Die letzte Sitzung

Raoul Daubreuil überquerte die Seine und summte eine kleine Melodie vor sich hin. Er war ein gutaussehender junger Franzose von ungefähr zweiunddreißig Jahren, mit frischer Gesichtsfarbe und einem kleinen schwarzen Schnurrbart Er war Ingenieur von Beruf.

Pünktlich er reichte er das ‹Cardonet› und betrat es durch eine Tür, über der die Nummer 17 stand. Die Goncierge sah aus ihrem Glaskasten heraus und brummte ihm ein «Guten Morgen» zu. Fröhlich erwiderte er den Gruß. Dann stieg er die Treppen hinauf zu der Wohnung in der dritten Etage. Als er darauf wartete, daß man ihm auf sein Läuten hin die Tür öffnete, summte er wieder seine kleine Melodie. Raoul Daubreuil fühlte sich an diesem Morgen besonders gut aufgelegt.

Die Tür wurde von einer alten Französin geöffnet. Ihr faltiges Gesicht verzog sich zu einem Lächeln, als sie den Besucher erkannte.

«Guten Morgen, Monsieur.»

«Guten Morgen, Elise», sagte Raoul.

Er betrat die Diele und zog seine Handschuhe aus.

«Madame erwartet mich doch?» fragte er über die Schulter weg.

«Aber gewiß doch, Monsieur.»

Elise schloß die Wohnungstür und wandte sich ihm zu. «Wenn Monsieur solange in den kleinen Salon gehen möchte? Madame wird in ein paar Minuten bei Ihnen sein. Sie ruht sich etwas aus.»

Raoul sah schnell auf: «Fühlt sie sich nicht wohl?»

«Wohl?»

Elise schnaufte. Sie ging vor Raoul her und öffnete ihm die Tür zum kleinen Salon. Er trat ein, und sie folgte ihm.

«Wohl!» fuhr sie fort. «Wie sollte sie sich denn nur wohl fühlen, das arme Geschöpf?

Sitzungen, Sitzungen und wieder Sitzungen! Es ist nicht recht, nicht natürlich, nicht das, was der liebe Gott von uns erwartet. Wenn Sie mich fragen, dann sage ich es ganz ehrlich, da ist der Teufel mit im Bund.»

Raoul klopfte ihr auf die Schulter.

«Aber, aber, Elise», sagte er beschwichtigend, «regen Sie sich doch nicht auf, und sehen Sie nicht allzu schnell den Teufel hinter allem, Was Sie nicht verstehen.»

Elise schüttelte zweifelnd den Kopf

«Nun ja», seufzte sie, indem sie tief Luft holte. «Monsieur kann sagen, was er will, mir gefällt das nicht. Sehen Sie Madame doch an. Jeden Tag wird sie blasser und dünner. Und diese Kopfschmerzen!» Sie warf die Arme hoch. «Ach nein, all dieses Geisterzeug! Das ist nichts Gutes. Überhaupt Geister! Alle guten Geister sind im Paradies, und die anderen sind im Fegefeuer.»

«Ihre Vorstellung vom Leben nach dem Tode ist erfrischend einfach, Elise», sagte Raoul und ließ sich in einen Sessel fallen.

Die alte Frau straffte sich.

«Ich bin eine gute Katholikin, Monsieur.»

Sie bekreuzigte sich, ging zur Tür, hielt dann inne, eine Hand auf der Klinke: «Später, wenn Sie beide verheiratet sind, Monsieur, wird das doch nicht so weitergehen, all das?» fragte sie.

Raoul lächelte sie freundlich an.

«Sie sind eine gute, gläubige Seele, Elise», sagte er, «und Sie sind Ihrer Herrin treu ergeben.

Haben Sie keine Angst. Wenn sie einmal meine Frau ist, dann hört dieses Geisterzeug auf, wie Sie das nennen. Für Madame Daubreuil wird es keine Sitzungen mehr geben.»

Elises Gesicht strahlte.

«Ist das wirklich wahr?» fragte sie.

Der Mann nickte ernst

«Ja», sagte er, mehr zu sich selbst als zu ihr. «Ja, das muß aufhören. Simone hat eine großartige Gabe, und sie hat sie großzügig angewandt, aber jetzt hat sie ihr Teil getan. Wie Sie gerade erwähnt haben, Elise, wird sie Tag für Tag blasser und dünner. Das Leben eines Mediums ist ganz besonders anstrengend und hart, vor allem durch die enorme Nervenbelastung. Nichtsdestoweniger, Elise, Ihre Herrin ist das wunderbarste Medium von Paris – nein, mehr, von Frankreich. Leute aus der ganzen Welt kommen zu ihr, weil sie wissen, daß bei ihr kein Trick und kein Betrug dabei ist.»

Elise gab einen zufriedenen Seufzer von sich.

«Betrug! Ach nein, wirklich nicht Madame könnte nicht mal ein neugeborenes Baby betrügen, selbst wenn sie es wollte.»

«Sie ist ein Engel», schwärmte der junge Mann. «Und ich - ich werde alles tun, was ein Mann tun kann, um sie glücklich zu machen. Glauben Sie das nicht?»

Elise straffte sich wieder und sprach mit einfacher Würde: «Ich habe Madame viele Jahre lang gedient, Monsieur. Mit allem Respekt kann ich wohl sagen, ich liebe sie. Wenn ich nicht daran glaubte, daß Sie sie vergöttern, wie sie es verdient - eh bien, Monsieur, dann würde ich Ihnen die Glieder einzeln ausreißen.»

Raoul lachte.

«Bravo, Elise! Sie sind eine treue Freundin. Und nun müssen Sie mir auch glauben, was ich Ihnen gesagt habe: Madame wird die Geister in Ruhe lasse.»

Er hatte erwartet, daß die alte Frau über seinen kleinen Witz lachen würde, doch zu seiner Überraschung blieb sie ernst.

«Monsieur, nehmen wir einmal an», sagte sie zögernd, «die Geister lassen sie nicht in Ruhe.»

Raoul sah sie verblüfft an.

«Wie meinen Sie das?»

«Ich sagte», wiederholte Elise, «nehmen wir einmal an, die Geister lassen Madame nicht in Ruhe.»

«Ich dachte, Sie glauben nicht an Geister, Elise.»

«Nicht mehr», sagte Elise trotzig. «Es ist töricht, daran zu glauben. Aber trotzdem ..»

«Nun?»

«Es fällt mir schwer, das zu erklären, Monsieur. Sehen Sie, ich habe immer gedacht, daß diese Medien, wie Sie sie nennen, einfach raffinierte Betrüger sind. Aber Madame ist nicht so. Madame ist gut. Madame ist ehrlich und -» Sie senkte die Stimme und sprach weiter in einem furchtsamen Ton.

«Es geschehen Dinge. Das sind keine Tricks. Es geschehen Dinge, und darum habe ich Angst. Denn eines glaube ich sicher, Monsieur: daß es nicht recht ist. Es ist gegen die Natur und gegen Gott, und irgend jemand wird dafür büßen, müssen.»

Raoul sprang aus seinem Sessel auf, ging auf sie zu und klopfte ihr auf die Schulter.

«Beruhigen Sie sich, gute Elise», sagte er lächelnd «Hören Sie mal zu, ich werde Ihnen etwas Erfreuliches sagen. Heute ist die letzte dieser Séancen; ab heute abend wird es keine mehr geben.»

«Heute findet also eine statt?» fragte die alte Frau argwöhnisch.

«Die letzte, Elise, die letzte.»

Elise schüttelte traurig den Kopf

«Madame fühlt sich nicht wohl...», begann sie.

Aber sie wurde unterbrochen, denn die Tür öffnete sich, und eine große blonde Frau trat ein.

Sie war schlank und anmutig. Ihr Gesicht glich dem einer Botticelli-Madonna. Raouls Augen strahlten, und Elise zog sich schnell und diskret zurück.

«Simone!»

Er ergriff ihre schlanken weißen Hände und küßte sie.

«Raoul, mein Liebster.»

Wieder küßte er ihre Hände, dann betrachtete er eingehend ihr Gesicht.

«Simone! Du siehst blaß aus! Elise sagte mir, daß du dich ausgeruht hast Du bist doch nicht etwa krank, meine Liebste?»

«Nein, krank nicht.. .» Sie zögerte.

Er führte sie zum Sofa und setzte sich neben sie. «Sag mir, was dir fehlt.»

Simone lächelte schwach.

«Du wirst mich für verrückt halten», flüsterte sie. «Ich? Dich für verrückt halten? Nein, niemals.»

Simone entzog ihm ihre Hand. Sie saß einen Augenblick vollkommen ruhig und sah auf den Teppich. Dann sagte sie leise und wie gehetzt: «Ich habe Angst, Raoul.»

Er wartete einen Moment, da er dachte, sie würde weitersprechen. Als sie das aber nicht tat, sagte er forsch: «Aber, aber, wovor denn?»

«Ich weiß nicht – einfach Angst.» «Aber...»

Er sah sie erstaunt an, und sie begegnete seinem Blick.

«Ja, es ist absurd, nicht wahr? Und doch ist mir so. Angst, sonst nichts. Ich weiß nicht, warum, wovor, doch die ganze Zeit bin ich wie besessen von der Vorstellung, daß mir etwas Schreckliches – ganz Schreckliches zustoßen wird...»

Sie starrte vor sich hin. Raoul legte sanft einen Arm um sie «Meine Liebste», sagte er, «komm, du darfst dich nicht so gehenlassen. Ich weiß, was es ist: Überanstrengung, Simone. Du brauchst Ruhe, das ist alles, Ruhe und Entspannung.»

Sie sah ihn dankbar an.

«Ja, Raoul, du hast recht. Das ist es, was ich brauche, Ruhe und Entspannung.»

Sie schloß die Augen und schmiegte sich ein wenig fester in seinen Arm.

«Und Liebe», flüsterte Raoul ihr ins Ohr.

Sein Arm zog sie sanft an sich. Simone, noch mit geschlossenen Augen, atmete tief und erlöst «Ja», murmelte sie, «ja. Wenn du mich in deinen Armen hältst, fühle ich mich geborgen. Dann vergesse ich mein Leben, das entsetzliche Leben eines Mediums. Du weißt viel, Raoul, aber selbst du weißt nicht alles, was das bedeutet.»

Er fühlte, wie sich ihr Körper in seiner Umarmung versteifte. Sie öffnete die Augen und blickte starr vor sich hin.

«Man sitzt in der Kabine im Dunkeln, wartet, und das Dunkel ist entsetzlich, Raoul; denn es ist das Dunkel der Leere, des Nichts. Mit großer Willensanstrengung verliert man sich selbst darin. Danach weiß man nichts, man fühlt nichts, aber hinterher kommt die langsame, schmerzvolle Rückkehr, das Erwachen aus dem Schlaf, aber man ist so müde, so furchtbar müde.»

«Ich weiß», murmelte Raoul, «ich weiß.»

«So müde», murmelte Simone wieder.

Ihr ganzer Körper schien in sich zusammenzusinken, als sie diese Worte wiederholte.

«Aber du bist großartig, Simone.»

Er nahm ihre Hände in die seinen; er versuchte, etwas von seiner Begeisterung auf sie zu übertragen.

«Du bist einmalig – das größte Medium, das die Welt je gekannt hat»

Sie schüttelte den Kopf und lächelte ein wenig darüber.

«Doch, doch», beharrte Raoul.

Er zog zwei Briefe aus seiner Tasche.

«Sieh her, einer von Professor Roche, und dieser von Dr. Genir aus Nancy. Beide bitten darum, daß du gelegentlich weiter für sie Sitzungen abhalten sollst.»

«Nein!»

Simone sprang plötzlich auf.

«Ich will nicht! Ich will nicht! Es muß aufhören – endlich muß Schluß sein. Du hast es mir versprochen, Raoul!»

Raoul sah sie fassungslos an, wie sie dastand und mit den Händen abwehrte und ihn anstarrte wie ein verängstigtes Tier, das sich angegriffen fühlt. Er stand auf und ergriff wieder ihre Hände.

«Aber ja», sagte er. «Gewiß hört das auf, das ist ja abgesprochen. Aber ich bin so stolz auf dich, Simone. Nur deswegen habe ich dir diese beiden Briefe gezeigt.»

Sie warf ihm einen raschen Seitenblick voll Mißtrauen zu.

«Es ist nicht, weil du willst, daß ich wieder für sie Séancen abhalte?»

«Nein, nein», sagte Raoul, «es sei denn, du möchtest es vielleicht selbst, nur so gelegentlich für alte Freunde...»

Sie unterbrach ihn mit erregter Stimme.

«Nein, nein! Nie wieder. Da ist Gefahr. Ich sage dir, ich kann es fühlen. Große Gefahr.»

Sie preßte ihre Hände vor die Stirn, dann ging sie zum Fenster.

«Versprich es mir. Nie wieder!» sagte sie mit ruhigerer Stimme über die Schulter.

Raoul trat zu ihr und legte seine Arme um sie. «Liebste», sagte er voll behutsamer Zärtlichkeit, «ich verspreche dir, daß du ab morgen keine Seancen mehr abhalten wirst.»

Er spürte, wie sie zusammenzuckte.

«Ab morgen?» murmelte sie. «Ach ja, ich hatte ganz vergessen. Madame Exe – heute abend.»

Raoul sah auf seine Uhr.

«Sie müßte eigentlich gleich kommen. Aber, Simone, falls du dich nicht wohl fühlst...»

Simone schien ihm kaum zuzuhören. Sie hing ihren eigenen Gedanken nach.

«Sie ist – eine merkwürdige Frau, Raoul, eine ganz merkwürdige Frau. Weißt du – mich ergreift in ihrer Gegenwart fast das Entsetzen.»

«Simone!»

In seiner Stimme lag ein Vorwurf, und sie verstand schnell.

«Ja, ja, ich weiß, du bist wie alle Franzosen, Raoul. Für dich ist eine Mutter etwas Heiliges, und es ist wenig nett von mir, so von ihr zu sprechen, da sie so großen Kummer wegen ihres Kindes hat. Aber – ich kann es nicht erklären, sie ist so groß und so schwarz, und ihre Hände - hast du einmal auf ihre Hände geachtet, Raoul? Große, dicke, starke Hände, so stark wie die eines Mannes!»

Sie schüttelte sich ein wenig und schloß die Augen. Raoul ließ sie los und sagte fast kalt: «Ich kann dich wirklich nicht verstehen, Simone. Wirklich nicht. Eine Frau sollte doch Mitgefühl für eine Mutter empfinden, der man das einzige Kind genommen hat.»

Simone machte eine ungeduldige Handbewegung.

«Ach, du verstehst mich nicht! Ausgerechnet du nicht, mein Freund! Ich kann mir aber nicht helfen. Vom ersten Moment an, wo ich sie sah, spürte ich.. .» Sie schlug die Hände vor das Gesicht «Angst! Erinnerst du dich? Es hatte lange gedauert, bis ich einwilligte, für sie die erste Sitzung abzuhalten. Ich war sicher, daß sie mir auf irgendeine Art Unglück bringt»

Raoul zuckte die Achseln.

«Tatsache ist, daß sie das genaue Gegenteil zustande brachte», sagte er trocken. «Alle Sitzungen mit ihr waren ein großartiger Erfolg. Der Geist der kleinen Amelie war sofort fähig, dich zu lenken, und die Materialisierungen waren wirklich schlagend. Professor Roche hätte bei der letzten Sitzung dabeisein sollen.»

«Materialisierungen», sagte Simone leise. «Sag mir, Raoul, du weißt doch, ich merke nichts von dem, was geschieht, wenn ich in Trance bin. Sind diese Materialisierungen wirklich so wunderbar?»

Er nickte begeistert

«Bei den ersten Sitzungen wurde die Gestalt des Kindes wie in einer Art Nebelwolke sichtbar», erklärte er, «aber in der letzten Sitzung...»

«Was war da?»

Er fuhr mit sanfter Stimme fort: «Simone, das Kind, das da stand, war ein richtiges lebendiges Kind aus Fleisch und Blut. Ich habe es sogar berührt, aber als ich merkte, daß dir diese Berührung große Schmerzen bereitete, habe ich Madame Exe nicht erlaubt, es auch anzufassen. Ich fürchtete, sie könnte die Selbstbeherrschung verlieren, und daß dir etwas zustoßen könnte.»

Simone wandte sich ab.

«Ich war so entsetzlich erschöpft, als ich aufwachte», murmelte sie. «Raoul, bist du sicher bist du ganz sicher, daß das alles wirklich ist? Du weißt, was die gute alte Elise darüber denkt: daß da der Teufel mit im Bunde ist»

Sie lachte unsicher.

«Du weißt aber auch, was ich darüber denke», sagte Raoul ernst «Jeder Umgang mit Unbekannten ist gefährlich, doch der Zweck ist gut und edel, denn der Zweck dient der Wissenschaft. In der ganzen Welt hat es Märtyrer für die Wissenschaft gegeben, Pioniere, die selber den Preis bezahlten, damit andere sicher ihren Fußspuren folgen konnten, und es hat dich ungeheure Nervenbelastung gekostet. Jetzt hast du dein Teil beigetragen. Von heute ab wirst du frei und glücklich sein.»

Sie lächelte ihn liebevoll an. Sie hatte ihre Ruhe wiedergewonnen. Dann sah sie auf die Uhr.

«Madame Exe hat sich verspätet», murmelte sie. «Vielleicht kommt sie gar nicht»

«Doch, sie kommt bestimmt», sagte Raoul. «Deine Uhr geht ein bißchen vor, Simone.»

Simone ging ruhelos im Zimmer umher.

«Ich möchte nur wissen, wer diese Madame Exe ist», bemerkte sie. «Woher sie kommt. Es ist doch merkwürdig, daß wir nichts über sie wissen.»

Raoul zuckte die Achseln.

«Die meisten Leute bleiben, wenn möglich, inkognito, wenn sie zu einem Medium gehen», sagte er. «Das gehört zu den elementaren Vorsichtsmaßregeln.»

«Das wird es wohl sein», stimmte Simone zu. Eine kleine chinesische Vase, die sie gerade in der Hand hielt, entglitt ihren Fingern und zersprang vor dem Kamin in Scherben. Sie drehte sich rasch zu Raoul um.

«Siehst du», murmelte sie, «ich bin entsetzlich nervös. Raoul, würdest du mich für sehr feige halten, wenn ich Madame Exe absage?»

Als sie sein schmerzliches Erstaunen bemerkte, wurde sie rot

«Du hast es aber doch versprochen, Simone...», begann er sanft Sie lehnte sich mit dem Rücken gegen die Wand.

«Ich will nicht, Raoul. Ich will nicht!»

Sein vorwurfsvoller Blick ließ sie zusammenfahren. «Ich denke dabei nicht an das Geld, Simone, obwohl du zugeben mußt, daß die Summe, die sie uns für diese Sitzung angeboten hat, phantastisch ist»

Sie entgegnete heftig: «Es gibt Dinge, die wichtiger sind als Geld.»

«Da hast du sicher recht», pflichtete er bei. «Das sage ich ja die ganze Zeit Überleg doch einmal – diese Frau ist Mutter, eine Mutter, die ihr einziges Kind verloren hat Wenn du nicht richtig krank bist, wenn es nur eine Laune deinerseits ist – dann kannst du wohl einer reichen Frau eine Kaprice abschlagen, aber kannst du es einer Mutter verwehren, wenn sie ein letztes Mal ihr Kind sehen will?»

Das Medium streckte verzweifelt die Arme aus.

«Oh, du quälst mich», flüsterte sie. «Und doch hast du recht. Ich will also tun, was du verlangst, aber jetzt weiß ich, wovor ich solche Angst habe – es ist das Wort Mutter.»

«Simone!»

«Es gibt ganz bestimmte primitive, elementare Kräfte, Raoul. Die meisten davon sind durch den Einfluß der Zivilisation überlagert, aber die Muttergefühle sind noch ebenso stark wie eh und je. Tiere – Menschen, darin sind sie gleich. Die Liebe einer Mutter zu ihrem Kind ist so stark wie nichts anderes in der Welt Sie kennt keine Grenzen, kein Mitleid, sie wagt alles und tritt rücksichtslos alles nieder, was ihr im Wege steht.»

Sie hielt inne, rang nach Luft, wandte sich dann ihm zu und sagte mit einem flüchtigen, entwaffnenden Lächeln: «Ich bin heute albern, Raoul, ich weiß.»

Er umarmte sie.

«Leg dich noch ein wenig hin», drängte er. «Ruh dich aus, bis sie kommt.»

«Ja, du hast recht» Sie lächelte ihm zu und ging aus dem Zimmer.

Raoul blieb eine Zeitlang in Gedanken verloren stehen. Dann ging er zur Tür, öffnete sie und schritt über den kleinen Flur. Er betrat den Raum auf der anderen Seite des Flurs, ein Wohnzimmer, das dem, das er gerade verlassen hatte, sehr ähnlich sah. Doch hier gab es einen Alkoven, in dem ein großer Sessel stand. Ein schwerer schwarzer Samtvorhang war so angebracht, daß er vor den Alkoven gezogen werden konnte. Elise war damit beschäftigt, den Raum herzurichten. Vor den Alkoven hatte sie zwei Stühle geschoben und einen kleinen runden Tisch. Auf dem Tisch lagen ein Tamburin, ein Horn, Papier und Bleistifte.

«Das letzte Mal», murmelte Elise mit grimmiger Zufriedenheit «Ach, Monsieur, ich wünschte, es wäre schon vergessen und vorbei.»

Die Türglocke schrillte laut.

«Da ist sie, dieser Gendarm», fuhr die alte Zofe fort «Warum geht sich nicht in die Kirche und betet, wie es sich gehört, für die Seele ihrer Kleinen?»

«Gehen Sie und öffnen Sie!» befahl Raoul.

Sie warf ihm einen unfreundlichen Blick zu, aber sie gehorchte. Nach wenigen Augenblicken führte sie die Besucherin herein.

«Ich werde Bescheid sagen, daß Sie hier sind, Madame.»

Raoul ging auf Madame Exe zu, um sie zu begrüßen. Simones Worte kamen ihm wieder ins Gedächtnis: «So groß und so schwarz.»

Sie war wirklich eine große, mächtige Frau, und das tiefe Schwarz ihrer Trauerkleidung wirkte bei ihr fast übertrieben. Ihre Stimme klang sehr tief, als sie sprach.

«Ich fürchte, ich habe mich etwas verspätet, Monsieur.»

«Die paar Minuten..., das macht doch nichts», entgegnete Raoul lächelnd. «Madame Simone hat sich noch etwas hingelegt. Ich muß leider sagen, daß sie sich alles andere als wohl fühlt Sie ist nervös und völlig erschöpft»

Ihre Hand, die die seine gerade loslassen wollte, hielt ihn plötzlich fest wie ein Schraubstock.

«Aber sie wird doch die Séance abhalten?» fragte sie scharf.

«Natürlich, Madame.»

Madame Exe atmete erleichtert auf und sank auf einen Stuhl, wobei sie den schwarzen wallenden Schleier nach hinten warf.

«Ach, Monsieur», murmelte sie, «Sie können sich gar nicht vorstellen, Sie können das Wunder und die Freude nicht mitempfinden, die ich während dieser Séancen erlebe! Meine Kleine! Meine kleine Amelie! Sie zu hören, sie zu sehen, vielleicht sogar – ja vielleicht sogar – den Arm auszustrecken und sie zu berühren.»

Raoul sprach schnell und bestimmt: «Madame Exe..., wie soll ich Ihnen das erklären? Auf gar keinen Fall dürfen Sie so etwas tun. Sie müssen sich strikt an meine Anweisungen halten, andernfalls besteht die allergrößte Gefahr.»

«Gefahr für mich?»

«Nein, Madame, nicht für Sie, aber für das Medium.»

Madame Exe schien wenig beeindruckt

«Sehr interessant, Monsieur. Sagen Sie, könnte nicht einmal die Zeit kommen, wo die Materialisierung so weit fortschreitet, daß sie fähig ist, sich von ihrem Ursprung, dem Medium, zu lösen?»

«Ist das Ihre phantastische Hoffnung, Madame?» Sie fragte beharrlich weiter:

«Aber ist das denn so unmöglich?»

«Ganz unmöglich, heute noch!»

«Aber vielleicht in der Zukunft?»

Er wurde der Antwort enthoben, denn in diesem Moment trat Simone ein. Sie sah erschöpft und bleich aus, aber sie hatte ihre Selbstbeherrschung offensichtlich wiedergewonnen. Sie ging auf Madame Exe zu und reichte ihr die Hand. Raoul bemerkte das zittern, das sie dabei überlief.

«Es tut mir leid, daß Sie sich nicht wohl fühlen, Madame», sagte Madame Exe.

«Ach, es ist nichts», erwiderte Simone fast barsch «Wollen wir anfangen?»

Sie ging zu dem Alkoven und setzte sich in den Sessel. Plötzlich verspürte Raoul, wie eine Welle der Angst ihn überflutete. «Du bist nicht auf der Höhe deiner Kräfte», sagte er. «Wir sollten diese Séance besser auf später verschieben. Madame Exe wird sicher dafür Verständnis haben.»

«Monsieur!» Madame Exe erhob sich empört «Madame Simone versprach mir eine letzte Sitzung.»

«So ist es», sagte Simone ruhig. «Und ich bin bereit, mein Versprechen zu halten.»

«Das verlange ich auch», sagte die andere Frau.

«Ich breche mein Wort nicht.» sagte Simone kalt «Hab keine Angst, Raoul.» fügte sie freundlich hinzu.» «Es ist ja das letzte Mal das allerletzte Mal, Gott sei Dank.»

Auf ein Zeichen von ihr zog Raoul den schweren schwarzen Vorhang vor den Alkoven. Er zog auch die Vorhänge vor das Fenster, so daß der Raum im Halbdunkel lag. Er wies auf einen der Stühle, auf dem Madame Exe Platz nehmen sollte, und wollte selbst gerade auf dem anderen Platz nehmen. Aber Madame Exe zögerte.

«Bitte, entschuldigen Sie, Monsieur, aber – Sie müssen verstehen, ich glaube an Ihre absolute Ehrlichkeit und auch an die von Madame Simone. Trotz allem, damit meine Zeugenaussage mehr Bedeutung hat, habe ich mir erlaubt, dies hier mitzubringen.»

Aus ihrer Handtasche zog sie eine lange dünne Schnur.

«Madame!» rief Raoul. «Das ist eine Beleidigung!» «Eine Vorsichtsmaßname.»

«Ich wiederhole: eine Beleidigung.»

«Ich verstehe Ihren Einwand nicht, Monsieur», sagte Madame Exe kalt «Wenn das alles kein Betrug ist, haben Sie doch nichts zu befürchten.»

Raoul lachte verächtlich.

«Ich kann Ihnen versichern, daß Sie nichts zu befürchten haben, Madame. Binden Sie mir Hände und Füße, wenn Sie wollen.»

Seine Worte hatten nicht die Wirkung, die er erhofft hatte, denn Madame Exe murmelte ungerührt: «Danke, Monsieur», und ging mit der Schnur in der Hand auf ihn zu.

Plötzlich hörte man von Simone hinter dem Vorhang einen Schrei.

«Nein, nein, Raoul, das darfst du nicht zulassen!»

Madame Exe lachte höhnisch.

«Sie haben wohl Angst, Madame?» bemerkte sie sarkastisch.

«Ja, ich habe Angst»

«Überlege dir, was du sagst, Simone», sagte Raoul. «Madame Exe denkt offensichtlich, daß wir Scharlatane sind.»

«Ich muß sichergehen», sagte Madame Exe.

Unter diesem Vorwand setzte sie ihre Absicht in die Tat um, indem sie Raoul an seinem Stuhl festband.

«Ihre Knoten sind zu bewundern, Madame», bemerkte er ironisch, als sie fertig war. «Sind Sie jetzt zufrieden?»

Madame Exe erwiderte nichts darauf. Sie ging im Zimmer umher und untersuchte eingehend die Holztäfelung der Wand. Dann schloß sie die Tür zum Flur ab und kehrte, nachdem sie den Schlüssel eingesteckt hatte, zu ihrem Stuhl zurück.

«Jetzt», sagte sie mit einer Stimme, die nicht zu beschreiben war, «bin ich fertig.»

Die Minuten vergingen. Hinter dem Vorhang hörte man Simones Atemzüge schwerer und angestrengter werden. Dann hörte man nichts mehr als ein Stöhnen, mehrere Male. Dann herrschte wieder Schweigen für eine kleine Weile, die vom plötzlichen Schlagen des Tamburins unterbrochen wurde. Das Horn wurde vom Tisch gehoben und auf den Fußboden geschleudert Der Vorhang vor dem Alkoven schien ein wenig zurückgezogen worden zu sein. Man sah nur das Gesicht des Mediums durch den Spalt hindurch. Der Kopf war vornüber auf die Brust gefallen. Plötzlich hielt Madame Exe den Atem an. Ein Nebelgebilde erschien vor dem Medium, verdichtete sich und begann langsam Form anzunehmen, die Gestalt eines kleinen Kindes.

«Amelie! Meine kleine Amelie!»

Das heisere Flüstern kam von Madame Exe. Die verschwommene Gestalt verdichtete sich weiter. Raoul starrte fast ungläubig darauf. Niemals vorher hatte er einer so erfolgreichen Materialisierung beigewohnt Jetzt, jetzt war es ein richtiges Kind, ein Kind aus Fleisch und Blut, das da stand.

«Mama!»

Die kindliche Stimme hatte das geflüstert.

«Mein Kind!» schrie Madame Exe. «Mein Kind!»

Sie erhob sich von ihrem Stuhl.

«Seien Sie vorsichtig, Madame», warnte Raoul.

Zögernd trat die Erscheinung durch den Vorhang hindurch. Es war ein Kind. Es stand da und streckte die Arme aus.

«Mama!»

«Madame!» schrie Raoul entsetzt. «Das Medium...»

«Ich muß es anfassen», keuchte Madame Exe.

Sie machte einen Schritt nach vorn.

«Um Gottes willen, Madame, beherrschen Sie sich!» schrie Raoul. Jetzt begann ihn Panik zu ergreifen. «Setzen Sie sich sofort wieder hin.»

«Mein Kleines, ich muß sie berühren.»

«Madame, ich befehle Ihnen, setzen Sie sich!»

Er riß und zerrte an seinen Fessel. Aber Madame Exe hatte gute Arbeit geleistet, er war hilflos. Die schreckliche Vorahnung von etwas Grauenhaftem überkam ihn.

«Im Namen Gottes, Madame, setzen Sie sich!» brüllte er. «Denken Sie an das Medium.»

Madame Exe hatte keine Ohren für ihn. Sie war wie verwandelt Ekstase und Entzücken spiegelten sich auf ihrem Gesicht. Ihre ausgestreckte Hand berührte das kleine Gesicht, das im Spalt des Vorhangs stand. Ein schreckliches Stöhnen kam von dem Medium.

«Mein Gott!» schrie Raoul. «Mein Gott! Das ist ja grauenhaft. Das Medium...»

Madame Exe wandte sich ihm mit hartem Lachen zu.

«Was geht mich Ihr Medium an?» schrie sie. «Ich will mein Kind.»

«Sie sind wahnsinnig!»

«Es ist mein Kind. Hören Sie. Mein eigenes Fleisch und Blut! Mein Kleines, komm zurück zu mir, komm zu deiner Mama.»

Raoul öffnete den Mund, aber er brachte keinen Laut hervor. Die Lippen des Kindes öffneten sich, und wieder hörte man das Wort: «Mama!»

«Dann komm, mein Kleines, komm!» schrie Madame Exe.

Und mit einer heftigen Bewegung riß sie das Kind in ihre Arme. Hinter dem Vorhang hörte man den langgezogenen Schrei grenzenloser Angst.

«Simone!» schrie Raoul. «Simone!»

Er bemerkte nur am Rande, daß Madame Exe an ihm vorbeihastete, daß sie die Tür aufschloß. Dann hörte er Schritte, die sich immer weiter entfernten und die Treppen hinunterliefen.

Vom Vorhang her drang ein schrecklicher langgezogener Schrei, ein Schrei, wie Raoul ihn vorher niemals gehört hatte. Er erstarb in einem entsetzlichen Röcheln.. Dann hörte man den dumpfen Aufschlag eines Körpers.

Raoul arbeitete wie ein Wahnsinniger, um sich von seinen Fesseln zu befreien. In seiner Todesangst vollbrachte er das Unmögliche: er zerriß die Schnur. Als er auf die Füße sprang, stürzte Elise herein.

«Madame!»

«Simone!» schrie Raoul.

Zusammen stürzten sie zum Vorhang und rissen ihn zur Seite.

«Mein Gott», keuchte er. «Rot alles rot...»

Elises Stimme hinter ihm klang böse und zitternd.«Madame ist tot Es ist zu Ende. Aber sagen Sie doch, Monsieur, was ist geschehen? Warum ist Madame so zusammengeschrumpft - warum ist sie nur halb so groß? Was ist hier vorgefallen?»

«Ich weiß es nicht», stöhnte Raoul.

Seine Stimme wurde zu einem Kreischen.

«Ich weiß es nicht. Ich weiß es nicht. Aber ich glaube – ich werde wahnsinnig – Simone! Simone!»