Nein. Aber ich kannte sie.»

«Felicie Bault?»

«Ja. Und Annette Ravel auch. Sie haben niemals von Annette Ravel gehört, wie ich sehe?

Die Geschichte der einen ist gleichzeitig die Geschichte der anderen. Glauben Sie mir, Sie wissen nichts von Felicie Bault, wenn Sie nicht auch die Geschichte der Annette Ravel kennen.»

Er zog seine Uhr hervor und sah darauf.

«Noch genau eine halbe Stunde bis zur nächsten Station. Ich habe Zeit, Ihnen die Geschichte zu erzählen – das heißt, wenn Sie sie hören wollen.»

«Bitte, erzählen Sie», antwortete der Arzt ruhig.

«Herzlich gern», sagte Parfitt. «Herzlich gern.»

Sir George Durand nahm nur eine Haltung gespannter Aufmerksamkeit an.

«Mein Name», begann der fremde Reisegefährte, «ist Raoul Letardeau. Sie hatten von einer englischen Dame gesprochen, einer Miss Slater, die ihr Leben der Wohltätigkeit gewidmet hatte. Ich wurde in diesem Fischerdorf in der Bretagne geboren, und als meine Eltern bei einem Zugunglück ums Leben kamen, war es Miss Slater, die mir zu Hilfe kam und mich vor dem bewahrte, was ihr Engländer das Waisenhaus nennt. Sie hatte schon an die zwanzig Kinder unter ihrer Obhut, Mädchen und Jungen. Unter diesen Kindern waren auch Felicie Bault und Annette Ravel. Wenn es mir nicht gelingt, Ihnen die Persönlichkeit von Annette verständlich zu machen, Gentlemen, werden Sie nichts verstehen. Sie war das Kind einer, wie man bei uns sagt, filIe de joie, eines Freudenmädchens, das, von seinem Liebhaber verlassen, an Tuberkulose gestorben war. Die Mutter war Tänzerin gewesen, und auch Annette hatte den Wunsch, zu tanzen. Als ich sie zum erstenmal sah, war sie ein Kind von elf Jahren, ein kleines Ding mit Augen, die abwechselnd spotteten und versprachen – ein kleines Wesen, ganz Feuer und Leben. Auf einmal machte sie mich zu ihrem Sklaven. ‹Raoul, tu dies für mich; Raoul, tu das für mich.› Und ich gehorchte. Ich betete sie an, und sie wußte es.

Manchmal gingen wir zum Strand hinunter, zu dritt – denn Felicie kam immer mit. Dann zog Annette Schuhe und Strümpfe aus und tanzte auf dem Sand. Und wenn sie atemlos niedersank, erzählte sie uns, was sie tun und was sie sein würde.

‹Seht ihr, ich werde berühmt werden. Ja, ganz groß und berühmt. Ich werde Hunderte und Tausende von Seidenstrümpfen haben – die feinsten Seidenstrümpfe. Und ich werde ein wunderschönes Appartement haben. Alle meine Liebhaber werden jung und schön und auch reich sein. Und wenn ich tanze, wird ganz Paris kommen, mir zuzusehen. Sie werden staunen und schreien und rufen und ganz wahnsinnig werden, wenn ich tanze. Aber im Winter werde ich nicht tanzen. Da fahre ich in den Süden, in die Nähe der Sonne. Dort gibt es Villen mit Orangenbäumen. Eine davon wird mir gehören. Ich werde auf seidenen Kissen in der Sonne liegen und Orangen essen. Und dich, Raoul, werde ich nie vergessen, wenn ich auch noch so reich und berühmt bin. Ich werde dich beschützen und deine Karriere fördern. Felicie wird meine Zofe sein – nein, ihre Hände sind zu ungeschickt. Sieh sie dir nur an, wie groß und schwerfällig sie sind.›

Fehde wurde dann böse. Aber Annette fuhr fort, sie aufzuziehen.

‹Sie ist so damenhaft, Felicie – so elegant, so vornehm. Sie ist eine verkleidete Prinzessin - ha, ha.›

‹Mein Vater und meine Mutter waren verheiratet, das ist besser als bei deinen Eltern›, zischte Fehde dann verächtlich.

‹Ja, und dein Vater hat deine Mutter umgebracht. Eine feine Sache, die Tochter eines Mörders zu sein.›

‹Und dein Vater hat deine Mutter verfaulen lassen›, entgegnete Fehde.

‹Ach ja.› Annette wurde nachdenklich. ‹Arme Mama. Man muß gesund und stark bleiben. Das ist das Wichtigste: Man muß gesund und stark bleiben.›

‹Ich bin stark wie ein Pferd›, prahlte Felicie.

Das war sie wirklich. Sie hatte doppelt soviel Kraft wie jedes andere Mädchen im Heim. Und sie war niemals krank.

Aber sie war dumm, verstehen Sie, dumm wie ein blödes Tier. Ich wunderte mich oft, warum sie immer Annette nachlief, überallhin. Aber es ging von ihr eine Art Faszination aus.

Manchmal haßte sie Annette, glaube ich, denn Annette war wirklich nicht nett zu ihr. Sie verhöhnte Felicies Langsamkeit und Dummheit und quälte sie in Gegenwart der anderen. Ich habe gesehen, wie Felicie ganz weiß vor Wut wurde. Manchmal habe ich gedacht, daß sie die Finger um Annettes Hals legen und ihr das Leben nehmen würde. Sie war nicht klug und nicht schnell genug, auf Annettes Beleidigungen die richtigen Antworten zu finden, aber sie erfaßte mit der Zeit, daß sie ihr nur ganz Bestimmtes zu erwidern brauchte, das nie seine Wirkung verfehlte. Das war der Hinweis auf ihre Gesundheit und Stärke. Sie erfaßte das, was ich schon wußte: Annette beneidete sie um ihre körperliche Stärke, und instinktiv traf Felicie damit die schwache Stelle ihrer Feindin.

Eines Tages kam Annette besonders fröhlich zu mir.

‹Raoul›, sagte sie, ‹wir werden mit der dummen Felicie einen Scherz machen. Wir werden sterben vor lachen.›

‹Was hast du vor?›

‹Komm hinter den Vorhang, dann erzähle ich es dir.› Wie es schien, hatte Annette irgendwo ein Buch aufgetrieben. Den größten Teil hatte sie nicht verstanden. Wahrscheinlich war alles ein bißchen zu hoch für sie. Es war ein frühes Werk über Hypnose.

‹Es muß etwas Glänzendes sein, steht darin. Ich habe dazu die Messingkugel an meinem Bettgestell ausgesucht. Man kann sie drehen. Vergangene Nacht ließ ich Felicie sie ansehen. Sieh immer nur den Knopf an! habe ich gesagt. Du darfst deinen Blick nicht wegnehmen!

Dann drehte ich die Kugel. Raoul, ich habe richtig Angst bekommen. Ihre Augen sahen so komisch aus – wie wahnsinnig, schrecklich. Felicie, habe ich sie gefragt, wirst du alles tun, was ich sage? Ich werde alles tun, was du sagst, Annette, hat sie geantwortet. Und dann sagte ich: Morgen um zwölf Uhr wirst du eine weiße Wachskerze auf den Spielplatz mitbringen und sie dort aufessen. Wenn dich jemand fragt, sagst du, es sei die beste Zuckerstange, die du je gegessen hättest. Oh, Raoul, denk dir das bloß aus!›

‹So etwas wird sie nie wirklich tun›, warf ich ein.

‹In dem Buch steht aber, daß sie es doch tut. Ich kann es auch nicht glauben – aber, oh, Raoul, wenn das alles stimmt, was in dem Buch steht, was gäbe das für einen Spaß!› Ich selbst fand die Idee auch lustig. Wir erzählten es unseren Kameraden, und um zwölf waren wir alle auf dem Spielplatz. Pünktlich auf die Minute kam Felicie mit einer Kerze und begann feierlich, daran herumzuknabbern. Ja, meine Herren, wir waren alle ganz aus dem Häuschen! Jeden Augenblick ging ein anderes Kind zu Felicie und fragte sie, ob das gut schmecke, was sie da äße. Und Felicie antwortete jedes mal, daß es die beste Zuckerstange sei, die sie je gegessen habe.. . Wir bogen uns vor lachen. Wir lachten so laut, daß der Lärm Felicie aufzuwecken und in die Wirklichkeit zurückzurufen schien. Sie blinzelte erstaunt mit den Augen, starrte auf die Kerze, dann auf uns. Schließlich fuhr sie sich mit der Hand über die Stirn. ‹Ja, was tue ich denn da?› murmelte sie.

‹Du ißt eine Kerze!› brüllten wir.

‹Ich befahl dir das. Ich befahl dir das!› schrie Annette vor Freude und tanzte herum.

Felicie starrte sie einen Moment lang an. Dann ging sie langsam auf Annette zu.

‹Dann bist du es, die mich lächerlich gemacht hat. Ich glaube, ich erinnere mich. Oh, ich werde dich dafür töten.›

Sie hatte das sehr ruhig gesagt, so daß Annette plötzlich wegrannte und sich hinter mir versteckte.

‹Rette mich, Raoul! Ich habe Angst vor Felicie. Es war doch nur ein Scherz, Felicie. Nur ein Scherz.›

‹Ich mag solche Scherze nicht›, sagte Felicie. ‹Versteht ihr? Ich hasse dich. Ich hasse euch alle!›

Dann brach sie plötzlich in Tränen aus und rannte fort.

Annette war, glaube ich, über das Ergebnis ihres Experiments erschrocken und versuchte nicht, es zu wiederholen. Doch von diesem Tage an schien ihre Herrschaft über Felicie noch stärker geworden zu sein.

Ich glaube heute, Felicie haßte sie tödlich, aber sie konnte Annette nicht mehr verlassen. Sie lief Annette überall nach wie ein Hund. Tja, meine Herren, bald darauf nahm ich meine erste Stellung an. Ich besuchte das Heim nur noch während meiner Ferien. Annettes Wunsch, Tänzerin zu werden, war nicht ernst zu nehmen gewesen, aber als sie älter wurde, entwickelte sie eine hübsche Singstimme, und Miss Slater erklärte sich damit einverstanden, ihr Gesangsstunden geben zu lassen.

Annette war nicht faul. Sie arbeitete fieberhaft, ohne sich Ruhe zu gönnen. Miss Slater mußte sie manchmal davon abhalten, sich zu überanstrengen. Einmal sprach sie mit mir über Annette.

‹Du hast Annette doch immer gern gemocht. Rede auf sie ein, daß sie nicht zuviel arbeitet.

Neulich hatte sie einen Husten, der mir gar nicht gefiel.› Durch meine Arbeit mußte ich bald darauf weit fortfahren. Zuerst erhielt ich noch ein oder zwei Briefe von Annette, dann folgte Schweigen. Dann war ich fünf Jahre in Amerika.

Durch Zufall kam ich danach wieder nach Paris. Ich las ein Plakat, das eine Annette Ravelli ankündigte. Es war auch ein Bild der Dame darauf abgebildet. Ich erkannte sie sofort wieder.

Am Abend ging ich in das bezeichnete Theater. Annette sang in französischer und italienischer Sprache. Auf der Bühne war sie großartig. Nachher ging ich in ihre Garderobe.

Sie empfing mich sofort.

‹Oh, Raoul!› rief sie aus und streckte mir ihre weißen Hände entgegen. ‹Das ist wunderbar.

Wo bist du in all den Jahren gewesen?›

Ich erzählte es ihr, aber sie schien nicht richtig zuzuhören.

‹Siehst du, jetzt habe ich es fast erreicht.›

Triumphierend wies sie auf ihre Garderobe, die voll von Blumen war.

‹Die gute Miss Slater muß sehr stolz sein auf deinen Erfolg.›

‹Die Alte? Nein, überhaupt nicht Sie wollte doch, daß ich aufs Konservatorium gehe, weißt du nicht mehr? Ich sollte Konzertsängerin werden. Aber ich bin eine Künstlerin. Hier auf der Varietebühne kann ich mich am besten verwirklichen.› In dem Moment trat ein gutaussehender Mann im besten Alter ein. Sein Benehmen war vornehm und wohlerzogen. Bald entnahm ich seinen Gesprächen, daß er Annettes Manager war. Er sah zu mir hin, und Annette erklärte ihm, daß ich ein Freund aus ihrer Kinderzeit und gerade in Paris sei, hier ihr Bild auf dem Plakat gesehen hätte.

Daraufhin war der Herr sehr leutselig und freundlich zu mir. In meiner Gegenwart holte er ein Brillantarmband hervor und legte es um Annettes Handgelenk. Als ich mich erhob, um fortzugehen, wandte sie sich mir mit einem triumphierenden Blick zu.

Aber als ich ihre Garderobe verließ, hörte ich ihren Husten, einen scharfen, trockenen Husten. Ich wußte, was dieser Husten bedeutete. Er war das Erbe ihrer tuberkulösen Mutter.

Zwei Jahre darauf sah ich sie wieder. Sie hatte bei Miss Slater Zuflucht gesucht. Ihre Karriere war beendet. Ihre Krankheit war weit fortgeschritten, und die Ärzte sagten, daß man nichts mehr tun könne.

Ach, ich werde niemals vergessen, wie ich sie sah. Sie lag an einem geschützten Platz im Garten. Man hielt sie Tag und Nacht draußen. Ihre Wangen waren hohl und gerötet, ihre Augen glänzten fiebrig, und sie hustete sehr viel. Sie begrüßte mich mit einer Verzweiflung, die mich verblüffte.

‹Es tut gut, dich zu sehen, Raoul. Du weißt, was sie sagen – daß es mit mir zu Ende geht Sie sagen es hinter meinem Rücken, verstehst du? Wenn sie mit mir sprechen, sind sie zuversichtlich und trösten mich. Aber es ist nicht wahr, Raoul, es ist nicht wahr! Ich werde mir selbst nicht erlauben, zu sterben. Sterben? Jetzt, wo ein schönes Leben vor mir liegt. Es ist der Wille zu leben, darauf kommt es an. Das sagen alle berühmten Ärzte von heute. Ich gehöre nicht zu den

Schwachen, die sich gehenlassen. Ich fühle mich schon viel besser – sehr viel besser, hörst du!›

Sie richtete sich auf und stützte sich auf die Ellbogen, um ihren Worten Nachdruck zu verleihen, dann fiel sie zurück, von heftigem Husten geschüttelt, der ihren ausgezehrten dünnen Körper hin und her warf.

‹Der Husten – das ist nichts›, japste sie. ‹Und die Blutstürze erschrecken mich nicht. Ich werde die Ärzte überraschen. Es ist der Wille, auf den es ankommt Denk daran, Raoul, ich werde leben.›

Es war entsetzlich, erbarmungswürdig, verstehen Sie?

Da kam Felicie Bault mit einem Tablett heraus, mit einem Glas heißer Milch. Sie reichte es Annette und sah ihr beim Trinken mit einem unergründlichen Ausdruck in den Augen zu.

Irgendwie schien dieser Blick eine innere Befriedigung auszudrücken. Auch Annette fing den Blick auf. Sie schleuderte das Glas fort, daß es in Stücke zersprang.

‹Siehst du, wie sie mich ansieht? So sieht sie mich jetzt immer an. Sie freut sich, daß ich bald sterbe. Ja, sie weidet sich daran. Sie, die so stark und gesund ist. Sieh sie nur an, keinen Tag war sie krank, nicht einen einzigen! Und alles für nichts. Was nützt ihr ihr starkes Gerippe? Was kann sie damit machen?›

Felicie bückte sich und hob die Glassplitter auf

‹Ich mache mir nichts daraus, was sie sagt›, bemerkte sie dabei mit einer singenden Stimme.

‹Was macht das schon? Ich bin ein ehrbares Mädchen. Aber was sie betrifft, sie wird die Qualen des Fegefeuers bald kennenlernen. Ich bin eine Christin, ich sage nichts.›

‹Du haßt mich!› schrie Annette. ‹Du hast mich immer gehaßt Aber ich kann dich verzaubern, trotz alledem. Ich kann dir befehlen, etwas zu tun, ganz egal was, und du wirst es tun. Siehst du, ich kann dir jetzt sagen, du sollst hier vor mir im Gras niederknien, und du wirst es tun.›

‹Das ist ja albern›, sagte Felicie mit Unbehagen.

‹Aber ja, du wirst es tun. Du wirst! Um mir zu Gefallen zu sein. Herunter auf deine Knie. Ich sage es dir, ich, Annette. Auf deine Knie, Felicie!› Ob es nun der besondere Ton war, der in Annettes Stimme schwang, oder ein tieferes Motiv - Felicie gehorchte. Sie sank langsam auf ihre Knie nieder, ihre Arme weit ausgestreckt, und ihr Gesichtsausdruck war leer und dumm.

Annette warf den Kopf zurück und lachte.

‹Sieh nur, was für ein dummes Gesicht sie hat! Wie lächerlich sie aussieht... Du kannst jetzt wieder aufstehen, Felicie, danke. Es hat keinen Zweck, mich so böse anzusehen, ich bin deine Herrin. Du mußt tun, was ich sage.›

Erschöpft sank sie in die Kissen zurück. Felicie nahm das Tablett und ging langsam fort.

Einmal sah sie noch über ihre Schulter zurück, und der schwelende Haß in ihrem Blick erschreckte mich.

Ich war nicht dabei, als Annette starb. Aber es muß schrecklich gewesen sein. Sie hing am Leben. Sie kämpfte gegen den Tod wie eine Wahnsinnige. Wieder und wieder soll sie geschrieen haben: ‹Ich will nicht sterben – hört ihr mich?1 Ich will nicht sterben, ich will leben – leben -›

Miss Slater erzählte mir alles, als ich sie sechs Monate später wieder besuchte.

‹Mein armer Raoul›, sagte sie freundlich. ‹Du hast sie immer geliebt, nicht wahr?›

‹Immer – immer. Aber was konnte ihr das nützen? Lassen Sie uns nicht mehr davon sprechen. Sie ist tot – sie, die so sprühend war, so voller Leben.› Miss Slater war eine mitfühlende Frau. Sie sprach von anderen Dingen. Sie machte sich um Felicie große Sorgen, sagte sie. Das Mädchen habe einen merkwürdigen Nervenzusammenbruch erlitten. Seitdem sei ihr Verhalten sehr seltsam.

‹Wissen Sie›, ergänzte Miss Slater nach einigem Zögern, ‹sie lernt jetzt Klavier spielen.› Das wußte ich nicht, und es überraschte mich sehr. Felicie und Klavier spielen lernen! Ich hätte sofort beschwören können, daß das Mädchen nicht eine Note von der anderen unterscheiden konnte.

‹Sie hat Talent, sagt man›, fuhr Miss Slater fort. ‹Ich kann das nicht verstehen. Ich habe sie immer für – nun, Raoul, du weißt schon, sie war immer ein dummes Mädchen.› Ich nickte.

‹Sie ist oft so seltsam – ich weiß dann wirklich nicht, wie ich alles verstehen soll.› Ein wenig danach betrat ich den Lesesaal. Felicie spielte Klavier. Sie spielte eine Melodie, die ich Annette in Paris hatte singen hören. Verstehen Sie, meine Herren? Es versetzte mir einen ordentlichen Schock. Als sie mich hörte, brach sie ab und wandte sich mir zu, ihre Augen voller Spott und Intelligenz. Einen Moment lang dachte ich – nun, ich will nicht sagen, was ich dachte.

‹Tiens›, sagte sie. ‹Da sind Sie ja, Monsieur Raoul.› Ich kann die Art, wie sie das sagte, nicht beschreiben. Für Annette hatte ich nie aufgehört, Raoul zu sein. Aber Felicie hatte mich, seit wir uns als Erwachsene wiedergetroffen hatten, immer mit ‹Monsieur Raoul› angeredet. Aber die Art, wie sie es jetzt sagte, war ganz anders - so, als ob das ‹Monsieur›, leicht übertrieben ausgesprochen, sie irgendwie amüsiert.

‹Ach, Felicie›, stammelte ich ‹Sie sehen heute ganz anders aus. Woher kommt das?›

‹So? Tue ich das?› fragte sie nachdenklich. ‹Das ist komisch. Aber seien Sie nicht so feierlich, ich werde Sie wieder Raoul nennen. Spielten wir nicht als Kinder zusammen?

Damals war das Leben noch freundlicher. Lassen Sie uns von der armen Annette sprechen - sie ist tot und begraben. Wo mag sie nur sein, ob im Fegefeuer oder wo, ich möchte es zu gern wissen.›

Und sie trällerte etwas von einem Lied, nicht sehr deutlich, aber die Worte ließen mich aufhorchen.

‹Felicie›, rief ich aus. ‹Sie sprechen Italienisch?›

‹Warum denn nicht, Raoul? Ich bin gar nicht so dumm, wie ich immer tue.› Sie lachte über meine Verwunderung.

‹Ich verstehe nicht -›

‹Dann will ich es Ihren erzählen. Ich bin eine sehr gute Schauspielerin, obwohl das niemand vermutet. Ich kann viele Rollen spielen – und ich spiele sie gut› Wieder lachte sie und lief rasch aus dem Zimmer, bevor ich sie aufhalten konnte.

Ehe ich abfuhr, sah ich sie wieder. Sie war in einem großen Sessel eingeschlafen. Sie schnarchte laut. Ich blieb stehen und beobachtete sie, fasziniert, doch innerlich abgestoßen.

Plötzlich wachte sie auf und fuhr hoch. Ihr Blick, stumpf und leblos, traf den meinen.

‹Monsieur Raoul›, stammelte sie mechanisch.

‹Ja, Felicie, ich muß jetzt gehen. Möchten Sie mir nicht noch einmal etwas vorspielen, bevor ich gehe?›

‹Ich? Spielen? Sie machen sich über mich lustig, Monsieur Raoul.›

‹Aber Sie haben mir doch heute morgen etwas vorgespielt. Erinnern Sie sich nicht mehr?› Sie schüttelte den Kopf

‹Ich, gespielt? Wie kann ein armes Mädchen wie ich Klavier spielen?› Sie hielt einen Moment inne, als ob sie über etwas nachdächte. Dann winkte sie mich näher zu sich heran.

‹Monsieur Raoul, hier in diesem Haus geschehen merkwürdige Dinge. Sie denken sich Betrügereien und üble Scherze aus. Sie verstellen ihre Uhren. Ja, ja, ich weiß genau, was ich sage. Und alles ist ihr Werk?›

‹Wessen Werk?› fragte ich verblüfft.

‹Das von Annette – dieser bösen Hexe! Als sie noch lebte, hat sie mich immer gequält Jetzt, da sie tot ist, kommt sie von den Toten zurück, um mich zu quälen. Sie war schlecht, durch und durch schlecht, glauben Sie mir!›

Ich starrte Felicie an und konnte sehen, daß sie entsetzliche Angst hatte. Ihre Augen traten aus dem Kopf hervor.

‹Sie war schlecht. Sie würde Ihnen das Brot vom Mund wegreißen und die Kleider vom Körper – und die Seele aus dem Leib...›

Sie preßte mich plötzlich an sich.

‹Ich habe Angst, hören Sie Angst! Ich höre ihre Stimme, nicht in meinen Ohren – nein, hier in meinem Kopf!› Sie tippte sich an die Stirn. ‹Sie will mich aus mir selber vertreiben - mich ganz aus mir selber vertreiben, was soll dann aus mir werden?› Ihre Stimme hatte sich fast zum Schreien erhoben. Aus ihren Augen starrte die animalische Angst eines todwunden, Tieres... Plötzlich lächelte sie, ein freundliches Lächeln voller Schlauheit, aber etwas war an diesem Lächeln, das mich erschauern ließ

‹Wenn es einmal soweit kommt... Ich bin sehr stark mit den Händen – ich habe sehr starke Hände...›

Ich hatte niemals vorher mit Bewußtsein ihre Hände angesehen. Ich sah sie jetzt an und erschrak gegen meinen Willen. Untersetzte, gedrungene, brutale Hände und – wie Felicie gesagt hatte – ungewöhnlich... Ich kann Ihnen die Übelkeit nicht beschreiben, die ich empfand. Mit Händen wie diesen mußte ihr Vater ihre Mutter erwürgt haben... Das war das letzte Mal, daß ich Felicie sah.

Anschließend mußte ich nach Südamerika fahren. Ich kehrte erst zwei Jahre nach ihrem Tod wieder zurück. Ich hatte in den Zeitungen über ihr Leben und von ihrem plötzlichen Tod gelesen. Dann habe ich noch einige Einzelheiten mehr erfahren – heute abend, von Ihnen, meine Herren. Felicie 3 und Felicie 4, wie Sie sagten. Sie war eine gute Schauspielerin, wissen Sie.»

Der Zug verlor langsam an Geschwindigkeit. Der Mann in der Ecke setzte sich aufrecht und knöpfte seinen Mantel zu.

«Was ist Ihre Theorie dazu?» fragte der Rechtsanwalt und beugte sich vor.

«Ich kann kaum glauben – », begann der Domherr Parfitt und hielt inne.

Der Arzt sagte nichts. Er starrte unverwandt auf Raoul Letardeau.

«Die Kleider von ihrem Körper – und die Seele aus ihrem Leib...», wiederholte der Franzose leichthin. Er stand auf. «Ich sage Ihnen, Messieurs, die Geschichte von Felicie Bault ist die Geschichte von Annette Ravel. Sie kannten sie nicht, Gentlemen. Ich kannte sie. Sie liebte das Leben allzu sehr...»

Er hatte schon den Türgriff in der Hand – bereit, auszusteigen, als er sich noch einmal umdrehte und dem Domherrn Parfitt auf die Brust tippte.

«Monsieur le docteur dort drüben sagte vorhin, daß all das» - seine Hand legte sich auf den Magen des Domherrn, und der Domherr stöhnte – «nur eine Residenz ist. Sagen Sie, wenn Sie in Ihrem Haus einen Einbrecher vorfinden, was würden Sie tun? Ihn erschießen, oder etwa nicht?»

«Nein!» schrie der Domherr. «Nein, natürlich nicht! Ich meine – nicht in diesem Land.»

Doch die letzten Worte hatte er in die Luft gesprochen, die Tür des Abteils knallte zu.

Der Geistliche, der Rechtsanwalt und der Arzt waren allein.

Die vierte Ecke im Abteil war frei.