Die Uhr war Zeuge

Gedankenvoll blickte der zierliche Mr. Sattersway seinen Gastgeber an. Zwischen den beiden Männern herrschte eine merkwürdige Freundschaft. Der Colonel entstammte dem Landadel und hatte eine einzige Leidenschaft: den Sport. Die wenigen Wochen des Jahres, die er aus geschäftlichen Gründen in London verbringen mußte, machten ihm nie Freude. Mr. Sattersway hingegen war ein Stadtmensch, der alles über französische Küche, die neueste Mode und die letzten Skandale wußte. Das Studium der menschlichen Natur war seine Leidenschaft. Darin hatte er es zur Meisterschaft gebracht.

Deshalb schien es so, als hätten er und Colonel Melrose wenig Gemeinsames, denn der Colonel zeigte kaum Interesse für die Angelegenheiten seiner Mitmenschen und verabscheute Emotionen. Hauptsächlich waren die Männer Freunde, weil schon ihre Väter befreundet gewesen waren. Außerdem hatten sie denselben Bekanntenkreis und die gleichen reaktionären Ansichten über die nouveaux riche.

Es war gegen halb acht Uhr abends. Die beiden Männer saßen in dem gemütlichen Arbeitszimmer von Melrose. Der Colonel berichtete mit dem Enthusiasmus des begeisterten Reiters von einer Jagd im letzten Winter. Mr. Sattersway, dessen Kenntnisse über Pferde hauptsächlich von Besuchen in den Reitställen seiner ländlichen Gastgeber herrührten, hörte ihm mit unerschütterlicher Höflichkeit zu.

Das schrille Läuten des Telefons unterbrach Melrose. Er ging zum Schreibtisch und nahm den Hörer ab.

«Hallo, ja? Colonel Melrose am Apparat. Was gibt's?»

Seine Haltung änderte sich, wurde offiziell und steif. Jetzt sprach der Amtsträger, nicht mehr der Sportsmann. Er hörte einige Augenblicke gespannt zu, dann antwortete er knapp: «In Ordnung, Curtis, ich komme sofort» Während er den Hörer auflegte, sagte er zu seinem Gast: «Man hat Sir James Dwighton in seiner Bibliothek aufgefunden – ermordet»

«Um Gottes willen!» entfuhr es Mr. Sattersway überrascht. 

«Ich muß sofort nach Alderway. Möchten Sie mitkommen?»

Jetzt fiel Mr. Sattersway ein, daß der Colonel Polizeichef der Grafschaft war. Er zögerte.

«Wenn ich nicht störe...»

«Aber überhaupt nicht Inspektor Curtis war am Apparat. Er ist ein gutmütiger, ehrlicher Bursche, aber nicht gerade der Intelligenteste. Ich wäre froh, wenn Sie mitkämen, Sattersway.

Mein Gefühl sagt mir, daß dies eine häßliche Sache wird.»

«Hat man den Täter schon gefaßt?»

«Nein», antwortete Melrose kurz.

Mr. Sattersways geübtes Ohr spürte eine winzige Zurückhaltung hinter dieser knappen Verneinung. Er begann, in seinem Gedächtnis zu kramen, was er über die Dwightons wußte.

Ein hochmütiger alter Knabe war Sir James gewesen, immer barsch und kurz angebunden.

Ein solcher Mann schafft sich leicht Feinde. Er ging auf die Sechzig zu, hatte graues Haar und eine rosige Gesichtsfarbe und stand in dem Ruf äußerst geizig zu sein.

Vor Sattersways geistigem Auge erschien Lady Dwighton, jung, schlank, mit kastanienbraunem Haar. Er erinnerte sich an gewisse Gerüchte, Vermutungen, gehässigen Klatsch. Das war es also, was Melrose nicht gefiel. Doch dann riß sich Sattersway zusammen – seine Phantasie ging wieder einmal mit ihm durch.

Fünf Minuten später saß er neben seinem Gastgeber in einem kleinen Zweisitzer, und sie fuhren hinaus in die Nacht.

Der Colonel war ein wortkarger Mensch. Fast anderthalb Meilen hatten sie schon zurückgelegt, als er unvermittelt fragte: «Sie kennen sie, nehme ich an?»

«Die Dwightons? Selbstverständlich, ich weiß alles über sie.» Wen gab es schon, über den Mr. Sattersway nicht alles wußte? «Ihn habe ich, glaube ich, einmal getroffen, sie des öfteren.»

«Hübsche Frau», sagte Melrose.

«Eine schöne Frau!» stellte Mr. Sattersway fest.

«Glauben Sie?»

«Eine Gestalt wie aus der Renaissance», bekräftigte Mr. Sattersway, sich an dem Thema erwärmend. «Ich habe sie in einer Theateraufführung erlebt – die Wohltätigkeitsveranstaltung, erinnern Sie sich, im letzten Frühjahr. Sie hat mich sehr beeindruckt. Es ist nichts Modernes an ihr – sie wirkt wie aus vergangenen Zeiten. Man kann sie sich gut in einem Dogenpalast vorstellen oder als Lucretia Borgia.»

Der Wagen machte einen leichten Schlenker, und Mr. Sattersway schwieg abrupt. Wie war er nur auf den peinlichen Vergleich mit Lucretia Borgia gekommen? Unter den gegebenen Umständen... «Dwighton wurde doch nicht etwa vergiftet?» fragte er übergangslos.

Melrose warf ihm einen leicht verwunderten Blick zu. «Darf ich wissen, warum Sie das fragen?»

«Oh, ich... ich weiß nicht», antwortete Mr. Sattersway verwirrt... es kam mir nur gerade so in den Sinn.»

«Nein, er wurde nicht vergiftet», erklärte Melrose düster. «Wenn Sie es genau wissen wollen: Man hat ihm den Schädel eingeschlagen.»

«Mit einem stumpfen Gegenstand», murmelte Mr. Sattersway und wiegte wissend den Kopf.

«Reden Sie doch nicht wie in einem verdammten Kriminalroman, Sattersway! Er wurde mit einer Bronzefigur erschlagen.»

«Aha», sagte Sattersway und versank wieder in Schweigen. «Haben Sie schon mal was von einem Burschen namens Paul Delangua gehört?» fragte Melrose nach einer Weile.

«Ja. Gutaussehender junger Mann.»

«Ich kann mir vorstellen, die Frauen halten ihn dafür», knurrte der Colonel.

«Sie können ihn nicht leiden?»

«Nein.»

«Und ich war vom Gegenteil überzeugt Er ist doch ein sehr guter Reiter.»

«Benimmt sich aber wie alle Ausländer beim Reiten. Steckt voll alberner Streiche.»

Mr. Sattersway unterdrückte ein Lächeln. Der gute alte Melrose war so typisch britisch in seinen Ansichten. Als Kosmopolit, für den Sattersway sich hielt, konnte er über die provinzielle Art, mit der seine Landsleute auf Fremde herabsahen, nur lächeln.

«Ist Delangua hier in der Gegend?» fragte er.

«Er hielt sich auf Alderway bei den Dwightons auf. Man munkelt, daß Sir James ihn vor einer Woche rausgeworfen hat.»

«Warum?»

«Hat ihn erwischt, als er seiner Frau den Hof machte, nehme ich an. Was, zum Teufel...»

Der Wagen geriet durch plötzliches Bremsen ins Schleudern, dann krachte es.

«Sehr gefährliche Kreuzungen, hier in England», meinte Melrose. «Trotzdem, der andere hätte hupen müssen. Wir sind auf der Hauptstraße und haben Vorfahrt. Ich glaube, daß er mehr abgekriegt hat als wir.»

Er stieg aus. Aus dem anderen Wagen tauchte gleichfalls eine Gestalt auf, die auf den Colonel zuging. Sattersway konnte Bruchstücke ihres Gespräches verstehen.

«Ich fürchte, das war ganz und gar mein Fehler», sagte der Fremde. «Aber ich bin fremd hier, und es war absolut nicht zu erkennen, daß Sie sich auf einer Vorfahrtsstraße näherten.»

Der Colonel war besänftigt. Die beiden Männer beugten sich über den fremden Wagen, den ein Chauffeur bereits untersuchte. Das Gespräch verlor sich in technischen Einzelheiten.

«Eine Sache von einer halben Stunde, fürchte ich», sagte der Fremde. «Aber lassen Sie sich bitte durch mich nicht aufhalten. Ich bin froh, daß Ihr Wagen nicht viel abbekommen hat.»

Melrose wollte gerade antworten, doch er wurde durch Mr. Sattersway unterbrochen, der in freudiger Erregung aus dem Wagen gestiegen war und dem Fremden nun überschwenglich die Hand schüttelte.

«Sie sind es tatsächlich! Ich habe sofort Ihre Stimme erkannt!» rief er aufgeregt. «Was für eine Überraschung! Was für eine außerordentliche Überraschung!»

Colonel Melrose sah Sattersway verwundert an.

«Das ist Mr. Harley Quin, Melrose. Ich bin sicher, daß ich Ihnen schon oft von Mr. Quin erzählt habe.»

Der Colonel konnte sich offensichtlich nicht daran erinnern, hörte aber höflich zu, während Mr. Sattersway munter weitersprach: «Ich habe Sie nicht mehr gesehen seit... lassen Sie mich überlegen...»

«Seit dem Abend in den Schellen und Narren», entgegnete der andere gelassen.

«Schellen und Narren?» warf der Colonel ein.

«Das ist ein Gasthof», erklärte Mr. Sattersway. «Was für ein merkwürdiger Name für einen Gasthof», meinte der Colonel

«Nur ein ziemlich alter Name», entgegnete Sattersway.

«Sie erinnern sich sicherlich, daß es eine Zeit in England gab, da Narren und ihre Schellen viel häufiger waren als heute.»

«Ja, das stimmt allerdings», sagte Melrose und blinzelte den Fremden verwirrt an. Durch einen eigentümlichen Lichteffekt hervorgerufen durch die Scheinwerfer des einen und die Rücklichter des anderen Wagens sah es einen Augenblick so aus, als wäre auch Mr. Quin in ein Narrengewand gehüllt. Aber nur das Licht rief diesen seltsamen Eindruck hervor.

«Wir können Sie hier nicht einfach zurücklassen», fuhr Mr. Sattersway fort «Sie müssen mitkommen. Es ist genügend Platz für drei, nicht wahr, Melrose?»

«Ja, vermutlich», sagte Melrose zögernd. «Nur haben wir etwas zu erledigen. Erinnern Sie sich, Sattersway?»

Mr. Sattersway stand wie erstarrt da. Gedanken schossen ihm durch den Kopf, dann rief er aufgeregt: «Nein, ich hätte es besser wissen müssen. Es war kein Zufall, daß wir heute auf der Kreuzung zusammenstießen.»

Colonel Melrose starrte seinen Freund verwundert an. Sattersway ergriff seinen Arm.

«Erinnern Sie sich, was ich Ihnen über unseren Freund Derek Capel erzählte? Das Motiv für seinen Selbstmord, das niemand herausfinden konnte?. Es war Mr. Quin, der das Problem löste und noch viele andere. Er macht die Menschen auf Dinge aufmerksam, die ihnen ohne seine Hilfe verborgen bleiben wurden. Er ist einfach großartig!»

«Mein lieber Sattersway, Sie bringen mich in Verlegenheit», sagte Mr. Quin lächelnd.

«Wenn ich mich recht erinnere, wurden diese Fälle alle von Ihnen gelöst, nicht von mir.»

«Sie wurden gelöst, weil Sie dabei waren», sagte Mr. Sattersway im Brustton der Überzeugung.

Colonel Melrose räusperte sich unbehaglich und sagte: «Wir dürfen keine Zeit mehr verlieren. Fahren wir!»

Er schwang sich auf den Fahrersitz. Offensichtlich war er nicht sehr darüber erfreut, daß Sattersway ihm in seiner Begeisterung die Gesellschaft des Fremden aufgezwungen hatte, fand aber keinen überzeugenden Ablehnungsgrund. Er war im übrigen nur daran interessiert, so schnell wie möglich nach Alderway zu kommen.

Mr. Sattersway ließ Mr. Quin als nächsten einsteigen und nahm selbst auf dem äußeren Sitz Platz. Der Wagen war so geräumig, daß die drei Männer fast bequem in ihm sitzen konnten.

«Sie interessieren sich also für Verbrechen, Mr. Quin?» fragte der Colonel, bemüht, möglichst freundlich zu sein.

«Nein, eigentlich nicht für Verbrechen.»

«Für was denn, wenn ich fragen darf?»

Mr. Quin lächelte. «Fragen wir Mr. Sattersway. Er ist ein sehr scharfer Beobachter.»

«Ich glaube», sagte Mr. Sattersway langsam, «und vielleicht täusche ich mich auch, aber ich glaube, Mr. Quins Interesse gilt – Liebenden.»

Mr. Sattersway errötete bei dem letzten Wort, das kein Engländer ohne Befangenheit ausspricht. Es kam so zögernd über seine Lippen, daß man die Gänsefüßchen förmlich mithörte.

«Mein Gott!» entgegnete der Colonel überrascht und verstummte. Sattersway schien da einen ziemlich seltsamen Vogel aufgegabelt zu haben, dachte er. Er musterte ihn verstohlen von der Seite. Sah eigentlich ganz normal aus, der Bursche, ziemlich dunkel, aber überhaupt nicht wie ein Ausländer.

«Und nun», sagte Mr. Sattersway in bedeutsamem Ton, «möchte ich Ihnen alles über den Fall erzählen.»

Er sprach etwa zehn Minuten. Und wie er in der Dunkelheit dasaß, während sie durch die Nacht fuhren, empfand er ein berauschendes Gefühl der Macht. Was bedeutete es schon, daß er nur ein unbeteiligter Beobachter des menschlichen Lebens war? Ihm stand die Gewalt der Sprache zur Verfügung, er konnte Worte zu einem Gemälde zusammenfügen – einem Gemälde aus der Zeit der Renaissance, mit dem schönen Abbild der rothaarigen, blaßhäutigen Laura Dwighton und der etwas zwielichtigen Figur eines Paul Delangua, den die Frauen so anziehend fanden.

Gemalt vor dem Hintergrund von Alderway, dem Herrensitz, der noch aus der Zeit Heinrichs VII stammte, ja angeblich sogar noch älter war. Alderway, das so durch und durch englisch war, mit seinen zurechtgestutzten Eiben, der alten Fachwerkscheune und dem Fischteich, in dem einst die Mönche ihre Freitagskarpfen gezüchtet hatten.

Mit einigen kräftigen Strichen fügte er Sir James Dwighton hinzu, einen echten Nachfahren der alten De Wittons, die in früheren Jahrhunderten dem Land ihr Geld abgepreßt und es in eisenbeschlagenen Truhen gehortet hatten, so daß die Herren von Alderway niemals verarmten, mochten die Zeiten für andere auch noch so schlecht sein.

Endlich schwieg Mr. Sattersway. Er war sich der Anteilnahme seiner Zuhörer sicher. Nun wartete er auf sein verdientes Lob. Und er bekam es.

«Sie sind ein Künstler, Mr. Sattersway!»

«Ich... ich tue mein Bestes.» Plötzlich wurde der kleine Mann bescheiden.

Vor ein paar Minuten waren sie durch das große Parktor gefahren. Nun hielten sie vor dem Portal des Hauses. Ein Polizist kam eilig die Treppe hinunter, um sie zu begrüßen.

«Guten Abend, Sir. Inspektor Curtis ist in der Bibliothek.»

«In Ordnung.»

Melrose eilte die Stufen hinauf, gefolgt von seinen Begleitern. Während die drei die weite Halle durchquerten, spähte ein ältlicher Butler ängstlich aus einer Tür. Melrose nickte ihm zu.

«Guten Abend, Miles. Was für eine traurige Geschichte!»

«Das ist sie in der Tat», entgegnete der andere zitternd. «Ich kann es noch gar nicht fassen, Sir. Zu denken, daß jemand unseren Herrn erschlagen hat...»

«Ja, ja», unterbrach ihn Melrose. «Ich werde mich später noch mit Ihnen unterhalten.»

Er eilte weiter in die Bibliothek, wo ihn ein großer, soldatisch aussehender Polizeibeamter respektvoll begrüßte.

«Schreckliche Geschichte, Sir. Ich habe nichts verändert. Keine Fingerabdrücke auf der Tatwaffe. Wer es auch getan hat, er verstand sein Geschäft.» Sattersway blickte auf die zusammengesunkene Gestalt, die an dem großen Schreibtisch saß, und sah schnell wieder weg. Der Lord war von hinten erschlagen worden, mit einem wuchtigen Schlag, der die Schädeldecke zertrümmert hatte. Es war kein schöner Anblick.

Die Tatwaffe lag auf dem Boden – eine Bronzefigur, etwa sechzig Zentimeter groß, der Sockel feucht und blutbefleckt. Mr. Sattersway beugte sich neugierig darüber.

«Eine Venus», sagte er leise. «So wurde sein Leben also durch Venus, die Göttin der Liebe, beendet»

«Die Flügeltüren waren alle geschlossen und von innen verriegelt», erläuterte der Inspektor und schwieg dann bedeutungsvoll.

«Demnach kam der Täter aus dem Haus», stellte der Polizeichef widerstrebend fest «Nun, wir werden sehen.»

Der Ermordete trug Golfkleidung, und eine Tasche mit Golfschlägern lag auf einem großen Ledersofa.

«Er war gerade vom Golfplatz zurückkommen» erklärte der Inspektor und folgte dem Blick seines Vorgesetzten. «Um Viertel nach fünf war das. Ließ sich dann vom Butler den Tee servieren. Später ließ er sich von seinem Kammerdiener ein Paar bequeme Schuhe bringen.

Soweit wir wissen, war der Diener die letzte Person, die ihn lebend sah.»

Melrose nickte und wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Schreibtisch zu. Viele der Gegenstände darauf waren umgeworfen worden oder zerbrochen. Am auffallendsten war eine große, dunkle Emailleuhr, die genau in der Mitte der Schreibtischplatte mit der Schmalseite nach oben lag.

Der Inspektor räusperte sich «Wir haben sozusagen Glück gehabt, Sir», sagte er. «Wie Sie sehen, ist die Uhr um halb sieben stehengeblieben. Damit kennen wir den genauen Zeitpunkt des Verbrechens. Sehr aufschlußreich.»

Der Colonel starrte die Uhr an. «Ja, wie Sie sagen», bemerkte er, «sehr aufschlußreich.» Er schwieg einen Moment und fügte dann hinzu: «Verdammt viel zu aufschlußreich! Die Sache gefällt mir nicht, Inspektor.»

Er sah sich nach seinen beiden Begleitern um und warf Mr. Quin einen verständnisheischenden Blick zu. «Verdammt noch mal!» knurrte er. «Das ist mir zu glatt Sie wissen, was ich meine. Die Dinge passen einfach nicht zueinander.»

«Sie glauben», murmelte Mr. Quin, «daß Uhren nicht auf diese Weise umfallen?»

Melrose starrte ihn einen Moment an, dann blickte er wieder auf die Uhr, die mit einem Mal jenes rührende, unschuldige Aussehen hatte, das Dingen zu eigen ist, die plötzlich ihrer Würde beraubt werden. Sorgfältig stellte er sie wieder auf und schlug dann heftig auf den Tisch. Die Uhr schwankte, fiel aber nicht um.. Melrose wiederholte den Vorgang. Langsam, fast unwillig, fiel die Uhr um.

«Um welche Zeit wurde das Verbrechen entdeckt?» fragte Melrose scharf.

«Kurz vor sieben, Sir.»

«Von wem?»

«Dem Butler.»

«Bringen Sie ihn herein!» befahl der Polizeichef. «Ich möchte ihn sehen. Wo ist übrigens Lady Dwighton».

«Sie hat sich hingelegt, Sir. Ihre Zofe sagt, daß sie einen Zusammenbruch erlitten hat und für niemanden zu sprechen ist.»

Melrose nickte, und Inspektor Curtis ging, um den Butler zu holen. Mr. Quin blickte gedankenvoll in den Kamin. Mr. Sattersway folgte seinem Beispiel. Er starrte eine Weile auf die glimmenden Scheite, bis etwas Blinkendes auf dem Rost seine Aufmerksamkeit erregte.

Sattersway beugte sich nieder und hob einen kleinen Splitter gebogenen Glases auf.

«Sie wünschen mich zu sprechen, Sir?» Die Stimme des Butlers klang immer noch schwach und unsicher. Sattersway schob den Glassplitter in seine Westentasche und wandte sich um.

Der alte Mann stand im Türrahmen.

«Bitte setzen Sie sich», sagte Melrose freundlich. «Sie zittern ja am ganzen Körper. Sicher war es ein großer Schock für Sie.»

«Das war es in der Tat, Sir»

«Nun, ich werde Sie nicht lange aufhalten. Lord Dwighton kam kurz nach fünf zurück, glaube ich?»

«Ja, Sir. Er ließ sich hier den Tee servieren. Als ich später kam, um abzuräumen, befahl er, Jennings hereinzuschicken – das ist sein Kammerdiener, Sir.»

«Um welche Zeit war das?»

«Etwa zehn Minuten nach sechs, Sir.»

«Und weiter?»

«Ich schickte nach Jennings, Sir. Und erst, als ich um sieben Uhr die Bibliothek wieder betrat, um die Fenster zu schließen und die Vorhänge vorzuziehen, entdeckte ich...»

Melrose unterbrach ihn. «Schon gut, Sie können sich die Einzelheiten ersparen. Die Leiche haben Sie nicht angerührt und nichts verändert, hoffe ich?»

«Oh, nein, Sir. Ich lief, so schnell ich konnte, zum Telefon und benachrichtigte die Polizei.»

«Und dann?»

«Dann wies ich Janet an – das ist die Zofe von Mylady, Sir -, Mylady die Nachricht zu überbringen.»

«Sie haben Lady Dwighton während des ganzen Abends nicht gesehen?»

Colonel Melrose stellte diese Frage fast beiläufig, aber Mr. Sattersway hörte sehr wohl das Interesse aus ihr heraus. «Eigentlich nicht, Sir. Mylady hat sich seit der Tragödie in ihren Räumen aufgehalten.»

«Haben Sie sie vorher gesehen?»

Die Frage kam unvermittelt, und jeder bemerkte das kurze zögern, ehe der Butler antwortete.

«Ich... ich habe sie ganz flüchtig gesehen, Sir, als sie die Treppe hinunterkam.»

«Ist sie in die Bibliothek gegangen?» Mr. Sattersway hielt den Atem an.

«... ich glaube schon, Sir.» 

«Um welche Zeit war das?»

«Es war kurz vor halb sieben, Sir.»

Colonel Melrose holte tief Luft. «Danke, das genügt. Bitte schicken Sie mir Jennings herein.»

Jennings leistete der Aufforderung umgehend Folge. Er war ein Mann mit scharfen Gesichtszügen und katzenartigem Gang, der einen zurückhaltenden und verschlagenen Eindruck machte.

Ein Mann, dachte Sattersway, der unbekümmert seinen Herrn ermorden könnte, wenn er sicher wäre, ungeschoren davonzukommen.

Begierig lauschte er auf das, was der Mann auf die Fragen von Colonel Melrose antwortete.

Aber seine Geschichte schien glaubwürdig. Er hatte seinem Herrn ein Paar bequeme Schuhe gebracht und die Golfschuhe mitgenommen.

«Und was haben Sie danach gemacht, Jennings?»

«Ich ging zurück in das Dienerzimmer, Sir.»

«Um welche Zeit verließen Sie Ihren Herrn?»

«Das muß gegen Viertel nach sechs gewesen sein, Sir.»

«Wo waren Sie um halb sieben, Jennings?»

«Im Dienerzimmer, Sir.»

Colonel Melrose entließ den Mann mit einem Kopfnicken. Dann sah er Curtis fragend an.

«Das stimmt, Sir, ich habe seine Angaben überprüft. Er hat sich von etwa zwanzig nach sechs bis sieben Uhr im Dienerzimmer aufgehalten.»

«Dann ist er raus aus der Sache», sagte der Polizeichef mit einer Spur von Bedauern in der Stimme. «Abgesehen davon hat er kein Motiv.»

In diesem Moment klopfte es an der Tür. Der Colonel sagte: «Herein!», und es erschien ein angstvoll blickendes Mädchen, gekleidet wie eine Zofe.

«Wenn Sie erlauben, meine Herren. Lady Dwighton hat gehört, daß Colonel Melrose im Haus ist und möchte ihn gerne sprechen.»

«Aber gerne», sagte Melrose. «Ich komme sofort. Bitte zeigen Sie mir den Weg.»

Doch eine Hand stieß das Mädchen beiseite. In der Tür stand nun eine sehr ungewöhnliche Gestalt. Laura Dwighton wirkte wie eine Besucherin aus einer anderen Welt.

Sie trug ein enganliegendes altmodisches Nachmittagskleid aus dunkelblauem Brokat. Ihr kastanienbraunes Haar war in der Mitte gescheitelt und fiel über die Ohren. Lady Dwighton war sich ihres extravaganten Stils bewußt und hatte sich nie das Haar schneiden lassen. Es war zu einem einfachen Knoten im Nacken geschlungen. Ihre Arme waren unbedeckt.

Wie sie dort stand, sich mit einer Hand am Türrahmen abstützte und mit der anderen ein Buch umklammerte, dachte Mr. Sattersway: Sie sieht aus wie eine Madonna auf einem alten italienischen Gemälde.

Plötzlich begann sie leicht zu schwanken. Colonel Melrose stürzte auf sie zu.

«Ich bin gekommen, Ihnen zu.... Ihnen zu sagen...» Ihre Stimme klang dunkel und melodisch. Mr. Sattersway war von der Dramatik der Szene so gefangen, daß sie ihm völlig irreal erschien. Wie auf der Bühne, dachte er.

«Bitte, Lady Dwighton.. » Melrose hatte stützend einen Arm um sie gelegt und geleitete sie durch die Halle in ein kleines Nebenzimmer, dessen Wände mit vergilbten Seidentapeten bedeckt waren. Quin und Sattersway und der Inspektor folgten. Sie sank auf ein niedriges Sofa und stützte ihren Kopf auf ein rostfarbenes Kissen, die Augen geschlossen. Die vier Männer beobachteten sie. Unvermittelt schlug sie die Augen auf und setzte sich aufrecht hin.

Sie sprach sehr gefasst.

«Ich habe ihn getötet», sagte sie. «Das ist es, was ich Ihnen sagen wollte. Ich habe ihn getötet.»

Einen Augenblick herrschte entsetztes Schweigen im Zimmer. Mr. Sattersways Herz setzte einen Schlag lang aus.

«Lady Dwighton», sagte Melrose dann, «Sie haben einen Schock erlitten, Sie sind äußerst aufgeregt ich glaube nicht, daß Sie wissen, was Sie sagen.»

Würde sie ihre Aussage zurücknehmen, jetzt, wo es noch möglich war?

«Ich weiß genau, was ich sage. Ich habe ihn erschossen.»

Drei der Männer in dem Zimmer atmeten mühsam, der vierte gab keinen Ton von sich. Lady Dwighton beugte sich weiter nach vorn. «Haben Sie mich nicht verstanden? Ich kam nach unten und erschoß ihn. Ich gestehe es.»

Das Buch, das sie in der Hand gehalten hatte, fiel zu Boden. In ihm steckte ein Brieföffner; er hatte die Form eines Dolches mit einem edelsteinbesetzten Griff Mr. Sattersway bückte sich gewohnheitsmäßig, hob ihn auf und legte ihn auf den Tisch. Dabei dachte er: Was für ein gefährliches Spielzeug! Damit könnte man einen Menschen umbringen.

«Also», fragte Laura Dwighton ungeduldig, «was werden Sie jetzt tun? Mich festnehmen?»

Colonel Melrose fand mit Mühe die Sprache wieder.

«Alles was Sie mir gesagt haben, ist sehr schwerwiegend, Lady Dwighton. Ich muß Sie auffordern, sich auf Ihr Zimmer zu begeben, bis ich... eh... die nötigen Dinge veranlaßt habe.»

Laura Dwighton nickte und stand auf. Sie wirkte jetzt sehr gefaßt, ernst und kalt. Während sie sich zur Tür wandte, fragte Mr. Quin: «Was haben Sie mit dem Revolver gemacht, Lady Dwighton?»

Unsicher antwortete sie: «Ich... ich habe ihn zu Boden fallen lassen. Nein, ich glaube, ich warf ihn aus dem Fenster – ach, ich kann mich nicht mehr erinnern. Was spielt das auch für eine Rolle? Ich wußte kaum, was ich tat. Aber das spielt doch jetzt keine Rolle mehr, nicht wahr?»

«Nein», sagte Mr. Quin, «ich glaube kaum, daß es noch eine Rolle spielt»

Sie sah ihn verwirrt an und schien beunruhigt zu sein. Dann warf sie den Kopf in den Nacken und verließ hoheitsvoll das Zimmer.

Mr. Sattersway eilte ihr nach, weil er fürchtete, sie könne jeden Augenblick zusammenbrechen. Aber sie war schon halb die Treppe hinaufgegangen, ohne Anzeichen ihrer vorherigen Schwäche. Am Fuß der Treppe stand die angstvoll blickende Zofe.

Gebieterisch befahl Mr. Sattersway ihr, sich um ihre Herrin zu kümmern.

«Sehr wohl, Sir.» Das Mädchen schickte sich an, der blaugewandeten Gestalt zu folgen.

«Ach, bitte, Sir, Sie verdächtigen ihn doch nicht, nicht wahr?»

«Verdächtigen? Wen?»

«Jennings, Sir. Oh, Sir, er könnte keiner Fliege etwas zuleide tun.»

«Jennings? Natürlich nicht. Gehen Sie, und kümmern Sie sich um Ihm Herrin!»

«Sehr wohl, Sir.» Das Mädchen eilte die Treppe hinauf Mr. Sattersway kehrte in das Zimmer zurück, das er gerade verlassen hatte.

Colonel Melrose erklärte gerade heftig: «Also, ich bin sprachlos. Da steckt mehr dahinter, als es den Anschein hat. Die Geschichte... sie ähnelt den albernen Dummheiten, die Heldinnen in Romanen begehen.»

«Es wirkte unwirklich.», stimmte Mr. Sattersway zu. «Wie in einem Theaterstück.»

Mr. Quin nickte. «Ja, Sie lieben das Theater, nicht wahr? Sie sind ein Mann, der die Schauspielkunst zu würdigen weiß.» Mr. Sattersway sah ihn unsicher an.

In der Stille, die folgte, war ein entferntes Geräusch zu hören. «Das klang wie ein Schuß», sagte Colonel Melrose. «Wahrscheinlich von einem der Jagdhüter. Vermutlich hörte sie einen Schuß. Vielleicht ging sie dann hinunter, um nachzusehen. Sie wagte sich nicht nahe genug an den Toten heran, um ihn zu untersuchen. Das verleitete sie dann zu der Schlußfolgerung...»

«Mr. Delangua, Sir.» Der alte Butler stand mit entschuldigender Geste im Türrahmen.

«Wie?» fragte Melrose. «Was war das?»

«Mr. Delangua ist hier, Sir, und würde Sie nach Möglichkeit gern sprechen.»

Colonel Melrose lehnte sich im Sessel zurück und sagte grimmig: «Führen Sie ihn herein.»

Einen Moment später stand Paul Delangua vor ihnen. Wie Colonel Melrose angedeutet hatte, war etwas Unenglisches an ihm: die unbeschwerte Anmut seiner Bewegungen, das dunkle, hübsche Gesicht mit den etwas zu nahe beieinander stehenden Augen. Auch bei ihm erinnerte irgend etwas an die Renaissance. Er und Laura Dwighton verbreiteten die gleiche Atmosphäre um sich.

«Guten Abend, Gentlemen», sagte Delangua mit einer kleinen affektierten Verbeugung.

«Ich kenne Ihr Anliegen nicht, Mr. Delangua», sagte Colonel Melrose schneidend, «aber wenn es nichts mit dem Mord zu tun hat...»

Delangua unterbrach ihn mit einem Lachen. «Im Gegenteil», sagte er, «es hat damit zu tun.»

«Was wollen Sie damit sagen?»

«Ich will damit sagen», erwiderte Delangua ruhig, «daß ich gekommen bin, um mich wegen des Mordes an Sir James Dwighton zu stellen.»

«Sind Sie sich bewußt, was Sie da sagen?» fragte Melrose eindringlich.

«Absolut»

Der Blick des jungen Mannes war auf den Tisch geheftet.

«Ich verstehe nicht...»

«... warum ich mich selbst stelle?. Nennen Sie es Gewissensbisse, nennen Sie es, wie Sie wollen. Aber ich habe ihn erstochen, dessen können Sie sicher sein.» Er deutete auf den Tisch. «Wie ich sehe, haben Sie dort die Tatwaffe. Ein sehr praktisches Mordinstrument. Lady Dwighton ließ es unglücklicherweise in einem Buch herumliegen, und so konnte ich es an mich bringen.»

«Einen Moment», sagte Oberst Melrose. «Soll ich das so verstehen, daß Sie zugeben, Sir James hiermit erstochen zu haben?» Er hielt den Dolch in die Höhe.

«Genau so. Ich habe mich durch die Flügeltür hineingeschlichen, müssen Sie wissen. Er wandte mir den Rücken zu. Es war ganz einfach. Auf demselben Weg verschwand ich dann wieder.»

«Durch die Flügeltür?»

«Natürlich durch die Flügeltür.»

«Und um welche Uhrzeit war das?»

Delangua zögerte «Lassen Sie mich überlegen... Ich unterhielt mich mit dem Jagdhüter – das war um Viertel nach sechs. Ich hörte währenddessen nämlich die Kirchturmuhr schlagen. Es muß also – ja, so gegen halb sieben gewesen sein.»

Die Lippen des Polizeichefs umspielte ein grimmiges Lächeln. «Ganz recht, junger Mann», sagte er. «Halb sieben war die Tatzeit. Vielleicht hatten Sie das bereits gehört?. Alles in allem ist dies ja ein ganz besonderer Mord.»

«Warum?»

«Weil so viele Leute ihn gestehen», sagte Colonel Melrose.

Man hörte, wie Delangua scharf die Luft einzog. «Wer hat ihn noch gestanden?» fragte er mit einer Stimme, die er vergeblich unter Kontrolle zu bringen trachtete.

«Lady Dwighton.»

Delangua warf den Kopf zurück und stieß ein spürbar gezwungenes Lachen aus. «Lady Dwighton hat eine Neigung zur Hysterie», sagte er obenhin. «Wenn ich Sie wäre, würde ich dem, was sie sagt, keine Beachtung schenken.»

«Ich glaube auch nicht, daß ich das sollte», erwiderte Melrose. «Aber es gibt noch eine andere merkwürdige Tatsache im Zusammenhang mit diesem Mord.»

«Und die wäre?»

«Nun, Lady Dwighton gestand, Sir James erschossen zu haben. Sie wollen ihn erstochen haben. Zum Glück für Sie beide wurde er weder erschossen noch erstochen, Ihm wurde der Schädel eingeschlagen.»

«Mein Gott!» rief Delangua aus. «Aber so etwas ,könnte eine Frau doch niemals...»

Er hielt inne, biß sich auf die Lippe. Melrose nickte mit dem Anflug eines Lächelns.

«Ich habe so etwas oft gelesen», bemerkte er ironisch, «aber noch niemals selbst erlebt.»

«Was?»

«Daß zwei junge Wirrköpfe sich selbst des Mordes beschuldigen, weil sie annehmen, daß der andere ihn verübt hat», sagte Melrose. «Nun müssen wir noch einmal von vorne anfangen.»

«Der Kammerdiener», rief Sattersway. «Die Zofe vorhin – ich habe ihr zu diesem Zeitpunkt keine Beachtung geschenkt.» Er machte eine Pause und dachte angestrengt über die Zusammenhänge nach. «Sie hatte Angst, daß wir ihn verdächtigen würden. Er muß ein Motiv haben, das uns nicht bekannt ist, aber ihr.»

Colonel Melrose runzelte die Stirn, dann läutete er nach dem Butler. Als sich dieser meldete, bat er: «Fragen Sie Lady Dwighton, ob sie die Güte hat, noch einmal herunterzukommen.»

Die Männer warteten schweigend auf ihr Erscheinen. Als sie Delangua sah, erschrak sie heftig und mußte sich abstützen. Sie konnte sich kaum aufrecht halten. Colonel Melrose kam ihr rasch zu Hilfe.

«Es ist alles in Ordnung Lady Dwighton. Bitte regen Sie sich nicht auf.»

«Ich verstehe nicht, was Mr. Delangua hier macht.»

Delangua ging auf sie zu. «Laura, Laura, warum haben Sie das getan?»

«Was getan?»

«Ich weiß, warum. Sie haben es für mich getan, weil Sie dachten, daß ich...» Natürlich war das naheliegend. Aber.... Oh, Sie sind ein Engel!»

Colonel Melrose räusperte sich. Er war ein Mann, der Emotionen verabscheute und einen Horror vor Dingen hatte, die nach einer ‹Szene› aussahen.

«Wenn ich mir erlauben darf, das zu sagen, Lady Dwighton, so sind Sie beide noch einmal knapp davongekommen. Auch Mr. Delangua hat ein ‹Geständnis› abgelegt. Oh, nein, ich weiß, daß er es nicht war. Aber was wir wissen wollen, ist die Wahrheit. Bitte, jetzt keine Ausflüchte mehr. Der Butler hat ausgesagt, daß Sie um halb sieben in die Bibliothek gingen. Stimmt das?»

Laura sah Delangua an. Er nickte. «Die Wahrheit, Laura», sagte er «Wir müssen sie erfahren.»

Laura stieß einen tiefen Seufzer aus. «Ich werde sie Ihnen sagen.» Sie sank in einen Sessel, den Mr. Sattersway schnell zurrechtgerückt hatte.

«Ich kam herunter, öffnete die Tür zur Bibliothek und sah...»

Sie hielt inne und schluckte. Mr. Sattersway beugte sich zu ihr hinüber und tätschelte ihr aufmunternd die Hand.

«Ja», sagte er, «ja, Sie sahen?»

«Mein Mann lag quer über dem Schreibtisch. Ich sah seinen Kopf... das Blut... oh!»

Sie schlug die Hände vors Gesicht. Der Polizeichef beugte sich vor. «Entschuldigen Sie, Lady Dwighton. Sie nahmen an, Mr. Delangua hätte ihn erschossen?»

Sie nickte. «Verzeihen Sie, Paul», bat sie, «aber Sie sagten... Sie sagten...»

«... daß ich ihn wie einen räudigen Hund niederschießen wurde», sagte Delangua heftig. «Ich erinnere mich genau. Das war an dem Tag, als ich entdeckte, daß er Sie schlecht behandelte.»

Doch Melrose ließ sich das Heft nicht mehr aus der Hand nehmen. «Dann muß ich also annehmen, Lady Dwighton, daß Sie wieder nach oben gingen, ohne äh – etwas zu sagen. Ihre Gründe müssen wir jetzt nicht diskutieren. Jedenfalls haben Sie weder den Toten angerührt, noch sind Sie in die Nähe des Schreibtisches gekommen?»

Sie schauderte. «Nein, nein, ich habe das Zimmer sofort wieder verlassen.»

«Ich verstehe. Und um welche Uhrzeit war das genau? Können Sie sich noch daran erinnern?»

«Es war gerade halb sieben, als ich in mein Schlafzimmer zurückkam.»

«Dann war Sir James um, sagen wir, fünf Minuten vor halb sieben bereits tot.» Melrose sah die anderen an. «Das mit der Uhr, das war vorgetäuscht, nicht wahr? Das haben wir sofort vermutet. Nichts ist einfacher, als die Zeiger auf jede gewünschte Zeit zu stellen. Allerdings machten sie den Fehler, die Uhr auf die Seite zu legen. Das engt den Verdacht auf den Butler oder den Kammerdiener ein, aber ich kann nicht glauben, daß der Butler der Mörder ist. Sagen Sie, Lady Dwighton, hegte Jennings irgendeinen Groll gegen Ihren Gatten?»

Laura blickte auf. «Nicht gerade einen Groll, aber... ja, James erzählte mir heute morgen, daß er ihn entlassen hat. Er hatte ihn beim Stehlen ertappt»

«Aha! Jetzt kommen wir der Sache näher. Jennings wäre ohne Empfehlung entlassen worden. Eine böse Sache für ihn.»

«Sie sagten etwas von einer Uhr», warf Laura Dwighton ein. «Da ist ja möglicherweise eine Chance, die Zeit genau festzulegen. James wird sicher seine Golfuhr in der Tasche gehabt haben. Könnte die nicht auch zerbrochen sein, als er nach vorn fiel?»

«Das wäre eine Möglichkeit», sagte der Colonel langsam. «Aber ich fürchte – Curtis.»

Der Inspektor nickte, verließ das Zimmer und war kurze Zeit später wieder zurück. In der Hand hielt er eine silberne Taschenuhr mit einem Golfballmuster, in der Art, wie sie von Golfspielern lose zusammen mit den Bällen in der Tasche getragen wird.

«Hier ist sie, Sir», sagte er, «aber ich bezweifle, ob sie uns von Nutzen sein wird. Sie sind sehr robust, diese Uhren.»

Der Colonel nahm sie und hielt sie ans Ohr. «Ich glaube, sie ist trotzdem stehengeblieben», stellte er fest. Er drückte auf einen Knopf, und der Deckel sprang auf. Das Glas innen war zersplittert. Aufgeregt sagte er: «Sieh da!» Die Zeiger standen genau auf Viertel nach sechs.

«Ein sehr guter Portwein, Colonel Melrose», sagte Mr. Quin: Es war halb zehn, und die drei Männer hatten gerade ein verspätetes Nachtmahl bei Colonel Melrose beendet Mr. Sattersway war besonders aufgeräumt.

«Ich hatte doch recht, Mr. Quin», kicherte er. «Sie können es nicht ableugnen. Sie sind heute abend aufgetaucht, um zwei verwirrte junge Leute davon abzuhalten, ihren Kopf in die Schlinge zu stecken.»

«Habe ich das?» fragte Mr. Quin. «Sicherlich nicht. Ich habe gar nichts getan.»

«Wie es sich herausstellte, war es auch nicht nötig», stimmte Mr. Sattersway zu. «Aber es hätte sein können. Die Sache stand auf Messers Schneide. Ich werde niemals den Augenblick vergessen, als Lady Dwighton erklärte: ‹Ich habe ihn getötet› Ich habe niemals etwas auf der Bühne gesehen, was auch nur halb so dramatisch war.»

«Ich bin geneigt, Ihnen darin zuzustimmen», sagte Mr. Quin.

«Und ich würde nie geglaubt haben, daß solche Dinge auch außerhalb eines Romans geschehen könnten», erklärte der Colonel, bestimmt das zwanzigste Mal an diesem Abend.

«Passiert das denn?» fragte Mr. Quin.

Der Colonel starrte ihn an. «Ja, verdammt, heute abend ist es passiert»

«Wohlgemerkt», wandte Mr. Sattersway ein, wobei er sich zurücklehnte und seinen Portwein schlürfte, «Lady Dwighton war großartig, ganz großartig, aber sie machte einen Fehler. Sie hätte nicht behaupten sollen, daß ihr Ehemann erschossen wurde. Desgleichen war Delangua ein Dummkopf, weil er nur aufgrund der Tatsache, daß ein Dolch auf dem Tisch vor uns lag, schloß, der Lord wäre erstochen worden. Es war ja nur bloßer Zufall, daß Lady Dwighton ihn mit herunterbrachte.»

«War es das?» fragte Mr. Quin.

«Wenn sie sich nun einfach dazu bekannt hätten, Sir James getötet zu haben, ohne zu sagen, wie», fuhr Mr. Sattersway fort, «wie wäre dann wohl das Untersuchungsergebnis ausgefallen?»

«Man hätte ihnen vielleicht geglaubt», sagte Mr. Quin mit einem seltsamen Lächeln.

«Das Ganze war wirklich wie in einem Roman», wiederholte der Colonel.

«Daher haben sie ihre Idee bezogen, möchte ich behaupten», sagte Mr. Quin.

«Möglicherweise», stimmte Mr. Sattersway zu. «Dinge, die man irgendwann einmal gelesen hat, kommen manchmal auf die seltsamste Weise wieder zurück.» Er blickte hinüber zu Mr.

Quin. «Natürlich sah die Uhr von Anfang an sehr verdächtig aus. Man sollte niemals vergessen, wie leicht man die Zeiger einer Uhr vorstellen oder zurückstellen kann.»

Mr. Quin nickte und wiederholte die Worte. «Vorstellen», sagte er, und nach einer Pause: «oder zurückstellen.» In seiner Stimme lag eine Herausforderung. Seine blitzenden dunklen Augen waren fest auf Mr. Sattersway gerichtet

«Die Zeiger der Schreibtischuhr waren vorgestellt», sagte Mr. Sattersway. «Das wissen wir.»

«Wissen wir das wirklich?» fragte Mr. Quin.

Sattersway starrte ihn verwundert an. «Glauben Sie etwa», fragte er langsam, «daß die Golfuhr zurückgestellt wurde? Aber das ergibt doch keinen Sinn. Das ist unmöglich.»

«Unmöglich nicht», murmelte Mr. Quin.

«Nein, aber doch absurd. Warum hätte dies geschehen sollen?»

«Um jemanden zu decken, der für diese Zeit ein Alibi hatte.»

«Herrgott noch mal», rief der Colonel, «das ist die Zeit, zu der der junge Delangua mit dem Jagdhüter gesprochen haben will.»

«Darauf wies er uns sehr ausdrücklich hin», sagte Mr. Sattersway.

Sie sahen sich an mit dem unbestimmten Gefühl, als sei ihnen der feste Boden unter den Füßen weggezogen worden. Die Fakten dieses Mordes tanzten vor ihren Augen und nahmen neue und unerwartete Züge an. Und im Mittelpunkt dieses Kaleidoskops befand sich das dunkle, lächelnde Gesicht des Mr. Quin.

«Aber in diesem...», begann Melrose, «in diesem...» Mr. Sattersway beendete den Satz für ihn. «In diesem Fall ist alles genau umgekehrt. Es war ein Komplott, aber ein Komplott gegen den Kammerdiener. Aber das kann nicht sein. Es ist unmöglich. Warum haben die beiden sich dann selbst des Verbrechens beschuldigt?»

«Bis dahin haben Sie sie verdächtigt, nicht wahr?» Mr. Quins Stimme klang sanft, fast verträumt «Genau wie in einem Roman, haben Sie gesagt, Colonel Melrose. Und daher haben die beiden ihre Idee. Genau so wurden der unschuldige Held und die Heldin handeln. Das verleitete Sie zu der Annahme, daß auch sie unschuldig sind. Mr. Sattersway hat immer wieder betont, daß die ganze Geschichte wie ein Drama auf der Bühne wirkte Sie hatten beide recht. Es war keine Wirklichkeit. Das haben Sie immer wieder betont, ohne sich bewußt zu werden, was Sie da sagten. Die beiden würden uns eine glaubwürdigere Geschichte erzählt haben, wenn wir ihnen hätten glauben sollen.»

Die zwei Männer sahen Mr. Quin hilflos an.

«Es wäre sehr schlau gewesen», sagte Mr. Sattersway langsam, «ja, es wäre teuflisch schlau gewesen. Ich habe gerade noch an etwas anderes gedacht. Der Butler sagte aus, daß er um sieben Uhr hineinging, um die Fenstertüren zu schließen – das heißt, daß er erwartete, sie stünden offen.»

«Auf diesem Weg kam Delangua hinein», sagte Mr. Quin. «Er tötete Sir James mit einem Schlag, und dann taten beide, was sie zu tun hatten...»

Ermutigend sah er Mr. Sattersway an. Dieser begann zögernd die Szene zu rekonstruieren.

«Sie zerbrachen die Schreibtischuhr und legten sie auf die Seite. Ja. Sie verstellten die Taschenuhr und zerbrachen auch sie. Dann verschwand Delangua wieder durch die Fenstertür, und Lady Dwighton riegelte hinter ihm ab. Aber eins verstehe ich nicht Warum haben sie sich überhaupt die Mühe mit der Taschenuhr gemacht? Warum haben sie nicht einfach nur die Zeiger der Schreibtischuhr verstellt?»

«Die Schreibtischuhr war zu auffällig», entgegnete Mr. Quin. «Dies hätte wohl jeder durchschaut.»

«Aber die Sache mit der Golfuhr war doch viel zu unsicher, denn hierauf stießen wir doch nur durch puren Zufall.»

«Oh, nein», sagte Mr. Quin. «Erinnern Sie sich: Der Hinweis kam von der Lady.»

Mr. Sattersway sah ihn fasziniert an.

«Und doch, wissen Sie», fuhr Mr. Quin gedankenverloren fort, «war die einzige Person, die diese Uhr nicht übersehen haben würde, der Kammerdiener. Kammerdiener wissen besser als jeder andere, was ihr Herr in der Tasche trägt Wenn er die Schreibtischuhr verstellt hätte, würde er die Taschenuhr auch verstellt haben. Diese beiden jungen Leute verstehen nichts von der menschlichen Natur. Sie sind nicht wie Mr. Sattersway.»

Mr. Sattersway schüttelte den Kopf «Ich habe mich gründlich geirrt», murmelte er zerknirscht «Ich nahm an, Sie wären gekommen, um die zwei zu retten.»

«Das habe ich auch getan», entgegnete Mr. Quin. «Nein, nicht diese zwei, sondern die beiden anderen. Vielleicht haben Sie keine Notiz von der Zofe genommen. Sie trug kein Gewand aus blauem Brokat und spielte keine Hauptrolle. Aber sie ist ein wirklich reizendes Mädchen und ich glaube, daß sie diesen Jennings liebt. Ich hoffe, daß es Ihnen gelingen wird, ihren Liebhaber vor dem Galgen zu retten.»

«Wir verfügen aber über keinerlei Beweise», sagte Colonel Melrose betont Mr. Quin lächelte. «Doch, Mr. Sattersway verfügt darüber.»

«Ich?» Mr. Sattersway war erstaunt.

«Sie haben den Beweis», fuhr Mr. Quin fort, «daß die Golfuhr nicht in der Tasche von Sir James zerbrach. Man kann eine solche Uhr nicht zerbrechen, ohne daß man sie öffnet.

Versuchen Sie's einmal! Irgend jemand nahm die Uhr heraus, öffnete sie, stellte die Zeiger zurück, zerbrach das Glas, schloß sie wieder und steckte sie in die Tasche zurück. Dabei ist ihm entgangen, daß ein Glassplitter fehlte.»

Überrascht schrie Mr. Sattersway auf. Schnell griff er in die Westentasche und zog einen gebogenen Glassplitter heraus.

Dies war sein Auftritt.

«Damit», sagte er bedeutungsvoll, «werde ich einen Mann vor dem Tod retten.»