30

Moskau

Montag, 18. Oktober

2.00 Uhr

 

Hayes studierte die Mienen der fünf Menschen, die sich in dem holzgetäfelten Raum versammelt hatten. Es war derselbe Raum, den sie seit sieben Wochen benutzten. Stalin, Lenin, Breschnew und Chruschtschow waren anwesend, ebenso wie der Priester, den Patriarch Adrian als seinen persönlichen Gesandten geschickt hatte. Dieser war ein kleiner Mann mit einem krausen, in seiner Struktur an Stahlwolle erinnernden Bart und wässrig entzündeten, grünen Augen. Der Gesandte war weitblickend genug gewesen, sich in Anzug und Krawatte zu kleiden, sodass ihm die Verbindung zur Kirche nicht anzusehen war. Er hatte wie von selbst den Spitznamen Rasputin erhalten, der dem Priester allerdings gar nicht gefiel.

Alle Männer waren aus tiefem Schlaf gerissen und gebeten worden, innerhalb einer Stunde zu erscheinen. Zu viel stand auf dem Spiel, um bis zum nächsten Morgen zu warten. Hayes war froh, dass man Essen und Trinken hatte anrichten lassen. Es gab Platten mit Fischfilet und Salami, rote und schwarze Kaviarhäufchen auf hart gekochten Eiern, Kognak, Wodka und Kaffee.

In den letzten Minuten hatte Hayes erklärt, was am Vortag in Starodug vorgefallen war. Zwei tote Maks, aber keine Informationen. Beide hatten sich geweigert, etwas preiszugeben. Josif Maks hatte ihnen nur den Weg zu Wassili verraten, der sie seinerseits zum Grab geführt hatte. Ansonsten hatte er nichts gesagt, bis auf seinen Ruf an den Raben.

»Es war das Grab von Kolja Maks. Wassili Maks war sein Sohn«, erklärte Stalin. »Kolja gehörte zu Nikolaus’ Zeit der Palastwache des Zaren an. Während der Revolution wechselte er die Seiten und war zur Zeit der Exekution der Zarenfamilie in Jekaterinburg stationiert. Auf der Liste des Exekutionskommandos taucht er nicht auf, aber angesichts der Lückenhaftigkeit der damaligen Aufzeichnungen hat das nichts zu bedeuten. Er wurde niemals zu einer Aussage aufgefordert. Im Grab trug er eine Uniform, die vermutlich aus seiner Zeit im Dienst des Zaren stammte.«

Breschnew beugte sich vor und richtete eine Frage an Hayes: »Ihr Mr. Lord suchte offensichtlich etwas in dem Grab. Und er hat es gefunden.«

Als die drei Männer mit der Nachricht von ihrem Misserfolg nach Starodug zurückgekehrt waren, waren Hayes und Stalin noch in der Nacht selbst zum Grab gefahren. Dort war jedoch nichts zu finden gewesen, und man hatte die beiden Maks bei ihrem Vorfahren in der Erde zurückgelassen.

»Wassili Maks hat uns nur zum Grab geführt, um Lord die Botschaft zu übermitteln«, sagte Breschnew. »Einzig aus dem Grund war er zu diesem Gang bereit.«

»Wie kommen Sie denn darauf?«, fragte Lenin.

»Er war ein Mensch, der seine Pflicht offensichtlich ernst nahm. Wenn er das Grab preisgegeben hat, dann mit Sicherheit nur, weil er Lord noch etwas Wichtiges mitzuteilen hatte. Er wusste, dass sein Tod bevorstand, doch er wollte seine Aufgabe zuvor noch zu Ende bringen.« Allmählich ging ihm die Geduld mit seinen russischen Verbündeten aus. »Würden Sie mir jetzt bitte erklären, was hinter dieser ganzen Sache steht? Sie beauftragen mich, hier in Russland einen Mord nach dem anderen zu veranlassen, dabei weiß ich noch nicht einmal, warum. Hinter was sind Lord und die Frau her? Gibt es tatsächlich Romanows, die Jekaterinburg überlebten?«

»Ich schließe mich an«, erklärte Rasputin. »Ich möchte wissen, was hier los ist. Man sagte mir, die Frage des Zarennachfolgers sei unter Kontrolle. Es gäbe keine Probleme. Doch so wirkt die Sache derzeit ganz und gar nicht.«

Breschnew stellte sein Wodkaglas krachend auf einem kleinen Beistelltisch ab. »Seit Jahrzehnten gibt es Gerüchte, einige Angehörige der Zarenfamilie seien der Hinrichtung entgangen. Überall auf der Welt sind immer wieder Prinzessinnen und Zarewitschs aufgetaucht. 1920, nach dem Ende des Bürgerkriegs, wuchs in Lenin die Überzeugung, dass Mitglieder der Zarenfamilie überlebt hatten. Er brachte in Erfahrung, dass Felix Jussupow vermutlich mindestens einen Romanow hatte untertauchen lassen. Doch er fand keine hundertprozentigen Beweise und erlag seiner Krankheit, bevor er der Sache auf den Grund gehen konnte.«

Hayes war noch immer skeptisch. »Jussupow hat Rasputin ermordet. Dafür hassten ihn Nikolaus und Alexandra. Warum um alles in der Welt sollte er sich so für die Zarenfamilie einsetzen?«

Chruschtschow antwortete: »Jussupow war ein recht ungewöhnlicher Charakter. Er litt unter plötzlichen Eingebungen. Den Starez tötete er aus einem Impuls heraus, denn er war überzeugt, die Zarenfamilie dadurch den Klauen eines Teufels zu entreißen. Interessanterweise bestand seine Bestrafung nur in der Verbannung auf eines seiner Güter in Zentralrussland. Dies rettete ihm das Leben, denn während der Februar- und der Oktoberrevolution, die die meisten Romanows und viele andere Adlige das Leben kostete, war er außer Gefahr.«

Hayes interessierte sich für die russische Geschichte, und während eines langen Fluges war ihm das Schicksal der Zarenfamilie einmal eine spannende Lektüre gewesen. Er rief sich in Erinnerung, dass Großfürst Michael, Nikolaus’ jüngerer Bruder, sechs Tage vor Jekaterinburg erschossen worden war. Alexandras Schwester, Nikolaus’ Vetter Serge und vier weitere Großfürsten waren alle am Tag danach ermordet und in einen Bergwerksschacht im Ural geworfen worden. In den darauf folgenden Monaten waren noch weitere Mitglieder des Königshauses gewaltsam gestorben; um 1919 war von der Romanow-Familie fast niemand mehr am Leben. Nur ganz wenige ihrer Mitglieder konnten in den Westen entkommen.

Chruschtschow fuhr fort: »Rasputin sagte voraus, dass im Falle seiner Ermordung durch Bojaren Blut an den Händen der Missetäter kleben werde. Falls er aber durch einen kaiserlichen Verwandten umkäme, werde kein Mitglied der Zarenfamilie die nächsten zwei Jahre überleben, und sie würden von der Hand des russischen Volkes sterben. Und im August 1918 wurde die Zarenfamilie ausgelöscht.«

Das beeindruckte Hayes nicht weiter: »Wir haben keine Beweise, dass es diese Prophezeiung wirklich gab.«

Breschnew sah ihm direkt in die Augen: »Inzwischen schon. Der eigenhändig von Alexandra geschriebene Brief, den Ihr Mr. Lord fand, bestätigt, dass Rasputin der Zarin diese Prophezeiung zwei Monate vor seinem Tod machte, im Oktober 1916. Der große Gründer dieses Staates« – Breschnews Sarkasmus war unüberhörbar –, »unser geliebter Lenin, hielt die Angelegenheit offensichtlich für sehr ernst. Und Stalin war so beunruhigt, dass er alle diesbezüglichen Unterlagen wegschließen und jeden ermorden ließ, der irgendetwas wusste.«

Erst in diesem Moment wurde Hayes die enorme Bedeutung von Lords Fund klar.

Lenin sagte: »Die provisorische Regierung bot Jussupow im März 1917 nach der Abdankung Nikolaus’ und seines Bruders Michael den Thron an. Die Romanows waren am Ende. Daher dachte die Regierung, die Jussupows könnten nun die Zarenwürde übernehmen. Aufgrund des Mordes an Rasputin wurde ihm allgemein großer Respekt gezollt. Das Volk hielt ihn für seinen Retter. Doch er lehnte das Angebot ab. Nachdem die Sowjets die Macht vollständig in Händen hielten, floh Jussupow aus Russland.«

»Jussupow war in jedem Fall ein Patriot«, merkte Chruschtschow an. »Hitler bot ihm an, Russland nach der Eroberung durch Deutschland als Gouverneur zu regieren, doch er lehnte ab. Die Kommunisten boten ihm mehrmals eine Stelle als Museumskurator an, was er ebenfalls immer ablehnte. Er liebte Mütterchen Russland und verstand offensichtlich erst viel zu spät, dass die Ermordung Rasputins ein Fehler war. Unmöglich konnte die Auslöschung der Zarenfamilie in seiner Absicht gelegen haben. Vermutlich hatte er enorme Schuldgefühle und schmiedete deswegen diesen Plan.«

»Woher wollen Sie das wissen?«, fragte Hayes.

Stalin lächelte. »Seit dem Niedergang des Kommunismus haben die Archive ihre Geheimnisse preisgegeben. Es ist wie mit einer Babuschka-Puppe – unter jeder Schicht kommt eine neue hervor. Niemand von uns wollte, dass dies geschieht, aber wir glaubten, dass die Zeit der Enthüllung jetzt gekommen sei.«

»Sie vermuteten schon die ganze Zeit, dass ein Romanow überlebt hat?«

»Wir vermuteten gar nichts«, erwiderte Breschnew, »fürchteten aber, dass etwas, was vor Jahrzehnten eingefädelt wurde, vielleicht jetzt, mit dem Neubeginn der Zarenherrschaft, ans Licht kommen könnte. Anscheinend hatten wir Recht. Dass Ihr Mr. Lord nun in die Sache verwickelt ist, war nicht beabsichtigt, doch vielleicht ist diese Entwicklung von Vorteil.«

»In unseren Archiven gibt es massenhaft Berichte von Leuten, die an den Hinrichtungen von Jekaterinburg beteiligt waren«, fügte Stalin hinzu. »Aber Jussupow ging raffiniert vor. Er weihte nur wenige unverzichtbare Mitwisser in seinen Plan ein. Lenins und Stalins Geheimpolizei brachten nur unwichtige Kleinigkeiten in Erfahrung. Eine Bestätigung hat es nie gegeben, bis heute.«

Hayes trank seinen Kaffee und fragte dann: »Soweit ich weiß, führte Jussupow nach seiner Flucht aus Russland ein sehr bescheidenes Leben.«

»Er war dem Beispiel des Zaren gefolgt und hatte den größten Teil seiner Auslandsinvestitionen beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs nach Russland zurückgeführt«, erklärte Breschnew. »Was bedeutete, dass sein ganzes Vermögen hier war. Die Bolschewiken enteigneten alles, was er in Russland besaß, darunter auch die von den Jussupows gesammelten Kunstgegenstände und den Familienschmuck. Aber Väterchen Felix war gewiefter, als es den Anschein hatte. Er besaß noch Gelder in Europa, insbesondere in der Schweiz und in Frankreich. Trotz des bescheidenen Lebensstils, den er zur Schau stellte, verfügte er immer über Vermögen. Einige Dokumente weisen darauf hin, dass er in den Zwanzigerjahren des letzten Jahrhunderts mit amerikanischen Eisenbahnaktien handelte, diese aber noch vor der Depression in Gold tauschte. Die Sowjets suchten nach einem Tresor, in dem er sein Gold versteckt hatte, fanden aber nichts.«

Nun ergriff Lenin das Wort: »Vielleicht hat er auch Auslandsgelder des Zaren verwaltet, die den Bolschewiken entgangen sind. Es gibt die Vermutung, dass Nikolaus II. heimlich Millionen von Rubel in ausländische Banken schaffte, und bis zu seinem Tod in den späten Sechzigerjahren unternahm Jussupow immer wieder Reisen in die Vereinigten Staaten.«

Hayes war erschöpft, doch in seinen Adern kreiste Adrenalin. »Und was machen wir jetzt?«

»Wir müssen Miles Lord und die Frau finden«, antwortete Chruschtschow. »Ich habe eine Warnung an alle Grenzposten ausgegeben, doch vermutlich ist es schon zu spät. An der ukrainischen Grenze, die für die beiden am nächsten lag, unterhalten wir keine Zollposten mehr. Mr. Hayes, Sie haben die Möglichkeit, jederzeit an jeden beliebigen Ort zu reisen. Sie müssen sich bereit halten. Höchstwahrscheinlich wird Lord Sie kontaktieren. Er hat keinen Grund, Ihnen zu misstrauen. Wenn er sich bei Ihnen meldet, müssen Sie sofort handeln. Ich gehe davon aus, dass Sie den Ernst der Lage verstehen.«

»O ja«, antwortete Hayes. »Ich habe durchaus verstanden.«

31

Atlanta, Georgia

7.15 Uhr

 

Akilina sah zu, wie Lord die Tür zu seiner Wohnung aufschloss, und folgte ihm nach drinnen.

Samstag hatten sie im Flughafen von Kiew übernachtet und am Sonntagmorgen einen Linienflug der Aeroflot nach Frankfurt erwischt. Für den Nachmittag und frühen Abend waren schon alle Flüge ausgebucht gewesen, und so hatten sie im Flughafen bis spät in die Nacht auf einen Direktflug der Delta Airlines nach Atlanta gewartet, wo noch zwei Plätze in der Economy-Class frei waren, die Lord mit dem von Semjon Paschkow erhaltenen Geld bezahlte.

Obwohl sie es keineswegs für sicher hielten, hatten sie den Goldbarren am Flughafen Kiew in einem Schließfach zurückgelassen, auch Akilina hatte eingesehen, dass es unmöglich war, den Barren durch den Zoll zu bringen.

Beide hatten im Flugzeug geschlafen, doch die Zeitverschiebung machte ihnen zu schaffen und ihre innere Uhr ging immer noch nach. Im Flughafen von Atlanta reservierte Lord zwei Plätze für einen Nachmittagsflug nach San Francisco. Da sie dringend eine Dusche und frische Kleidung brauchten, fuhren sie mit dem Taxi die zwanzig Minuten bis zu Lords Wohnung.

Akilina war beeindruckt, denn Lords Wohnung war noch schöner als die Semjon Paschkows, aber wie sie dann überlegte, für einen Amerikaner vermutlich Standard. Die Teppiche waren weich und sauber, die Möblierung kam ihr elegant und teuer vor. Es war kühl in den Räumen, bis Lord einen Thermostat verstellte und die Zentralheizung ansprang. Was für ein Luxus! Es war Welten entfernt von den Heizlüftern in ihrer Moskauer Wohnung, die entweder auf voller Stufe liefen oder überhaupt nicht. Ihr fiel auf, wie gepflegt die ganze Wohnung war, doch es überraschte sie nicht. Von Anfang an war Miles Lord ihr wie ein sehr ordentlicher Mensch vorgekommen.

»Im Gästebad sind Handtücher. Nehmen Sie sich einfach welche«, forderte Lord sie auf Russisch auf. »Und in dem Zimmer da drüben können Sie sich umziehen.«

Akilinas Englisch war nicht schlecht, ihr Wortschatz jedoch begrenzt. Am Flughafen hatte sie Verständigungsprobleme gehabt, insbesondere als der Zollbeamte ihr Fragen stellte. Zum Glück hatte ihr Artistinnenvisum ihr eine problemlose Einreise ermöglicht.

»Mein Schlafzimmer hat ein eigenes Bad. Bis gleich also.«

Sie nahm sich Zeit und ließ das warme Wasser besänftigend über ihre müden Muskeln streicheln. Nach ihrem Zeitempfinden war es noch immer mitten in der Nacht. In ihrem Schlafzimmer fand sie einen Bademantel auf dem Bett und hüllte sich darin ein. Lord hatte erklärt, dass sie eine Stunde hatten, bis sie wieder zum Flughafen mussten und einen Flug Richtung Westen nahmen. Sie rubbelte sich das Haar trocken und ließ die wirren Locken lose über ihre Schultern herabfallen. Da im hinteren Schlafzimmer noch Wasser lief, ging sie davon aus, dass Lord noch unter der Dusche stand.

Sie schlenderte ins Arbeitszimmer und betrachtete die Fotos, die an der Wand hingen und auf zwei Holztischen standen. Miles Lord stammte offensichtlich aus einer großen Familie. Es gab mehrere Aufnahmen, die ihn in verschiedenen Lebensabschnitten mit immer denselben jüngeren Männern und Frauen zeigten. Er war augenscheinlich der Älteste; auf einem Foto der ganzen Familie stand er als junger Erwachsener zwischen vier Brüdern und Schwestern, die ihm in geringem Altersabstand folgten.

Einige Schnappschüsse zeigten ihn in einer Sportausrüstung; das Gesicht war von einem Helm mit Gesichtsschutz verdeckt, und seine breit gepolsterten Schultern steckten in einem nummerierten Trikot. Etwas abseits stand ein Bild seines Vaters. Es zeigte einen Mann um die vierzig mit ernsten, tiefbraunen Augen und kurz geschnittenem, schwarzem Haar, das zu seinem dunklen Teint passte. Seine Stirn glänzte von Schweiß, und er stand mit geöffnetem Mund und glänzenden, elfenbeinfarbenen Zähnen hinter einem Rednerpult, den Zeigefinger zum Himmel erhoben. Er trug einen Anzug, der maßgeschneidert wirkte, und an seinem ausgestreckten Arm glitzerten goldene Manschettenknöpfe. In der rechten unteren Ecke stand etwas in schwarzem Filzstift geschrieben. Sie nahm den Rahmen in die Hand und versuchte, es zu entziffern, doch hatte sie einige Mühe mit dem lateinischen Alphabet.

»Dort steht: Sohn, schließe dich mir an«, sagte Lord auf Russisch.

Sie drehte sich um.

Lord stand in der offenen Zimmertür, barfuß und in einen kastanienbraunen Morgenmantel gehüllt. In seinem Halsausschnitt sah sie die muskulöse, dunkle Brust, die von gekräuselten, graubraunen Haaren bedeckt war.

»Mit dem Bild versuchte er, mich dazu zu bringen, Geistlicher in seiner Kirche zu werden.«

»Und warum haben Sie das nicht gemacht?«

Er trat näher, und sie roch den Duft von Seife und Shampoo. Ihr fiel auf, dass er sich rasiert hatte, die zwei Tage alten Stoppeln um Kinn und Wangen waren verschwunden. Weder das Alter noch irgendwelche Schicksalsschläge hatten Spuren auf seiner schokoladenbraunen Haut hinterlassen, während in ihrem Heimatland die Menschen häufig verbraucht aussahen.

»Mein Vater hat meine Mutter betrogen und uns ohne Geld sitzen lassen. Ich hatte keinerlei Bedürfnis, in seine Fußstapfen zu treten.«

Akilina erinnerte sich, wie verbittert Lord am vergangenen Freitagabend bei Semjon Paschkow geklungen hatte. »Und Ihre Mutter?«

»Sie hat ihn geliebt. Und liebt ihn immer noch. Sie will kein schlechtes Wort über ihn hören. Seine Anhänger waren genauso. Für sie war Grover Lord ein Heiliger.«

»Keiner wusste von seinen Eskapaden?«

»Keiner wollte es glauben. Mein Vater hätte dann einfach nur ›Diskriminierung‹ geschrien und vom Rednerpult herabgepoltert, wie schwer man einem erfolgreichen Schwarzen das Leben mache.«

»In der Schule haben wir über amerikanische Rassenvorurteile gelernt. Dass Schwarze in der weißen Gesellschaft keine Chance hätten. Stimmt das?«

»So war es, und mancher behauptet, das habe sich nicht verändert. Aber ich bin anderer Meinung. Dieses Land ist weit davon entfernt, vollkommen zu sein. Aber es ist ein Land der Möglichkeiten, wenn man seine Chancen nutzt.«

»Haben Sie das getan, Miles Lord?«

Er lächelte. »Warum machen Sie das?«

Sie sah ihn verwundert an.

»Dass Sie Vor- und Nachnamen verwenden.«

»Einfach eine Gewohnheit. Ich wollte Sie nicht kränken.«

»Nennen Sie mich Miles. Und um Ihre Frage zu beantworten, ja, ich sehe mich gerne als einen, der jede Chance genutzt hat. Ich habe intensiv studiert, und jeden meiner Erfolge habe ich mir hart erarbeitet.«

32

Moskau, 16.20 Uhr

 

Hayes betrachtete Stefan Baklanow. Der Thronanwärter saß an einem Tisch mit seidenem Tischtuch den siebzehn Mitgliedern der Zarenkommission gegenüber. Der Große Saal im Facettenpalast war randvoll mit Zuschauern und Presseleuten, und in der Luft hingen Schwaden von blauem Qualm, da die Kommissionsmitglieder ständig rauchten.

Baklanow trug einen dunklen Anzug und ließ sich durch die ausführliche Befragung nicht aus der Fassung bringen. Dies war sein letztes Erscheinen vor der Kommission, bevor am nächsten Vormittag über die drei Endkandidaten abgestimmt wurde. Neun Namen waren ins Rennen geschickt worden, von denen man dreien von vornherein keine Chance eingeräumt hatte. Zwei waren fragwürdig, vier galten jedoch unter Berücksichtigung der Blutsverwandtschaft und der Bestimmungen des Thronfolgegesetzes von 1797 als ernst zu nehmende Konkurrenten. Die Anfangsdebatte hatte sich auf die Heiratspraxis seit 1918 und die Verdünnung von Blutlinien konzentriert, die früher stark gewesen sein mochten. Jedem der neun Kandidaten hatte man ausreichend Zeit eingeräumt, vor der Kommission seine Sache zu vertreten und Fragen zu beantworten. Hayes hatte dafür gesorgt, dass Baklanow als Letzter vor der Kommission erschien.

»Ich denke oft an meinen Ahnherrn«, sagte Baklanow mit tiefer, aber kräftiger Stimme ins Mikrofon. »In diesem Saal des Facettenpalasts kamen die Bojaren im Januar 1613 zusammen, um einen neuen Zaren zu wählen. Nach einem guten Jahrzehnt ohne Regenten war das Land von Kämpfen zerrissen. Die Gruppe, die damals zusammentrat, stellte konkrete Bedingungen auf, genau wie Sie, meine Herren. Nach langen Diskussionen und vielen verworfenen Vorschlägen wählte man einstimmig einen sechzehnjährigen Edelmann – Michael Romanow. Interessant dabei ist, dass man ihn im Ipatiew-Kloster fand, wo also die Herrschaft der Romanows begann, und dass es – dreihundert Jahre später – ein anderes Ipatiew-Haus war, das ›Haus für Sonderzwecke‹, wo die Herrschaft der Romanows endete.« Baklanow hielt inne. »Zumindest zeitweilig.«

»Aber wurde Michael nicht nur deshalb ausgewählt«, fragte eines der Kommissionsmitglieder, »weil er einverstanden war, sich vor jeder Entscheidung mit den Bojaren zu beraten? So gab er der Duma der Bojaren wesentliche Züge einer Nationalversammlung. Haben Sie ebenfalls diese Absicht?«

Baklanow rutschte auf seinem Stuhl herum, doch sein Gesicht blieb freundlich und offen. »Das war nicht der einzige Grund für die Wahl meines Vorfahren. Vor der Stimmabgabe machte man ein Meinungsbild und stellte fest, dass Michael Romanow allgemeine öffentliche Unterstützung genoss. So ist es auch hier, wertes Mitglied der Kommission. Alle Meinungsumfragen weisen darauf hin, dass das Volk meine Einsetzung befürwortet. Aber, um nochmals direkt auf Ihre Frage einzugehen, Michael Romanow lebte in einer anderen Zeit.

Inzwischen hat Russland es mit der Demokratie versucht, und Tag für Tag haben wir die Ergebnisse vor Augen. Wir sind als Nation nicht daran gewöhnt, unserer Regierung zu misstrauen. Demokratie bedeutet eine ständige Herausforderung, und darauf hat unsere Geschichte uns nicht vorbereitet. Hier erwartet das Volk, dass die Regierung sich mit dem Leben eines jeden Einzelnen befasst. Im Westen predigt man das Gegenteil.

Seit dem Jahr 1917 hat dieses Land keine Größe mehr gesehen. Wir hatten einmal das größte Reich der Welt, doch inzwischen kann es ohne die Großzügigkeit fremder Nationen nicht mehr überleben. Das widert mich an. Beinahe achtzig Jahre haben wir damit verbracht, Bomben zu bauen und unser Militär aufzurüsten, während unsere Nation zerfiel. Nun ist es Zeit für eine Umorientierung.«

Hayes wusste, dass Baklanow eine Show für die Kameras abzog. Die Sitzungen der Kommission wurden sowohl in Russland als auch weltweit live übertragen; CNN, CNBC, die BBC und Fox waren vor Ort und sendeten für westliche Kanäle. Baklanow hatte äußerst geschickt geantwortet. Er war der eigentlichen Frage ausgewichen und hatte gleichzeitig die Gelegenheit genutzt, global gesehen zu punkten. Dieser Mann hatte vielleicht keine Ahnung vom Regieren, witterte aber jede Schwäche und wusste sie zu nutzen.

Ein weiteres Kommissionsmitglied fragte: »Wenn ich mein Geschichtsbuch richtig im Kopf habe, war Michaels Vater Filaret während des größten Teils der Regierungszeit seines Sohnes der eigentliche Herrscher. Michael war kaum mehr als eine Marionette. Muss die Nation bei Ihnen dasselbe befürchten? Werden andere Ihre Entscheidungen kontrollieren?«

Baklanow schüttelte den Kopf. »Ich versichere Ihnen, dass ich niemanden brauche, der für mich die Entscheidungen fällt. Was nicht heißt, dass ich den Rat und die Weisheit meines Staatsrates nicht nutzen werde. Mir ist vollständig bewusst, dass ein Autokrat sowohl die Unterstützung seiner Regierungsmannschaft als auch die seines Volkes benötigt, wenn er Herrscher bleiben möchte.«

Eine weitere ausgezeichnete Antwort, dachte Hayes.

»Und wie steht es mit Ihren Söhnen? Sind sie auf die verantwortungsvolle Aufgabe vorbereitet?«, fragte dasselbe Kommissionsmitglied weiter.

Der Mann machte Druck. Er war einer der verbliebenen drei, die sich noch nicht endgültig hatten kaufen lassen, da die Verhandlungen um den Preis für ihre Stimme noch nicht abgeschlossen waren. Man hatte Hayes jedoch vor ein paar Stunden versichert, dass bis zum nächsten Tag die Einstimmigkeit garantiert zu erreichen war.

»Meine Söhne stehen bereit. Mein Ältester ist sich seiner Verantwortung bewusst und willens, Zarewitsch zu werden. Dafür habe ich ihn von Geburt an erzogen.«

»Sie gingen davon aus, dass der Thron restauriert wird?«

»Mein Herz hat mir immer gesagt, dass das russische Volk sich eines Tages die Rückkehr des Zaren wünschen würde. Er wurde dem Volk gewaltsam entrissen, sein Thron geraubt. Eine böse Tat kann nichts Ehrenvolles hervorbringen, denn niemals kommt Gutes aus Bösem. Diese Nation ist auf der Suche nach dem Gestern, und wir können nur hoffen und beten, dass wir aus unseren Misserfolgen lernen. Keiner von uns ist nur für sich selbst geboren. Das gilt besonders für jemanden, der mit einer kaiserlichen Abstammung gesegnet ist. Der Thron dieser Nation gehört den Romanows, und ich bin der nächste noch lebende männliche Verwandte Nikolaus’ II. Aus dieser großen Ehre erwächst nicht zuletzt auch eine große Bürde. Doch ich bin bereit, sie für mein Volk zu tragen.«

Baklanow trank einen Schluck Wasser. Kein Kommissionsmitglied unterbrach das feierliche Schweigen. Baklanow stellte das Glas ab und ergriff erneut das Wort: »Michael Romanow ließ sich 1613 nur widerstrebend zum Zaren wählen, doch ich mache kein Geheimnis aus meinem Wunsch, dieses Land zu regieren. Russland ist mein Mutterland. Ich glaube, dass alle Nationen ein Geschlecht besitzen, und Russlands Geschlecht ist zweifellos weiblich. Ebendiese starke Weiblichkeit bedingt unsere Fruchtbarkeit. Am besten hat das einer von Fabergés Biografen ausgedrückt, auch wenn es ein Engländer war: Man gebe Mütterchen Russland den Anfang, das Samenkorn, und auf ihre ganz eigene Weise zieht sie diesen Samen groß und erreicht damit erstaunliche Ergebnisse. Es ist mein Schicksal, diese Ernte heranreifen zu sehen. Jedes Samenkorn kennt seine Zeit. Ich kenne die meine. Man kann das Volk zur Angst zwingen, aber nicht zur Liebe. Das verstehe ich. Ich möchte nicht, dass Russland mich fürchtet. Ich habe weder Großmachtgelüste, noch bin ich auf Weltherrschaft aus. Unsere Größe soll in den nächsten Jahren darin liegen, unserem Volk ein Leben in Wohlstand und Gesundheit zu ermöglichen. Es spielt keine Rolle, dass wir die Welt mehrere tausendmal vernichten können. Für uns soll es darauf ankommen, unser Volk zu ernähren, seine Krankheiten zu heilen, seinen Lebensstandard zu verbessern und für einen Wohlstand zu sorgen, der Generationen währt.«

In diesen Worten schwang eine Emotionalität mit, die sich sowohl akustisch als auch optisch perfekt übertrug. Hayes war noch stärker beeindruckt.

»Ich behaupte nicht, dass Nikolaus II. fehlerlos war. Er war ein eigensinniger Autokrat, der den Sinn seiner Stellung aus den Augen verloren hatte. Wir wissen inzwischen, dass sein Urteilsvermögen durch die Überzeugungen seiner Frau getrübt war und dass die Tragödie seines Sohnes beide verletzlich machte. Alexandra war in vieler Hinsicht eine gesegnete Frau, aber sie war auch töricht. Sie ließ sich von Rasputin beeinflussen, einem Mann, der ansonsten nahezu einhellig als reiner Opportunist verachtet wurde. Die Geschichte ist eine gute Lehrmeisterin, und deshalb sage ich Ihnen: Ich werde diese Fehler nicht wiederholen. Unsere Nation kann sich keine schwache Führung leisten. Unsere Straßen müssen sicher werden, und die Rechtsprechung und die Regierung müssen auf die Wahrheit und das Vertrauen des Volkes bauen. Nur so kann dieses Land vorankommen.«

»Das klingt so, als hätten Sie sich bereits selbst zum Zar gewählt«, bemerkte das Kommissionsmitglied, das zuvor schon die kritischen Fragen gestellt hatte.

»Meine Geburt hat diese Entscheidung getroffen. Ich habe in dieser Angelegenheit kein Mitspracherecht. Der russische Thron gehört den Romanows. Das ist eine unbestreitbare Tatsache.«

»Aber hat Nikolaus nicht im eigenen Namen und im Namen seines Sohnes Alexej abgedankt?«

»Er selbst gewiss. Doch ich bezweifle, dass er auch im Namen seines Sohnes Alexej abdanken konnte, und hier dürfte die Jurisprudenz mir Recht geben. Als Nikolaus im März 1917 auf den Thron verzichtete, wurde sein Sohn automatisch Alexej II. Sein Vater hatte nicht das Recht, seinem Sohn den Thron wegzunehmen. Der Thron gehört jenen Romanows, die aus derselben Blutlinie wie Nikolaus II. stammen, und ich bin sein nächster lebender männlicher Verwandter.«

Hayes war von Baklanows Darstellung sehr angetan. Der Mann wusste genau, was zu sagen war und wann. Dabei formulierte er seine Ankündigungen so geschickt, dass niemand sich gekränkt fühlen konnte.

Stefan I. würde einen ausgezeichneten Zaren abgeben.

Vorausgesetzt, er befolgte Befehle ebenso gut, wie er sie erteilen wollte.

33

13.10 Uhr

 

Lord warf einen Blick auf Akilina. Sie saßen auf der linken Seite einer United Airlines L1011, dreizehntausend Meter über der Wüste Arizonas. Um fünf nach zwölf hatte ihr Flugzeug abgehoben, und nach fünf Stunden Flug und einer dreistündigen Zeitverschiebung würden sie kurz nach 14 Uhr in San Francisco landen. In den letzten vierundzwanzig Stunden hatte Lord die Erde zu drei Vierteln umrundet, doch er war froh, wieder auf – oder genauer gesagt über – amerikanischem Boden zu sein, selbst wenn er nicht recht wusste, wie sie in Kalifornien vorgehen sollten.

»Sind Sie immer so rastlos?«, fragte Akilina auf Russisch.

»Normalerweise nicht. Aber derzeit ist nichts normal.«

»Ich möchte Ihnen etwas erzählen.«

In ihrer Stimme schwang eine gewisse Schärfe mit.

»Ich war vorhin nicht ganz ehrlich zu Ihnen … vorhin in Ihrer Wohnung.«

Er war verblüfft.

»Sie fragten, ob es jemand Besonderen in meinem Leben gäbe, und ich verneinte. Doch tatsächlich gab es einmal jemanden.«

In ihr Gesicht trat ein angespannter Zug, und er fühlte sich zu einer beschwichtigenden Bemerkung veranlasst: »Sie sind mir keine Erklärungen schuldig.«

»Ich möchte aber darüber reden.«

Er lehnte sich in seinem Sitz zurück.

»Er hieß Tusja. Ich lernte ihn in der Artistenschule kennen, auf die ich nach der Mittelschule ging. Keiner dachte je daran, dass ich ein Studium beginnen könnte. Mein Vater war Artist, und man erwartete von mir, dass ich in seine Fußstapfen trat. Tusja war Akrobat. Er war gut, aber nicht gut genug. Nach der Schule wurde er nicht zur Artistenlaufbahn zugelassen. Aber trotzdem wollte er, dass wir heiraten.«

»Was kam dazwischen?«

»Tusjas Familie lebte im Norden, nahe der sibirischen Ebene. Da er kein Moskauer war, wären wir gezwungen gewesen, bei meinen Eltern zu wohnen, bis wir uns eine eigene Wohnungserlaubnis verschaffen konnten. Das bedeutete, dass wir ihre Einwilligung brauchten, damit wir heiraten und zusammen in Moskau wohnen konnten. Meine Mutter lehnte ab.«

Er war überrascht. »Warum denn?«

»Damals war sie schon völlig verbittert. Mein Vater war noch im Arbeitslager. Sie grollte ihm deswegen, aber mehr noch, weil er Russland verlassen wollte. Sie sah das Glück in meinen Augen und zerstörte es, um ihren eigenen Schmerz zu lindern.«

»Warum seid ihr nicht einfach an einen anderen Ort gezogen?«, fragte er.

»Damit war Tusja nicht einverstanden. Er wollte Moskauer sein. Das wollte damals jeder, der nicht in Moskau wohnte. Er ging zur Armee, ohne vorher mit mir darüber zu reden. Er hatte ja nur diese Möglichkeit, wenn er nicht in irgendeiner Fabrik malochen wollte. Er erklärte mir, sobald er sich das Recht erworben habe, am Ort seiner Wahl zu leben, werde er zurückkommen.«

»Und wie ging es weiter mit ihm?«

Sie zögerte und sagte dann: »Er ist in Tschetschenien gefallen. Völlig sinnlos, denn am Ende war alles genauso wie am Anfang. Ich habe das meiner Mutter nie verziehen.«

Er hörte die Bitterkeit in ihrer Stimme. »Haben Sie ihn geliebt?«

»Sosehr, wie ein junges Mädchen eben lieben kann. Aber was ist Liebe? Für mich war es eine kurze Zeit der Erholung von der Wirklichkeit. Sie haben mich einmal gefragt, ob ich mir von einer Zarenherrschaft eine Verbesserung erhoffe. Doch wie könnte es denn überhaupt schlimmer werden?«

Er widersprach ihr nicht.

»Sie und ich, wir sind verschieden«, sagte sie.

Er verstand sie nicht.

»Mein Vater und ich, wir sind uns in vieler Hinsicht ähnlich. Uns beiden hat das harte Mutterland Liebe versagt. Sie andererseits hassen Ihren Vater, wussten aber die Chancen zu nutzen, die Ihr Heimatland Ihnen bietet. Das Leben bringt wirklich die interessantesten Extreme hervor.«

Ja, da hatte sie Recht, dachte er.

 

Der San Francisco International Airport war von Menschen überfüllt. Akilina und Lord hatten nur Handgepäck dabei, jene Schultertaschen, die Semjon Paschkow ihnen gegeben hatte. Falls Lord in den nächsten Tagen nichts herausbekam, würde er nach Atlanta zurückkehren und Taylor Hayes anrufen – dann mochte Paschkow und Rasputin seinetwegen der Teufel holen. Vor dem Aufbruch aus Georgia hätte er fast noch im Büro angerufen, entschloss sich dann aber doch dagegen. Er wollte sich so lange wie möglich an Paschkows Wünsche halten, da er inzwischen zumindest teilweise an diese Prophezeiung glaubte, die er früher für kompletten Unsinn gehalten hatte.

Sie gingen an der Gepäckausgabe vorbei, wo die Fluggäste sich drängten, und schlugen den Weg nach draußen ein. Hinter einer Glaswand leuchtete der sonnige Westküstennachmittag herein.

»Und jetzt?«, fragte Akilina auf Russisch.

Er antwortete nicht. Vielmehr hatte er die Augen auf die gegenüberliegende Wand der überfüllten Ankunftshalle gerichtet.

»Kommen Sie«, sagte er, ergriff Akilinas Hand und führte sie durch die Menschenmenge.

Hinter einem Gepäckausgabeband der American Airlines hing an der hell erleuchteten Wand eines jener zahllosen Plakate, die überall die Wände des Terminals bedeckten. Farbenfroh warben sie für alles und jedes, von Eigentumswohnungen im Wohnpark bis zu Sonderrabatten für Fernsprechgebühren. Er starrte die Aufschrift über dem Foto eines tempelähnlichen Bauwerks an:

 

CREDIT & MERCANTILE BANK OF SAN FRANCISCO

GEGRÜNDET 1884

Ein Finanzdienstleister mit Tradition

 

»Was steht da?«, fragte Akilina auf Russisch.

Er erklärte es ihr, fand den Schlüssel in seiner Hosentasche und sah noch einmal auf das in die Messingoberfläche eingeritzte Akronym:

C. M. B.

»Ich glaube, dass unser Schlüssel zu einem Safe der Credit and Mercantile Bank gehört. Die existierte auch schon in der Regierungszeit Nikolaus’ II.«

»Wie können Sie sich da so sicher sein?«

»Bin ich gar nicht.«

»Wie kommen wir an das Schließfach?«

»Gute Frage. Wir brauchen eine überzeugende Story. Ich bezweifle sehr, dass die Bank uns einfach mit einem uralten Schlüssel da hineinmarschieren lässt und den Safe für uns aufsperrt. Man wird uns Fragen stellen.« Jetzt erwachte der gewiefte Rechtsanwalt in ihm. »Aber ich glaube, mir fällt da etwas ein.«

 

Die Taxifahrt vom Flughafen ins Stadtzentrum dauerte eine halbe Stunde. Er hatte ein Marriott-Hotel in einer Nachbarstraße des Bankenviertels gewählt. Das riesige, mit Spiegelglas verkleidete Gebäude sah aus wie eine Jukebox. Dieses Hotel hatte er nicht nur ausgewählt, weil es günstig lag, sondern auch wegen der guten bürotechnischen Ausstattung für Geschäftsreisende.

Nachdem sie die Reisetaschen in ihrem Zimmer abgestellt hatten, führte Lord Akilina nach unten. Auf einem der PCs tippte er eine gerichtliche Verfügung mit dem Briefkopf NACHLASSGERICHT DES BEZIRKS FULTON COUNTY. Während seines letzten Studienjahres hatte er in der Nachlassabteilung eines Unternehmens gejobbt und war mit gerichtlichen Nachlassprotokollen vertraut – der amtlichen Verfügung eines Nachlassgerichts, die eine Einzelperson ermächtigte, im Namen eines Verstorbenen zu handeln. Mehrfach hatte er selbst solche Verfügungen veranlasst, doch sicherheitshalber recherchierte er noch einmal im Internet. Dort wimmelte es nur so von Adressen, die im juristischen Bereich alles von aktuellen Präzedenzfallsammlungen bis zu Dokumentenvorlagen anboten, anhand derer sich formvollendete Schreiben für die ausgefallensten Zwecke erstellen ließen. Er selbst benutzte normalerweise die Website der Emory University Atlanta. Dort fand er die amtlichen Wendungen für die Fälschung der Nachlassverfügung.

Als der Drucker das gewünschte Schreiben ausgespuckt hatte, zeigte er es Akilina. »Sie sind die Tochter einer Zaneta Lubmilla. Ihre Mutter ist kürzlich verstorben und hat Ihnen diesen Schlüssel ihres Banksafes hinterlassen. Das Nachlassgericht von Fulton County, Georgia, hat Sie zur Bevollmächtigten ernannt, und ich bin Ihr Anwalt. Da Sie kaum Englisch sprechen, soll ich hier alles für Sie regeln. Als Bevollmächtigte müssen Sie ein Verzeichnis der Hinterlassenschaft Ihrer Mutter erstellen, einschließlich dessen, was sich in diesem Banksafe befindet.«

Sie lächelte. »Genau wie in Russland. Gefälschte Dokumente. Nur so erreicht man etwas.«

 

Die Credit & Mercantile Bank befand sich nicht – wie das Werbeplakat es erwarten ließ – in einem neoklassizistischen Granitgebäude, sondern in einem der modernen Stahl-und-Glas-Bauten des Bankenviertels. Lord kannte die Namen der benachbarten Wolkenkratzer: das Embarcadero Center, das Russ Building und der unverwechselbare Transamerica Tower. Die Geschichte des Viertels war Lord vertraut. Die zahlreichen ansässigen Banken und Versicherungsgesellschaften hatten ihm den Namen Wall Street der Westküste eingebracht. Doch auch Ölgesellschaften, Telekommunikationsriesen, Baufirmen und Bekleidungskonzerne waren hier in großer Zahl vertreten. Seine Entstehung verdankte dieses Viertel dem kalifornischen Gold, und das Silber Nevadas hatte ihm dann seinen Platz in der amerikanischen Finanzwelt gesichert.

Das Interieur der Credit & Mercantile Bank war eine moderne Kombination aus Schichtholz, Terrazzo und Glas. Die Banksafes lagen im zweiten Stock, und dort warteten drei Angestellte mit sehr blondem Haar an der Rezeption. Er zeigte ihnen den Schlüssel, die gefälschten Dokumente und seine Anwaltszulassung des US-Staates Georgia. Er lächelte freundlich und hoffte, sie würden nicht viele Fragen stellen. Doch der neugierige Blick der Angestellten, die sich seiner annahm, war alles andere als ermutigend.

»Wir haben keinen Safe mit dieser Nummer«, erklärte sie kühl.

Er zeigte auf den Schlüssel in ihrer Hand. »C. M. B. Das ist doch Ihre Bank, oder?«

»Es ist unser Akronym«, war alles, was sie ihm zugestand.

Er beschloss, es mit energischem Auftreten zu versuchen. »Ma’am, Miss Lubmilla möchte die Angelegenheiten ihrer Mutter schnell regeln. Ihr Tod war sehr schmerzlich für sie. Wir haben Grund zu der Annahme, dass dieser Safe recht alt sein könnte. Ihrer Werbekampagne zufolge besteht Ihr Institut schon seit 1884.«

»Mr. Lord, vielleicht verstehen Sie mich, wenn ich ein wenig langsamer rede.« Ihr Tonfall missfiel ihm immer mehr. »In dieser Bank gibt es keinen Safe mit der Nummer sieben sechzehn. Wir haben ein anderes Nummerierungssystem. Wir verwenden eine alphanumerische Zählung. Und zwar seit jeher.«

Er wandte sich an Akilina und erklärte auf Russisch: »Von ihr erfahren wir nichts. Sie sagt, es gibt in der Bank kein Schließfach mit der Nummer sieben sechzehn.«

»Was sagen Sie da?«, fragte die Frau.

Er drehte sich wieder zu ihr um. »Ich erklärte ihr, dass sie ihren Schmerz noch eine Weile bezähmen muss, weil wir hier keine Antwort finden.«

Er wandte sich wieder Akilina zu. »Machen Sie einmal ein trauriges Gesicht. Vielleicht bringen Sie sogar ein paar Tränen zustande.«

»Ich bin Akrobatin, nicht Schauspielerin.«

Er umfing sanft ihre Hände und warf ihr einen verständnisvollen Blick zu und sagte auf Russisch: »Versuchen Sie es. Das macht es einfacher.«

Akilina warf der Frau einen Blick zu, in dem einen Moment lang Kummer zu lesen war.

»Schauen Sie«, erklärte die Frau, während sie Lord den Schlüssel zurückreichte. »Versuchen Sie es doch einmal in der Commerce & Merchants Bank. Die liegt drei Kreuzungen weiter die Straße runter.«

»Hat es was gebracht?«, fragte Akilina.

»Was sagt sie?«, erkundigte sich die Angestellte.

»Sie bittet mich um eine Übersetzung.« Er wandte sich wieder Akilina zu und sagte auf Russisch: »Vielleicht hat diese Zicke ja doch ein Herz.« Dann wechselte er ins Englische zurück und fragte die Angestellte: »Wissen Sie denn möglicherweise auch, wie alt jene Bank ist?«

»Fast so alt wie wir. Aus den Neunzigerjahren des neunzehnten Jahrhunderts, glaube ich.«

 

Die Commerce & Merchants Bank war ein mächtiges, monolithisches Gebäude mit einem Granitfundament aus Bossenwerk, Marmorwänden und einem von korinthischen Säulen flankierten Eingangsbereich. Sie bildete einen deutlichen Gegensatz zur Credit & Mercantile Bank und den umliegenden Wolkenkratzern, deren Verkleidung aus verspiegeltem Glas in geometrischen Metallgittern von moderneren Zeiten zeugte.

Beim Eintreten war Lord unmittelbar beeindruckt. Optisch und atmosphärisch hatte man hier den Eindruck einer Schalterhalle im alten Stil. Säulen aus falschem Marmor, ein Muster aus Bodenplatten und altmodische, verglaste Schalter – all das Überbleibsel einer Ära, in der verschnörkelte, schmiedeeiserne Absperrungen die Sicherheit boten, die heute durch Überwachungskameras gewährleistet wurde.

Ein uniformierter Wächter schickte sie zu dem Büro, das den Zugang zu den im Untergeschoss liegenden Safes verwaltete.

Ein Schwarzer mittleren Alters mit grau meliertem Haar erwartete sie dort im Büro. Er trug Weste und Krawatte, und eine goldene Taschenuhr baumelte wie ein Pendel über seinem beginnenden Schmerbauch. Ihr Gastgeber stellte sich als Randall Maddox James vor, fast so, als wäre er stolz auf seinen dreiteiligen Namen.

Lord zeigte James seine Nachlassvollmachten und den Schlüssel. Abgesehen von ein paar oberflächlichen Erkundigungen kamen keine unangenehmen Bemerkungen oder Fragen, und James führte sie sofort über die Haupthalle in ein beeindruckendes Untergeschoss. Die Bankschließfächer nahmen mehrere große Räume ein, an deren Wänden sich Reihe um Reihe rechteckige Edelstahltüren entlangzogen. Von einem dieser Räume wurden sie zu einer Reihe alter Schließfächer geführt, deren grüne Metallverkleidungen vom Alter angelaufen waren, und deren Schlösser wie schwarze Löcher aussahen.

»Dies sind die ältesten Schließfächer im Besitz der Bank«, erklärte James. »Sie standen schon zur Zeit des Erdbebens von 1906 hier. Heute sind nur noch einige wenige dieser Dinosaurier übrig. Wir fragen uns oft, wann einmal jemand den Inhalt für sich beanspruchen wird.«

»Schauen Sie denn nicht nach einer gewissen Zeitspanne nach?«, fragte Lord.

»Das ist gesetzlich verboten. Solange die jährliche Miete bezahlt wird.«

Lord hielt den Schlüssel hoch: »Wollen Sie damit sagen, dass die Miete für diesen Safe seit den Zwanzigerjahren gezahlt wurde?«

»Richtig. Sonst hätte man es zu einem ruhenden Schließfach erklärt und das Schloss aufgebrochen. Gewiss hat sich die Erblasserin um die Miete gekümmert.«

Lord riss sich zusammen. »Natürlich. Wer sonst?«

James zeigte auf den Safe mit der Nummer 716. Er befand sich auf halber Höhe der Wand. Seine Tür war gut dreißig Zentimeter breit und nicht ganz so hoch.

»Wenn Sie irgendetwas brauchen, Mr. Lord, bin ich in meinem Büro zu finden.«

Lord wartete, bis das Zufallen der Gittertür ihm verriet, dass sie allein waren. Dann schob er den Schlüssel ins Schloss.

Er öffnete das Türchen und erblickte einen weiteren Metallbehälter; diesen – eine Kassette, die ein beträchtliches Gewicht besaß –, nahm er heraus und stellte sie auf einen Tisch aus Walnussholz.

Die Kassette enthielt drei purpurrote Samtbeutel, alle drei in weit besserem Zustand als der Beutel, den Kolja Maks im Tod gehütet hatte. Außerdem lag dort eine zusammengefaltete Zeitung aus dem schweizerischen Bern. Sie trug das Datum des 25. September 1920. Das Papier war brüchig, ansonsten aber unversehrt. Sanft strich er von außen über den längsten Beutel und ertastete kantige Umrisse. Rasch machte er den Beutel auf und holte zwei Goldbarren heraus, die mit den Initialen NR und dem doppelköpfigen Adler versehen waren und beide wie identische Kopien des Barren aussahen, den sie im Schließfach des Flughafens von Kiew zurückgelassen hatten. Dann griff er in den nächsten Beutel, der bauchiger war, nahezu rund. Er löste den Lederriemen.

Beim Anblick des Inhalts hielt er völlig fassungslos inne.

Das Ei war mit Guillochen verziert, die von durchscheinendem rosa Emaille überzogen waren, es wurde von geschwungenen Füßchen getragen, die sich bei näherem Hinsehen als Blattranken mit rosafarbenen Diamantäderchen erwiesen. Darauf saß eine winzige zweibogige Zarenkrone mit weiteren rosa Diamanten und einem erlesenen Rubin verziert. Das Ei war durch vier diamantenbesetzte Linien der Länge nach geviertelt und mit Lilien aus Perlen und Diamanten sowie weiteren, in durchscheinendem Grün auf Gold aufgetragenen Emailleblättern verziert. Das Kleinod war vom Fuß bis zur Krone etwa fünfzehn Zentimeter hoch.

Er hatte es schon einmal gesehen.

»Das hier ist ein Fabergé«, sagte er. »Ein kaiserliches Osterei.«

»Ich weiß«, antwortete Akilina. »Ich habe solche Schmuckstücke in der Rüstkammer des Kremls gesehen.«

»Dies hier war unter dem Namen Lilien-im-Tal-Ei bekannt. Es wurde der Zarenwitwe Maria Fjodorowna, der Mutter Nikolaus’ II. im Jahre 1898 geschenkt. Da gibt es allerdings ein Problem. Dieses Ei gehört derzeit zu einer Privatsammlung. Der Sammler Malcolm Forbes, ein amerikanischer Millionär, hat zwölf der vierundfünfzig bekannten Eier gekauft. Seine Sammlung ist größer als die in der Rüstkammer des Kremls. Exakt dieses Ei habe ich in einer New Yorker Ausstellung gesehen …«

Man hörte das Scheppern von Metall, als die Gittertür auf der anderen Seite des Raums geöffnet wurde. Lord spähte um eine Reihe von Safes herum und erblickte James, der langsam auf sie zuschlenderte. Rasch bugsierte Lord das Ei in den Beutel zurück und zog die Lederbändel fest. Die Goldbarren ruhten ohnehin noch in ihrem Beutel.

»Alles in Ordnung?«, fragte James ungezwungen.

»Bestens«, antwortete Lord. »Haben Sie vielleicht einen Karton oder eine Tüte, um diese Sachen hier wegzubringen?«

Der Mann warf einen kurzen Blick auf den Tisch. »Selbstverständlich, Mr. Lord. Die Bank steht zu Ihren Diensten.«

 

Lord wollte auch den restlichen Inhalt des Schließfachs untersuchen, hielt es aber für geraten, zuerst die Bank zu verlassen. Randall Maddox James kam Lord, der derzeit zu einer gewissen Paranoia neigte, ein wenig zu neugierig vor. Doch letztlich waren seine Bedenken nach dem, was er in den letzten Tagen durchgemacht hatte, durchaus verständlich.

Er hatte ihren Fund in einer mit Kordelgriffen versehenen Papiertüte der Commerce & Merchants Bank verstaut und führte Akilina nach draußen, von wo sie mit dem Taxi zur Stadtbibliothek fuhren. Er erinnerte sich noch von einem früheren Besuch an das Gebäude, ein prächtiges dreistöckiges Bauwerk aus dem späten neunzehnten Jahrhundert, das sowohl das Erdbeben von 1906 als auch jenes von 1989 unbeschadet überstanden hatte. Am Informationsschalter schickte man sie zu einem angrenzenden moderneren Anbau. Bevor er seine Aufmerksamkeit wieder dem Inhalt der Tüte zuwandte, suchte Lord noch einige Bücher über Fabergé zusammen, darunter auch eines mit einem Katalog aller bekannten kaiserlichen Ostereier.

Nachdem sie ein Studierzimmer betreten und die Tür abgeschlossen hatten, breitete Lord den Inhalt des Banksafes auf dem Tisch aus. Dann schlug er eines der Bücher auf und entnahm diesem, dass seit 1885, als Zar Alexander III. Carl Fabergé den Auftrag gab, seiner Frau, Kaiserin Maria ein Ostergeschenk zu fertigen, sechsundfünfzig Ostereier geschaffen worden waren. Ostern war das höchste Fest der russisch-orthodoxen Kirche und wurde traditionell mit dem Austausch von Eiern und drei Küssen begangen. Das Spielzeug wurde so begeistert aufgenommen, dass der Zar von da an jedes Ostern ein neues Ei in Auftrag gab. Nikolaus II. Alexanders Sohn, der den Thron 1894 bestieg, führte diese Tradition fort, ließ von nun an aber zwei Eier anfertigen – eines für seine Frau Alexandra und das andere für seine Mutter.

Jedes dieser Unikate aus emailliertem Gold und Edelsteinen enthielt eine Überraschung – eine winzige Krönungskutsche, ein Modell der kaiserlichen Jacht, einen Zug, Aufziehtierchen oder irgendeine andere Miniatur mit raffiniertem Mechanismus. Siebenundvierzig der ursprünglich sechsundfünfzig Eier waren bekannt, und unter ihren Abbildungen waren ihre derzeitigen Aufbewahrungsorte notiert. Die fehlenden neun Eier galten seit der bolschewistischen Revolution als verschollen.

Lord fand ein ganzseitiges Foto des Lilien-im-Tal-Eis. Darunter stand:

 

Dieses Kleinod wurde in der Werkstatt Fabergés von Meister Michael Perchin geschaffen. Nikolaus II. schenkte es 1898 seiner Mutter. Die Überraschung besteht in drei Miniaturporträts des Zaren und der Großfürstinnen Olga und Tatjana, der ersten beiden Kinder des Zaren. Derzeit Teil einer Privatsammlung, New York.

 

Das Buch zeigte eine beinahe originalgroße Farbaufnahme des Eis. Oben waren wie ein Kleeblatt drei ovale Miniaturporträts aufgeklappt, von der Diamantenkrone mit dem Rubin überragt. Jedes der ovalen Fotos hatte einen vergoldeten Hintergrund und war mit rosafarbenen Diamanten gerahmt. Das mittlere Foto zeigte Nikolaus II. in Uniform. Das bärtige Gesicht, Schultern und Brust waren deutlich zu erkennen. Links davon war ein Foto von Olga, seiner Erstgeborenen, dreijährig und engelhaft mit von blonden Löckchen umrahmtem Gesicht. Rechts konnte man Tatjanas Babygesicht erkennen. Auf der Rückseite der Fotos war das Datum 5. April 1898 eingraviert.

Er hielt das Ei aus dem Banksafe neben die Abbildung im Buch. »Die beiden sind gleich.«

»Aber in unserem Ei sind keine Fotos«, merkte Akilina an.

Erneut warf er einen Blick ins Buch, überflog den Text und entnahm ihm, dass die Bilder durch einen Kurbelmechanismus zum Vorschein gebracht wurden. Dazu musste man eine goldgefasste Perle an der Seite des Eis drehen.

Beim Untersuchen des Eis aus dem Banksafe fand er tatsächlich eine solche goldgefasste Perle. Er stellte das Ei auf seine geschwungenen Beinchen, hielt es mit einer Hand fest und drehte mit der anderen an der winzigen Kurbel. Langsam stieg die diamantenbesetzte Krone nach oben. Darunter kam ein Foto Nikolaus’ II. zum Vorschein, das mit dem im Buch abgebildeten Foto des Lilien-im-Tal-Eis identisch war. Dann klappten zwei weitere winzige ovale Fotos heraus, das linke zeigte das Gesicht eines Jungen, das rechte das eines Mädchens.

Die Kurbel ließ sich nicht weiter drehen und Lord ließ sie los, sah dann die Fotos an und erkannte beide Gesichter. Es waren Alexej und Anastasia. Er griff nach einem der Bücher und blätterte bis zu dem Foto, das 1916 vor der Gefangennahme von den Kindern des Zaren gemacht worden war. Nein, kein Zweifel: Die im Ei verborgenen Fotos zeigten wirklich die beiden Zarenkinder, aber eindeutig älter und beide in unverkennbar westlicher Kleidung, der Zarewitsch in einem Flanellhemd, wie es schien, und Anastasia in einer hellen Bluse. In jeden der Bilderrahmen aus Gold und Diamanten war auf der Rückseite das Datum 5. April 1920 eingraviert.

»Sie sind älter«, sagte Lord. »Sie haben überlebt.«

Lord griff nach der Zeitung und faltete die vergilbten Seiten auseinander. Sein Deutsch reichte für die Lektüre aus, und er bemerkte auf dem unteren Teil der Seite einen Artikel, dessentwegen die Zeitung vermutlich mit in den Banksafe eingeschlossen worden war. Die Überschrift lautete: GOLDSCHMIED FABERGÉ VERSTORBEN. Der Artikel berichtete, dass Carl Fabergé am Vortag im Hotel Bellevue in Lausanne verstorben sei. Er war dort erst kurz zuvor aus Deutschland eingetroffen, wohin er nach der bolschewistischen Machtübernahme im Oktober 1917 geflüchtet war. Der Artikel führte weiter aus, dass die Werkstatt Fabergé, der Carl Fabergé siebenundvierzig Jahre lang vorgestanden hatte, mit dem Tod der Zarenfamilie ebenfalls ihr Ende fand. Die Sowjets hatten alles enteignet und die Werkstatt geschlossen, wenngleich man eine Zeit lang versucht hatte, den Betrieb unter dem politisch korrekteren Namen »Komitee der Angestellten der Fabergé-Gesellschaft« weiterzuführen. Der Schreiber merkte an, dass die verlorene kaiserliche Unterstützung nicht der einzige Grund für den Niedergang der Werkstatt war. Der Erste Weltkrieg hatte den Wohlstand der reichen Klientel, für die Fabergé gearbeitet hatte, deutlich vermindert. Der Artikel schloss mit der Feststellung, dass die Zeit des privilegierten russischen Adels endgültig vorüber zu sein schien. Das Foto, mit dem der Artikel bebildert war, zeigte Fabergé als einen gebrochenen Mann.

»Diese Zeitung soll die Echtheit beweisen«, erklärte Lord, drehte das Ei um und fand das Goldschmiedezeichen des Meisters, der es gefertigt hatte: HW Dann blätterte er eines der Bücher bis zu einem Kapitel durch, das sich mit den verschiedenen Meistern aus Fabergés Werkstatt beschäftigte. Er wusste, dass Fabergé selbst tatsächlich weder etwas entworfen noch irgendetwas selbst gefertigt hatte. Monsieur Fabergé war Vorsitzender und Seele eines Unternehmens gewesen, das in seinen besten Zeiten einige der schönsten Schmuckstücke schuf, die je gefertigt wurden, aber der eigentliche Entwurf und die Ausführung dieser Kunstwerke lagen in der Verantwortung des jeweiligen Meisters. In dem Buch stand, dass Michael Perchin, der Hauptmeister der Werkstatt, der das Lilien-im-Tal-Ei schuf, im Jahre 1903 starb. Der Text führte weiter aus, dass dann Henrik Wigström bis zum Ende des Hauses die Geschäfte führte, der 1923 starb, ein Jahr vor Fabergé. In dem Band war auch ein Foto von Wigströms Goldschmiedezeichen zu sehen – HW –, und Lord verglich das Foto mit den in den Boden des Eis eingestempelten Initialen.

Sie sahen genau gleich aus.

Er sah, dass Akilina den Inhalt des dritten Samtbeutels in der Hand hielt – eine weitere Goldplatte mit einem in kyrillischen Lettern eingravierten Text. Lord beugte sich über die Platte und konnte den Text mit Mühe lesen und übersetzen:

 

An den Raben und den Adler: Dieses Land hat sich als der sichere Zufluchtsort erwiesen, der es zu sein behauptet. Das Blut des Zaren ist in Sicherheit und erwartet eure Ankunft. Der Zar herrscht, regiert aber nicht. Dem müsst ihr abhelfen. Die rechtmäßigen Erben werden schweigen, bis ihr ihren Geist auf die richtige Weise erweckt. Was ich den Despoten wünsche, die unsere Nation vernichteten, hat vor hundert Jahren Radischtschew am besten ausgedrückt: »Nein, ihr sollt nicht vergessen sein. Verdammt für Jahrhunderte. Blut in eurer Wiege, Hymnen und Schlachtgebrüll. Blutdurchtränkt sehe ich euch ins Grab taumeln.« Sorgt dafür.

F. J.

 

»Das war’s?«, fragte er. »Das bringt uns kein bisschen weiter. Was ist mit der Höllenglocke? Die Inschrift, die wir in Maks’ Grab fanden, besagte, dass nur die Höllenglocke uns den Weg zum nächsten Portal weisen könne. Von einer Höllenglocke steht hier aber gar nichts.« Er nahm das Ei in die Hand und schüttelte es. Es war solide. In seinem Inneren raschelte und klapperte nichts. Aufmerksam betrachtete er das Äußere und bemerkte weder Ritzen noch Öffnungen. »Offensichtlich sollten wir an diesem Punkt mehr wissen, als tatsächlich der Fall ist. Paschkow sagte, Teile des Geheimnisses seien im Laufe der Zeit verloren gegangen. Vielleicht haben wir einen Schritt ausgelassen, bei dem wir erfahren hätten, was mit der Höllenglocke gemeint ist.« Lord hielt sich das Ei dichter vor die Augen und betrachtete die drei kleinen Fotos, die oben herausragten. »Alexej und Anastasia haben überlebt. Sie waren hier, in diesem Land. Beide sind längst tot, aber ihre Nachkommen vielleicht nicht. Wir sind ihnen dicht auf den Fersen, doch im Moment haben wir nur ein paar Goldbarren und ein Ei, das ein Vermögen wert ist.« Er schüttelte den Kopf. »Jussupow hat sich ganz schön ins Zeug gelegt. Er hat sogar Fabergé oder einen seiner letzten Meister mit einbezogen, um dieses Ei hier zu fertigen.«

»Und was machen wir jetzt?«, fragte Akilina.

Ihr Begleiter lehnte sich zurück und dachte nach. Er wollte etwas Hoffnungsvolles sagen, eine gute Antwort finden, aber schließlich sagte er die Wahrheit:

»Ich habe nicht die geringste Ahnung.«

34

Moskau

Dienstag, 19. Oktober

7.00 Uhr

 

Hayes ging rasch zum Telefon, das neben seinem Bett stand und läutete. Er hatte sich gerade geduscht und rasiert, in Vorbereitung auf einen weiteren Tagungstag der Kommission – einen wichtigen Tag, an dem die Entscheidung über die drei Kandidaten der Endabstimmung anstand. Es gab keinen Zweifel, dass Baklanow mit zu diesen dreien gehören würde, und auch der Ausgang der Wahl war jetzt sicher, da die Geheimkanzlei ihm am Vorabend bestätigt hatte, dass alle siebzehn Kommissionsmitglieder sich schlussendlich hatten kaufen lassen. Selbst der verdammte Drecksack, der Baklanow bei seinem letzten Auftritt gelöchert hatte, hatte inzwischen seinen Preis genannt.

Hayes nahm den Hörer beim vierten Läuten ab und erkannte sofort Chruschtschows Stimme.

»Vor etwa einer halben Stunde haben wir einen Anruf des russischen Konsulats in San Francisco, Kalifornien, erhalten. Ihr Mr. Lord ist dort, zusammen mit Fräulein Petrowa.«

Hayes war bestürzt. »Was macht er denn da?«

»Er kam dort mit dem Schlüssel eines Bankschließfaches in eine Bank. Der Schlüssel ist offensichtlich das, was er in Kolja Maks’ Grab gefunden hat. Die Commerce & Merchants Bank ist eines von weltweit mehreren Bankinstituten, die von den Sowjets jahrzehntelang überwacht wurden. Der KGB war besessen von der Vorstellung, die Reichtümer der Zaren zu finden. Sie waren überzeugt, dass Goldbarren vor der Revolution in Sicherheit gebracht worden waren und nun in Bankgewölben lagerten. Daran ist auch tatsächlich etwas Wahres, denn nach 1917 wurden Millionen auf Auslandskonten gefunden.«

»Wollen Sie mir sagen, dass Ihr Volk noch immer Banken überwacht, um Geld zu finden, das beinahe hundert Jahre alt ist? Kein Wunder, dass Ihre Regierung pleite ist. Sie müssen damit aufhören und in die Zukunft blicken.«

»So? Schauen Sie doch, was passiert. Vielleicht sind wir ja gar nicht so dumm, wie Sie meinen. Natürlich haben Sie teilweise Recht. Nach dem Sturz der Kommunisten war man der Meinung, sich solche Bemühungen nicht mehr leisten zu können. Aber ich hatte die Weitsicht, bei der Gründung unseres Geheimbündnisses frühere Kontakte zu erneuern. Unser Konsulat in San Francisco hält seit Jahrzehnten unauffällig Verbindung mit zwei dort ansässigen Banken. Beide wurden vor der Revolution von Bevollmächtigten des Zaren als Hinterlegungsstellen genutzt. Glücklicherweise hat einer unserer Informanten gemeldet, dass jemand sich Zugang zu einem Bankschließfach verschaffte, das wir schon seit langem für ein Depot des Zaren halten.«

»Wie das?«

»Lord und Fräulein Petrowa verschafften sich unter dem Vorwand Zugang, Nachlassbevollmächtigte einer Verstorbenen zu sein. Der Bankangestellte dachte sich nichts dabei, bis sie den Schlüssel für eines der ältesten Schließfächer hervorholten, die noch von der Bank unterhalten werden. Es ist eines der Schließfächer, das wir beobachten ließen. Lord verließ die Bank mit drei Samtbeuteln unbekannten Inhalts.«

»Wissen wir, wo die beiden sich jetzt aufhalten?«

»Mr. Lord trug sich bei der Bank ein, bevor er Zugang zum Banksafe erhielt, und hinterließ die Adresse eines Hotels vor Ort. Wir haben uns vergewissert, dass er und Fräulein Petrowa tatsächlich dort sind. Offensichtlich fühlt er sich daheim in Amerika sicher.«

Hayes’ Gedanken rasten. Er sah auf die Uhr. In Moskau war es Dienstagmorgen kurz nach sieben, das hieß, dass es in Kalifornien jetzt noch Montagabend war, zwanzig Uhr. Zwölf Stunden, bevor Lord den nächsten Tag in Angriff nahm.

»Ich habe eine Idee«, erklärte er Chruschtschow.

»Das hatte ich fast erwartet.«

 

Lord und Akilina traten in der Lobby des Marriott aus dem Lift, nachdem sie den Inhalt des Banksafes im Etagensafe eingeschlossen hatten. Die städtische Bibliothek machte um neun Uhr auf, und er wollte zunächst einmal dort weiterrecherchieren, um herauszufinden, welche Informationen ihnen fehlten, oder um zumindest die Richtung zu finden, in der die Antwort liegen mochte.

Diese Suche, die ihm zunächst nur als Gelegenheit erschienen war, aus Moskau herauszukommen, erwies sich allmählich als interessant. Ursprünglich hatte er vorgehabt, sich in Starodug nur umzuschauen und dann den erstmöglichen Flug nach Georgia zu nehmen. Doch nach der Ermordung der beiden Maks’ und den Funden, die er in Starodug und in der Bank gemacht hatte, war ihm klar, dass hier mehr im Spiel war als zunächst angenommen. Inzwischen war er entschlossen, am Ball zu bleiben. Wohin ihn das führen würde, wusste er nicht, aber die Nachforschungen gewannen durch die Gefühle, die sich derzeit zwischen ihm und Akilina entwickelten, zusätzlich an Interesse.

Sie hatten im Marriott ein Doppelzimmer genommen. Zwar hatten sie getrennt geschlafen, doch ihre Gespräche am Abend waren so vertraut und persönlich gewesen, wie er es schon lange mit niemandem mehr erlebt hatte. Sie hatten einen Film angeschaut, eine romantische Komödie, und er hatte die Dialoge für sie übersetzt. Mit seinen Kommentaren hatte der Film ihr Spaß gemacht, und auch für Lord war es schön gewesen, ihn so mit ihr zu teilen.

In seinem Leben hatte es bisher nur eine einzige ernsthaftere Beziehung gegeben, eine Kommilitonin an der University of Virginia, die sich, wie er schließlich feststellte, weit mehr für ihre Karriere als für die Liebe interessierte. Sie hatte ihn unmittelbar nach dem Examen verlassen, um in ein Rechtsanwaltsbüro in Washington, D.C. einzutreten, wo sie sich vermutlich noch immer die Hierarchiestufen zur vollen Partnerschaft hinaufkämpfte. Er hingegen war nach Georgia gezogen, um für Pridgen & Woodworth zu arbeiten. Zwar war er hin und wieder mit Frauen ausgegangen, aber es war niemals ernst geworden, und keine war so interessant gewesen wie Akilina Petrowa. Er hatte niemals an das Schicksal geglaubt – diese Vorstellung war ihm immer als etwas erschienen, das besser zu den treuen Schafen seines Vaters passte –, doch das Vorgefallene ließ sich nicht leugnen, weder die abenteuerliche Suche, die sie gemeinsam auf sich genommen hatten, noch die gegenseitige Anziehung.

»Mr. Lord.«

Dass ihn hier jemand quer durch die teure Hotellobby bei seinem Namen rief, überraschte ihn. Eigentlich sollte ihn in San Francisco niemand kennen.

Akilina und er blieben stehen und drehten sich um.

Ein munter wirkender, zwergenhafter Mann mit schwarzem Haar und Schnurrbart kam auf sie zu, in einem europäisch geschnittenen Zweireiher mit breitem Revers. Er ging mit Hilfe eines Stockes und beschleunigte seine Schritte auch beim Näherkommen nicht.

»Ich bin Filip Witenka vom russischen Konsulat«, erklärte der Mann auf Englisch.

Lord richtete sich steif auf. »Woher wussten Sie, wo ich zu finden bin?«

»Könnten wir uns irgendwo setzen? Ich muss ein paar Dinge mit Ihnen besprechen.«

Lord hatte nicht die Absicht, mit diesem Mann irgendwo hinzugehen, und so zeigte er auf eine Sesselgruppe, die in der Nähe stand.

Als sie sich gesetzt hatten, begann Witenka: »Ich weiß von dem Vorfall vergangenen Freitag auf dem Roten Platz …«

»Würden Sie bitte Russisch sprechen, damit Fräulein Petrowa folgen kann? Das Englisch der Dame ist bei weitem nicht so gut wie das Ihre.«

»Natürlich«, antwortete Witenka auf Russisch und lächelte Akilina an. »Wie schon gesagt, ich weiß, was vergangenen Freitag auf dem Roten Platz vorgefallen ist. Ein Polizist kam dabei ums Leben. Sie werden von der Moskauer Polizei gesucht. Man möchte Sie dort befragen.«

Nun machte er sich allmählich Sorgen.

»Ich weiß auch von Ihrer Begegnung mit einem gewissen Inspektor Felix Oleg. Mir ist bewusst, Mr. Lord, dass Sie mit den Schuldigen des Vorfalls am Roten Platz nicht unter einer Decke stecken. Vielmehr ist ein Verdacht auf Inspektor Oleg gefallen. Man hat mich angewiesen, den Kontakt zu Ihnen herzustellen und Sie um Ihre Mithilfe zu bitten.«

Das überzeugte Lord nicht. »Sie haben noch immer nicht gesagt, wie Sie uns gefunden haben.«

»Unser Konsulat behält seit Jahren zwei Finanzinstitute dieser Stadt im Auge. Beide wurden schon zur Zeit der Zaren gegründet, und Bevollmächtigte des letzten Zaren nutzten sie als Depots für Wertgegenstände. Man nimmt an, dass Nikolaus II. vor der Revolution Gold aus Russland herausschaffen ließ. Als Sie gestern in beiden Bankinstituten auftauchten und Zugang zu einem Banksafe wünschten, den wir schon lange mit dem Zarenhaus in Verbindung bringen, hat man uns sofort benachrichtigt.«

»Das ist eindeutig gesetzeswidrig«, erklärte Lord. »Wir sind hier nicht in Russland. In diesem Lande gibt es ein Bankgeheimnis.«

Der Diplomat wirkte nicht weiter beunruhigt. »Ich kenne Ihre Gesetze. Vielleicht beziehen diese sich ja auch auf die Verwendung gefälschter Gerichtsurkunden, mit denen Sie sich Zugang zu einem Bankschließfach verschafft haben, das Ihnen nicht gehört?«

Er verstand die Botschaft. »Was wollen Sie?«

»Inspektor Oleg wird seit einiger Zeit von uns beobachtet. Er hat Kontakte zu einer bestimmten Organisation, die beabsichtigt, die Entscheidung der Zarenkommission zu beeinflussen. Artemy Bely, der junge Rechtsanwalt, der erschossen worden ist, musste sterben, weil er Fragen zu Oleg und seinen Kontakten stellte. Unglücklicherweise waren Sie damals vor Ort. Die Täter, die Bely ermordeten, dachten, er habe sich vielleicht Ihnen anvertraut, was ihr Interesse an Ihnen erklärt. Ich weiß, dass es dann in Moskau und am Roten Platz zu einer Verfolgungsjagd kam …«

»Und außerdem in einem Zug von St. Petersburg nach Moskau.«

»Darüber weiß ich nichts.«

»Was für eine Organisation ist das denn, die die Kommission zu beeinflussen versucht?«

»Wir hofften, dass Sie das vielleicht wissen. Meiner Regierung ist lediglich bekannt, dass bestimmte Individuen zusammenarbeiten, und dass große Geldsummen den Besitzer gewechselt haben. Oleg steht mit ihnen in Verbindung. Der Gründungszweck dieser Organisation scheint darin zu bestehen, die Wahl Stefan Baklanows zum Zar durchzusetzen.«

Was der Russe da sagte, machte Sinn, aber Lord hatte trotzdem noch Fragen: »Verdächtigt man vielleicht auch amerikanische Geschäftsleute, in die Sache involviert zu sein? Meine Anwaltskanzlei vertritt eine große Zahl dieser Unternehmen.«

»Wir halten das für wahrscheinlich. Vermutlich ist das sogar die Finanzierungsquelle. Auch hier hoffen wir auf Ihre Hilfe.«

»Haben Sie schon mit meinem Chef Taylor Hayes gesprochen?«

Witenka schüttelte den Kopf. »Meine Regierung war bemüht, alle Nachforschungen in Grenzen zu halten, damit keiner merkt, dass sie informiert ist. Es wird bald zu Festnahmen kommen, aber man hat mich gebeten, Sie daraufhin zu befragen, ob Sie der Sache noch etwas hinzufügen können. Außerdem würde ein Gesandter aus Moskau sich gerne einmal mit Ihnen unterhalten.«

Nun machte Lord sich wirklich große Sorgen. Der Gedanke, dass jemand aus Moskau wusste, wo er sich aufhielt, gefiel ihm ganz und gar nicht.

Seine Befürchtungen mussten in seinem Gesicht zu lesen sein. Witenka sagte: »Sie haben nichts zu befürchten, Mr. Lord. Das Gespräch wird per Telefon stattfinden. Ich versichere Ihnen, dass ich eine Regierung vertrete, die an all dem, was in den letzten Tagen vorgefallen ist, großes Interesse hat. Wir brauchen Ihre Mithilfe. In zwei Tagen wird die Kommission die endgültige Entscheidung treffen. Falls die Entscheidungsfindung korrumpiert wurde, müssen wir das wissen.«

Lord erwiderte nichts.

»Wir können mit den alten Methoden kein neues Russland aufbauen. Wenn Kommissionsmitglieder bestochen wurden, hat man vielleicht auch Stefan Baklanow kompromittiert. Das können wir nicht zulassen.«

Lord sah schnell zu Akilina hinüber; diese hielt seinen Blick fest, um ihre Sorge zu signalisieren. Da Lord nun schon mit einem Angehörigen des Konsulats redete, wollte er auch einiges in Erfahrung bringen. »Warum ist Ihre Regierung eigentlich immer noch hinter dem Gold der Zaren her? Das erscheint mir lächerlich. Es ist doch schon so lange her.«

Witenka lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. »In der Zeit vor 1917 besaß Nikolaus II. Gold im Wert von Millionen. Die Sowjets hielten es für ihre Pflicht, auch die letzten Reste dieses Vermögens aufzuspüren. San Francisco wurde zum Mittelpunkt der alliierten Unterstützung für die Weiße Armee. Beträchtliche Mengen des Zarengoldes wurden hier für all jene Londoner und New Yorker Banken hinterlegt, die Waffen- und Munitionskäufe finanzierten. Russische Emigranten folgten dem Gold nach San Francisco. Viele waren einfach nur Flüchtlinge, aber einige kamen auch mit einer bestimmten Absicht.« Der Gesandte saß kerzengerade auf dem Stuhl, und sein stocksteifer Rücken spiegelte seine pedantische Persönlichkeit. »Der damalige russische Generalkonsul erklärte sich offiziell zum Gegner der Bolschewisten und engagierte sich aktiv für ein amerikanisches Eingreifen in den russischen Bürgerkrieg. Dieser Mann bereicherte sich auch persönlich an den zahlreichen Gold-gegen-Waffen-Geschäften, die über die Banken San Franciscos getätigt wurden. Die Sowjets gelangten zu der Überzeugung, dass große Goldmengen, die sie als ihr Eigentum betrachteten, noch immer hier waren. Dann war da noch diese Angelegenheit mit Oberst Nikolas F. Romanow.«

Seinem Tonfall hörte man an, dass jetzt etwas Wichtiges kam. Witenka griff in die Tasche seines Jacketts, holte ein zusammengelegtes Blatt Papier heraus und reichte es Lord. Es war die Kopie eines Zeitungsartikels aus dem San Francisco Examiner, der das Datum 16. Oktober 1919 trug. Der Artikel berichtete von der Ankunft eines Obersts, der denselben Nachnamen wie das entthronte Kaisergeschlecht trug. Angeblich befand er sich auf dem Weg nach Washington, um dort für die Unterstützung Amerikas für die Weiße Armee zu werben.

»Sein Eintreffen erregte einiges Aufsehen. Das hiesige Konsulat ließ ihn überwachen. Die Überwachungsprotokolle liegen noch bei uns. Niemand weiß, ob dieser Oberst nun ein echter Romanow war oder nicht. Wahrscheinlich war er keiner, und der Name sollte nur das öffentliche Interesse wecken. Es gelang ihm, die Überwacher abzuschütteln, und so haben wir tatsächlich nicht die geringste Ahnung, was er während seines Aufenthalts hier unternahm oder wohin er verschwand. Wir wissen allerdings, dass damals mehrere Konten eröffnet wurden, eines davon bei der Commerce & Merchants Bank, und dass außerdem vier Bankschließfächer angemietet wurden. Eines der vier ist ebenjene Nummer sieben sechzehn, zu der Sie sich gestern Zugang verschafften.«

Allmählich wurde Lord klar, worauf das Interesse seines Gesprächspartners abzielte. Es passte zu viel zusammen, es konnte kein Zufall mehr sein.

»Möchten Sie mir erzählen, was Sie in dem Banksafe gefunden haben, Mr. Lord?«

Lord traute dem Gesandten nicht genug, um ihm diese Information zu geben. »Noch nicht.«

»Vielleicht sagen Sie es ja dem Moskauer Beauftragten?«

Auch da war Lord sich nicht sicher, und so erwiderte er gar nichts. Witenka schien sein Zögern zu spüren. »Mr. Lord, ich habe offen mit Ihnen gesprochen. Sie haben keinen Grund, meine ehrlichen Absichten anzuzweifeln. Gewiss verstehen Sie doch, dass meine Regierung ein großes Interesse daran hat zu erfahren, was vorgefallen ist.«

»Und Sie verstehen doch gewiss, warum ich vorsichtig bin. In den letzten Tagen musste ich immer wieder unter Lebensgefahr flüchten. Außerdem haben Sie mir, nebenbei bemerkt, auch nicht erklärt, wie Sie uns finden konnten.«

»Als Sie das Formular der Bank ausfüllten, haben Sie dieses Hotel hier als Adresse angegeben.«

Gute Antwort, dachte Lord.

Witenka griff in seine Tasche und zog eine Visitenkarte hervor. »Ich verstehe Ihr Zögern, Mr. Lord. Unter dieser Adresse können Sie mich jederzeit kontaktieren. Jeder Taxifahrer kennt den Weg zum Russischen Konsulat. Der Moskauer Beauftragte wird heute um vierzehn Uhr dreißig hiesiger Zeit anrufen. Wenn Sie mit ihm reden wollen, kommen Sie bitte in mein Büro. Andernfalls lassen wir Sie in Ruhe, und Sie werden nichts mehr von uns hören.«

Lord nahm die Visitenkarte entgegen und sah dem Gesandten aufmerksam ins Gesicht, noch immer unschlüssig, was er tun würde.

 

Akilina beobachtete Lord, der im Hotelzimmer auf und ab marschierte. Vormittags hatten sie alte Zeitungen in der öffentlichen Bibliothek gelesen und auch tatsächlich einige Artikel über den Besuch gefunden, den Oberst Nikolas F. Romanow im Herbst 1919 in San Francisco gemacht hatte. Viel war es nicht, und das wenige entstammte eher den Klatschspalten. Akilina spürte Lords wachsende Enttäuschung. Sie hatten sich außerdem vergewissert, dass das Lilien-im-Tal-Ei noch immer zu der New Yorker Privatsammlung gehörte, was allerdings nicht erklärte, wieso sie ein Duplikat besaßen, das dem Original – abgesehen von den Fotos – ganz genau glich.

Nach einem leichten Mittagessen in einem der Straßencafés waren sie auf ihr Zimmer zurückgekehrt. Lord hatte Akilina noch nicht auf Filip Witenkas Vorschlag angesprochen, ihn am Nachmittag im russischen Konsulat zu besuchen. Sie hatte den Gesandten während seines Gesprächs mit Lord aufmerksam beobachtet und versucht, sich ein Bild von seiner Aufrichtigkeit zu machen, war aber zu keinem eindeutigen Ergebnis gelangt.

Sie musterte Lord: ein gut aussehender Mann. Dass er »farbig« war, wie man das nannte, störte sie nicht. Er wirkte wie ein offener, ehrlicher Mensch, der in eine außergewöhnliche Lage geraten war. Bisher hatten sie fünf Nächte im selben Zimmer verbracht, und in dieser Zeit hatte er noch kein einziges Mal etwas Unschickliches versucht. Das war in ihren Augen ungewöhnlich, da die Männer im Zirkus und die wenigen Männer, mit denen sie außerhalb ihrer Arbeit zu tun hatte, sehr sexfixiert wirkten.

»Akilina.«

Ihr Name rief sie in die Realität zurück. Sie blickte Lord an.

»Was denkst du?«, fragte er.

Sie wollte ihm nicht sagen, was ihr eben wirklich durch den Kopf gegangen war, und so bemerkte sie stattdessen: »Filip Witenka wirkte aufrichtig.«

»Das stimmt. Aber das hat möglicherweise nichts zu bedeuten.«

Lord saß auf der Bettkante. Er hatte das Fabergé-Ei in der Hand. »Irgendwas muss uns entgangen sein. Ein Teil des Geheimnisses ist verloren gegangen. Wir stecken eindeutig in einer Sackgasse.«

Sie wusste, was er damit sagen wollte. »Du gehst zum Konsulat?«

Er sah sie an. »Mir bleibt wohl keine andere Wahl. Wenn irgendjemand versucht, die Kommission zu manipulieren, muss ich helfen, wo ich kann.«

»Aber du weißt doch gar nichts.«

»Ich bin neugierig auf das, was ich von dem Moskauer Beauftragten erfahren werde. Vielleicht erweist diese Information sich als wichtig für meinen Arbeitgeber. Vergiss nicht, ursprünglich sollte ich dafür sorgen, dass nichts Stefan Baklanows Wahl gefährdet. Ich muss meine Arbeit tun.«

»Dann gehen wir zusammen hin.«

»Nein. Ich gehe vielleicht ein Risiko ein, aber dumm werde ich mich nicht verhalten. Ich möchte, dass du diese Sachen hier nimmst und in ein anderes Hotel ziehst. Verschwinde durch die Tiefgarage. Meide den Vordereingang und die Lobby. Möglicherweise werden wir beobachtet. Es könnte sein, dass man dir folgt, daher solltest du zum neuen Hotel einen Umweg einschlagen. Nimm die U-Bahn, den Bus und vielleicht auch ein Taxi. Fahr ein paar Stunden auf verschiedene Weise in der Stadt herum. Ich gehe um vierzehn Uhr dreißig ins Konsulat. Ruf mich um fünfzehn Uhr dreißig an. Benutze ein Münz- oder Kartentelefon. Wenn ich mich nicht melde oder man dort sagt, dass ich nicht zu sprechen oder schon gegangen bin, gehst du in Deckung. Verhalte dich unauffällig.«

»Das gefällt mir gar nicht.«

Lord stand auf und ging zum Tisch an der Wand, auf dem der Samtbeutel lag. Er schob das Ei hinein. »Mir auch nicht, Akilina. Aber uns bleibt keine andere Wahl. Falls es noch direkte Nachfahren der Romanows gibt, muss die russische Regierung das wissen. Wir können unser Leben nicht danach ausrichten, was Rasputin vor Jahrzehnten gesagt hat.«

»Aber wir haben doch keine Ahnung, wo wir suchen sollen.«

»Vielleicht melden sich die Nachfahren Alexejs und Anastasias ja, wenn man die Sache öffentlich macht. Mit DNA-Tests lassen sich echte und unechte Ansprüche mühelos unterscheiden.«

»Wir haben den Auftrag, die Sache allein durchzuführen.«

»Wir sind der Adler und der Rabe, oder? Also können wir die Regeln selber machen.«

»Das glaube ich nicht. Ich glaube, dass wir die Erben des Zaren so finden müssen, wie der Starez es vorhergesagt hat.«

Lord lehnte sich gegen den Tisch. »Das russische Volk muss die Wahrheit wissen. Warum sind Offenheit und Ehrlichkeit euch Russen so fremd? Ich bin der Ansicht, dass eure Regierung und das Außenministerium der Vereinigten Staaten diese Angelegenheit untereinander regeln sollten. Ich werde dem Mann aus Moskau alles berichten.«

Sie empfand Unbehagen angesichts von Lords Vorhaben, weil sie die Anonymität und den Schutz vorzog, den eine Stadt mit Hunderttausenden von Bewohnern bot. Aber vielleicht hatte er ja Recht. Vielleicht ließen die zuständigen Behörden sich ja warnen und konnten noch etwas unternehmen, bevor die Zarenkommission Stefan Baklanow oder einen anderen Anwärter zum nächsten Zaren Russlands wählte.

»Mein Auftrag lautete, alles aufzuspüren, was Auswirkungen auf Baklanows Anspruch haben könnte. Ich denke, die derzeitigen Umstände fallen eindeutig unter diese Anweisung. Der Mann, für den ich arbeite, muss erfahren, was wir wissen. Hier steht eine Menge auf dem Spiel, Akilina.«

»Vielleicht deine Karriere?«

Lord schwieg einen Moment. »Vielleicht.«

Gerne hätte sie weiter nachgefragt, entschied sich aber dagegen. Er war offensichtlich zu einem Entschluss gekommen und wirkte nicht wie ein Mensch, der sich leicht umstimmen ließ. Sie würde eben darauf vertrauen müssen, dass er wusste, was er tat.

»Wie findest du mich, wenn du aus dem Konsulat kommst?«, fragte sie.

Er nahm eine Broschüre aus einem kleinen Infostapel für Hotelgäste. Es war ein farbenprächtiges Werbeblatt, auf dem vorn die Fotos eines Zebras und eines Tigers abgebildet waren.

»Der Zoo ist bis neunzehn Uhr geöffnet. Dort treffen wir uns. Im Löwenhaus. Du kannst genug Englisch, um hinzufinden. Wenn ich dort nicht bis achtzehn Uhr auftauche, gehst du zur Polizei und erzählst ihnen alles. Bitte sie, einen Vertreter des US-Außenministeriums hinzuzurufen. Der Mann, für den ich arbeite, heißt Taylor Hayes. Er wohnt derzeit in Moskau der Tagung der Zarenkommission bei. Du musst veranlassen, dass ein US-Beauftragter Kontakt mit ihm aufnimmt. Erkläre ihnen alles. Wenn ich um fünfzehn Uhr dreißig bei deinem Anruf nicht selbst ans Telefon komme, glaub kein Wort von dem, was man dir sagt. Nimm das Schlimmste an und tu, was ich dir gesagt habe. Einverstanden?«

Akilina sagte Lord, dass ihr das alles nicht gefiel.

»Das verstehe ich«, erwiderte Lord. »Witenka wirkte so, als wäre er in Ordnung. Und wir befinden uns hier in San Francisco, nicht in Moskau. Aber wir müssen realistisch bleiben. Falls es hier um mehr geht, als man uns gesagt hat, bezweifle ich, dass wir uns jemals Wiedersehen.«

35

14.30 Uhr

 

Das russische Konsulat befand sich in einer vornehmen Straße westlich des Bankenviertels, nicht weit von Chinatown und dem Reichenviertel Nob Hill. Das Konsulat, ein zweigeschossiger, rötlich brauner Sandsteinbau mit Türmchen, lag an einer belebten Kreuzung. Das obere Stockwerk wies Balkone mit verschnörkelten Metallbalustraden auf; das Dach war von einem schmiedeeisernen First gekrönt.

Lord ließ sich von seinem Taxi vor dem Gebäude absetzen. Ein kühler Nebel wehte vom Ozean landeinwärts und jagte ihm einen Schauer über den Rücken. Er bezahlte den Fahrer und folgte einem mit Backsteinen gepflasterten Weg zu einem Treppenvorbau aus Granit. Der Eingang wurde von zwei Marmorlöwen bewacht. Auf einem Bronzeschild an der steinernen Mauer stand: KONSULAT DER RUSSISCHEN FÖDERATION.

Er betrat ein Foyer mit goldbrauner Eichenholztäfelung, eleganten Skulpturen und Mosaikboden. Ein uniformierter Wächter schickte ihn ins Obergeschoss, wo Filip Witenka ihn erwartete.

Witenka schüttelte ihm die Hand und bot ihm einen mit Brokat bezogenen Lehnstuhl an. »Ich freue mich sehr, dass Sie sich zur Zusammenarbeit mit uns entschlossen haben, Mr. Lord. Meine Regierung wird sehr angetan sein.«

»Ich muss sagen, Mr. Witenka, dass allein schon der Gedanke, hier zu sein, mir Unbehagen bereitet. Aber ich dachte, dass ich tun sollte, was ich tun kann.«

»Ich erwähnte Ihr Widerstreben gegenüber meinen Vorgesetzten in Moskau, die enttäuscht reagierten, mir aber versicherten, dass nichts unternommen werden sollte, um Ihre Mithilfe zu erzwingen. Man versteht dort voll und ganz, was Sie durchgemacht haben, und bedauert die unglückseligen Ereignisse während Ihres Aufenthaltes in Russland.«

Witenka griff nach einem Päckchen Zigaretten, die ohne Zweifel die Ursache des eigentümlichen Geruchs waren, der im Raum hing. Er bot Lord eine Zigarette an, doch dieser lehnte ab.

»Mir wäre es auch lieber, wenn ich nicht so von diesem Genuss abhängig wäre.« Witenka hatte das Filterstück in einen langen, silbernen Zigarettenhalter gesteckt und zündete die Zigarette an. Dicke Rauchkräusel stiegen auf.

»Mit wem werde ich denn sprechen?«, fragte Lord.

»Mit einem Regierungsvertreter im Justizministerium. Er kannte Artemy Bely. Derzeit werden für Felix Oleg und einige andere Verdächtige Haftbefehle vorbereitet. Der Mann, mit dem Sie sprechen werden, ist die Speerspitze dieser Aktion. Weitere Fakten könnten jedoch helfen, das Vorgehen gegen diese Kriminellen hieb- und stichfest zu machen.«

»Wurde die Zarenkommission gewarnt?«

»Ihr Vorsitzender weiß Bescheid über die Vorgänge, aber wie Sie gewiss verstehen werden, wurde die Öffentlichkeit bisher nicht informiert. Das würde die Untersuchung gefährden. Politisch scheint unsere Lage derzeit äußerst krisenanfällig zu sein, und die Kommission ist mit ihren Überlegungen in die entscheidende Phase eingetreten.«

Allmählich entspannte Lord sich ein wenig. Die Situation kam ihm nicht länger bedrohlich vor, auch bemerkte er nichts Verdächtiges in Witenkas Worten und seinem Verhalten.

Mit einem schrillen Läuten erwachte das Telefon auf dem Schreibtisch zum Leben. Witenka nahm den Anruf auf Russisch entgegen und gab Anweisungen, das Gespräch durchzustellen. Dann legte er den Hörer auf und drückte eine Taste. Nun ertönte eine Stimme aus dem Lautsprecher.

»Mr. Lord, mein Name ist Maxim Zubarew. Ich arbeite im Moskauer Justizministerium. Ich hoffe, Sie hatten einen angenehmen Tag.«

Lord fragte sich, woher der Anrufer wusste, dass er Russisch sprach, nahm aber an, Witenka habe diese Information an ihn weitergegeben. »Bisher ja, Herr Zubarew. Sie sind noch spät auf den Beinen.«

Im Lautsprecher war ein Glucksen zu hören. »Hier in Moskau ist es jetzt mitten in der Nacht. Aber diese Angelegenheit ist extrem wichtig. Wir waren äußerst erleichtert, als Sie in San Francisco auftauchten. Wir hatten schon befürchtet, Ihre Verfolger hätten Erfolg gehabt.«

»Wie ich hörte, waren die Typen eigentlich hinter Artemy Bely her.«

»Ja, Bely hat in meinem Auftrag unauffällig Nachforschungen angestellt. Ich mache mir Vorwürfe wegen seines Todes. Aber er wollte uns helfen. Zu spät habe ich bemerkt, wie weit die Verbindungen der Verräter reichen, und mein Herz schmerzt wegen dieses Versagens.«

Lord beschloss, so viel wie nur möglich in Erfahrung zu bringen. »Hat die Kommission ihre Unabhängigkeit verloren?«

»Wir haben noch keine endgültigen Beweise. Aber wir vermuten es. Wir hoffen allerdings, dass die Korruption begrenzt war und sich schnell bekämpfen lässt. Ursprünglich wurde angenommen, die Vorgabe der Einstimmigkeit würde einen solchen Missbrauch verhindern, aber ich fürchte, dass diese Bedingung das Ausmaß der Bestechungen doch eher vergrößert hat.«

»Ich arbeite für Taylor Hayes. Er ist ein amerikanischer Rechtsanwalt mit engen Beziehungen zu ausländischen Investoren in Russland.«

»Ich kenne Mr. Hayes.«

»Könnten Sie ihn anrufen und ihm mitteilen, wo ich mich aufhalte?«

»Selbstverständlich. Aber könnten Sie mir bitte sagen, warum Sie in San Francisco sind und sich Zugang zum Banksafe der Commerce & Merchants Bank verschafft haben?«

Lord lehnte sich hinten an. »Ich bin mir nicht sicher, ob Sie mir glauben, wenn ich es Ihnen sage.«

»Dann machen wir doch die Probe aufs Exempel.«

»Ich suche nach Alexej und Anastasia Romanow.«

Auf der anderen Seite der Leitung kam es zu einer langen Pause. Witenka warf ihm einen erstaunten Blick zu.

»Könnten Sie mir das erklären, Mr. Lord?«, kam die Stimme aus dem Lautsprecher.

»Anscheinend konnten diese beiden Romanow-Kinder aus Jekaterinburg entkommen und wurden von Felix Jussupow hierher in die Vereinigten Staaten gebracht. Er erfüllte eine Prophezeiung, die Rasputin im Jahre 1916 ausgesprochen hatte. Dafür fand ich Belege in den Moskauer Archiven.«

»Womit wollen Sie das beweisen?«

Bevor er noch antworten konnte, war von draußen das Heulen eines Notfallwagens zu hören, der unten auf der Straße vorbeifuhr. Normalerweise hätte er dem keine Aufmerksamkeit geschenkt, aber dasselbe Heulen ertönte auch aus dem Lautsprecher.

Lord war sofort klar, was das zu bedeuten hatte.

Er sprang auf die Beine und schoss aus dem Raum.

Witenka rief seinen Namen.

Lord riss die Tür auf und sah in Hängelids Grinsegesicht. Hinter ihm stand Felix Oleg. Hängelid schlug Lord die Faust ins Gesicht. Er taumelte rückwärts und stieß gegen Witenkas Tisch. Aus seiner Nase strömte Blut. Sein Blick flimmerte, das Zimmer verschwand – und war wieder da.

Oleg stürmte vor und schlug auf ihn ein.

Lord ging zu Boden. Jemand sagte etwas, aber er konnte die Wörter nicht mehr auseinander halten.

Obwohl er dagegen ankämpfte, umfing ihn Dunkelheit.

36

Lord wachte auf. Er war auf denselben Stuhl gefesselt, auf dem er während seines Gesprächs mit Witenka gesessen hatte, die Arme und Beine mit Isolierband fixiert und den Mund zugeklebt. Seine Nase tat weh, und Pullover und Jeans waren mit Blut befleckt. Er konnte zwar noch sehen, doch sein rechtes Auge war zugeschwollen, und die drei Männer, die vor ihm standen, wirkten verschwommen.

»Aufwachen, Mr. Lord.«

Er konzentrierte sich auf den Sprecher. Oleg. Er sprach Russisch.

»Sie können mich gewiss verstehen. Ich schlage vor, Sie geben zu erkennen, ob Sie mich hören oder nicht.«

Er schüttelte leicht den Kopf.

»Gut. Wie schön, Sie hier in Amerika, dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten, wiederzusehen. Ein wunderbares Land, nicht wahr?«

Hängelid trat vor und rammte Lord die Faust zwischen die Beine. Der Schmerz fuhr Lord wie ein Stromstoß durchs Rückgrat und trieb ihm die Tränen in die Augen. Das Band über seinem Mund erstickte seinen Schrei. Sein Atem ging pfeifend vom verzweifelten Bemühen, durch die schmerzende Nase genug Luft zu bekommen.

»Verdammter Tschorni«, knurrte Hängelid.

Er holte erneut zum Schlag aus, doch Oleg packte seine Faust. »Genug. Sonst wird er wertlos für uns.« Oleg schob Hängelid zum Schreibtisch zurück und trat dann näher an Lord heran. »Mr. Lord, dieser Herr hier mag Sie nicht. Sie haben ihm Spray in die Augen gesprüht und ihn auf den Kopf geschlagen. Er würde Sie nur zu gerne umbringen, und dagegen hätte ich auch gar nichts einzuwenden, aber die Leute, für die ich arbeite, brauchen ein paar Informationen von Ihnen. Sie haben mir die Vollmacht erteilt, Ihnen im Tausch für Ihre Kooperation das Leben zu schenken.«

Lord glaubte ihm keine Sekunde. Offensichtlich verrieten seine Augen dieses Misstrauen.

»Sie glauben mir nicht. Ausgezeichnet. Nun, es ist in der Tat eine Lüge. Sie werden sterben, das ist sicher. Aber Ihre Kooperationsbereitschaft wird die Art Ihres Todes beeinflussen.« Oleg hatte sich dicht über ihn gebeugt, und sein Gestank nach billigem Fusel vermischte sich mit dem Geruch von Lords Blut. »Es gibt zwei Möglichkeiten. Eine Kugel in den Kopf, was schnell und schmerzlos ist, oder das hier.« Oleg zeigte ihm ein Stück Isolierband, das von seinem ausgestreckten Zeigefinger herabbaumelte, riss es los und drückte es über Lords gebrochener Nase fest.

Der Schmerz ließ ihm erneut die Tränen in die Augen schießen, doch wirklich alarmierend war das plötzliche Ausbleiben des Atems. Jetzt, wo Nase und Mund verschlossen waren, war der Sauerstoffrest in seiner Lunge bald verbraucht. Dabei war nicht nur das Einatmen, sondern auch das Ausatmen unmöglich, und der hochschießende Kohlendioxidpegel führte dazu, dass er langsam das Bewusstsein verlor. Kurz bevor die Dunkelheit ihn überwältigte, riss Oleg ihm das Band von der Nase.

Keuchend sog Lord seine Lunge mit Luft voll.

Mit jedem Atemzug rann ihm Blut in die Kehle. Er konnte es nicht ausspucken und schluckte es daher hinunter, sog weiter die Luft durch die Nase ein und kostete nun seinen Atem, den er bisher für selbstverständlich gehalten hatte, aufs Letzte aus.

»Die zweite Option ist nicht besonders angenehm, nicht wahr?«, fragte Oleg.

Wenn er gekonnt hätte, hätte er Felix Oleg mit bloßen Händen erwürgt. Ohne das geringste Zögern und ohne einen Hauch von schlechtem Gewissen. Wieder verrieten ihn seine Augen.

»Was für ein Hass. Sie würden mich jetzt am liebsten umbringen, nicht wahr? So ein Pech, dass Sie niemals Gelegenheit dazu bekommen werden. Wie schon gesagt, Sie werden sterben. Die einzige Frage ist, ob es schnell geht oder lange dauert. Und ob Akilina Petrowa Ihnen Gesellschaft leisten wird.«

Als Akilinas Name fiel, verhakte Lords Blick sich in Olegs Augen.

»Dachte ich mir doch, dass das Ihre Aufmerksamkeit wecken würde.«

Filip Witenka trat hinter Oleg. »Das geht aber jetzt zu weit! Als ich die Information an Moskau weitergab, war von Mord nicht die Rede.«

Oleg wandte sich zu ihm um. »Setz dich und halt die Klappe.«

»Was denken Sie eigentlich, mit wem Sie hier reden?«, blaffte Witenka ihn an. »Ich bin der Generalkonsul dieses Konsulats. Keiner von der Moskauer Milizija erteilt mir Befehle.«

»Der hier schon.« Oleg machte Hängelid ein Zeichen. »Schaff mir diesen Idioten aus dem Weg.«

Witenka wurde zurückgestoßen. Der Konsul befreite sich rasch aus Hängelids Griff und sagte: »Ich rufe Moskau an. Ich halte das hier für gänzlich unnötig. Irgendetwas stimmt hier nicht.«

Die Tür zum Büro ging auf, und ein älterer Herr mit einem länglichen, zernarbten Gesicht und runzligen Augen in der Farbe glänzend polierter Pennystücke trat ein. Er trug einen dunklen Geschäftsanzug.

»Konsul Witenka, keiner wird Moskau anrufen. Habe ich mich deutlich genug ausgedrückt?«

Witenka zögerte einen Moment, während er diese Worte verarbeitete. Lord erkannte die Stimme. Er hatte sie eben im Lautsprecher des Telefons gehört. Witenka zog sich in einen Winkel des Büros zurück.

Der neue Mann trat vor. »Ich bin Maxim Zubarew. Wir haben uns eben unterhalten. Offensichtlich ist unsere kleine Finte schief gelaufen.«

Oleg trat zurück. Anscheinend hatte dieser ältere Herr hier das Kommando.

»Der Inspektor hat Ihnen ganz richtig gesagt, dass Sie sterben werden. Ich bedaure das, habe aber keine andere Wahl. Ich kann Ihnen aber versprechen, dass wir Fräulein Petrowa verschonen werden. Wir haben keinen Grund, sie mit in diese Sache hineinzuziehen, solange sie keine relevanten Informationen besitzt. Natürlich haben wir bisher nicht erfahren, was Sie eigentlich wissen. Ich werde jetzt veranlassen, dass Inspektor Oleg ihnen den Klebestreifen vom Mund nimmt.« Der ältere Herr machte Hängelid ein Zeichen, der sofort die Tür zum Gang schloss. »Sie können sich die Mühe sparen, gleich um Hilfe zu rufen. Dieser Raum ist schallisoliert. Aber vielleicht können wir uns ja gesittet unterhalten. Wenn ich überzeugt bin, dass Sie die Wahrheit sagen, werden wir Fräulein Petrowa in Ruhe lassen.«

Zubarew trat zurück, und Oleg riss Lord den Klebestreifen vom Mund. Lord bewegte die Kinnladen, um sie wieder beweglich zu machen.

»Besser, Mr. Lord?«, fragte Zubarew.

Lord erwiderte nichts.

Zubarew zog einen Stuhl heran und setzte sich Lord gegenüber. »Jetzt sagen Sie mir, was Sie am Telefon sagen wollten, bevor Sie das Gespräch abbrachen. Welche Beweise haben Sie für Ihre Überzeugung, dass Alexej und Anastasia Romanow die Machtergreifung der Bolschewiken überlebten?«

»Sie haben Baklanow gekauft, nicht wahr?«

Der Ältere seufzte. »Ich sehe nicht, inwiefern das von Bedeutung sein sollte, aber in der Hoffnung auf Ihre Kooperation will ich es Ihnen sagen. Ja. Derzeit könnte nur noch eines seine Krönung verhindern, nämlich das Auftauchen direkter Nachfahren Nikolaus II.«

»Was bezwecken Sie eigentlich damit?«

Zubarew lachte. »Es geht um Stabilität, Mr. Lord. Die Wiedereinsetzung eines Zaren könnte nicht nur meine Interessen massiv berühren, sondern auch die Interessen zahlreicher anderer Personen. Waren Sie denn nicht aus diesem Grunde in Moskau?«

»Ich hatte keine Ahnung, dass Baklanow eine Marionette ist.«

»Er ist eine willige Marionette, und wir sind geschickte Marionettenspieler. Russland wird unter seiner Herrschaft gedeihen, und wir nicht minder.«

Zubarew untersuchte beiläufig die Fingernägel seiner rechten Hand und sah dann Lord an. »Wir wissen, dass Fräulein Petrowa sich hier in San Francisco aufhält. Sie befindet sich allerdings nicht länger in ihrem Hotel. Ich habe inzwischen Männer auf die Suche nach ihr geschickt. Falls ich sie finde, bevor Sie mir sagen, was Sie wissen, wird es keine Gnade geben. Die Männer werden es dann nach Herzenslust mit ihr treiben und tun, wonach ihnen der Sinn steht.«

»Wir sind hier nicht in Russland«, bemerkte Lord.

»Richtig. Aber genau dort wird sie sich befinden, wenn es so weit kommt. Im Flughafen wartet schon ein Flugzeug darauf, sie zurückzubringen. Sie ist zum Verhör vorgeladen, was wir bereits mit Ihren Grenzbehörden abgeklärt haben. Ihr FBI hat sogar Hilfe angeboten, um Sie und Fräulein Petrowa aufzuspüren. Internationale Kooperation ist doch etwas Wunderbares, nicht wahr?«

Lord wusste, was er zu tun hatte. Er konnte nur hoffen, dass Akilina die Stadt verließ, wenn er selbst nicht wie versprochen in den Zoo kam. Und so hoffte er bei Gott, dass sie klug genug war, den Flughafen zu meiden. Es machte ihn traurig, dass er sie niemals Wiedersehen würde. »Ich werde Ihnen einen Scheißdreck sagen.«

Zubarew stand auf. »Wie Sie wollen.«

Als Zubarew den Raum verließ, klebte Oleg Lord erneut den Mund mit einem Streifen Isolierband zu.

Hängelid trat näher, grinsend.

Lord hoffte auf ein rasches Ende, wusste aber, dass es nicht so kommen würde.

 

Hayes blickte vom Lautsprecher auf, als Maxim Zubarew den Raum betrat. Über ein Zimmermikrofon hatte er den gesamten Wortwechsel mit Lord verfolgt.

Er selbst, Chruschtschow, Hängelid und Oleg waren in der vergangenen Nacht wenige Stunden nach dem Anruf, der ihnen von Lords Auftauchen berichtete, aus Moskau abgeflogen. Die elf Stunden Zeitdifferenz ermöglichten es ihnen, die neuntausend Meilen rechtzeitig zurückzulegen, sodass sie in San Francisco eintrafen, als Lord dort gerade zu Mittag aß. Dank Zubarews Regierungsverbindungen ließen sich Polizeivisa für Oleg und Hängelid arrangieren. Was Chruschtschow Lord gerade gesagt hatte, entsprach der Wahrheit. Mit einem Telefongespräch hatte man sich der Hilfe des FBI und der Grenzkontrollen versichert, um Lord und Akilina Petrowa gegebenenfalls abzufangen, wobei Hayes allerdings alle weitergehenden Angebote der US-Behörden abgelehnt hatte, da er hoffte, die Situation im Griff zu haben. Unter Vorwand eines russischen Haftbefehls wegen Mordes hatte man mit dem US-Außenministerium für Lord und Petrowa eine ungehinderte Rückführung von Kalifornien nach Russland arrangiert, um dafür zu sorgen, dass die Grenzbeamten am Flughafen von San Francisco keine Fragen stellten. Auf diese Weise wollte man eine Enthüllung vereiteln und Lords weiteren Aktivitäten einen Riegel vorschieben. Das Problem bestand allerdings darin, dass man, abgesehen von der unglaublichen Behauptung, in den Vereinigten Staaten lebe ein unmittelbarer Nachfahre Nikolaus’ II. noch immer nicht wirklich wusste, hinter was Lord eigentlich her war.

»Ihr Mr. Lord ist ein Dickschädel«, maulte Chruschtschow, als er die Tür zumachte.

»Aber warum?«

Chruschtschow setzte sich. »Das ist die Frage des Tages. Als ich das Zimmer verließ, legte Oleg gerade zwei Drähte einer Lampe frei. Wenn ein paar Stromstöße durch Lords Körper fließen, löst ihm das vielleicht die Zunge, bevor wir ihn liquidieren.«

Durch den Lautsprecher hörte Hayes Hängelids Stimme, der Oleg aufforderte, den Stecker wieder in die Dose zu stecken. Dann füllte ein vom Lautsprecher verstärkter fünfzehn Sekunden langer Schrei den Raum.

»Vielleicht überlegen Sie es sich ja noch einmal und erzählen uns, was wir wissen wollen«, vernahm man Olegs Stimme.

Keine Antwort.

Ein weiterer Schrei. Diesmal länger.

Chruschtschow streckte die Hand nach einem Teller Pralinen aus und ertastete eine Schokoladenkugel. Er wickelte sie aus ihrer Goldfolie und steckte die Leckerei in den Mund. »Die beiden werden die Stromstöße verstärken, bis sein Herz schlappmacht. Ein schmerzhafter Tod erwartet ihn.«

Chruschtschows Stimme klang kühl, doch Hayes hatte wenig Mitleid mit Lord. Der Dummkopf hatte ihn in eine schwierige Lage gebracht, und sein irrationales Verhalten gefährdeten eine langwierige Planung und Millionen von Dollar. Jetzt war er genauso erpicht auf Informationen wie die Russen.

Ein weiterer Schrei erschütterte den Lautsprecher.

Das Telefon auf dem Schreibtisch läutete, und Hayes nahm ab. Eine Stimme am anderen Ende der Leitung informierte ihn, dass die Zentrale einen Anruf für Miles Lord empfangen habe. Die Rezeptionistin hielt ihn für wichtig und wollte nachfragen, ob Lord den Anruf entgegennehmen könne.

»Nein«, erklärte Hayes. »Mr. Lord ist gerade in einer Besprechung. Stellen Sie den Anruf hierher durch.« Er legte die Hand auf das Mundstück. »Stellt diesen Lautsprecher aus.«

Ein Klicken im Ohr und im Hörer war eine Frauenstimme zu hören: »Miles? Ist alles in Ordnung?« Sie sprach Russisch.

»Mr. Lord ist derzeit nicht zu sprechen. Er hat mich gebeten, Ihren Anruf entgegenzunehmen«, antwortete Hayes.

»Wo ist Miles? Und wer sind Sie?«

»Sie müssen Akilina Petrowa sein.«

»Woher wissen Sie das?«

»Fräulein Petrowa. Es ist wichtig, dass wir uns miteinander unterhalten.«

»Ich habe nichts zu sagen.«

Hayes machte ein Zeichen, den Lautsprecher wieder einzuschalten. Sofort erschallte ein von statischem Knistern umrauschter Schrei.

»Haben Sie das gehört, Fräulein Petrowa? Das war Miles Lord. Er wird im Moment von einem entschlossenen Angehörigen der Moskauer Milizija verhört. Sie können seinen Schmerzen ein Ende machen, wenn Sie uns mitteilen, wo Sie sich derzeit aufhalten, und dort auf uns warten.«

Schweigen am anderen Ende der Leitung.

Wieder ein Schrei.

»Er wird mit Stromströßen traktiert. Ich habe meine Zweifel, ob sein Herz noch lange durchhält.«

Ein Klicken im Telefon. Dann Stille.

Er starrte den Hörer an.

Der Schrei verstummte.

»Die Schlampe hat aufgelegt.« Hayes sah Chruschtschow an. »Ganz schön entschlossen, die beiden, nicht wahr?«

»Allerdings. Wir müssen in Erfahrung bringen, was sie wissen. Ihre Idee mit der Falle für Lord war gut, ist aber leider fehlgeschlagen.«

»Ich wette, diese beiden sind besser aufeinander abgestimmt, als wir denken. Lord hat klug daran getan, sie im Hintergrund zu lassen. Aber da die beiden ja hofften, dies hier wäre möglicherweise keine Falle, müssen sie einen Treffpunkt vereinbart haben.«

Zubarew seufzte. »Leider gibt es keine Möglichkeit, die Petrowa zu finden.«

Hayes lächelte. »Oh, sagen Sie das nicht.«

37

16.30 Uhr

 

Akilina drängte die Tränen zurück. Sie stand vor einem Münztelefon, und auf dem Bürgersteig eilten Passanten vorüber. Noch meinte sie Lords Schrei im Ohr zu haben. Was sollte sie tun? Lord hatte ihr ausdrücklich verboten, sich an die Polizei zu wenden, und ihr eingeschärft, nicht zum russischen Konsulat zu kommen. Vielmehr sollte sie ein neues Hotel beziehen und um achtzehn Uhr im Zoo auf ihn warten. Nur wenn er dort nicht auftauchte, sollte sie sich mit den amerikanischen Behörden in Verbindung setzen, und zwar vorrangig mit jemandem vom Außenministerium.

Sie war zutiefst aufgewühlt. Was hatte der Mann am Telefon gesagt? »Er wird mit Stromstößen traktiert. Ich habe meine Zweifel, ob sein Herz noch lange durchhält.« Er hatte das so gesagt, als hätte er keinerlei Skrupel zu morden. Sein Russisch war gut, doch sie bemerkte darin einen amerikanischen Akzent, was ihr sonderbar vorkam. Waren die amerikanischen Behörden ebenfalls korrupt? Arbeiteten sie vielleicht mit eben den Russen zusammen, die hinter Lord und ihr selbst her waren?

Den Blick zu Boden gerichtet, hielt sie den Hörer umklammert und nahm niemanden wahr, bis sie eine Hand auf der rechten Schulter spürte. Sie drehte sich um, und eine ältere Frau sagte etwas zu ihr. Sie konnte nur die Worte Sie und fertig verstehen. Jetzt strömten ihr Tränen aus den Augen. Die Frau bemerkte, dass sie weinte, und ihr Gesicht wurde weicher. Akilina riss sich zusammen, wischte sich schnell die Tränen aus den Augen und flüsterte spasibo in der Hoffnung, dass die Frau das russische Wort für »Danke« verstand.

Dann mischte sie sich in den Passantenstrom. Mit dem Geld, das Lord ihr gegeben hatte, hatte sie bereits ein Zimmer in einem neuen Hotel bezogen. Das Ei, die Goldbarren und die Zeitung hatte sie jedoch nicht, wie von Lord empfohlen, im Hotelsafe zurückgelassen. Stattdessen trug sie diese Gegenstände bei sich in einer Schultertasche, in der Lord bisher seine Toilettenartikel und Ersatzkleidung verstaut hatte. Sie wollte sie nichts und niemandem anvertrauen.

In den letzten zwei Stunden war sie zu Fuß herumgelaufen, in Cafés und Läden geschlüpft und wieder davongehuscht. Immer wieder hatte sie sich vergewissert, dass niemand ihr folgte. Sie war sich ziemlich sicher, unbeobachtet zu sein. Aber wo befand sie sich? Eindeutig westlich der Commerce & Merchants Bank jenseits des Bankenviertels der Stadt. Hier gab es zahlreiche Antiquitätengeschäfte, Kunstgalerien, Juweliere, Geschenkboutiquen, Buchhandlungen und Restaurants. Sie war ziellos umhergewandert. Das einzig Wichtige war, den Rückweg zu ihrem neuen Hotel zu wissen, doch sie hatte eines der Hotelwerbeblätter mitgenommen und konnte es jederzeit einem Taxifahrer zeigen.

Zu dieser Stelle der Stadt hatte sie ein Glockenturm gelockt, den sie aus einigen Blocks Entfernung bemerkt hatte. Die Architektur mit den vergoldeten Kreuzen und der Kuppel war unverkennbar russisch. Die Bauweise erinnerte Akilina an ihre Heimat, doch der Türgiebel, die mit Bossenwerk versehenen Steinmauern und eine Balustrade verwiesen deutlich auf fremde Einflüsse. Dank einer kyrillischen Transkription unter dem englischen Schild konnte sie den Namen lesen – Holy Trinity Cathedral und kam zu dem Schluss, dass es sich um eine russisch-orthodoxe Kirche handeln musste. Es war ihr, als würde sie in dem Gebäude Sicherheit finden, und rasch überquerte sie die Straße und trat ein.

Das Innere hatte die traditionelle Kreuzform, und der Altar war nach Osten ausgerichtet. Sie sah hoch zur Kuppel, von deren Mitte ein schwerer Messingkronleuchter herabhing. Von Messingleuchtern, die mit dicken, im gedämpften Licht flackernden Kerzen bestückt waren, wehte ein Hauch von Bienenwachs herüber und überlagerte den in der Luft hängenden Weihrauchgeruch. Von überall blickten ihr Ikonen entgegen – von den Wänden, den Buntglasscheiben der Fenster und von der Ikonostase, die Altarraum und Gemeinde trennte. In der Kirche ihrer Jugend war diese Absperrung offener gewesen und hatte freie Sicht auf die Priester dahinter geboten. Dies hier war jedoch eine feste Zwischenwand, mit rotgoldenen Bildern von Jesus und der Jungfrau Maria bemalt, und nur die offenen Türen gestatteten einen Blick in den Raum dahinter. Kirchenbänke oder -stühle waren nicht zu sehen. Offensichtlich begingen die Menschen hier, wie auch in Russland, den Gottesdienst stehend.

In der Hoffnung, dass Gott ihr in ihrer Notlage beistehen würde, trat sie vor einen Seitenaltar und begann zu weinen. Eigentlich hatte sie nicht nah ans Wasser gebaut, aber der Gedanke, dass Miles Lord gefoltert und vielleicht zu Tode gequält wurde, war einfach zu viel für sie. Sie sollte zur Polizei gehen, aber irgendetwas mahnte sie zur Vorsicht, als sei das nicht der richtige Weg. Bei den Behörden konnte man nicht unbedingt auf Rettung hoffen. Das war eine Lektion, die ihre Großmutter ihr eingetrichtert hatte.

Sie bekreuzigte sich und begann zu beten, murmelte Gebete, die man sie als Kind gelehrt hatte.

»Gibt es ein Problem, mein Kind?«, fragte hinter ihr eine Männerstimme auf Russisch.

Sie drehte sich um und blickte einem Priester mittleren Alters ins Gesicht, der in die schwarze Robe der orthodoxen Kirche gehüllt war. Er trug nicht den für russische Priester üblichen Kopfschmuck, doch ein Silberkreuz hing von seinem Hals, ein Symbol, das sie lebhaft an ihre Kindheit erinnerte. Rasch wischte sie sich die Augen trocken und versuchte, sich wieder in die Gewalt zu bekommen.

»Sie sprechen Russisch«, bemerkte sie.

»Ich bin in Russland zur Welt gekommen. Ich habe Ihr Gebet gehört. Man hört hier nur selten jemanden so gut in unserer Muttersprache sprechen. Sind Sie zu Besuch hier?«

Nicken.

»Was bereitet Ihnen Kummer?« Die gelassene Stimme des Mannes war beruhigend.

»Es geht um einen Freund. Er befindet sich in Gefahr.«

»Können Sie ihm helfen?«

»Ich weiß nicht wie.«

»Nun, Sie sind zum rechten Ort gekommen, um Führung zu suchen.« Der Priester zeigte auf die Bilderwand. »Es gibt keinen besseren Ratgeber als unseren Herrn.«

Akilinas Großmutter war eine fromme orthodoxe Christin gewesen und hatte sich bemüht, ihrer Enkelin Vertrauen in den Himmel zu vermitteln. Doch bis zu diesem Moment hatte sie Gott niemals wirklich gebraucht. Ihr war klar, dass der Priester letztlich nicht verstehen würde, was vor sich ging, und wollte nichts von sich preisgeben. Daher fragte sie: »Haben Sie die Vorgänge in Russland verfolgt, Vater?«

»Mit großem Interesse. Ich hätte selbst für die Restauration gestimmt. Für Russland ist es das Beste.«

»Warum sagen Sie das?«

»Viele Jahrzehnte lang war es in unserem Heimatland verboten, von der Seele zu reden. Die Kirche wurde beinahe ausgelöscht. Vielleicht können die Russen jetzt in ihren Schutz zurückkehren. Die Sowjets hatten entsetzliche Angst vor Gott.«

Das war eine sonderbare Feststellung, doch Akilina fand sie zutreffend. Alles, was die Gestalt einer Opposition hätte annehmen können, war als Bedrohung angesehen worden. Mutter Kirche, einige Gedichte, eine alte Frau.

Der Priester erklärte: »Ich lebe hier schon viele Jahre. Dieses Land ist nicht der Ort des Grauens, als der es uns geschildert wurde. Die Amerikaner wählen ihren Präsidenten alle vier Jahre mit großem Trara. Aber gleichzeitig rufen sie ihm immer wieder in Erinnerung, dass er ein Mensch ist und dass Menschen fehlbar sind. Ich habe gelernt, dass eine Regierung umso achtenswerter ist, je weniger sie sich glorifiziert. Unser neuer Zar sollte sich daran ein Beispiel nehmen.«

Sie nickte. War das eine Botschaft?

»Liegt Ihnen Ihr Freund, der in Schwierigkeiten steckt, sehr am Herzen?«, fragte der Priester.

Diese Frage weckte ihre ganze Aufmerksamkeit, und sie antwortete ehrlich: »Ja. Er ist ein guter Mensch.«

»Sie lieben ihn?«

»Wir kennen uns erst seit kurzem.«

Der Priester zeigte auf ihre Schultertasche. »Sind Sie unterwegs? Auf der Flucht?«

Ihr war klar, dass dieser Geistliche nichts verstand und nicht verstehen konnte. Lord hatte ihr aufgetragen, sich erst jemandem anzuvertrauen, wenn er bis achtzehn Uhr nicht aufgetaucht war, und sie war fest entschlossen, seine Anweisung zu befolgen. »Ich kann nirgendwohin fliehen, Vater. Meine Probleme sind hier.«

»Leider verstehe ich Ihre Lage nicht. Und in der Schrift steht, dass die Blinden nicht die Blinden führen sollen, sonst landen beide im Graben.«

Akilina lächelte. »Ich verstehe es auch nicht richtig. Aber ich muss eine Verpflichtung erfüllen. Und die quält mich in diesem Moment.«

»Sie hat mit diesem Mann zu tun, den Sie vielleicht – oder vielleicht nicht – lieben?«

Nicken.

»Möchten Sie, dass wir für ihn beten?«

Das konnte gewiss nichts schaden. »Ja, das ist vielleicht eine Hilfe, Vater. Und können Sie mir danach den Weg zum Zoo beschreiben?«

38

Lord öffnete die Augen und erwartete, einen weiteren Stromstoß zu erhalten oder einen Streifen Isolierband über die Nase gedrückt zu bekommen. Er wusste nicht, was schlimmer war. Doch dann merkte er, dass er nicht mehr auf den Stuhl gefesselt war. Er lag lang ausgestreckt auf dem Parkett und seine aufgeschnittenen Fesseln baumelten von Beinen und Armlehnen des Stuhls herunter. Keiner seiner Folterer war anwesend, das Büro nur von drei Lampen und dem bleichen Sonnenlicht erhellt, das durch halb durchlässige Vorhänge von den raumhohen Fenstern hereinfiel.

Als die Stromstöße völlig ungehindert durch seinen Körper schossen, war der Schmerz immer unerträglicher geworden. Oleg hatte sich ein Vergnügen daraus gemacht, die Kontakte zu verschieben, von der Stirn zur Brust und schließlich in den Schritt, sodass seine Leiste jetzt von Hängelids Schlägen und den Stromstößen schmerzte, die durch seine Genitalien geschossen waren. Es war, als hätte man kaltes Wasser auf einen schmerzenden Zahn gegossen, ein so intensiver Schmerz, dass er fast das Bewusstsein verlor. Doch er versuchte durchzuhalten, wach und aufmerksam zu bleiben. Er durfte nicht in einen halb bewussten Zustand gleiten, in dem er vielleicht etwas über Akilina preisgeben würde. Über die Wichtigkeit irgendeines legendären Erben der Romanows ließ sich streiten. Über Akilinas Bedeutung dagegen nicht.

Er versuchte mühsam, sich aufzurichten, doch seine rechte Wade war taub, und er konnte kaum stehen. Die Ziffern auf seiner Uhr schienen verschwommen zu flackern. Schließlich konnte er siebzehn Uhr fünfzehn erkennen. In spätestens fünfundvierzig Minuten musste er sich mit Akilina treffen.

Er hoffte, dass man sie nicht gefunden hatte. Aus der Tatsache, dass er noch lebte, konnte er vielleicht schließen, dass seine Folterer in diesem Punkt gescheitert waren. Als sie um fünfzehn Uhr dreißig im Konsulat angerufen hatte und nicht mit ihm sprechen konnte, war sie gewiss seinen Anweisungen gefolgt.

Wie dumm er gewesen war, Filip Witenka in der Annahme zu vertrauen, dass die Tausende von Meilen zwischen ihm und Moskau ein ausreichender Sicherheitsabstand seien. Offensichtlich hatten die Personen, die sich für ihn interessierten, ausreichend gute Beziehungen, um einen Zugriff über internationale Grenzen hinweg durchzusetzen, was bedeutete, dass die Regierungsmaschinerie auf hoher oder höchster Ebene involviert war. Lord beschloss, diesen Fehler kein zweites Mal zu begehen. Von jetzt an würde er nichts und niemandem mehr vertrauen. Außer Akilina und Taylor Hayes. Auch sein Chef hatte Beziehungen. Vielleicht waren diese gut genug, um das, was derzeit geschah, zu unterbinden.

Aber eins nach dem anderen. Erst einmal musste er hier rauskommen.

Oleg und Hängelid waren bestimmt in der Nähe, vermutlich unmittelbar vor der Tür. Er versuchte, sich in Erinnerung zu rufen, was geschehen war, bevor er das Bewusstsein verlor, doch er konnte sich nur an immer stärkere Stromstöße erinnern, die durch seinen Körper schossen, so stark, dass sein Herz geflattert hatte. Er hatte direkt in Olegs schwarze Augen gestarrt und darin Freude gesehen. Das Letzte, woran er sich vor seiner Ohnmacht erinnern konnte, war, dass Hängelid den Inspektor beiseite geschoben und gesagt hatte, jetzt sei er einmal an der Reihe.

Lord versuchte ein weiteres Mal, sich aufzurichten, doch augenblicklich wurde er von einem Schwindel erfasst.

Die Bürotür flog auf. Hängelid und Oleg kamen hereingeschlendert.

»Gut, Mr. Lord. Sie sind wach«, sagte Oleg auf Russisch.

Die beiden Russen rissen ihn vom Boden hoch. Sofort drehte sich der Raum im Kreis, und ihm wurde speiübel. Er verdrehte die Augen und glaubte schon, gleich wieder ohnmächtig zu werden, als ein kalter Schwall Wasser ihm plötzlich ins Gesicht klatschte. Es kam so überraschend wie ein Stromstoß, doch während der Strom ihn versengt hatte, wirkte das Wasser beruhigend, und der Schwindel legte sich allmählich.

Er fasste die beiden Männer ins Auge.

Hängelid hielt ihn von hinten aufrecht. Oleg stand vor ihm, einen leeren Eimer in der Hand.

»Immer noch durstig?«, fragte der Inspektor sarkastisch.

»Fick dich ins Knie«, brachte er heraus.

Oleg verpasste ihm mit dem Handrücken einen kräftigen Schlag auf die Kinnlade. Der Schmerz belebte ihn. Er schmeckte Blut im Mundwinkel und wollte sich befreien, um auf das Dreckschwein loszugehen.

»Unglücklicherweise«, bemerkte Oleg, »möchte der Konsul nicht, dass hier vor Ort ein Mord geschieht. Daher haben wir eine kleine Reise für Sie arrangiert. Wie ich hörte, gibt es hier ganz in der Nähe eine Wüste. Der perfekte Ort, um eine Leiche zu begraben. Ich komme aus einem kalten Land. Ein wenig warme, trockene Luft wäre zur Abwechslung ganz hübsch.« Oleg trat dicht an Lord heran. »Auf der Rückseite des Konsulats wartet ein Wagen auf uns. Sie werden keinen Laut von sich geben. Es ist keiner da, der Ihre Hilferufe hören könnte, und falls Sie draußen auch nur einen Muckser machen, schneide ich Ihnen die Kehle durch. Ich persönlich würde Sie lieber hier umbringen. Jetzt an Ort und Stelle. Aber Befehl ist Befehl, da geben Sie mir doch Recht?«

Plötzlich hatte Oleg ein langes, gebogenes Messer in der Hand, dessen Klinge deutlich anzusehen war, dass sie vor kurzem geschliffen worden war. Der Polizist reichte das Messer an Hängelid weiter, der Lord die flache Seite der Klinge an die Kehle drückte.

»Ich schlage vor, dass Sie langsam und ruhig losgehen«, sagte Oleg.

Diese Ermahnung berührte Lord nicht sonderlich. Er war nach der Folter noch immer benommen und besaß kaum genug Kraft, sich auf den Beinen zu halten. Doch er versuchte, Kraft zu sammeln, um sofort reagieren zu können, wenn sich irgendeine Chance bot.

Hängelid schob ihn aus dem Büro in eine Abteilung für Schreibkräfte, in der sich jetzt niemand mehr aufhielt. Sie gingen die Treppe hinunter und an einer Reihe von Büroräumen vorbei, die alle leer und dunkel dalagen. Die flüchtigen Blicke, die er durch die Fenster werfen konnte, zeigten ihm, dass der Tag schon in die Nacht überging.

Oleg ging voran und blieb vor einer schönen, hölzernen Kassettentür stehen, die er entriegelte und dann aufstieß. Dahinter hörte man das Brummen eines laufenden Automotors, und Lord blickte auf die geöffnete Hintertür eines schwarzen Sedan, dessen Auspuffgas in einer grauen Wolke aufstieg und über das Wagendach davonstob. Der Inspektor gab Hängelid ein Zeichen, den Gefangenen zum Auto zu führen.

»Stoi«, ertönte eine Stimme von hinten. Halt.

Lord sah, dass Oleg sich umdrehte. Filip Witenka fegte an Lord vorbei und marschierte direkt auf Oleg zu. »Ich hatte Ihnen gesagt, Inspektor, dass Sie diesen Mann in Ruhe lassen sollen.«

»Und ich hatte Ihnen gesagt, Konsul, dass diese Angelegenheit Sie nichts angeht.«

»Ihr Herr Zubarew ist abgereist. Hier habe ich zu bestimmen. Ich habe mit Moskau telefoniert, und man hat mir aufgetragen, nach meinem Ermessen zu handeln.«

Oleg packte das Jackett des Diplomaten mit beiden Händen und rammte ihn gegen die Wand.

»Xaver«, schrie Witenka.

Lord hörte, wie jemand durch den Korridor gerannt kam, und gleich darauf stürzte sich ein untersetzter Mann auf Oleg. Diesen Moment des Aufruhrs nutzte Lord, um Hängelid den Ellbogen in den Magen zu rammen. Dem Waschbrettbauch seines Gegners konnte das nichts anhaben, doch gelang es Lord, das Sonnengeflecht zwischen den Rippenbögen zu treffen und von dort nach oben zu drücken.

Hängelid atmete keuchend aus.

Lord schob die Hand, die das Messer hielt, beiseite. Der kräftige Mann, der sich Oleg vorgenommen hatte, bemerkte den Angriff, lenkte seine Aufmerksamkeit auf Hängelid und stürzte sich auf den Russen.

Als Lord nach draußen stürzte, behinderte Witenka einen Moment lang Oleg, was es Lord ermöglichte, unter das Vordach zu springen, unter dem das Fahrzeug mit laufendem Motor bereitstand. Im Wagen war niemand. Lord ließ sich eilig auf den Fahrersitz gleiten. Er rammte den Gang rein und drückte das Gaspedal bis zum Anschlag durch. Der Wagen sprang mit einem Ruck nach vorn und die Hintertür schlug krachend zu.

Vor ihm stand ein Stahltor offen.

Er raste hindurch.

Dann bog er nach rechts in die Straße ein und schoss mit röhrendem Motor davon.

 

»Genug«, sagte Hayes.

Hängelid, Oleg, Witenka und der Helfer stellten ihr Gerangel ein.

Alle standen vom Boden auf.

Maxim Zubarew stellte sich neben Hayes. »Gute Show, meine Herren.«

»Und jetzt«, erklärte Hayes, »nehmen wir die Spur dieses Arschlochs auf und finden heraus, worum es hier eigentlich geht.«

39

Lord schoss mit dem Wagen um eine weitere Straßenecke und verlangsamte dann die Fahrt. Im Rückspiegel entdeckte er keine Verfolger, und die Aufmerksamkeit der Polizei wollte er im Moment wirklich nicht auf sich lenken. Die Uhr am Armaturenbrett zeigte siebzehn Uhr dreißig, also hatte er noch immer eine halbe Stunde bis zu seiner Verabredung mit Akilina. Er versuchte, sich den Stadtplan zu vergegenwärtigen. Der Zoo lag südlich des Zentrums in Meeresnähe, nicht weit von der San Francisco State University und dem Merced-See. Bei einem früheren Besuch hatte er dort einmal Forellen geangelt.

Es kam ihm vor, als läge das eine Ewigkeit zurück. Das war damals gewesen, als er einfach nur Mitarbeiter eines riesigen Rechtsanwaltsbüros war und keiner außer seiner Sekretärin und seinem Vorgesetzten sich darum kümmerte, was er so trieb. Kaum zu glauben, dass das alles gerade einmal vor einer Woche nach einem ganz normalen Essen in einem Moskauer Restaurant angefangen hatte. Artemy Bely hatte darauf bestanden, die Rechnung zu begleichen, und gesagt, dass Lord ihn ja beim nächsten Mal einladen könne. Obwohl Lord wusste, dass ein russischer Anwalt in einem ganzen Jahr weniger verdiente als er selbst in drei Monaten, hatte er diese freundliche Geste dennoch zugelassen. Er hatte Bely, einen gebildeten und unkompliziert wirkenden jungen Mann, sympathisch gefunden. Doch jetzt konnte er sich nur noch an Belys von Kugeln durchsiebte Leiche erinnern, die auf dem Bürgersteig gelegen hatte, während Oleg ihm erklärte, dass es zu viele Leichen gäbe, um sich die Mühe zu machen, sie zuzudecken.

Der Dreckskerl.

An der nächsten Kreuzung bog er Richtung Süden ab, weg von der Golden Gate Bridge und hin zur Küstenseite der Halbinsel. Die Orientierung wurde leichter, als die ersten Hinweisschilder zum Zoo auftauchten, und er folgte ihnen durch den abendlichen Stoßverkehr. Bald ließ er jedoch den Stau des Geschäftszentrums hinter sich und fuhr durch die ruhigen, baumbestandenen Hügel von St. Francis Wood, wo die Villen abseits der Straße hinter schmiedeeisernen Toren und Springbrunnen lagen.

Er war überrascht, dass er überhaupt fahren konnte, doch der Adrenalinschub, den seine Flucht ihm versetzt hatte, hatte seine Sinne belebt. Noch immer schmerzten seine Muskeln von den Stromstößen, die er erhalten hatte, und nachdem er mehrmals fast erstickt war, hatte er ein Gefühl der Atemlosigkeit, aber dennoch fühlte er sich allmählich wieder lebendiger.

»Mach einfach, dass Akilina da ist und auf mich wartet«, flüsterte er.

 

Lord fand den Zoo und fuhr auf einen beleuchteten Parkplatz. Die Schlüssel ließ er im Sedan zurück und eilte zum Haupttor, wo er den Eintritt bezahlte und vom Aufseher darauf aufmerksam gemacht wurde, dass der Zoo in einer Stunde schließen würde.

Der Pullover war nass vom Wasser, mit dem Oleg ihn überschüttet hatte, und die blutbefleckte grüne Wolle fühlte sich in der kühlen Abendluft wie ein feuchtes Handtuch an. Sein Gesicht schmerzte von den Schlägen und war vermutlich geschwollen. Wahrscheinlich bot er einen ziemlich schrecklichen Anblick.

Er eilte den Betonweg entlang, der von bernsteingelb leuchtenden Lampen erhellt wurde. Einige Besucher schlenderten ziellos umher, während andere schon auf dem Rückweg zum Ausgang waren. Am Primatenzentrum und dem Elefantengehege vorüber folgte er den Hinweisschildern zum Löwenhaus.

Seine Uhr zeigte Punkt sechs.

Allmählich wurde es dunkel. Nur die von dicken Wänden gedämpften Laute der Tiere störten die friedliche Szene. Es roch nach Tierfell und Futter. Er betrat das Löwenhaus durch ein Paar doppelter Glastüren.

Akilina stand vor einem Tiger, der pausenlos hin und her ging. Lord hatte Mitgefühl mit dem gefangenen Tier – es war so eingesperrt, wie er es den ganzen Nachmittag gewesen war.

Ihr Gesicht spiegelte Erleichterung und Freude. Sie eilte auf ihn zu, und sie fielen einander in die Arme; Akilina presste ihn verzweifelt an sich. Er hielt die Zitternde fest.

»Ich wollte gerade gehen«, sagte sie. Sie fuhr ihm sanft mit der Hand über die geschwollene Kieferpartie und das blau geschlagene Auge. »Was ist passiert?«

»Oleg und einer der Männer, die hinter mir her waren, sind hier.«

»Ich hab dich durchs Telefon schreien hören.« Sie erzählte ihm von ihrem Anruf und dem Mann, mit dem sie geredet hatte.

»Der Russe, der die Befehle gab, nannte sich Zubarew. Außer Witenka muss es im Konsulat noch andere geben, die ihnen helfen. Aber ich glaube nicht, dass Witenka wirklich mit dazu gehört. Ohne ihn wäre ich gar nicht hier.« Er erzählte ihr, was vor wenigen Minuten vorgefallen war. »Ich habe mich immer wieder nach Verfolgern umgeschaut, aber es war keiner hinter mir her.« Er bemerkte die Schultertasche, die sie umgehängt hatte. »Was ist das?«

»Ich wollte diese Sachen nicht dem Hotel anvertrauen. Lieber trage ich alles bei mir.«

Er beschloss, sie nicht zu kritisieren für diese Dummheit. »Wir machen, dass wir hier wegkommen. Sobald wir in Sicherheit sind, rufe ich Taylor Hayes an, damit er uns hilft. Die Sache ist völlig außer Kontrolle geraten.«

»Ich bin froh, dass dir nichts passiert ist.«

Plötzlich merkte er, dass sie einander immer noch in den Armen lagen, und trat zurück, um sie anzusehen.

»Nur zu«, sagte sie leise.

»Was meinst du?«

»Du darfst mich küssen.«

»Woher weißt du denn, dass ich das will?«

»Das weiß ich eben.«

Er berührte ihre Lippen mit den seinen und trat wieder zurück. »Das ist wirklich eigenartig.«

Eine der Raubkatzen im Käfig gegenüber brüllte plötzlich los.

»Meinst du, sie sind einverstanden?«, fragte er mit einem leisen Lächeln.

»Was meinst du?«, fragte sie zurück.

»Sehr sogar. Aber wir müssen hier weg. Ich bin mit einem ihrer Autos zum Zoo gefahren. Wahrscheinlich wäre es nicht gerade klug, den Wagen weiter zu fahren. Vielleicht melden sie ihn als gestohlen, und dann haben wir die Polizei auf dem Hals. Wir nehmen ein Taxi. Vorhin, beim Herkommen, habe ich einige Taxis am Zooeingang gesehen. Wir gehen in das Hotel, in dem du ein Zimmer genommen hast, und morgen besorgen wir uns einen Leihwagen. Ich denke, wir sollten den Flughafen und die hiesigen Busbahnhöfe möglichst umgehen.«

Er nahm Akilina die Schultertasche ab, hängte sie sich selber um und spürte, wie schwer die beiden Goldbarren wogen. Dann nahm er sie beim Arm, ging an ein paar Jugendlichen vorbei, die einen letzten Blick auf die Tiere werfen wollten, und verließ das Löwenhaus.

Hundert Meter weiter erhaschte er unter einer der Lampen, die den Weg beleuchteten, einen Blick auf Oleg und Hängelid, die auf ihn zustürmten.

Heilige Maria Mutter Gottes! Wie hatten sie ihn gefunden?

Er packte Akilina und sie flohen in die entgegengesetzte Richtung, am Löwenhaus vorbei und auf ein hell erleuchtetes Gebäude zu, das den Namen PRIMATEN-ERLEBNISZENTRUM trug. Affen kreischten in ihren Außengehegen. Lord und Akilina folgten dem gepflasterten Pfad tiefer in das Gelände hinein und bogen dann scharf nach links ab. Vor ihnen lag eine hell erleuchtete, naturalistische Szenerie aus Bäumen und Felsen, die durch einen tiefen Graben und eine Betonmauer von den Zoobesuchern abgetrennt war. Dort bewegten sich Gorillas schwerfällig durch eine waldähnliche Landschaft. Die Gruppe bestand aus zwei erwachsenen Affen und drei kleinen Affenkindern.

Ohne im Laufen innezuhalten, bemerkte Lord sofort, dass der Pfad sich vor ihnen zu einem Rundweg gabelte, der dort anfing und endete, wo sie sich befanden. Ein hoher Zaun begrenzte das Gelände zu ihrer Linken, während rechts von ihnen eine offene Grasfläche lag, die laut Hinweisschild ein Gelände für Moschusochsen war. Etwa zehn Zoogäste beobachteten aufmerksam, wie die Gorillas von einem riesigen Futterberg fraßen, der in der Mitte des Gorillageheges aufgetürmt war.

»Wir können nirgendwohin«, sagte er verzweifelt.

Trotzdem musste er irgendetwas unternehmen!

Dann erblickte er auf der anderen Seite des Gorillageländes eine offene Gittertür in der künstlichen Felswand. Er fasste die Tiere und die Tür ins Auge. Dort mochte das Nachtlager der Gorillas sein. Vielleicht konnten Akilina und er dorthin gelangen und die Tür hinter sich zumachen, bevor sie das Interesse der Gorillas erregten.

Die Alternative war so schrecklich, dass alles andere besser war. Oleg und Hängelid kamen immer näher. Er wusste, wozu das sadistische Paar fähig war, und beschloss, es auf einen Versuch mit den Affen ankommen zu lassen. Durch den offenen Eingang in der Felswand erspähte er Lichter und eine Tür. Drinnen bewegte sich etwas. Vielleicht ein Zoowärter.

Und vielleicht gab es von dort einen Weg nach draußen.

Er schleuderte die Reisetasche durch die Luft zum Affengelände hinüber. Das Bündel landete neben einem Obstberg. Die Gorillas reagierten mit Schreckensrufen auf den überraschenden Wurf, näherten sich dann aber neugierig, um die Tasche zu untersuchen.

»Los.«

Er sprang auf die Betonmauer. Die anderen Besucher beobachteten ihn verwundert. Akilina folgte ihm. Der Graben war etwa drei Meter breit. Die Breite der Mauer selbst betrug etwa dreißig Zentimeter. Er nahm Schwung, sprang los, flog durch die Luft und betete, dass er es bis zur anderen Seite schaffen würde.

Das gelang ihm auch, doch beim Aufprall schoss ihm ein stechender Schmerz durch die wunden Beine. Er rollte sich ab und blickte sich genau in dem Moment nach Akilina um, in dem sie auf den Füßen landete.

Hinter der Betonmauer tauchten Hängelid und Oleg auf.

Lord rechnete damit, dass sie ihm angesichts der vielen Zeugen weder folgen noch ihre Waffen einsetzen würden. Mehrere Zoobesucher stießen Schreckensschreie aus, und jemand rief nach der Polizei.

Hängelid sprang auf die Mauer. Er wollte gerade über den Graben setzen, als einer der erwachsenen Gorillas nach vorn raste. Das Tier erhob sich auf die Hinterbeine und brüllte. Hängelid zog sich zurück.

Lord rappelte sich auf und machte Akilina ein Zeichen, zur Gittertür zu rennen. Ein anderer Gorilla kam schwerfällig auf ihn zu. Das gewaltige Tier ging auf allen vieren und stieß sich mit Fußsohlen und Handknöcheln vom harten Boden ab. Nach Größe und Verhalten zu schließen war es ein Männchen. Das Fell schimmerte in einem satinweichen Braungrau, die Haut auf der Brust, den Handflächen und im Gesicht war kohlschwarz, während ein silbriger Sattel sich über seinen Rücken zog. Das Tier stand aufrecht, mit bebenden Nasenflügeln da, hatte die breite Brust vorgewölbt und schwenkte drohend die mächtigen Arme. Der Affe brüllte, und Lord verharrte vollkommen bewegungslos.

Der kleinere Gorilla, der eher rötlich braun und offensichtlich ein Weibchen war, näherte sich herausfordernd Akilina. Lord hätte ihr gerne geholfen, hatte aber mit seinem eigenen Problem zu kämpfen. Er hoffte, dass das, was er in Tierfilmen über Gorillas gesehen hatte, stimmte. Demnach bellten sie eher, als dass sie bissen, und die Zurschaustellung von Kraft diente vor allem dazu, dem Gegner Furcht einzuflößen und ihn womöglich in die Flucht zu schlagen oder zumindest abzulenken.

Aus den Augenwinkeln sah Lord, dass Oleg und Hängelid sie beobachteten, sich dann aber zurückzogen. Vielleicht hatten sie schon zu viel Aufmerksamkeit erregt.

Nicht nur wollte Lord seinen russischen Verfolgern nicht mehr begegnen, er wollte auch nicht der Polizei erklären müssen, was hier vorging – zumindest vorläufig nicht –, und die Polizei hatte man inzwischen gewiss gerufen.

Er musste es zum offenen Türgitter schaffen, doch das große Männchen stand nun vor ihm und trommelte sich gegen die Brust.

Das Weibchen, das sich mit Akilina beschäftigt hatte, zog sich langsam zurück, und Akilina nutzte die Gelegenheit, um sich ganz vorsichtig auf Lord zuzubewegen. Plötzlich jedoch stürzte das Weibchen vor und Akilina reagierte, indem sie nach dem ausgestreckten Ast eines der Bäume sprang, die auf dem Gelände wuchsen. Eilig zog sie sich mit einer Schwungrolle auf den Ast hinauf, und ihr akrobatisches Geschick war unübersehbar, als sie von dort zu einem noch höheren Ast hinaufsprang. Das Gorillaweibchen schien überrascht von Akilinas Verhalten und kletterte ihr nach. Lord bemerkte, dass das Gesicht des Weibchens entspannter geworden war. Beinahe kam es ihm so vor, als hielte die Affendame das Ganze für ein Spiel. Die Bäume auf dem Gelände waren überall miteinander verflochten, vermutlich, um den Tieren einen natürlicheren Lebensraum zu bieten, und jetzt boten sie Akilina eine Möglichkeit, ihrer Verfolgerin zu entkommen.

Das Männchen, das Lord gegenüberstand, hörte mit dem Brustgetrommel auf und ging auf alle viere nieder.

Hinter sich hörte Lord das Flüstern einer Frauenstimme: »Wer immer Sie sein mögen, ich bin die Wärterin dieses Affengeheges. Ich würde Ihnen unbedingt raten, vollkommen ruhig stehen zu bleiben.«

»Ich versichere Ihnen, dass ich kein Glied rühre«, erwiderte er ebenso leise.

Der Gorilla fixierte ihn unverwandt, den Kopf neugierig schief gelegt.

»Ich bin hinter der Felswand. Jenseits der offenen Tür«, fuhr die körperlose Stimme fort. »Hier schlafen die Gorillas nachts. Aber die Tiere werden sich erst zurückziehen, wenn sie alles aufgefressen haben. Sie haben hier King Arthur vor sich. Er ist nicht besonders freundlich. Ich versuche, ihn abzulenken, während Sie hier hereinschlüpfen.«

»Meine Freundin hier draußen hat auch Probleme«, wandte er ein.

»Das sehe ich. Aber eins nach dem anderen.«

King Arthur zog sich langsam zurück und bewegte sich auf die Reisetasche zu. Lord konnte nicht ohne die Tasche aufbrechen, also schob er sich langsam in dieselbe Richtung. Der Gorilla stürzte sich kreischend vor, als wollte er ihm befehlen, stehen zu bleiben.

Lord gehorchte.

»Fordern Sie ihn nicht heraus«, sagte die Stimme.

Der Gorilla entblößte seine stattlichen Eckzähne. Lord hegte keinerlei Bedürfnis, ihre Schärfe zu testen. Er sah zu, wie Akilina und das Gorillaweibchen um die Wette durch die Äste kletterten. Akilina schien nicht in Gefahr zu sein. Sie hielt sich außer Reichweite des Tiers, kletterte immer höher, rutschte dann aber über einen dicken Ast nach unten und landete wieder auf dem Boden. Das Weibchen versuchte, sie nachzuahmen, schoss aber aufgrund seines viel größeren Gewichts in einem Bogen nach unten und krachte auf den Boden. Diesen Moment nutzte Akilina und flüchtete durch die Tür.

Jetzt war er an der Reihe.

King Arthur riss die Reisetasche hoch und versuchte, mit neugierigem Befingern an den Inhalt zu kommen. Lord bewegte sich auf ihn zu und hoffte, die Tasche so schnell schnappen zu können, dass er es vor dem Gorilla durch die Tür schaffte. Doch King Arthur war schneller. Mit einem raschen Vorschwingen seines Affenarms packte er Lord am Pullover. Nun hatte der Gorilla ihn im Griff, und Lord versuchte, rückwärts zu entkommen. Der Affe ließ jedoch nicht los, und der Pullover ging langsam in Fetzen. Jetzt stand King Arthur mit der Tasche in der einen und dem Pullover in der anderen Hand da.

Lord rührte sich nicht.

Der Gorilla warf den Pullover beiseite und nahm sich wieder die Tasche vor.

»Sie müssen herkommen«, forderte die Frau Lord auf.

»Nicht ohne die Tasche.«

Der Affe zog und zerrte an den Nähten herum und riss mehrmals mit seinen kräftigen Zähnen an der Hülle. Der feste, grüne Stoff gab jedoch nicht nach, und offensichtlich enttäuscht schleuderte der Gorilla die Tasche kräftig gegen die Felswand. Dann stürmte er wieder heran und schmetterte das Bündel nochmals gegen den Fels.

Lord zuckte zusammen.

Eine solche Misshandlung hielt das Fabergé-Ei gewiss nicht aus. Ohne nachzudenken, sprang Lord vor, als die Tasche nach einem dritten Wurf zu Boden fiel. King Arthur kam ebenfalls, doch Lord erwischte die Tasche als Erster. Das Weibchen schoss herbei, drängte sich vor das Männchen und griff selbst nach der Tasche, doch King Arthur zog sie am Nackenhaar, was den kleineren Gorilla zu einem grollenden Grunzen veranlasste. Das Männchen zerrte das Weibchen beiseite, und Lord nutzte die Gelegenheit, um sich zu der offenen Tür zu stürzen.

Doch nur einige wenige Schritte vor der sicheren Zuflucht schnitt King Arthur ihm den Weg ab.

Der riesige Affe stand keine anderthalb Meter von Lord entfernt und seine widerliche Ausdünstung umfing Lord von allen Seiten. Leise grollend starrte das Tier ihm unverwandt in die Augen, dann zog es die Oberlippe zurück und entblößte fingerlange Schneidezähne. Der Gorilla streckte gemächlich die Hand aus, befühlte die Reisetasche und streichelte ihren Stoff.

Lord stand ganz still.

Der Affe stieß Lord den rechten Zeigefinger gegen die Brust. Nicht so fest, dass es wehtat, sondern einfach nur so, als wollte er ein Gefühl für den Körper unter dem Hemd bekommen. Es war eine beinahe menschlich wirkende Geste, und für einen Moment legte sich Lords Angst. Er sah dem Tier tief in die glimmenden Augen und meinte, irgendeine Reaktion zu spüren, eine Wachsamkeit und etwas wie das Eingeständnis, dass Lord nichts zu fürchten habe.

King Arthur nahm die Hand weg und trat zurück.

Auch das Weibchen hatte sich nach der Zurechtweisung durch das Männchen entfernt.

Der große Gorilla zog sich weiter Schritt um Schritt zurück, bis der Weg zur Tür frei war. Lord schlüpfte hinein, und das Gitter wurde hinter ihm geschlossen.

»So eine Reaktion habe ich bei King Arthur noch nie gesehen«, meinte die Frau, die das Türgitter geschlossen und verriegelt hatte. »Er ist ein aggressiver Affe.«

Lord sah durch die Stäbe auf den Gorilla, der ihn weiter beobachtete, jetzt erneut mit dem Pullover in der Hand. Schließlich verlor das Tier das Interesse und begab sich wieder zum Futterhaufen.

»Würden Sie mir jetzt bitte sagen, was Sie da drinnen zu schaffen hatten?«, fragte die Frau.

»Gibt es einen Weg nach draußen?«

»Nicht so schnell. Wir warten hier auf die Polizei.«

Das musste unbedingt verhindert werden! Es war unmöglich zu sagen, wie weit die Beziehungen seiner Verfolger reichen mochten. Lord entdeckte eine geschlossene Ausgangstür, hinter deren drahtverstärktem Glas ein Korridor zu sehen war. Er packte Akilina bei der Hand und machte sich auf den Weg zum Ausgang.

Die uniformierte Wärterin trat dazwischen. »Ich sagte, wir warten hier auf die Polizei.«

»Schauen Sie. Ich hatte einen harten Tag. Drei Männer haben versucht, uns umzubringen, und ich habe gerade einen drei Zentner schweren Gorilla niedergestarrt. Ich bin nicht in der Stimmung für eine Diskussion, wenn Sie verstehen, was ich meine.«

Nach einem Moment des Zögerns trat die Wärterin beiseite.

»Kluge Entscheidung. Und wo ist jetzt der Schlüssel für diese Tür?«

Die Frau griff in ihre Hosentasche und warf ihm einen Schlüsselring zu, an dem nur ein einziger Schlüssel hing. Lord und Akilina verließen schnell den Raum, und er schloss die Tür hinter sich ab.

Gleich darauf fanden sie einen Ausgang, der jenseits des der Öffentlichkeit zugänglichen Bereichs auf zwei große Werkzeugschuppen zuführte. Dahinter lag ein leerer Parkplatz, der für die Mitarbeiter des Zoos reserviert war. Lord wusste, dass sie nicht zum Haupteingang zurückkehren konnten, und so schlug er die Richtung zur Küste und der Küstenstraße ein. Er wollte die Gegend so rasch wie möglich hinter sich lassen und war erleichtert, als ein Taxi auftauchte. Sie winkten es heran und stiegen ein; zehn Minuten später stiegen sie am Golden Gate Park wieder aus.

Zusammen mit Akilina betrat er den Park.

Ein Fußballfeld lag vor ihnen in der Dunkelheit und rechts davon ein kleiner Teich. Das Gelände dehnte sich meilenweit in alle Richtungen aus, doch die Bäume und Wiesen waren im Dunkeln nur noch als verschwommene Schemen zu sehen. Bei einer Bank blieben Lord und Akilina stehen und setzten sich hin. Lord war mit den Nerven am Ende und fragte sich, wie viel er noch ertragen konnte. Akilina legte den Arm um ihn und lehnte den Kopf an seine Schulter.

»Das hat mich umgehauen, was du da mit der Äffin veranstaltet hast«, sagte er. »Du kletterst ja wie der Teufel.«

»Ich glaube nicht, dass das Tier mir etwas getan hätte.«

»Ich weiß, was du meinst. Das Männchen hätte mich angreifen können, hat es aber sein lassen. Und sogar das Weibchen am Angreifen gehindert.«

Er dachte daran, wie die Reisetasche gegen den Felsen gekracht war. Er hob sie aus dem feuchten Gras. Über ihm verbreitete eine Straßenlaterne einen orangegelben Schein. Weit und breit war niemand zu sehen. Die Luft war kühl, und er wünschte, er hätte noch seinen Pullover an.

Lord öffnete den Reißverschluss der Tasche.

»Als King Arthur die Tasche fortschleuderte, musste ich immer an das Ei denken.« Er zog den Samtbeutel hervor und ließ das Ei herausgleiten. Drei der Beinchen waren abgebrochen und viele Diamanten hatten sich gelöst. Akilina legte rasch die Hände zu einer Schale zusammen und fing die kostbaren Trümmer darin auf. Das Ei hatte einen Riss, der es bis zur Mitte offen legte wie eine Grapefruit.

»Es ist kaputt«, murmelte Lord. »Und es war von unschätzbarem Wert. Ganz zu schweigen davon, dass das vielleicht das Ende unserer Suche bedeutet.«

Mit einem Gefühl, als drehe sich ihm der Magen um, betrachtete er den in dem Meisterwerk klaffenden Spalt. Er ließ den Samtbeutel fallen und untersuchte mit dem Finger ganz vorsichtig das Innere des Eis.

Etwas Weißes, Fasriges. Wie ein Verpackungsmaterial. Er fingerte so lange daran herum, bis ein Zipfel freilag, und stellte fest, dass es Baumwolle war, so dicht gestopft, dass selbst das Herausziehen der Stoffprobe Schwierigkeiten bereitete. In der Erwartung, den Mechanismus zu finden, der für das Aufsteigen der drei winzigen Porträts sorgte, ging er der Sache weiter auf den Grund, stieß aber auf etwas Unerwartetes. Entschlossen schob er die Fingerspitze noch tiefer hinein.

Eindeutig etwas Hartes.

Und glatt.

Lord rückte näher unter die Parklaterne mit ihrem verschwommenen Licht und stocherte weiter mit dem Finger herum.

Endlich erhaschte er einen Blick auf etwas Schimmerndes, offenbar Goldenes, in das etwas eingraviert war.

Etwas Geschriebenes.

Er packte das Ei mit beiden Händen und brach die dünne Goldhülle an dem Riss in zwei Teile, so als hätte er einen Granatapfel vor sich.