ERSTER TEIL

1

Moskau, Gegenwart

Dienstag, 12. Oktober

13.24 Uhr

 

INNERHALB VON FÜNFZEHN SEKUNDEN SOLLTE SICH DAS LEBEN VON MILES LORD FÜR IMMER VERÄNDERN.

Als Erstes sah er die Limousine. Einen dunkelblauen Volvo Kombi, so dunkel, dass er in der grellen Mittagssonne fast schwarz schien. Dann machte das Fahrzeug einen scharfen Schlenker nach rechts, um sich einen Weg durch den dichten Verkehr auf der belebten Nikolskaja Uliza zu bahnen. Plötzlich wurde das Rückfenster heruntergelassen, das die Gebäude der Umgebung reflektierte wie ein Spiegel, und an die Stelle des Spiegelbilds trat ein dunkles Rechteck, aus dem die Mündung eines Gewehrs ragte.

Aus dem Gewehr kamen Schüsse.

Lord warf sich zu Boden. Um ihn ertönten gellende Schreie, als er auf das ölverschmierte Pflaster schlug. Der Gehsteig war voller Menschen, die ihre nachmittäglichen Einkäufe erledigten, Touristen und Arbeiter, die nun alle nach Deckung suchten, während Blei sich in das verwitterte Gestein der aus der Stalin-Zeit stammenden Gebäude bohrte.

Lord rollte sich zur Seite und blickte zu Artemy Bely, seinem Begleiter, hoch. Er hatte den Russen, einen liebenswerten jungen Anwalt, zwei Tage zuvor im Justizministerium kennen gelernt. Als Kollegen hatten sie am Vortag zusammen zu Abend gegessen und eben gemeinsam gefrühstückt, wobei sie sich über das neue Russland und die anstehenden gewaltigen Veränderungen unterhalten und ihre Verwunderung darüber ausgetauscht hatten, dass sie an diesem historischen Moment der russischen Geschichte teilhatten. Lord wollte Bely eine Warnung zurufen, doch bevor er einen Ton herausbrachte, schlug ein Geschoss in Belys Brust, und Blut spritzte auf das verspiegelte Glasfenster hinter ihm.

Die Feuergarben aus der automatischen Waffe kamen mit einem gleichmäßigen rat-tat-tat, was ihn an Gangsterfilme erinnerte. Das Spiegelglas zerbarst, gezackte Scherben krachten auf den Gehsteig. Belys Körper fiel auf ihn. Aus den klaffenden Wunden drang ein Geruch, der an Kupfer erinnerte. Lord wälzte den leblosen Russen von sich herunter, besorgt wegen des Blutes, das in seinen Anzug sickerte und ihm von den Händen tropfte. Er kannte Bely kaum, vielleicht war der Mann ja HIV-positiv?

Mit quietschenden Reifen kam der Volvo zum Stehen.

Lord wandte sich nach links.

Autotüren wurden aufgerissen, und heraus sprangen zwei Männer mit automatischen Waffen. Sie trugen die in Blau und Grau gehaltene Uniform mit rotem Revers, die man von der Milizija – der Polizei – kannte. Beiden aber fehlte die übliche graue Kopfbedeckung mit rotem Rand. Der Mann vom Vordersitz hatte die fliehende Stirn, das buschige Haar und die aufgestülpte Nase eines Cro-Magnon-Menschen. Der hinter ihm sitzende Mann war stämmig gebaut, sein Gesicht mit Pockennarben übersät, das Haar glatt nach hinten gekämmt. Lord fiel vor allem das rechte Auge des Mannes auf: Zwischen Auge und Braue war wegen des tief herabhängenden Lids ein beträchtlicher Zwischenraum, sodass der Mann beinahe so aussah, als sei eines seiner Augen geöffnet und das andere geschlossen. Dies war allerdings die einzige Besonderheit an diesem ansonsten völlig ausdruckslosen Gesicht.

Hängelid sagte auf Russisch zu Cro-Magnon: »Der verdammte Tschorni lebt noch.«

Hatte er richtig gehört?

Tschorni.

Das russische Wort für Nigger.

Lord war seit seiner Ankunft vor acht Wochen in Moskau keinem einzigen anderen Schwarzen begegnet, und damit war klar, dass er ein Problem hatte. Er erinnerte sich an eine Bemerkung in einem russischen Reiseführer, den er vor ein paar Monaten gelesen hatte. Jeder Dunkelhäutige muss damit rechnen, dass er zum Gegenstand einer gewissen Neugierde wird. Was für eine Untertreibung!

Cro-Magnon nickte. Die beiden Männer waren knapp dreißig Meter entfernt, und Lord hatte nicht die Absicht abzuwarten, was sie als Nächstes vorhatten. Er sprang auf und rannte in die entgegengesetzte Richtung. Mit einem kurzen Blick über die Schulter sah er, wie die beiden in aller Ruhe in die Hocke gingen und sich schussbereit machten. Vor ihm tauchte eine Straßenkreuzung auf, und er rannte darauf zu, als von hinten das Feuer einsetzte.

Geschosse streiften das Pflaster und ließen Staubwolken in die eisige Luft steigen.

Wieder warfen sich Menschen um ihn herum zu Boden.

Mit einem Sprung erreichte er die Querstraße und erblickte einen Trödelmarkt, der sich am Bordstein hinzog, so weit das Auge reichte.

»Gangster! In Deckung!«, schrie er auf Russisch.

Eine Babuschka, die Puppen verkaufte, verstand sofort und schlurfte zu einem nahen Hauseingang, während sie den Schal um ihr runzliges Gesicht zurrte. Ein halbes Dutzend Kinder, die Zeitungen oder Pepsi verhökerten, verschwanden in einem Lebensmittelgeschäft. Verkäufer ließen ihre Stände im Stich und stoben auseinander wie Küchenschaben. Das Auftauchen der Mafija war keine Seltenheit. Er wusste, dass in ganz Moskau mindestens hundert verschiedene Banden ihr Unwesen trieben. Dass jemand erschossen oder erstochen wurde oder in die Luft flog, war mittlerweile so alltäglich wie Verkehrsstaus – das ganz normale Risiko derer, die auf der Straße ihren Geschäften nachgingen.

Und weiter ging es durch die belebte Straße, in der die Fahrzeuge sich nur noch im Schneckentempo vorwärts tasteten und der Verkehr fast zum Erliegen gekommen war. Plärrend ertönte eine Hupe, und ein Taxi kam Zentimeter vor ihm zum Stehen. Seine blutigen Hände landeten unsanft auf der Motorhaube. Der Fahrer drückte noch immer auf die Hupe. Lord drehte sich um und sah die beiden Männer mit den Gewehren um die Ecke biegen. Die Menschenmenge teilte sich und machte damit das Schussfeld frei. Er sprang hinter das Fahrzeug, als Geschosse das schachbrettartig gemusterte »Taxi«-Signalband auf der Fahrerseite durchlöcherten.

Die Hupe verstummte.

Er stand auf und blickte in das blutige Gesicht des Fahrers, das gegen das Fenster der Beifahrerseite gelehnt war; ein Auge war weit aufgerissen, die Scheibe mit roten Spritzern übersät. Die Männer befanden sich jetzt fünfzig Meter entfernt auf der anderen Seite der verstopften Straße. Lord überflog die Geschäfte zu beiden Seiten und registrierte einen Laden mit Männermode, einen mit Kinderbekleidung und mehrere Antiquitätengeschäfte. Er suchte einen Ort, an dem er untertauchen konnte, und entschied sich für McDonald’s. Irgendwie kamen ihm die goldgelben Bögen wie ein Symbol der Sicherheit vor.

Und schon drückte er die Glastüren auf. Hunderte von Menschen drängten sich um die brusthohen Tische und in den Nischen. In der Warteschlange standen noch mehr. Er befand sich halt im beliebtesten Restaurant der Welt, mit dem Geruch von gegrillten Frikadellen, Fritten und Zigaretten.

Seine Hände und seine Kleidung waren noch immer blutig, und mehrere Frauen schrien bei seinem Anblick auf. Die jungen Leute rannten in Panik zum Ausgang. Lord schob sich tiefer in die Menge, merkte dann aber, dass das ein Fehler war. Er kämpfte sich durch den Speiseraum auf eine Treppe zu, die zu den Toiletten hinunterführte, ließ die verängstigte Masse hinter sich und rannte, drei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinab, während seine blutige rechte Hand über das glatte Eisengeländer glitt.

»Weg da. Zurück«, befahlen von oben tiefe Stimmen auf Russisch.

Unten angekommen, stand er vor drei geschlossenen Türen. Eine führte zur Damen-, die andere zur Herrentoilette. Lord öffnete die dritte. Vor ihm lag ein großer Lagerraum, dessen Wände mit denselben weißen Kacheln gefliest waren wie das übrige Restaurant. In einer Ecke saßen drei Leute rauchend um einen Tisch. Er bemerkte ihre T-Shirts, auf denen das Konterfei Lenins über den goldgelben Bögen von McDonalds schwebte. Ihre Blicke trafen sich.

»Gangster, versteckt euch«, warnte er auf Russisch.

Wortlos sprangen alle drei vom Tisch auf und schossen auf das hintere Ende des hell erleuchteten Raumes zu. Der Erste riss die Tür auf, und schon waren sie verschwunden. Lord schlug rasch die Tür zu, durch die er gekommen war, und verschloss sie von innen, bevor er ihnen folgte.

Eine schmale Gasse hinter dem mehrstöckigen Gebäude, in dem das Restaurant war. Es hätte ihn nicht gewundert, wenn hier Zigeuner oder mit Orden behängte Kriegsveteranen gehaust hätten, zumal jede noch so kleine Nische in Moskau die eine oder andere gesellschaftliche Randgruppe zu beherbergen schien.

Er stand zwischen schmuddeligen Gebäuden, deren grob behauene Steine von den Autoabgasen der Jahrzehnte geschwärzt waren. Schon oft hatte er sich gefragt, wie sich diese Abgase wohl auf die Lunge auswirken mochten. Dann versuchte Lord, sich zu orientieren. Er befand sich etwa hundert Meter nördlich des Roten Platzes. Wo lag wohl die nächste Station der Moskauer Metro? Das könnte der beste Fluchtweg für ihn sein. In den Metro-Stationen waren immer Polizisten. Aber schließlich wurde er von Polizisten verfolgt. Oder doch nicht? Er hatte gelesen, dass die Mafija oft in Polizeiuniformen auftrat. Meistens wimmelte es in Moskau von Polizisten, so dass es ihm manchmal fast schon zu viel war, Polizisten mit Gummiknüppeln und automatischen Waffen; heute aber war ihm noch kein Einziger begegnet.

Aus dem Gebäude drang ein donnerndes Geräusch zu ihm heraus.

Sein Kopf fuhr herum.

Jemand brach im hinteren Gebäudeteil die Tür zum Lagerraum auf. Gerade als Lord in Richtung Hauptstraße davonrannte, hörte er drinnen Schüsse.

Auf dem Gehsteig wandte er sich nach rechts und rannte, so schnell es ihm im Anzug möglich war. Er riss den Hemdkragen auf und zerrte sich die Krawatte vom Hals. Jetzt bekam er wenigstens Luft. Seine Verfolger mussten jeden Augenblick um die Ecke kommen. Rasch bog er nach rechts ab und übersprang eine hüfthohe Eisenkette um einen der zahllosen Parkplätze an Moskaus innerem Ring.

Nun ging er langsamer, wobei seine Blicke nach links und nach rechts schossen. Der Parkplatz war voller Ladas, Tschaikas und Wolgas. Dazwischen standen ein paar Limousinen aus deutscher Produktion; die meisten waren reichlich verdreckt und verbeult. Er schaute sich um. Die beiden Männer bogen hundert Meter hinter ihm um eine Ecke und liefen geradewegs in seine Richtung.

Er stürmte auf den grasbewachsenen Parkplatz. Von den Wagen zu seiner Rechten prallten Gewehrkugeln ab. Eilig duckte er sich hinter einen dunklen Mitsubishi und spähte um die hintere Stoßstange. Die beiden Männer hatten den Rand des Platzes erreicht; Cro-Magnon stand da und zielte, während Hängelid weiter auf ihn zuging.

Ein Motor sprang an.

Rauch quoll aus dem Auspuff. Bremslichter leuchteten auf.

Es war ein cremefarbener Lada, der auf der gegenüberliegenden Seite der mittleren Reihe geparkt war. Der Wagen setzte schnell aus der Parklücke zurück. Lord sah die Angst im Gesicht des Fahrers. Vermutlich hatte er die Schießerei gehört und beschlossen, so schnell wie möglich zu verschwinden.

Hängelid sprang über die Absperrkette.

Lord kam aus seinem Versteck gerannt, hechtete auf die Motorhaube des Ladas und hielt sich an den Scheibenwischern fest. Gott sei Dank hatte die verdammte Kiste überhaupt welche. Er wusste, dass die meisten russischen Fahrer die Dinger im Handschuhfach einschlossen, damit sie nicht geklaut wurden. Der Fahrer des Ladas bedachte ihn mit einem erstaunten Blick, fuhr aber weiter auf die verkehrsreiche Straße zu. Durch die Heckscheibe sah Lord, wie fünfzig Meter hinter ihm Hängelid in die Hocke ging, um zu schießen, während Cro-Magnon die Kette übersprang. Er dachte an den Taxifahrer; er hatte kein Recht, den Autobesitzer in die Sache hineinzuziehen. Als der Lada auf die sechsspurige Hauptverkehrsstraße einfuhr, rollte er sich von der Motorhaube auf den Gehsteig ab.

Schon im nächsten Augenblick kamen die Kugeln angeschwirrt.

Der Lada bog nach links ein und raste davon.

Lord rollte sich weiter auf die Straße hinunter; er hoffte, die leichte Vertiefung unter der Bordsteinkante würde ausreichen, um Hängelid den Schusswinkel zu versperren.

Erde und Betonbrocken spritzten hoch, als die Kugeln einschlugen.

Eine Gruppe von Menschen, die auf einen Bus warteten, stob auseinander.

Lord sah nach links. Ein Bus rollte auf ihn zu, er war keine fünfzehn Meter mehr von ihm entfernt. Luftdruckbremsen zogen an, Reifen quietschten. Lord hatte das Gefühl zu ersticken, als er die schwefligen Auspuffgase einatmete. Als der Bus kreischend zum Stehen kam, rannte er auf die Straße. Das Fahrzeug befand sich nun genau zwischen ihm und den Gangstern. Zum Glück war die äußerste Fahrspur gerade leer.

Er spurtete über die sechsspurige Straße. Der gesamte Verkehr kam aus einer Richtung, von Norden. Im Zickzack überquerte er die einzelnen Fahrspuren, immer darauf bedacht, auf gleicher Höhe mit dem Bus zu bleiben. Auf halbem Weg über die Straße musste er eine Pause einlegen und etliche Autos vorbeilassen. Es war nur noch eine Frage von Sekunden, bis die Gangster um den Bus gestürmt kamen. Er nutzte eine Lücke im Verkehr, schoss über die letzten beiden Fahrspuren und sprang über den Bordstein auf den Gehsteig.

Vor ihm lag eine Baustelle, auf der viel Betrieb war. Nackte Stahlträger ragten vier Stockwerke hoch in den Nachmittagshimmel, an dem mehr und mehr Wolken aufzogen. Noch immer hatte Lord keinen Polizisten zu Gesicht bekommen, abgesehen von den beiden, die ihm auf den Fersen waren. Der Verkehrslärm wurde übertönt vom Gebrüll der Kräne und Betonmischer. Anders als in Lords Heimat Atlanta war der Baustellenbereich hier durch keinerlei Absperrungen gesichert.

Während er auf die Baustelle lief, blickte er zurück und sah, wie die Gangster nun ebenfalls die viel befahrene Straße überquerten, Autos auswichen und wütendes Hupen über sich ergehen lassen mussten. Die zahlreichen Bauarbeiter schenkten Lord kaum Beachtung, und er fragte sich, ob hier öfter Schwarze in blutverschmierten Anzügen vorbeikamen. Aber das gehörte eben alles zum neuen Moskau. Am sichersten war es, niemandem im Weg zu stehen.

Hinter ihm erreichten die beiden Gangster den Gehsteig. Sie waren nun keine fünfzig Meter mehr entfernt.

Vor ihm ergoss sich unter der Aufsicht eines behelmten Arbeiters grauer Mörtel aus einer Mischmaschine in einen Stahltrog. Der Trog stand auf einer großen, hölzernen Plattform, die durch ein Tragseil mit dem Ausleger eines vier Stockwerke hohen Krans verbunden war. Der Arbeiter, der den Vorgang überwachte, trat zurück, und das Ganze wurde hochgehoben.

Lord kam zu dem Schluss, dass er ebenso gut in der Luft weiterfliehen konnte, und so rannte er auf die aufwärts schwebende Plattform zu. Mit einem entschlossenen Satz schaffte er es gerade noch, sich an ihrem unteren Rand festzuklammern. Eine Kruste aus eingetrocknetem Beton erschwerte den Halt, doch der Gedanke an Hängelid und seinen Kumpel gab Lord Kraft.

Die Plattform stieg höher und höher, und er schwang sich hinauf.

Obwohl diese Bewegung das Ganze ins Schwanken brachte und die Ketten unter dem zusätzlichen Gewicht ächzten, schaffte er es, hochzuklettern und sich gegen den Trog zu drücken. Doch dann geriet die Plattform in Schieflage, und Mörtel ergoss sich über ihn.

Lord riskierte einen Blick über den Rand.

Die beiden Gangster hatten ihn gesehen. Er war fünfzehn Meter über ihnen und stieg immer höher. Sie blieben stehen und zielten. Er spürte das von Mörtelkrusten überzogene Holz unter seinen Füßen und starrte auf den Stahltrog.

Ihm blieb keine Wahl.

Rasch kletterte er in den Trog, bis nasser Mörtel über den Rand schwappte. Der kalte Schlamm hüllte ihn ein und ließ seinen ohnehin schon zitternden Körper erschauern.

Dann fielen Schüsse und Projektile fetzten durch die hölzerne Plattform und schlugen gegen den Trog. Lord duckte sich in den Mörtel und hörte, wie Blei von Stahl abprallte.

Auf einmal heulten Sirenen auf.

Sie kamen näher.

Die Schüsse verstummten.

Er linste über den Rand des Trogs auf die Straße hinab und sah, wie drei Polizeiwagen von Norden auf die Baustelle zugerast kamen. Offenbar hatten auch die Gangster die Sirenen gehört, denn sie zogen sich hastig zurück. Lord sah, wie sich der dunkelblaue Volvo, mit dem alles angefangen hatte, mit hoher Geschwindigkeit von Norden näherte. Die beiden Gangster rannten auf das Fahrzeug zu und schossen zum Abschied noch ein paarmal auf Lord.

Er sah ihnen nach, als sie in den Volvo stiegen und davonbrausten.

Erst danach kniete er sich hin und stieß einen Seufzer der Erleichterung aus.

2

Lord stieg aus dem Streifenwagen. Er war wieder auf der Nikolskaja Uliza, wo die Schießerei begonnen hatte. An der Baustelle hatte man ihn zu Boden gelassen und mit einem Schlauch abgespritzt, um Mörtel und Blut abzuwaschen. Sein Jackett war hinüber, die Krawatte weg, das weiße Hemd und die dunkle Hose klatschnass und grau beschmiert. Es war ein kalter Nachmittag, und die Kleidung fühlte sich an wie eine eisige Kompresse. Er war in eine muffige, nach Pferd riechende Wolldecke gehüllt, die ihm einer der Arbeiter besorgt hatte. In Anbetracht dessen, was er gerade durchgemacht hatte, war er erstaunlich ruhig.

Die Straße war voller Polizeifahrzeuge und Krankenwagen. Von allen Seiten blitzte Blaulicht auf, und überall standen uniformierte Beamte herum. Der Verkehr war zum Erliegen gekommen. Polizisten hatten die Straße an beiden Enden bis hin zu McDonald’s abgesperrt.

Lord wurde zu einem untersetzten, stiernackigen Mann mit fleischigen Wangen und kurz gestutzten, rötlichen Koteletten geführt. Tiefe Falten durchzogen seine Stirn. Die Nase war schief wie nach einem nicht richtig verheilten Bruch, sein Teint so fahl und blass wie der unzähliger anderer Russen. Er trug einen locker sitzenden grauen Anzug, ein dunkles Hemd und einen schwarzen Mantel. Seine Schuhe waren alles andere als neu und ziemlich schmutzig.

»Ich Inspektor Oleg. Milizija.« Er streckte die Hand aus. Lord bemerkte die Leberflecken auf Handgelenk und Unterarm. »Sie hier, als Schüsse fallen?«

Der Inspektor sprach Englisch mit einem starken Akzent, und Lord spielte schon mit dem Gedanken, ihm auf Russisch zu antworten. Es würde die Kommunikation zweifellos erleichtern. Die meisten Russen gingen davon aus, dass Amerikaner zu arrogant oder schlicht zu faul waren, ihre Sprache zu lernen – vor allem schwarze Amerikaner, die, wie Lord festgestellt hatte, von den Russen eher wie Kuriositäten aus dem Zirkus angesehen wurden. Er war in den vergangenen zehn Jahren ein gutes Dutzend Mal in Moskau gewesen und zu dem Schluss gelangt, dass es besser war, seine Sprachkenntnisse für sich zu behalten; so bekam er beispielsweise die Chance, Gespräche zwischen Anwälten und Geschäftsleuten zu belauschen, die sich im sicheren Schutz einer Sprachbarriere wähnten. Zudem hatte er im Augenblick das Gefühl, niemandem trauen zu können. Bislang hatten sich seine Begegnungen mit der Polizei auf einige Diskussionen über falsches Parken beschränkt und auf das eine Mal, als er fünfzig Dollar berappen musste, um eine Anklage wegen eines angeblichen Verkehrsvergehens zu vermeiden. Die Moskauer Polizei zockte gern Ausländer ab. Was erwarten Sie von jemandem, der hundert Rubel im Monat verdient?, hatte der Polizeibeamte ihn gefragt, während er seine fünfzig Rubel in die Tasche steckte.

»Die Schützen waren Polizisten«, erklärte er auf Englisch.

Der Russe schüttelte den Kopf. »Sie Kleider wie Polizisten. Milizija nicht schießen Leute.«

»Die schon.« Er ließ den Blick am Inspektor vorbei zu den blutigen Überresten von Artemy Bely schweifen. Der junge Russe lag mit dem Gesicht nach oben auf dem Gehsteig, die Augen geöffnet. Braunrote Rinnsale sickerten aus seiner Brust. »Wie viele hat es erwischt?«

»Pjat.«

»Fünf? Und wie viele sind tot?«

»Tschetyre.«

»Das scheint Sie nicht weiter zu beunruhigen. Vier Menschen am helllichten Tag auf offener Straße erschossen!«

Oleg zuckte die Achseln. »Wenig zu machen. Dach schwer zu kontrollieren.«

»Das Dach« war der gängige Name für die Mafija, die sich in Moskau und weiten Teilen Westrusslands ausgebreitet hatte. Er hatte nie herausgefunden, wie der Ausdruck entstanden war. Vielleicht kam er ja daher, dass die Leute von oben bezahlten; vielleicht drückte er auch metaphorisch aus, dass man es mit der Mafija nach ganz oben bringen konnte. Die dicksten Schlitten, die größten Datschen und die gediegenste Kleidung besaßen immer die Gangster. Keiner gab sich auch nur die geringste Mühe, seinen Reichtum zu verbergen. Im Gegenteil: Die Mafija neigte dazu, sowohl der Regierung als auch dem Volk gegenüber mit ihrem Reichtum zu protzen. Sie war eine gesellschaftliche Schicht für sich und hatte sich mit unglaublicher Geschwindigkeit entwickelt. Die Leute, zu denen Lord geschäftliche Kontakte hatte, betrachteten die Zahlung von Schutzgeldern als völlig normal und ebenso notwendig für das wirtschaftliche Überleben ihrer Firma wie zuverlässige Mitarbeiter und einen ausreichenden Warenbestand. Mehr als ein russischer Bekannter hatte ihm erklärt, dass es immer ratsam sei, die Herren in den Armani-Anzügen ernst zu nehmen, wenn sie zu Besuch kamen, den Spruch Bog zaweschtschajet delitsja – Gott befiehlt uns zu teilen – auf den Lippen.

»Mein Interesse«, sagte Oleg, »warum diese Männer Sie jagen.«

Lord deutete auf Bely. »Warum deckt ihr ihn nicht wenigstens zu?«

»Ihm nichts mehr ausmacht.«

»Aber mir. Ich habe ihn gekannt.«

»Wie?«

Er fand seine Brieftasche. Der laminierte Spezialausweis, den er vor Wochen erhalten hatte, hatte das Mörtelbad überstanden. Er reichte ihn Oleg.

»Sie gehören zu Zar-Kommission?«

Dahinter steckte die unausgesprochene Frage, warum ausgerechnet ein Amerikaner mit einer so urrussischen Angelegenheit befasst war. Der Inspektor wurde ihm immer unsympathischer. Lord fing an, ihn nachzuahmen, es schien ihm der beste Weg, seine Gefühle auszudrücken.

»Ich gehören zu Zar-Kommission.«

»Ihre Aufgaben?«

»Das vertraulich.«

»Vielleicht wichtig für diese Sache.«

Sein Sarkasmus ging spurlos an Oleg vorüber. »Dann müssen Sie sich an die Kommission wenden.«

Der Inspektor deutete auf den Leichnam. »Und der da?«

Lord erklärte ihm, dass Artemy Bely Anwalt im Justizministerium gewesen sei, in der Kommission mitgearbeitet und ihm Zugang zu den sowjetischen Archiven verschafft habe. Auf persönlicher Ebene wisse er lediglich, dass Bely ledig gewesen sei, in einer städtischen Wohnung nördlich von Moskau gewohnt habe und ihn eines Tages gern mal in Atlanta besucht hätte.

Er trat näher und betrachtete den Leichnam.

Es war schon einige Zeit her, dass er zum letzten Mal eine so übel zugerichtete Leiche zu Gesicht bekommen hatte. Während seines Einsatzes als Reservist in Afghanistan, der von den vorgesehenen sechs Monaten auf ein Jahr ausgedehnt worden war, hatte er schon Schlimmeres gesehen. Er war dort in seiner Eigenschaft als Anwalt gewesen, nicht als Soldat. Man hatte ihn wegen seiner Sprachkenntnisse abkommandiert und nach der Vertreibung der Taliban als Verbindungsoffizier zum Außenministerium eingesetzt. Seine Kanzlei hatte es für wichtig erachtet, dort Präsenz zu zeigen. Gut fürs Image. Gut für seine Karriere. Er hatte es jedoch bald satt gehabt, sich auf Papierkram zu beschränken, und geholfen, die Toten zu begraben. Die Afghanen hatten schwere Verluste erlitten, weit mehr, als in der Weltpresse je bekannt geworden war. Noch immer spürte er die sengende Sonne und den scharfen Wind, die die Verwesung beschleunigt und seine unangenehme Aufgabe zusätzlich erschwert hatten. Der Tod war eben nirgendwo angenehm.

»Dumdum«, erklärte Oleg hinter ihm. »Hinein kleine Loch, heraus große Loch. Viel mitnehmen.« Im Tonfall des Inspektors lag keinerlei Mitgefühl.

Lord sah sich um und blickte in ausdruckslose, wässrige Augen. Oleg roch leicht nach Alkohol und Pfefferminze. Seine flapsige Reaktion auf die Bitte, die Leiche zuzudecken, hatte Lord übel genommen. Er trennte sich von seiner wärmenden Decke und legte sie über den Leichnam.

»Wir bedecken unsere Toten«, erklärte er Oleg.

»Hier zu viele.«

Olegs Zynismus verschlug Lord die Sprache. Dieser Polizist hatte wohl einiges mitgemacht. Er hatte zusehen müssen, wie seiner Regierung allmählich die Kontrolle entglitt, hatte wie die meisten Russen oft vergeblich auf sein Gehalt gehofft und wahrscheinlich für Naturalien oder US-Dollar vom Schwarzmarkt gearbeitet. Über siebzig Jahre Kommunismus hatten ihre Spuren hinterlassen. Die Russen nannten es Bespredel, Anarchie. Unauslöschlich wie eine Tätowierung. Der Ruin für jedes Land.

»Justizministerium oft Ziel von Verbrechen«, erklärte Oleg. »Zu wenig achten auf Sicherheit. Sind gewarnt worden.« Er zeigte auf den Leichnam. »Nicht erste oder letzte Anwalt, der sterben.«

Lord erwiderte nichts.

»Vielleicht unsere neue Zar wird lösen alles?«, fragte Oleg.

Lord stand jetzt ganz dicht vor dem Inspektor. »Alles ist besser als das hier.«

Oleg bedachte ihn mit einem abschätzigen Blick, und Lord war sich nicht sicher, ob der Polizist ihm in diesem Punkt zustimmte oder nicht. »Sie mir noch nicht antworten. Warum Männer Sie jagen?«

Er hörte wieder, was Hängelid sagte, als er aus dem Volvo glitt. »Der verdammte Tschorni lebt noch.« Sollte er es Oleg erzählen? Irgendetwas an diesem Inspektor stimmt nicht, dachte Lord. Aber vielleicht war seine Paranoia ja nur die Folge des eben ausgestandenen Schrecks. Er musste jetzt unbedingt in sein Hotel zurück, um alles mit Taylor Hayes zu besprechen.

»Keine Ahnung – außer vielleicht, dass ich als Zeuge nah genug dran war, um eine gute Beschreibung der beiden zu liefern. Hören Sie, Sie haben meinen Sicherheitsausweis gesehen und wissen, wo Sie mich finden können. Ich bin total durchnässt und friere mich hier zu Tode, außerdem ist der traurige Rest meiner Kleidung voller Blut. Ich würde mich jetzt wirklich gern umziehen. Könnte einer Ihrer Leute mich ins Wolchow fahren?«

Der Inspektor antwortete nicht sofort. Er starrte ihn einfach nur an.

Dann gab Oleg ihm seinen Sicherheitsausweis zurück.

»Natürlich, Herr Kommissionsanwalt. Wie Sie wünschen. Ich schon haben Auto bereit.«

3

So wurde Lord von einem Streifenwagen zum Haupteingang des Hotels Wolchow gefahren. Der Türsteher ließ ihn wortlos passieren. Seine durchweichte Hotelkarte brauchte er nicht vorzuzeigen. Er war der einzige Farbige dort und somit unverkennbar, auch wenn ihm der Zustand seiner Kleidung verwunderte Blicke eintrug. Das Wolchow war zu Beginn des 20. Jahrhunderts, noch vor der Revolution, erbaut worden. Es lag nahe dem Stadtzentrum nordwestlich des Kreml und des Roten Platzes an einem belebten Platz gegenüber dem Bolschoi-Theater. Während der Sowjetzeit hatte man von den Zimmern an der Straße einen guten Blick auf das wuchtige Lenin-Museum und das Karl-Marx-Denkmal. Beide Denkmäler waren nun verschwunden. Dank einer Koalition aus amerikanischen und europäischen Investoren hatte das Hotel im vergangenen Jahrzehnt wieder seinen alten Glanz zurückgewonnen. Das opulente Foyer mit seinen Wandgemälden und Kronleuchtern vermittelte eine Atmosphäre von Luxus und Privilegiertheit, die an das zaristische Russland erinnerte. Die Gemälde an den Wänden – samt und sonders von russischen Malern – spiegelten jedoch den Einfluss des Kapitalismus wider, denn sie waren alle zum Verkauf angeboten. Auch das hochmoderne »Business Center«, der »Health Club« und der Hotelpool trugen dazu bei, das alte Gemäuer für das neue Jahrtausend fit zu machen.

Er eilte zielstrebig zum Empfang und fragte, ob Taylor Hayes auf seinem Zimmer sei. Der Angestellte erklärte ihm, Hayes sei im Business Center. Lord überlegte, ob er sich vielleicht erst umziehen sollte, entschied sich aber dagegen. Mit langen Schritten durchmaß er das Foyer und entdeckte Hayes durch eine gläserne Wand vor einem der Computer-Terminals.

Hayes war einer von vier Senior Managing Partners bei Pridgen & Woodworth. Die Firma galt mit ihren fast zweihundert fest angestellten Anwälten als eine der größten Kanzleien im Südosten der Vereinigten Staaten. Einige der weltgrößten Versicherungen, Banken und Unternehmen zahlten monatliche Pauschalhonorare an die Firma. Ihre Büros im Zentrum von Atlanta nahmen zwei ganze Stockwerke eines eleganten, bläulich schimmernden Wolkenkratzers ein.

Hayes hatte sowohl in Volkswirtschaft wie auch in Jura einen Abschluss und galt als Fachmann auf den Gebieten Weltwirtschaft und Internationales Recht. Er war mit einem schlanken, athletischen Körper gesegnet, und die grauen Strähnen in seinem braunen Haar zeugten von einer gewissen Reife. Häufig war er als Live-Kommentator bei CNN, und hatte auch auf dem Bildschirm eine beeindruckende Ausstrahlung. Lord empfand die Persönlichkeit, die aus Hayes’ blaugrauen Augen aufblitzte, oft als eine Mischung aus Showman, Tyrann und Akademiker.

Nur in Ausnahmefällen erschien sein Mentor persönlich vor Gericht, und noch seltener nahm er an den wöchentlichen Meetings der vier Dutzend Anwälte – Lord eingeschlossen – teil, mit denen die Internationale Abteilung besetzt war. Lord hatte schon mehrmals direkt mit Hayes zusammengearbeitet, ihn nach Europa und Kanada begleitet, Recherchen koordiniert und Verträge entworfen. Doch erst in den vergangenen Wochen hatten sie so viel Zeit miteinander verbracht, dass Lord seinen Vorgesetzten nicht mehr »Mr. Hayes«, sondern schlicht »Taylor« nannte.

Hayes war immer auf Achse und mindestens drei Wochen im Monat unterwegs, um die über die ganze Welt verstreuten Klienten seiner Firma zu betreuen, denen es nichts ausmachte, für einen Hausbesuch ihres Anwalts 450 Dollar pro Stunde hinzublättern. Als Lord vor zwölf Jahren in die Kanzlei eingetreten war, hatte Hayes sofort ein Auge auf ihn geworfen. Er hatte, wie Lord später erfuhr, persönlich dafür gesorgt, dass er in die Internationale Abteilung versetzt wurde. Zweifellos verfügte Lord mit seinem erstklassigen Abschluss an der juristischen Fakultät der University of Virginia, einem Master der Emory University in Osteuropäischer Geschichte und seinen Sprachkenntnissen über außergewöhnliche Qualifikationen. Hayes schickte ihn schon bald in alle Winkel Europas, und zwar vor allem in die ehemaligen Ostblockstaaten. Pridgen & Woodworth vertraten die unterschiedlichsten Klienten, die in Tschechien, Polen, Ungarn, den baltischen Staaten und Russland viel Geld investiert hatten. Lord war in der Firma mittlerweile zum Senior Associate aufgestiegen und durfte sich Hoffnungen machen, bald Junior Partner zu werden. Eines Tages würde er es vielleicht sogar zum Chef der Internationalen Abteilung bringen.

Vorausgesetzt, dass er so lange am Leben blieb.

Er stieß die Tür zum Business Center auf und trat ein. Hayes blickte vom Computerterminal zu ihm auf. »Was zum Teufel ist denn mit Ihnen passiert?«

»Nicht hier.«

Ein Dutzend Männer befanden sich im Raum. Sein Chef schien sofort zu verstehen, und so gingen sie ohne ein weiteres Wort zu einer der Bars im Erdgeschoss des Hotels. Sie wählten stets jene Bar, die mit einer imposanten Buntglasdecke und einem Brunnen aus rosa Marmor ausgestattet war. In den vergangenen Wochen war diese Lounge ihr offizieller Treffpunkt geworden.

Sie zogen sich in eine Nische zurück.

Lord winkte einem Kellner und klopfte sich an die Kehle zum Zeichen dafür, dass er Wodka wollte. Den hatte er im Moment dringend nötig.

»Erzählen Sie schon, Miles«, forderte Hayes ihn auf.

Lord schilderte, was ihm widerfahren war. Alles. Auch von der Bemerkung, die der eine Schütze gemacht hatte, und von Inspektor Olegs Vermutung, dass der Anschlag Bely und dem Justizministerium gegolten habe. Dann fügte er hinzu: »Taylor, ich glaube, die Typen hatten es auf mich abgesehen.«

Hayes schüttelte den Kopf. »Das kann ich mir nicht vorstellen. Wahrscheinlich wollten sie einfach nur einen Zeugen zum Schweigen bringen, und Sie waren zufällig der einzige Schwarze weit und breit.«

»Aber auf der Straße waren Hunderte von Menschen. Warum sind sie dann ausgerechnet auf mich losgegangen?«

»Weil Sie mit Bely zusammen waren. Dieser Inspektor hat schon Recht. Es könnte ein Anschlag auf Bely gewesen sein. Vielleicht haben die Typen den ganzen Tag auf den richtigen Moment gewartet. So klingt es jedenfalls in meinen Ohren.«

»Aber wir wissen es nicht.«

»Miles, Sie haben Bely doch erst vor ein paar Tagen kennen gelernt. Sie wissen doch gar nichts über ihn. Hier sterben Tag für Tag Menschen, und das aus den unterschiedlichsten Gründen.«

Lord betrachtete die dunklen Flecken auf seinem Mantel und musste erneut an AIDS denken. Der Kellner kam mit seinem Drink, und Hayes schob dem Mann ein paar Rubel hin. Lord holte tief Luft und kippte einen kräftigen Schluck hinunter, um sich zu beruhigen. Er hatte russischen Wodka immer schon gemocht, weil er einfach der beste war. »Wollen wir mal hoffen, dass Bely HIV-negativ ist. Ich habe immer noch sein Blut an mir.« Er stellte sein Glas ab. »Meinen Sie, ich sollte das Land verlassen?«

»Möchten Sie das?«

»Verdammt, nein. Hier wird gerade Geschichte geschrieben, da kann ich mich doch nicht einfach aus dem Staub machen. Das ist eine Sache, die ich noch meinen Enkeln erzählen kann. Ich war dabei, als der russische Zar seinen Thron zurückerhielt.«

»Dann sollten Sie besser nicht gehen.«

Noch ein Schluck Wodka. »Andererseits möchte ich meine Enkel ganz gerne noch erleben.«

»Wie sind Sie eigentlich entkommen?«

»Ich bin gerannt wie der Teufel. Und hab mir dabei komischerweise mit meinem Großvater und der Waschbärenjagd Mut gemacht.«

Hayes’ Gesicht verriet Neugierde.

»Das war in den Vierzigerjahren in den Südstaaten ein Zeitvertreib der Rassisten. Man schleppte einen Nigger in den Wald, ließ die Bluthunde ausgiebig an ihm schnuppern und gab ihm dann dreißig Minuten Vorsprung.« Ein weiterer Schluck Wodka. »Aber die Arschlöcher haben meinen Opa nie gekriegt.«

»Möchten Sie, dass ich Ihnen einen Leibwächter besorge?«, fragte Hayes.

»Gute Idee.«

»Ich würde Sie gern hier in Moskau behalten. Uns erwartet vermutlich ein hartes Stück Arbeit, und dafür brauche ich Sie.«

Lord wollte auch selbst gerne bleiben. Also redete er sich ein, dass Hängelid und Cro-Magnon ihn nur aufs Korn genommen hatten, weil er den Mord an Bely beobachtet hatte. Er war ein Augenzeuge, nichts weiter. Das war schon alles. Welchen Grund könnten die beiden sonst gehabt haben? »Ich habe all meine Sachen im Archiv gelassen. Ich dachte, ich geh nur schnell was essen.«

»Ich rufe an und lasse alles rüberbringen.«

»Nein. Ich denke, ich dusche erst mal und hol die Sachen dann selber. Ich hab ohnehin noch zu tun.«

»Haben Sie was Bestimmtes im Auge?«

»Eigentlich nicht. Ich versuche nur, Zusammenhänge zu erkennen. Wenn ich auf etwas Konkretes stoße, sage ich Ihnen Bescheid. Arbeit ist jetzt die beste Ablenkung.«

»Was ist mit morgen? Können Sie das Briefing übernehmen?«

Der Kellner kam mit einem neuen Glas Wodka.

»Klar doch.«

Hayes lächelte. »Das ist die richtige Einstellung. Ich wusste ja, dass Sie ein zäher Bursche sind.«

4

14.30 Uhr

 

Hayes bahnte sich seinen Weg durch die Masse von Pendlern, die aus der U-Bahn strömten. Bahnsteige, die gerade noch leer waren, wimmelten nun von Tausenden von Moskauern. Sie alle steuerten auf die vier Rolltreppen zu, die, fast hundert Meter lang, aus der Tiefe nach oben führten. Allein der Anblick war beeindruckend, doch mehr noch faszinierte Hayes die Stille. So war es immer. Nichts als Schuhsohlen auf Stein und das Geraschel sich streifender Mäntel. Mitunter ertönte auch die eine oder andere Stimme, aber alles in allem wirkte die Prozession von acht Millionen Menschen, die jeden Morgen in das belebteste U-Bahn-Netz der Welt hinein- und jeden Abend wieder herausströmten, reichlich schwermütig.

Die Metro war in den Dreißigerjahren als Stalins Vorzeigeobjekt gebaut worden – ein protziges Unterfangen, das die Errungenschaften des Sozialismus in Form des umfangreichsten und längsten Tunnelsystems in der Geschichte der Menschheit vor aller Welt demonstrieren sollte. Die einzelnen Stationen dieser Untergrundbahn stellten wahre Kunstwerke dar und waren großzügig mit Stuckverzierungen, neoklassizistischen Marmorpfeilern, Kronleuchtern, Gold und Glas verziert worden. Niemand hatte damals nach den Kosten für Bau oder Unterhalt gefragt. Der Preis für diesen Größenwahn war nun ein unverzichtbares Nahverkehrssystem, das Jahr für Jahr Milliarden Rubel verschlang, während die Einnahmen sich nur auf ein paar Kopeken pro Fahrt beliefen.

Jelzin und seine Nachfolger hatten versucht, die Fahrpreise zu erhöhen, aber die öffentliche Empörung war so gewaltig gewesen, dass sie klein beigegeben hatten. Genau das war der Fehler gewesen, dachte Hayes. Zu viel Populismus für ein so wankelmütiges Volk wie die Russen. Ob einer das Richtige tat oder nicht, war im Grunde zweitrangig, mangelnde Entschlossenheit aber war tödlich. Hayes war fest davon überzeugt, dass die Russen ihre Führung weit mehr respektiert hätten, wenn diese die Fahrpreise einfach erhöht und jeden öffentlichen Protest mit Waffengewalt niedergeschlagen hätte. Das war die Lektion, die viele russische Zaren und kommunistische Ministerpräsidenten nie richtig gelernt hatten, am wenigsten Nikolaus II. und Michail Gorbatschow.

Hayes trat von der Rolltreppe und folgte der Menge durch schmale Türen hinaus in den frischen Nachmittag. Er befand sich nördlich der Moskauer Innenstadt, jenseits der chronisch überlasteten vierspurigen Straße, die ringförmig um das Zentrum verlief und ironischerweise Gartenring hieß. Die U-Bahn-Station hier – ein heruntergekommener, ovaler Flachdachbau aus Backstein und Glas – war keines jener Vorzeigeobjekte Stalins. Überhaupt hatte die ganze Gegend nicht die geringste Chance, in einen Reiseführer aufgenommen zu werden. Am Eingang der Station reihten sich ausgemergelte Männer und Frauen mit verfilztem Haar, grauer Haut und übel riechenden Kleidern, die von Toilettenartikeln über Raubkopien von CDs bis hin zu getrocknetem Fisch alles Mögliche verhökerten, um ein paar Rubel oder noch besser US-Dollar zu ergattern. Er fragte sich oft, ob tatsächlich jemand die verschrumpelten, salzigen Fischkadaver kaufte, die fast noch schlimmer aussahen, als sie rochen. Das einzige Gewässer, das in erreichbarer Nähe zum Fischen einlud, war die Moskwa, und nach allem, was Hayes über die sowjetischen und russischen Müllentsorgungsmethoden wusste, käme dabei wohl noch ganz anderes als nur Fisch auf den Teller.

Ganz in Gedanken knöpfte er seinen Mantel zu, schob sich zwischen anderen Passanten den holprigen Gehsteig entlang und bemühte sich, so unauffällig wie möglich zu wirken. Er hatte seinen Anzug gegen eine olivgrüne Cordhose, ein dunkles Baumwollhemd und schwarze Turnschuhe ausgetauscht. Wer auch nur andeutungsweise etwas wie westliche Kleidung trug, brauchte sich nicht zu wundern, wenn er Probleme bekam.

Endlich fand er den Klub, den man ihm beschrieben hatte, mitten in einem heruntergekommenen Häuserblock zwischen einer Bäckerei, einem Lebensmittelgeschäft, einem Plattenladen und einer Eisdiele. Keinerlei Plakat wies auf ihn hin, nur ein kleines Schild, das potenziellen Besuchern auf Kyrillisch aufregende Unterhaltung versprach.

Das Innere war ein schwach beleuchteter rechteckiger Raum. Vergeblich hatte man mit einer billigen Nussbaumvertäfelung versucht, so etwas wie Atmosphäre zu schaffen. In der warmen Luft hing blauer Dunst. Die Mitte des Raums wurde von einem riesigen Labyrinth aus Sperrholz eingenommen. Hayes hatte diese Neuheit zuvor schon im Zentrum in den schickeren Klubs der Neureichen gesehen. Dort waren es neonfarbene Monstrositäten aus Ziegelstein und Marmor, während hier eine Arme-Leute-Version stand, gefertigt aus nackten Brettern und beleuchtet von Neonröhren, die ein kaltes blaues Licht warfen.

Eine Gruppe von Männern umlagerte das Labyrinth. Es war nicht die Art von Typen, die sich in den feineren Etablissements trafen, um Lachs, Hering und Rote-Bete-Salat zu verspeisen, während bewaffnete Türsteher den Eingang bewachten und in einem Nebenzimmer Tausende von Dollars bei Roulette oder Blackjack den Besitzer wechselten. Schon der Eintritt in einen solchen Klub konnte leicht zweihundert Rubel kosten. Für die Männer hier – allem Anschein nach Arbeiter aus den nahen Fabriken und Gießereien – entsprachen zweihundert Rubel einem halben Jahreslohn.

»Höchste Zeit«, sagte Felix Oleg auf Russisch.

Hayes hatte den Polizeiinspektor nicht kommen sehen, denn seine ganze Aufmerksamkeit war auf das Labyrinth gerichtet gewesen. Er wies auf die Menge und fragte: »Was ist denn hier so spannend?«

»Das werden Sie schon sehen.«

Hayes trat näher und sah, dass das, was er für eine Einheit gehalten hatte, in Wirklichkeit drei ineinander verschachtelte Labyrinthe waren. Aus kleinen Türen am hinteren Ende sprangen drei Ratten herein. Die Nager schienen genau zu wissen, was von ihnen erwartet wurde, und rannten furchtlos vorwärts, vom Geheul und Gebrüll der Zuschauer angefeuert. Als allerdings einer der Zuschauer gegen die Sperrholzwand schlug, tauchte aus dem Nichts ein stämmiger Mann mit den Unterarmen eines Preisboxers auf und verwarnte ihn.

»Die Moskauer Version des Kentucky Derby«, erklärte Oleg.

»Geht das den ganzen Tag so?«

Die Ratten rasten um die Ecken.

»Und ob, verdammt. Das bisschen, was die Leute verdienen, hauen sie hier auf den Kopf.«

Eine der Ratten überquerte schließlich die Ziellinie, und einige Männer brachen in Jubel aus. Hayes fragte sich, was eine gewonnene Wette wohl einbrachte, beschloss dann aber, zum geschäftlichen Teil überzugehen. »Ich möchte wissen, was da heute passiert ist.«

»Der Schwarze ist wie eine Ratte durch die Straßen gerannt. Verdammt schnell.«

»Er hätte gar nicht erst die Chance bekommen dürfen zu rennen.«

Oleg kippte einen Schluck des wasserklaren Schnapses in seinem Glas hinunter. »Anscheinend haben die Jungs daneben geschossen.«

Die Zuschauer beruhigten sich allmählich und bereiteten sich auf das nächste Rennen vor. Hayes führte Oleg zu einem leeren Tisch in einer der hinteren Ecken. »Ich bin nicht in Stimmung für solche Scherze, Oleg. Es war abgemacht, dass er ins Gras beißt. Kann das wirklich so schwer zu bewerkstelligen sein?«

Oleg nippte noch einmal an seinem Glas und behielt den Schnaps einen Moment lang im Mund, bevor er schluckte. »Wie gesagt, die Idioten haben daneben geschossen. Und als sie ihn dann jagten, entkam Ihr Mr. Lord. Der Knabe soll recht einfallsreich sein. War nicht ganz einfach, aus dem ganzen Gebiet für die paar Minuten sämtliche Polizeistreifen abzuziehen. Die Jungs hatten freie Bahn. Aber statt ihn abzuknallen, töteten sie drei russische Staatsbürger.«

»Und ich dachte, Ihre Leute wären Profis.«

Oleg lachte. »Schwachköpfe, ja. Aber Profis? Wohl kaum. Das sind Gangster. Was haben Sie erwartet?« Oleg leerte sein Glas. »Wollen Sie, dass wir es nochmal versuchen?«

»Verdammt, nein. Im Gegenteil: Ich will, dass Lord kein Haar gekrümmt wird.«

Oleg erwiderte nichts, doch sein Blick machte deutlich, dass er sich nicht gerne von einem Ausländer herumkommandieren ließ.

»Lassen Sie es bleiben. Es war von Anfang an eine bescheuerte Idee. Lord glaubt, dass es ein Anschlag auf Bely war. Gut so. Lassen wir ihn in dem Glauben. Wir können uns nicht leisten, noch mehr Aufmerksamkeit zu erregen.«

»Die Gangster meinten, Ihr Anwalt habe sich wie ein Profi verhalten.«

»Er war im College ein klasse Sportler. Football und Leichtathletik. Aber zwei Kalaschnikows hätten das eigentlich aufwiegen müssen.«

Oleg lehnte sich in seinem Sessel zurück. »Vielleicht sollten Sie die Sache selbst in die Hand nehmen.«

»Vielleicht tue ich das auch. Aber fürs Erste sorgen Sie dafür, dass diese Idioten sich ruhig verhalten. Sie haben ihre Chance gehabt. Ich will keinen weiteren Anschlag. Und sagen Sie den Typen: Wenn sie sich nicht an diese Order halten, werden ihnen die Leute, die ihre Bosse dann zu ihnen schicken, gar nicht gefallen.«

Der Inspektor schüttelte den Kopf. »Als ich klein war, haben wir reiche Leute gejagt und gequält, jetzt werden wir dafür bezahlt, sie zu beschützen.« Er spuckte auf den Boden. »Das ist doch zum Kotzen.«

»Wer hat was von reich gesagt?«

»Bilden Sie sich vielleicht ein, dass ich nicht weiß, was hier abläuft?«

Hayes beugte sich näher. »Einen Scheißdreck wissen Sie, Oleg. Tun Sie sich selber den Gefallen und stellen Sie nicht zu viele Fragen. Führen Sie einfach Ihre Befehle aus. Das ist wesentlich bekömmlicher für Ihre Gesundheit.«

»Scheiß-Ami. Die ganze Welt steht Kopf. Ich weiß noch, wie ihr Amis damals bei jeder Ausreise gezittert habt, ob wir euch überhaupt noch mal rauslassen. Und jetzt gehören wir praktisch euch.«

»So ändern sich die Zeiten. Wer sich nicht anpasst, bleibt auf der Strecke. Sie wollen doch mitspielen, oder? Dann tun Sie’s. Aber das heißt gehorchen.«

»Machen Sie sich um mich mal keine Gedanken, Herr Anwalt. Aber was wird aus Ihrem Problem mit diesem Lord?«

»Das ist jetzt nicht mehr Ihre Sache. Mit Lord werde ich schon fertig.«

5

15.35 Uhr

 

Lord war wieder im russischen Archiv, einem düsteren Granitgebäude, das einst als Institut für Marxismus-Leninismus gedient hatte. Nun war es das »Zentrum für die Aufbewahrung und das Studium von Dokumenten der Zeitgeschichte« und als solches ein weiterer Beleg für die russische Neigung zu ebenso umständlichen wie überflüssigen Titeln.

Bei seinem ersten Besuch hatte er verblüfft feststellen müssen, dass auf dem Giebelfeld vor dem Haupteingang noch immer Bildnisse von Marx, Engels und Lenin standen und in großen Lettern der Aufruf VORWÄRTS ZUM SIEG DES KOMMUNISMUS prangte. Ansonsten hatte man landesweit – in jeder Stadt, jeder Straße und jedem Gebäude – alles, was an die Sowjetzeit erinnerte, beseitigt und durch den doppelköpfigen Adler ersetzt, der dreihundert Jahre lang für die Romanow-Dynastie gestanden hatte. Die Leninstatue aus rotem Granit war, wie man ihm erklärt hatte, eine der letzten noch verbliebenen in ganz Russland.

Nach einer heißen Dusche und einem weiteren Wodka hatte er sich wieder einigermaßen beruhigt. Er trug den Ersatzanzug, den er aus Atlanta mitgebracht hatte, Anthrazit mit einem dezenten Streifenmuster. Für die hektischen Wochen, die vor ihm lagen, reichte ein einziger Anzug allerdings nicht, und so würde er in den nächsten Tagen wohl in einem russischen Geschäft einen weiteren kaufen müssen.

Vor dem Niedergang des Kommunismus hatte man das Archiv als viel zu ketzerisch erachtet, um es der Öffentlichkeit zugänglich zu machen; nur die strammsten Kommunisten hatten Zutritt gehabt. Und noch immer durfte es längst nicht jeder nutzen. Warum dem so war, sollte Lord erst später begreifen. Auf den Regalen standen überwiegend mehr oder weniger uninteressante persönliche Dokumente – Bücher, Briefe, Tagebücher, Regierungsakten und anderes unveröffentlichtes Material, harmlos und ohne jede historische Bedeutung. Zu allem Überfluss gab es keinerlei Register, sondern lediglich eine grobe Einteilung nach Jahr, Autor oder geografischer Herkunft – und zwar derart chaotisch, als wolle man die Benutzer eher verwirren denn auf den richtigen Weg führen. Anscheinend wollte niemand, dass Licht ins Dunkel der Geschichte gebracht wurde.

Und es gab kaum jemanden, der behilflich sein konnte.

Die Archivare waren Überbleibsel aus dem Sowjetregime und somit Teil der Parteihierarchie, die einst Privilegien genossen hatte, von denen der gewöhnliche Moskauer kaum zu träumen gewagt hätte. Und obwohl die Partei nicht mehr existierte, hatte sich hier ein Kader loyaler ältlicher Frauen gehalten, von denen viele, wie Lord annahm, am liebsten eine Rückkehr zur totalitären Ordnung gesehen hätten. Ihr Mangel an Hilfsbereitschaft war auch der Grund gewesen, warum er Artemy Bely um Unterstützung gebeten hatte, und so hatte er in den letzten paar Tagen mehr erreicht als in den Wochen zuvor.

Nur ein paar wenige Menschen bewegten sich zwischen den Metallregalen hin und her. Die meisten Akten, insbesondere die über Lenin, waren einst in unterirdischen Gewölben hinter Stahltüren gesichert gewesen. Erst Jelzin hatte Schluss gemacht mit dieser Heimlichtuerei und angeordnet, alles nach oben zu schaffen und das Gebäude auch Forschern und Journalisten zugänglich zu machen.

Aber nicht unbegrenzt.

Ein großer Teil blieb weiter unter Verschluss – die so genannten »schutzwürdigen Akten«, die weiterhin als streng geheim galten. Lords Mitgliedschaft in der Zarenkommission wog jedoch schwerer als alle vermeintlichen Staatsgeheimnisse von früher. Der Ausweis, den Hayes ihm beschafft hatte, gestattete ihm zu suchen, wo immer er es für erforderlich hielt, auch in den »schutzwürdigen Akten«.

Er setzte sich an den für ihn reservierten Tisch und zwang sein Gehirn, sich auf die vor ihm ausgebreiteten Seiten zu konzentrieren. Seine Aufgabe bestand darin, Stefan Baklanows Anspruch auf den Zarenthron zu untermauern. Baklanow, ein gebürtiger Romanow, war der führende Kandidat der Zarenkommission. Er besaß darüber hinaus engste Verbindungen zu westlichen Unternehmen, von denen viele zum Kundenkreis von Pridgen & Woodworth zählten. Hayes hatte Lord ins Archiv geschickt, um sicherzustellen, dass nichts und niemand Baklanows Anspruch auf den Thron in die Quere kam. Eine offizielle Untersuchung oder womöglich gar Hinweise darauf, dass Baklanows Familie im Zweiten Weltkrieg mit den Deutschen sympathisiert hatte, konnte man derzeit wirklich nicht gebrauchen – mit anderen Worten: Nichts durfte Stefan Baklanows Loyalität zu Russland und seine Liebe zum russischen Volk in Frage stellen.

Lords Arbeit hatte ihn auf die Spur Nikolaus’ II. des letzten russischen Zaren, geführt und zu den Ereignissen, die sich am 16. Juli 1918 in Sibirien abgespielt hatten. In den vergangenen Wochen hatte er zahlreiche veröffentlichte und etliche unveröffentlichte Darstellungen der damaligen Ereignisse gelesen. Sie alle waren bestenfalls als widersprüchlich zu bezeichnen. Jeder einzelne dieser Berichte musste eingehend untersucht werden, um offensichtliche Unwahrheiten aufzuspüren und Fakten so zusammenzufügen, dass sie ein brauchbares Bild ergaben. Aus seinem ständig wachsenden Berg von Notizen ließ sich allmählich entnehmen, was in jener schicksalhaften Nacht der russischen Geschichte wirklich passiert war.

 

Nikolaus erwachte aus tiefem Schlaf. Ein Soldat stand über ihn gebeugt. In den letzten Monaten hatte er nur selten wirklich Schlaf gefunden, und so war er verärgert über die Störung. Aber er konnte nichts dagegen tun. Einst war er der Zar von ganz Russland gewesen, Nikolaus II. der Vertreter des Allmächtigen auf Erden. Doch vor einem Jahr, im vergangenen März, hatte man ihn gezwungen, etwas zu tun, was für einen gottgleichen Monarchen undenkbar war: Er hatte sich der Gewalt beugen und abdanken müssen. Die provisorische Regierung, die die Macht übernahm, bestand vorwiegend aus liberalen Abgeordneten der Duma und einer Koalition aus radikalen Sozialisten. Diese Interimsregierung sollte bis zur Wahl einer verfassungsgebenden Versammlung im Amt bleiben, doch die Deutschen hatten Lenin in der Hoffnung auf eine Destabilisierung Russlands die Durchreise durch ihr Staatsgebiet gestattet.

Diese Rechnung war aufgegangen.

Vor zehn Monaten hatte Lenin die schwache provisorische Regierung gestürzt – ein Akt, den Nikolaus’ Wächter stolz »Oktoberrevolution« nannten.

Warum hatte sein Vetter, der deutsche Kaiser, ihm das angetan? Hasste er ihn denn so sehr? War ihm der Sieg im Weltkrieg so wichtig, dass er bereit war, eine Herrscherdynastie dafür zu opfern?

Es sah ganz danach aus.

Nur zwei Monate nach der Machtergreifung unterzeichnete Lenin erwartungsgemäß einen Waffenstillstand mit den Deutschen, und Russland zog sich aus dem Großen Krieg zurück, so dass die Alliierten sich nicht mehr auf eine Ostfront stützen konnten, die einen Großteil der vorrückenden deutschen Truppen hätte binden können. Großbritannien, Frankreich und die Vereinigten Staaten waren davon naturgemäß wenig begeistert. Nikolaus war klar, welch gefährliches Spiel Lenin da spielte. Er versprach den Menschen Frieden, um ihr Vertrauen zu gewinnen, musste diesen Frieden aber hinauszögern, um die Alliierten zu beschwichtigen, und zugleich vermeiden, seinen wahren Verbündeten, den deutschen Kaiser, vor den Kopf zu stoßen. Der fünf Monate zuvor unterzeichnete Vertrag von Brest-Litowsk war eine einzige Katastrophe. Deutschland bekam ein Viertel des russischen Territoriums zugesprochen und fast ein Drittel seiner Bevölkerung – ein Ergebnis, das, wie es hieß, auf großen Unmut gestoßen war. Seinen Wächtern zufolge hatten sich alle Feinde der Bolschewisten schließlich unter einem gemeinsamen weißen Banner zusammengeschlossen, auf das man sich wegen des Kontrasts zur roten Fahne der Kommunisten geeinigt hatte. Ein Teil der Rekruten fühlte sich bereits zu den Weißen hingezogen – vor allem Bauern, die noch immer kein eigenes Land erhalten hatten.

Und nun tobte ein Bürgerkrieg.

Weiß gegen Rot.

Er selbst aber war nur noch Bürger Romanow, Gefangener der roten Bolschewiken.

Herrscher über niemanden.

Zusammen mit seiner Familie war er zunächst im Alexanderpalast von Zarskoje Selo unweit von St. Petersburg festgehalten worden. Dann hatte man sie ins zentralrussische Tobolsk gebracht, eine an einem Fluss gelegene Stadt mit weiß getünchten Kirchen und Blockhütten. Die Bewohner dort hatten dem gestürzten Zaren und seiner Familie offen ihre Treue und ihren Respekt bekundet. Tag für Tag hatten sie sich in großer Zahl vor dem Haus versammelt, in dem die Zarenfamilie untergebracht war, um vor ihnen den Hut zu ziehen und sich zu bekreuzigen. Kaum ein Tag verging, ohne dass sie Kuchen, Kerzen und Ikonen brachten. Selbst ihre Wächter, Angehörige des ehrwürdigen Schützenregiments, hatten sich freundlich gezeigt, sich mit ihnen unterhalten und mit ihnen Karten gespielt. Sie hatten Bücher und Zeitschriften bekommen und durften Briefkontakte pflegen. Das Essen war hervorragend gewesen, und sie hatten jegliche Annehmlichkeiten genossen.

Alles in allem kein schlechtes Gefängnis.

Dann, vor achtundsiebzig Tagen, ein weiterer Umzug.

Diesmal hierher, nach Jekaterinburg am Osthang des Ural, tief im von den Bolschewiken dominierten Herzen von Mütterchen Russland. Zehntausende von Rotarmisten bevölkerten die Straßen, und auch die Einheimischen waren zutiefst antizaristisch eingestellt. Das Haus eines wohlhabenden Kaufmanns namens Ipatiew war beschlagnahmt und in ein provisorisches Gefängnis umgewandelt worden. Nikolaus hatte gehört, wie es als »Haus für Sonderzwecke« bezeichnet worden war. Seine Bewacher hatten einen hohen Holzzaun errichtet, das Fensterglas mit Kalk bestrichen und die Fensteröffnungen mit Eisengittern versehen. Auf das Öffnen der Fenster stand Tod durch Erschießen. Von Zimmern, Waschräumen und Toiletten waren sämtliche Türen entfernt worden. Nikolaus hatte mit anhören müssen, wie seine Familie beschimpft wurde, und musste die unzüchtigen Wandschmierereien, die seine Frau mit Rasputin darstellten, kommentarlos erdulden. Am Vortag hätte er sich beinahe mit einem der unverschämten Drecksäcke geprügelt. Der Wächter hatte auf die Wand im Schlafzimmer seiner Töchter einen besonders ekelhaften Spruch gekritzelt: Der große Zar im Bett betrogen, am Pimmelchen vom Thron gezogen.

Genug, dachte er.

»Wie spät ist es?«, fragte er den über ihm stehenden Wachposten.

»Zwei Uhr morgens.«

»Was ist denn los?«

»Wir müssen umziehen. Die Weiße Armee nähert sich der Stadt. Ein Angriff steht bevor. Es wäre in den oberen Zimmern zu gefährlich, falls es zu Schießereien in den Straßen kommt.«

Die Nachricht versetzte Nikolaus in große Erregung. Immer wieder hatte er etwas vom Geflüster der Wächter aufgeschnappt: Die Weiße Armee nahm auf dem Vormarsch durch Sibirien eine Stadt nach der anderen ein und eroberte immer mehr Gebiete von den Roten zurück. Seit Tagen schon war in der Ferne das Donnern von Artilleriefeuer zu hören. Das Geräusch hatte ihm wieder Hoffnung verliehen. Vielleicht kamen seine Generäle nun endlich zu seiner Rettung, und alles käme wieder ins Lot.

»Aufstehen und anziehen«, befahl der Wachposten.

Der Mann zog sich zurück, und Nikolaus weckte seine Frau. Sein Sohn Alexej schlief in einem Bett am hinteren Ende des einfachen Schlafzimmers.

Er und Alexej zogen wortlos ihre Uniformen an, während Alexandra sich ins Zimmer ihrer Töchter zurückzog. Unglücklicherweise konnte Alexej nicht laufen. Vor zwei Tagen hatte er eine weitere Blutung erlitten, sodass Nikolaus den Dreizehnjährigen nun behutsam in den Flur tragen musste.

Dann erschienen auch seine vier Töchter.

Sie trugen jede einen schlichten schwarzen Rock und eine weiße Bluse, und hinter ihnen humpelte ihre Mutter am Stock herein. Seine Herzallerliebste konnte kaum noch laufen; der Hüftschmerz, an dem sie schon seit ihrer Kindheit litt, hatte sich immer weiter verschlimmert. Die ständige Angst um Alexej hatte ihr die Gesundheit geraubt; ihr einstmals kastanienbraunes Haar war ergraut, und das liebevolle Leuchten ihrer Augen, das ihn schon damals in ihrer Jugend, als sie sich zum ersten Mal begegneten, so in ihren Bann gezogen hatte, war erloschen. Ihr Atem ging schnell, oft als schmerzhaftes Keuchen, und hin und wieder liefen ihre Lippen blau an. Sie klagte über Herz- und Rückenschmerzen, aber er fragte sich, ob diese real waren oder lediglich von dem unaussprechlichen Kummer herrührten, dass jeder Tag der letzte im Leben ihres Sohnes sein mochte.

»Was ist denn los, Papa?«, fragte Olga.

Sie war zweiundzwanzig, seine Erstgeborene. In vielerlei Hinsicht ähnelte sie ihrer Mutter: nachdenklich und intelligent, aber mitunter auch schwermütig und mürrisch.

»Vielleicht sind wir bald gerettet«, sagte er.

Die Erregung ließ ihr hübsches Gesicht aufleuchten. Ihre Schwester Tatjana, ein Jahr jünger als sie, und die zwei Jahre jüngere Maria eilten mit Kissen in den Händen herbei. Tatjana war groß und stattlich – sie alle nannten sie Gouvernante – und der Liebling ihrer Mutter. Maria, hübsch, sanftmütig und großäugig, hatte ein kokettes Wesen. Ihr größter Wunsch war, einen russischen Soldaten zu heiraten und ihm zwanzig Kinder zu gebären. Seine mittleren Töchter hatten mitbekommen, was er gesagt hatte.

Er gebot ihnen zu schweigen.

Anastasia, siebzehn, blieb bei ihrer Mutter, in den Armen King Charles, den Cockerspaniel, den zu behalten ihre Bewacher ihr erlaubt hatten. Sie war klein und stämmig, galt als aufsässig und war immer für einen Streich zu haben, doch ihren bezaubernden blauen Augen hatte er noch nie widerstehen können.

Die übrigen vier Gefangenen schlossen sich ihnen rasch an.

Dr. Botkin, Alexejs Leibarzt; Trupp, Nikolaus’ Kammerdiener; Demidowa, Alexandras Zofe. Und Charitonow, der Koch. Auch Demidowa trug ein Kissen im Arm, aber ein ganz besonderes, wie Nikolaus wusste. Tief in seinen Federn vernäht war eine Schatulle mit Edelsteinen, und Demidowa hatte die Anweisung, das Kissen niemals aus den Augen zu lassen. Alexandra und die Mädchen hatten ebenfalls Schätze in ihren Korsetts versteckt: Diamanten, Smaragde, Rubine und Perlenketten.

Alexandra humpelte zu ihrem Gemahl und fragte: »Weißt du, was los ist?«

»Die Weißen sind nah.«

In ihrem müden Gesicht zeichnete sich Erstaunen ab. »Ist das möglich?«

»Hierher, bitte«, erklang eine vertraute Stimme aus dem Treppenhaus.

Nikolaus wandte sich Jurowski zu.

Der Mann war zwölf Tage zuvor mit einer Schwadron der bolschewistischen Geheimpolizei eingetroffen und hatte den vorherigen Kommandanten und seine undisziplinierten Wachen aus der Arbeiterschaft ersetzt. Zunächst schien dies eine Veränderung zum Guten, doch bald erkannte Nikolaus, dass die neuen Männer Berufssoldaten waren. Vielleicht sogar Magyaren, Kriegsgefangene aus dem österreichisch-ungarischen Heer, angeheuert von den Bolschewiken für jene Dienste, die Russen zuwider waren. Jurowski war ihr Anführer. Ein finsterer Mann mit schwarzem Haar, schwarzem Bart und bärbeißigem Gebaren. Er gab seine Befehle ruhig und erwartete, dass sie unverzüglich befolgt wurden. Sie hatten ihm den Spitznamen »Kommandant Ochs« gegeben, und Nikolaus hatte schon bald den Eindruck gewonnen, dass es diesem Teufel Spaß machte, andere zu tyrannisieren.

»Wir müssen uns beeilen«, erklärte Jurowski. »Wir haben nicht viel Zeit.«

Nikolaus forderte die anderen auf, still zu sein, und sie folgten ihm die hölzerne Treppe hinab ins Erdgeschoss. Alexej schlief fest, den Kopf an seine Schulter gelehnt.

Sie wurden nach draußen und über einen Hof zu einem im Souterrain gelegenen Raum gebracht, der ein einziges Bogenfenster hatte. Die Streifentapete an den Wänden war schmuddelig, Möbel gab es keine.

»Ihr wartet hier, bis die Wagen kommen«, erklärte Jurowski.

»Wo fahren wir hin?«, fragte Nikolaus.

»Fort«, antwortete ihr Bewacher nur.

»Keine Stühle?«, fragte Alexandra. »Können wir uns nicht setzen?«

Jurowski zuckte die Achseln und gab einem seiner Männer einen Befehl. Zwei Stühle wurden gebracht. Alexandra nahm sich einen, und Maria steckte ihrer Mutter ihr Kissen hinter den Rücken. Nikolaus setzte Alexej auf den anderen Stuhl, und Tatjana versuchte, es dem Jungen mit ihrem Kissen so bequem wie möglich zu machen. Die Demidowa drückte weiter ihr Kissen an die Brust.

Aus der Ferne drang wieder das Grollen von Artillerie herüber. Nikolaus schöpfte neue Hoffnung.

Jurowski sagte: »Wir müssen euch fotografieren. Manche glauben, ihr wärt entkommen. Stellt euch hier auf.«

Jurowski wies jedem seinen Platz zu. Am Ende hatten die Töchter hinter ihrer sitzenden Mutter Aufstellung genommen, Nikolaus stand neben Alexej und die vier Bediensteten, hinter ihm. In den vergangenen sechzehn Monaten hatte man schon viele merkwürdige Dinge von ihnen verlangt. Und nun weckte man sie mitten in der Nacht für ein Foto, um sie anschließend wieder woandershin zu bringen. Als Jurowski das Zimmer verließ und die Tür hinter sich schloss, sagte keiner ein Wort.

Einen Augenblick später sprang die Tür wieder auf.

Aber es trat kein Fotograf mit Stativ und Kamera trat ein, sondern Jurowski und elf mit Revolvern bewaffnete Männer. Die rechte Hand hatte der Russe in der Hosentasche, in der linken hielt er ein Blatt Papier.

Er begann vorzulesen.

»Angesichts der Tatsache, dass eure Verwandten ihre Angriffe gegen Sowjetrussland weiterführen, hat das Exekutivkomitee des Ural entschieden, euch hinzurichten.«

Wegen eines lärmenden Fahrzeugs vor dem Gebäude konnte Nikolaus ihn nicht verstehen. Seltsam. Er sah seine Familie an, bevor er sich an Jurowski wandte: »Was? Wie bitte?«

Der Russe verzog keine Miene. Im selben monotonen Singsang wie zuvor wiederholte er seine Erklärung. Dann zog er seine rechte Hand aus der Tasche.

Nikolaus sah die Waffe.

Einen Revolver.

Die Mündung näherte sich seinem Kopf.

6

Immer, wenn er etwas über jene Nacht las, wurde Lord flau im Magen. Er versuchte, sich vorzustellen, wie es gewesen sein musste, als die ersten Schüsse fielen. Welche Angst sie gehabt haben mussten, nur noch den Tod vor Augen.

Eine Bemerkung in den »schützenswerten Akten« hatte ihn wieder auf jenes Ereignis gebracht. Vor zehn Tagen war er zufällig auf eine Notiz gestoßen, in alter kyrillischer Schrift auf ein brüchiges Blatt Papier gekritzelt, die schwarze Tinte kaum mehr lesbar. Er hatte das Papier in einer zugenähten, karmesinroten Ledertasche entdeckt. Ein Etikett auf der Tasche besagte: ERHALTEN AM 10. JULI 1925. NICHT VOR DEM 1. JANUAR 1950 ÖFFNEN. Ob diese Anweisung befolgt worden war, ließ sich nicht mehr feststellen.

Er griff in seine Aktentasche und fand die von ihm sorgfältig übersetzte Kopie. Das Schreiben war auf den 10. April 1922 datiert.

 

Die Sache mit Jurowski bereitet mir Sorgen. Ich glaube nicht, dass die Berichte aus Jekaterinburg genau der Wahrheit entsprechen, und die Information in Bezug auf Felix Jussupow bestätigt diese Zweifel. Schade, dass der Weißgardist, den Sie zum Reden brachten, nicht mehr sagen konnte. Vielleicht kann allzu viel Schmerz ja auch kontraproduktiv sein. Die Erwähnung von Kolja Maks finde ich interessant. Ich habe diesen Namen schon einmal gehört. Auch das Dorf Starodug ist von zwei auf ähnliche Weise zum Reden gebrachten Weißgardisten erwähnt worden. Da ist mit Sicherheit irgendetwas im Busch, doch ich fürchte, mein Körper wird mich im Stich lassen, bevor ich es herausgefunden habe. Ich mache mir große Sorgen, was wohl aus unserem Werk wird, wenn ich nicht mehr da bin. Stalin macht mir Angst. Er hat etwas Unerbittliches an sich, trifft seine Entscheidungen vollkommen emotionslos. Falls er unsere junge Nation führen wird, fürchte ich ernsthaft um unseren Traum.

Ich frage mich, ob einer oder mehrere Mitglieder der Zarenfamilie aus Jekaterinburg entkommen sein könnten. Es sieht ja ganz danach aus. Genosse Jussupow scheint das jedenfalls anzunehmen. Vielleicht meint er, der nächsten Generation eine Gnadenfrist gewähren zu können. Womöglich war die Zarin gar nicht so dumm, wie wir alle dachten. Vielleicht ist ja am Gebrabbel des Starez mehr dran, als wir zunächst vermuteten. In den vergangenen Wochen kamen mir, wenn ich an die Romanows dachte, immer wieder Verse aus einem alten russischen Gedicht in den Sinn: Die Schwerter zerfielen zu Rost, die Ritter zu Staube. Ihre Seelen sind bei den Heil’gen wie unser Glaube.

 

Er und Artemy Bely waren beide davon überzeugt, dass das Dokument in Lenins Handschrift verfasst war. Das wäre keineswegs ungewöhnlich gewesen. Die Kommunisten hatten Tausende von Schriftstücken Lenins aufbewahrt. Dieses spezielle Dokument war allerdings nicht dort gefunden worden, wo es hätte sein sollen. Lord hatte es vielmehr unter Papieren entdeckt, die im Zweiten Weltkrieg den Nazis in die Hände gefallen und erst später in die Sowjetunion zurückgeholt worden waren. Hitlers Armeen hatten bei ihrem Vordringen nicht nur russische Kunstschätze, sondern auch tonnenweise Archivmaterial mitgehen lassen. Erst als Stalin nach dem Krieg eine Kommission zur Rückführung der russischen Kulturgüter eingesetzt hatte, gelangten viele dieser Dokumente zurück nach Russland.

In der karmesinroten Ledertasche fand sich noch ein weiteres interessantes Dokument: ein einzelnes Blatt Pergament mit einem zarten Rand aus Blumen und Blättern. Das Schreiben war in englischer Sprache abgefasst, die Handschrift eindeutig weiblich.

 

28. Oktober 1916

Du geliebte Seele meiner Seele, mein Kleiner, süßer Engel, ich liebe dich so, immer zusammen, Nacht und Tag, ich fühle, was du durchmachst und dein armes Herz. Gott sei gnädig, gebe dir Stärke und Weisheit. Er wird dich nicht verlassen. Er wird helfen, dich entschädigen für dieses schreckliche Leiden und diese Trennung beenden in solch einer Zeit, wenn man zusammen sein muss.

Unser Freund ist gerade gegangen. Er hat unseren Kleinen wieder einmal gerettet. O gnädiger Jesus, dem Herrn sei Dank, dass wir ihn haben. Der Schmerz war grausam, mein Herz zerrissen von diesem Anblick, aber unser Kleiner schläft nun friedlich. Ich bin sicher, morgen ist er wieder gesund.

Ein solch schönes Wetter, keine Wolken. Das bedeutet, wir sollen zuversichtlich sein und hoffen; auch wenn alles um uns pechschwarz erscheint, wacht doch der Herr über uns. Wir kennen nicht Seine Wege, wissen nicht, wie Er uns helfen wird, doch Er hört alle unsere Gebete. Unser Freund versichert das immer wieder.

Ich muss dir noch erzählen, dass unser Freund unmittelbar vor seinem Aufbruch einen ganz sonderbaren Krampfanfall hatte. Ich fürchtete schon, er könne krank sein. Was würde unser Kleiner nur ohne ihn tun? Er stürzte zu Boden und murmelte, er werde diese Welt noch vor dem neuen Jahr verlassen und sehe Berge von Leichen, mehrere Großherzöge und Hunderte von Grafen. Die Newa werde rot sein von ihrem Blut, sagte er. Seine Worte machten mir Angst.

Zum Himmel schauend erklärte er mir, dass, falls er von Adligen ermordet werde, deren Hände fünfundzwanzig Jahre lang blutbefleckt bleiben würden. Sie würden Russland verlassen. Bruder werde sich gegen Bruder erheben, sie würden einander in ihrem Hass töten, und schließlich werde es keine Adligen im Land mehr geben. Und am beunruhigendsten war, wie er sagte, dass, falls einer unserer Verwandten ihn ermorde, keiner aus unserer Familie noch länger als zwei Jahre zu leben habe. Wir würden alle vom russischen Volk ermordet.

Er brachte mich dazu, dies unverzüglich aufzuschreiben. Dann meinte er, ich solle nicht verzweifeln. Es gäbe eine Erlösung. Derjenige, der die meiste Schuld auf sich geladen habe, werde seinen Irrtum erkennen und dafür sorgen, dass unser Blut wieder auferstehen werde. In der Tat grenzte sein hochtrabendes Gerede an Unsinn, und zum ersten Mal fragte ich mich, ob der Alkohol, nach dem er stank, sein Gehirn vernebelt haben mochte. Er wiederholte mehrfach, dass nur ein Rabe und ein Adler Erfolg haben könnten, wo alle scheitern, und dass Tiere in ihrer Unschuld den Weg hüten und weisen würden. Ihr Urteilsspruch werde zuletzt über den Erfolg entscheiden. Gott der Herr, sagte er weiter, werde es möglich machen, über das Recht des Richtigen Gewissheit zu erlangen. Am verwirrendsten aber war seine Aussage, zwölf müssten sterben, bevor die Erneuerung vollendet sei.

Ich versuchte noch, ihm Genaueres zu entlocken, doch er verstummte und beharrte darauf, dass ich die Prophezeiung wortwörtlich niederschreibe und dir von seiner Vision berichte. Er sprach, als könne uns etwas zustoßen, aber ich versicherte ihm, unser Väterchen habe das Land fest im Griff. Das war ihm aber kein Trost, und so quälten mich seine Worte die ganze Nacht. O mein Schatz, ich halte Dich fest und lasse nie zu, dass jemand Deine leuchtende Seele verletzt. Ich küsse, küsse, küsse und segne Dich, der Du mich immer verstehst. Ich hoffe, Du kommst bald.

Dein Frauchen

 

Lord wusste, dass der Brief von Alexandra, der letzten russischen Zarin, verfasst war. Sie hatte über Jahrzehnte Tagebuch geführt. Dasselbe hatte auch ihr Mann Nikolaus getan, und so boten beide Tagebücher nach ihrem Tod völlig neue Einblicke in das Leben am Hof. Fast siebenhundert ihrer Briefe wurden nach ihrer Hinrichtung in Jekaterinburg gefunden. Er hatte auch andere Tagebuchauszüge und die meisten Briefe gelesen. Sie waren in mehreren jüngst veröffentlichten Büchern Wort für Wort abgedruckt worden, deshalb wusste er, dass mit »unser Freund« Rasputin gemeint war, da sowohl Alexandra als auch Nikolaus davon ausgehen mussten, dass ihre Briefe von anderen gelesen wurden und niemand ihr uneingeschränktes Vertrauen in Rasputin teilte.

»So tief in Gedanken versunken«, sagte eine Stimme auf Russisch.

Er blickte auf.

An der anderen Seite des Tisches stand ein älterer Mann. Er hatte helle Haut und blassblaue Augen, einen schmalen Brustkorb und Sommersprossen an den Handgelenken. Sein Kopf war weitgehend kahl und der verbliebene Haarkranz nur ein grauer Flaum. Er trug eine Brille mit Stahlgestell und eine Fliege. Lord hatte den Mann schon öfter in den Akten stöbern sehen; er war einer von etlichen Leuten, die ebenso hart zu arbeiten schienen wie er selbst.

»Ach, ich war gerade in Gedanken im Jahr 1916. Diese Lektüre hier ist wie eine Zeitreise«, erklärte Lord auf Russisch.

Der ältere Mann lächelte. Lord schätzte ihn auf Ende fünfzig, wenn nicht gar Anfang sechzig.

»Da kann ich Ihnen nicht widersprechen. Das ist einer der Gründe, warum ich so gern hierher komme. Es erinnert mich an das, was einst war.«

Er fand den Mann auf Anhieb sympathisch und stand von seinem Tisch auf. »Ich bin Miles Lord.«

»Ich weiß, wer Sie sind.«

Lord war plötzlich misstrauisch, und ohne dass er es selbst merkte, sah er sich beunruhigt um.

Sein Gegenüber schien seine Angst zu spüren. »Ich versichere Ihnen, Mr. Lord, dass ich keine Bedrohung für Sie darstelle. Ich bin einfach nur ein Historiker, der eine Pause braucht und auf ein Schwätzchen mit jemandem aus ist, der ähnliche Interessen pflegt.«

Lord entspannte sich. »Und woher kennen Sie meinen Namen?«

Der Mann lächelte. »Sie sind bei den weiblichen Angestellten hier nicht gerade beliebt. Die lassen sich nicht gern Anweisungen erteilen von einem Amerikaner …«

»Und von einem schwarzen noch dazu?«

Wieder ein Lächeln. »Leider ist unser Land in Rassenfragen alles andere als fortschrittlich. Wir sind eine hellhäutige Nation. Aber Ihren Kommissionsausweis darf niemand ignorieren.«

»Und wer sind Sie?«

»Semjon Paschkow, Professor für Geschichte an der Moskauer Staatsuniversität.« Der Ältere reichte ihm die Hand, und Lord schüttelte sie. »Und wo ist der andere Herr, der Sie in den letzten paar Tagen begleitete? Ein Rechtsanwalt, glaube ich. Wir hatten ein kurzes Gespräch zwischen den Regalen.«

Lord überlegte, ob er mit einer Lüge antworten sollte, entschied sich dann aber doch für die Wahrheit. »Er wurde heute Morgen auf der Nikolskaja Uliza erschossen.«

Der ältere Mann war sichtlich schockiert. »Ich habe vorhin etwas darüber im Fernsehen gesehen. Schrecklich.« Er schüttelte den Kopf. »Dieses Land richtet sich selbst zugrunde, wenn nicht bald etwas unternommen wird.«

Lord setzte sich und bot auch seinem Gegenüber einen Platz an.

»Hatten Sie etwas damit zu tun?«, fragte Paschkow, als er sich setzte.

»Ich war dabei.« Er beschloss, die Einzelheiten lieber für sich zu behalten.

Paschkow schüttelte den Kopf. »Solche Vorkommnisse sagen nichts über das russische Wesen aus. Aber ihr Westler müsst uns wirklich für Barbaren halten.«

»Keineswegs. Jedes Volk macht hin und wieder solche Phasen durch. Wir Amerikaner hatten auch unsere Wildwestzeiten, und in den Zwanziger- und Dreißigerjahren des zwanzigsten Jahrhunderts ging es nochmals ähnlich zu.«

»Trotzdem fürchte ich, dass unsere gegenwärtige Situation mehr als nur eine schmerzhafte Phase ist.«

»Die letzten Jahre waren schwer für Russland. Es war schon hart genug, als es noch eine halbwegs funktionsfähige Regierung gab. Jelzin und Putin bemühten sich immerhin noch um Recht und Ordnung. Jetzt aber steht das Land kurz vor der totalen Anarchie.«

Paschkow nickte. »Das ist leider nichts Neues für uns.«

»Sind Sie Mitglied einer Akademie?«

»Historiker. Ich widme mein Leben dem Studium unseres geliebten Mütterchens Rus.«

Lord lächelte über den altertümlichen Ausdruck. »Ich kann mir vorstellen, dass Ihr Spezialgebiet lange Zeit nicht besonders gefragt war.«

»Bedauerlicherweise. Die Kommunisten hatten ihre eigene Version der Geschichte.«

Lord musste an einen Spruch denken, den er vor einiger Zeit gehört hatte: Russland ist ein Land mit einer unvorhersehbaren Vergangenheit. »Haben Sie auch gelehrt?«

»Dreißig Jahre lang. Ich habe sie alle erlebt. Stalin, Chruschtschow, Breschnew. Jeder hat dem Land auf seine Weise geschadet. Es ist eine Schande, was da alles geschehen ist. Aber dennoch fällt es manch einem noch heute schwer, das alles hinter sich zu lassen. Noch immer stehen Tag für Tag Menschen Schlange, um an Lenins Leichnam vorbeizudefilieren.« Paschkow senkte die Stimme. »Ein Schlächter, den sie als Heiligen verehren. Haben Sie draußen die Blumen an seinem Denkmal gesehen?« Wieder schüttelte er den Kopf. »Ekelhaft.«

Lord beschloss, seine Worte mit Bedacht zu wählen. Obwohl sie in der postkommunistischen Zeit lebten und bald die neue zaristische Ära beginnen sollte, war er nach wie vor nur ein Amerikaner mit Papieren, die ihm eine auf schwachen Füßen stehende russische Regierung ausgestellt hatte. »Irgendwie habe ich den Eindruck, dass keiner der Angestellten in diesem Archiv etwas dagegen hätte, wenn morgen Panzer über den Roten Platz rollen würden.«

»Im Grunde sind die keine Spur besser als Straßenbettler«, erklärte Paschkow. »Sie haben die Geheimnisse unserer Staatsführer bewahrt und dafür ihre Privilegien genossen: eine schöne Wohnung, mehr Brot, ein paar Tage zusätzlichen Urlaub im Sommer. Aber für das, was man bekommt, soll man auch arbeiten – sagt man das nicht so in Amerika?«

Lord antwortete nicht. Stattdessen fragte er: »Was halten Sie von der Zarenkommission?«

»Ich habe für sie gestimmt. Schlechter kann es ein Zar schließlich auch nicht machen.«

Lord hatte den Eindruck, dass die Mehrheit der Bevölkerung so dachte.

»Es ist ungewöhnlich, dass ein Amerikaner unsere Sprache so gut beherrscht.«

Er zuckte die Achseln. »Ihr Land fasziniert mich eben.«

»Waren Sie immer schon an Russland interessiert?«

»Seit meiner Kindheit. Ich habe schon früh Bücher über Peter den Großen und Iwan den Schrecklichen gelesen.«

»Und jetzt sind Sie also ein Mitglied unserer Zarenkommission. Sie sind auf dem besten Weg, Geschichte zu schreiben.« Paschkow zeigte auf die Blätter auf dem Tisch. »Die sind ja ziemlich alt. Gehören sie zu den ›schützenswerten Papieren‹?«

»Ich bin vor einer Woche auf sie gestoßen.«

»Ich erkenne die Handschrift. Den da hat Alexandra geschrieben. Sie verfasste alle ihre Briefe und Tagebücher in englischer Sprache. Die Russen hassten sie, weil sie eine gebürtige Deutsche war. Ich fand das immer ziemlich unfair. Alexandra wurde das Opfer zahlreicher Missverständnisse.«

Lord schob ihm das Blatt hin. Vielleicht war von diesem intelligenten Russen ja etwas zu erfahren. Paschkow las den Brief und sagte dann: »Sie hatte eine sehr blumige Ausdrucksweise; das hier ist noch relativ zurückhaltend formuliert. Sie und Nikolaus schrieben einander zahlreiche Liebesbriefe.«

»Ich lese sie nicht gerne – ich fühle mich dann immer wie ein Eindringling. Gerade habe ich etwas über die Hinrichtung gelesen. Jurowski muss ja ein wahrer Teufel gewesen sein.«

»Jurowskis Sohn behauptet, sein Vater habe immer bedauert, an der Exekution beteiligt gewesen zu sein. Aber wer kann das schon beurteilen? Noch zwanzig Jahre danach hielt er vor bolschewistischen Gruppen Vorträge über die Morde. Er war ganz offensichtlich stolz darauf.«

»Sehen Sie sich das einmal an.« Lord reichte Paschkow das Schreiben Lenins.

Der Russe las die Seite sehr gründlich und erklärte dann: »Eindeutig Lenin. Ich bin auch mit seinem Stil vertraut. Aber seltsam ist das schon.«

»Das finde ich auch.«

Paschkows Augen leuchteten auf. »Sie glauben doch wohl nicht an diese alten Geschichten, die besagen, dass zwei Mitglieder der Zarenfamilie die Exekution in Jekaterinburg überlebt haben?«

Lord zuckte die Achseln. »Die Leichen von Alexej und Anastasia hat man bis heute nicht gefunden. Und jetzt das.«

Paschkow grinste. »Ihr Amerikaner seht doch überall gleich eine Verschwörung.«

»Im Augenblick gehört das zu meinem Job.«

»Ihre Aufgabe besteht darin, Stefan Baklanows Anspruch auf den Thron zu untermauern, richtig?«

Lord war ein wenig überrascht und fragte sich, woher sein Gegenüber so genau Bescheid wusste.

Paschkow umfasste ihre Umgebung mit einer Geste. »Wieder einmal die Damen, Mr. Lord. Die wissen alles. Über Ihre Nachforschungen wird Buch geführt, und glauben Sie mir, denen entgeht nichts. Sind Sie unserem so genannten ›Thronanwärter‹ schon einmal persönlich begegnet?«

Er schüttelte den Kopf. »Ich nicht, aber der Mann, für den ich arbeite.«

»Baklanow hat ebenso wenig das Zeug zum Herrscher wie Michail Romanow vor vierhundert Jahren. Er ist ein Schwächling. Aber anders als Michail, für den sein Vater die Entscheidungen traf, wird Baklanow ganz auf sich gestellt sein; und viele warten nur darauf, dass er scheitert.«

Dieser russische Akademiker hatte wohl nicht ganz Unrecht. Nach allem, was Lord über Baklanow gelesen hatte, schien es dem mehr um Macht und Ansehen zu gehen, als darum, das Land vernünftig zu regieren.

»Darf ich Ihnen einen Vorschlag machen, Mr. Lord?«

»Selbstverständlich.«

»Waren Sie schon in den Archiven von St. Petersburg?«

Lord schüttelte den Kopf.

»Dort könnte viel Nützliches zu finden sein. Unzählige von Lenins Schreiben lagern da sowie ein Großteil der Tagebücher und Briefe des Zaren und der Zarin.« Er deutete auf die vor ihnen liegenden Blätter. »Vielleicht stoßen Sie dort auf etwas, das Ihnen hilft zu verstehen, was das hier zu bedeuten hat.«

Der Vorschlag gefiel Lord. »Danke, ich werde darüber nachdenken.« Dann warf er einen Blick auf seine Armbanduhr. »Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen würden; ich muss noch einiges durchlesen, bevor hier geschlossen wird. Es war sehr interessant, mit Ihnen zu reden. Ich bin noch ein paar Tage hier beschäftigt. Vielleicht können wir unsere Unterhaltung ja bei Gelegenheit fortsetzen.«

»Auch ich werde noch öfter hier sein. Falls es Ihnen nichts ausmacht, bleibe ich noch ein Weilchen hier sitzen. Dürfte ich mir die beiden Blätter noch einmal ansehen?«

»Aber natürlich.«

Als Lord zehn Minuten später zurückkam, lagen die Schriftstücke von Alexandra und Lenin noch immer auf dem Tisch, aber Semjon Paschkow war verschwunden.

7

17.25 Uhr

 

Hayes stieg vor dem Hotel Wolchow in einen dunklen BMW. Nach fünfzehn Minuten Fahrt durch überraschend schwachen Verkehr bog der Fahrer durch ein Tor in eine Hofeinfahrt ein. Das dahinter liegende Haus, Anfang des neunzehnten Jahrhunderts im spätklassizistischen Stil erbaut, war damals wie heute eines der schönsten Gebäude Moskaus. Während des Kommunismus war es das Zentrum für Staatliche Literatur und Kunst gewesen, danach jedoch war es versteigert und von einem der Neureichen des Landes erworben worden.

Hayes stieg aus und wies den Fahrer an, auf ihn zu warten.

Wie gewöhnlich patrouillierten zwei mit Kalaschnikows bewaffnete Männer auf dem Hof. Die blaue Stuckfassade des Hauses wirkte im matten Licht des späten Nachmittags grau. Er sog die von Kohlerauch geschwängerte Luft ein und ging entschlossenen Schritts über einen mit Ziegelsteinen gepflasterten Weg durch einen gepflegten herbstlichen Garten. Dann betrat er das Haus durch eine unverschlossene Tür aus Kiefernholz.

Das Innere war typisch für ein fast zweihundert Jahre altes Gebäude: der Grundriss äußerst unregelmäßig, die Empfangsräume lagen zur Straßenseite und diverse private Wohnräume im hinteren Bereich. Das Dekor war antik und vermutlich original, auch wenn Hayes den Besitzer nie danach gefragt hatte. Nach einem verwinkelten Weg durch ein Labyrinth schmaler Korridore fand er schließlich den holzgetäfelten Salon, in dem sie immer zusammentrafen.

Vier Männer warteten schon auf ihn, nippten an ihren Drinks und qualmten Zigarren.

Er hatte sie vor einem Jahr kennen gelernt, und seither hatten sie nur über Codenamen miteinander kommuniziert. Hayes war Lincoln, die anderen nannten sich Stalin, Lenin, Chruschtschow und Breschnew. Die Idee ging auf ein beliebtes Poster zurück, das in Moskauer Souvenirläden verkauft wurde. Auf diesem Bild waren verschiedene russische Zaren, Zarinnen und sowjetische Staatschefs um einen runden Tisch versammelt und debattierten trinkend und rauchend über das Schicksal von Mütterchen Russland. Auch wenn ein solches Treffen nie stattgefunden hatte, hatte der Künstler mit viel Phantasie dargestellt, wie die einzelnen Persönlichkeiten sich wohl verhalten hätten. Jeder der vier Männer hatte sein Pseudonym mit Bedacht gewählt, und alle genossen die Vorstellung, dass ihre Zusammenkünfte dem auf dem Gemälde dargestellten nicht ganz unähnlich waren – und das Schicksal von Mütterchen Russland nun in ihren Händen lag.

Die vier begrüßten Hayes, und Lenin goss ihm aus einer Karaffe, die in einem gediegenen Eiskübel stand, einen Wodka ein. Man reichte ihm eine Platte mit Räucherlachs und marinierten Pilzen, doch er lehnte ab. »Ich habe leider eine schlechte Nachricht«, sagte er auf Russisch und erklärte dann, dass Miles Lord den Anschlag überlebt habe.

»Da ist noch etwas«, sagte Breschnew. »Wir waren bis heute nicht darüber informiert, dass dieser Rechtsanwalt Afrikaner ist.«

Hayes fand die Bemerkung reichlich seltsam. »Ist er nicht. Er ist Amerikaner. Aber falls Sie auf seine Hautfarbe anspielen, welche Rolle sollte sie spielen?«

Stalin beugte sich vor. Ganz im Gegensatz zu seinem Namensvetter präsentierte er sich immer als Stimme der Vernunft. »Amerikanern fällt es schwer, die russische Schicksalsgläubigkeit zu verstehen.«

»Was hat das alles mit Schicksal zu tun?«

»Erzählen Sie uns mehr über Mr. Lord«, forderte Breschnew ihn auf.

Hayes gefiel die Sache nicht. Er fand es merkwürdig, dass sie so beiläufig Lords Ermordung in Auftrag gegeben hatten, ohne auch nur das Geringste über ihn zu wissen. Bei ihrer letzten Begegnung hatte Lenin ihm die Telefonnummer von Inspektor Oleg gegeben und ihn angewiesen, den Mord von Oleg arrangieren zu lassen. Der Befehl hatte ihn zunächst beunruhigt – ein derart wertvoller Assistent würde nicht so leicht zu ersetzen sein –, aber es stand zu viel auf dem Spiel, um sich wegen eines einzelnen Anwalts Gedanken zu machen. Also hatte er getan, was sie verlangt hatten. Keine weiteren Fragen. Es wäre auch sinnlos gewesen.

»Er ist direkt von der Universität Virginia in meine Firma eingetreten. War schon immer an Russland interessiert und hat seinen Master in Osteuropastudien gemacht. Sprachbegabt. Ist verdammt schwer, einen Anwalt zu finden, der Russisch spricht. Ich habe ihm viel zugetraut und das zu Recht. Viele unserer Klienten wollen ausschließlich von ihm vertreten werden.«

»Persönlicher Hintergrund?«

»Geboren und aufgewachsen in South Carolina in halbwegs wohlhabenden Verhältnissen. Sein Vater war Prediger. Einer von diesen Evangelisten, die in Zelten auftreten, von Ort zu Ort ziehen und Menschen heilen. Nach allem, was Lord mir erzählt hat, ist er mit seinem Vater nicht gut klargekommen. Miles ist achtunddreißig oder neununddreißig, bis heute ledig. Scheint recht bescheiden zu leben. Arbeitet hart. Einer unserer besten Leute. Hat nie Probleme gemacht.«

Lenin lehnte sich in seinem Sessel zurück. »Und woher kommt dieses Interesse an Russland?«

»Ist mir auch ein Rätsel. Scheint ganz einfach fasziniert von diesem Land. Schon immer. Er interessiert sich für alles, was mit Geschichte zu tun hat; sein Büro ist bis oben hin voll gestopft mit Büchern und wissenschaftlichen Abhandlungen. Er hat sogar schon ein paar Vorträge an kleineren Universitäten und bei der einen oder anderen Juristenvereinigung gehalten. Aber erlauben Sie eine Frage: Warum ist das wichtig?«

Stalin lehnte sich zurück. »Es ist nicht mehr wichtig nach dem, was heute passiert ist. Das Problem, das Mr. Lord darstellt, hat Zeit. Wir sollten uns zunächst auf das konzentrieren, was morgen geschehen wird.«

Doch Hayes war noch nicht bereit, das Thema zu wechseln. »Nur zur Erinnerung, ich war nie dafür, Lord umzubringen. Ich habe Ihnen ja all Ihren Befürchtungen zum Trotz gesagt, dass ich mit ihm fertig werde.«

»Das werden Sie jetzt auch müssen«, erklärte Breschnew. »Wir haben nämlich beschlossen, Mr. Lord Ihnen zu überlassen.«

»Schön, dass wir uns da einig sind. Er wird nicht zum Problem werden. Ich habe sowieso nie verstanden, warum er je als solches betrachtet wurde.«

»Ihr Assistent hat sehr intensiv in den Archiven geforscht«, erklärte Chruschtschow.

»Dafür habe ich ihn ja hingeschickt. Und zwar auf Ihre Anweisungen hin, wenn ich das hinzufügen darf.«

Der Auftrag, den man Lord erteilt hatte, war eindeutig gewesen. Er sollte alles aufspüren, was Stefan Baklanows Anspruch auf den Thron gefährden konnte. Und Lord hatte in den vergangenen sechs Wochen fast zehn Stunden pro Tag gesucht und regelmäßig über seine Erkenntnisse Bericht erstattet. Hayes vermutete, dass irgendetwas, das er an die Gruppe weitergegeben hatte, das Interesse dieser Männer geweckt hatte.

»Sie brauchen nicht alles zu wissen«, erklärte Stalin. »Und es dürfte auch kaum in Ihrem eigenen Interesse liegen. Es genügt, wenn ich Ihnen sage, dass wir Lords Eliminierung zunächst für die praktischste Lösung unseres Problems hielten. Nachdem das nicht geklappt hat, sind wir gern bereit, Ihren Rat anzunehmen. Dieses eine Mal jedenfalls.«

Er sagte es mit einem Grinsen. Hayes mochte die herablassende Art nicht, mit der die vier ihn behandelten. Er war schließlich kein Laufbursche. Er war das fünfte Mitglied dieser Gemeinschaft von Verschwörern, die er für sich »Geheimkanzlei« nannte. Doch er beschloss, seine Verärgerung für sich zu behalten und das Thema zu wechseln.

»Ich nehme an, der neue Monarch soll absolute Macht besitzen?«

»Die Frage nach den Machtbefugnissen des Zaren ist noch nicht entschieden«, erwiderte Lenin.

Hayes verstand, dass einige Aspekte ihres Unternehmens so spezifisch russisch waren, dass nur Russen über sie entscheiden konnten. Und solange diese Entscheidungen nicht den enormen finanziellen Profit gefährdeten, den er sich von dieser Angelegenheit erhoffte, sollte das nicht seine Sorge sein.

»Welchen Einfluss werden wir auf die Kommission haben?«

»Neun Mitglieder werden in jedem Fall in unserem Sinne abstimmen«, erklärte Lenin. »Die anderen acht müssen wir erst noch überreden.«

»Die Entscheidung muss einstimmig fallen«, fügte Breschnew hinzu.

Lenin seufzte. »Ich frage mich, wie wir das je zulassen konnten.«

Einstimmigkeit war ein entscheidender Bestandteil der Resolution gewesen, mit der die Zarenkommission ins Leben gerufen worden war. Das Volk hatte die Rückkehr zum Zarentum und die Einsetzung einer Kommission zur Bestimmung des Zaren unter der Bedingung befürwortet, dass die siebzehn Mitglieder dieser Kommission sich einstimmig einigten. Ein einziges Veto konnte alles vereiteln.

»Die anderen acht werden bis zur Abstimmung auch auf unserer Seite stehen«, stellte Stalin klar.

»Arbeiten Ihre Leute schon daran?«, fragte Hayes.

»In diesem Moment.« Stalin nippte an seinem Getränk. »Aber wir brauchen mehr Geld, Mr. Hayes. Diese Männer sind alles andere als billig.«

Die gesamte Arbeit der Geheimkanzlei wurde mit westlicher Währung bezahlt, und das bereitete Hayes Sorgen. Er zahlte alle Rechnungen, hatte aber nur ein eingeschränktes Mitspracherecht.

»Wie viel?«, fragte er.

»Zwanzig Millionen Dollar.«

Hayes konnte sich nur mit Mühe beherrschen. Schon vor einem Monat hatte er zehn Millionen besorgt. Er fragte sich, wie viel davon tatsächlich an die Mitglieder der Kommission gegangen war und wie viel die Männer in dieser Runde für sich eingesteckt hatten, wagte aber nicht, dies offen auszusprechen.

Stalin reichte ihm zwei laminierte Anstecker. »Das hier sind Ihre Kommissionsausweise. Sie verschaffen Ihnen und Ihrem Mr. Lord Zugang zum Kreml und zum Facettenpalast. Sie haben damit dieselben Privilegien wie die Mitglieder der Kommission.«

Er war beeindruckt, denn er hatte mitnichten erwartet, bei den Sitzungen anwesend sein zu dürfen.

Chruschtschow lächelte. »Wir hielten Ihre persönliche Anwesenheit für geraten. Die amerikanische Presse wird stark vertreten sein. Da sollte es Ihnen möglich sein, sich unauffällig umzuhören und uns auf dem Laufenden zu halten. Keines der Kommissionsmitglieder weiß etwas über Sie oder Ihre Verbindungen. Ihre Beobachtungen dürften für unsere künftigen Diskussionen nützlich sein.«

»Wir haben darüber hinaus beschlossen, dass Sie ab jetzt eine größere Rolle spielen sollen«, erklärte Stalin.

»Inwiefern?«

»Es ist äußerst wichtig, dass die Kommission bei ihren Beratungen ungestört bleibt. Wir werden dafür sorgen, dass die Sitzung nicht zu lange dauert. Trotzdem besteht die Gefahr, dass es von außen zu einer Störung kommt.«

Hayes hatte schon bei ihrer letzten Zusammenkunft gespürt, dass die vier Männer sich über irgendetwas Sorgen machten. Es war auch vorhin angeklungen, als Stalin ihn über Lord ausgefragt hatte. Amerikanern fällt es schwer, die russische Schicksalsgläubigkeit zu verstehen.

»Und was erwarten Sie von mir?«

»Was auch immer erforderlich wird. Zwar könnte jeder von uns die Leute, für die wir arbeiten, dazu bringen, eventuell auftretende Probleme zu lösen, aber es ist wichtig, dass die Betreffenden im Hintergrund bleiben. Anders als in der alten Sowjetunion bleibt im neuen Russland leider nichts mehr geheim. Unsere Archive stehen offen, unsere Presse ist offensiv und der Einfluss aus dem Ausland groß. Sie aber genießen auf internationaler Ebene eine gewisse Glaubwürdigkeit. Außerdem – wer käme je auf den Gedanken, Sie irgendwelcher schändlicher Umtriebe zu verdächtigen?« Stalins dünne Lippen verzogen sich zu einem dünnen Lächeln.

»Und was soll ich tun, wenn es Probleme gibt?«

Stalin griff in die Tasche seines Jacketts und zog eine Karte mit einer Telefonnummer heraus. »Unter dieser Nummer erreichen Sie Männer, über die Sie jederzeit verfügen können. Wenn Sie ihnen auftragen würden, sich in die Moskwa zu stürzen und nie wieder aufzutauchen, würden sie es ohne zu zögern tun. Wir raten Ihnen aber, von dieser Loyalität mit Umsicht Gebrauch zu machen.«

8

Mittwoch, 13. Oktober

 

Lord starrte durch das getönte Fenster des Mercedes an den karmesinroten Mauern des Kreml empor. Während er und Taylor Hayes über den Roten Platz chauffiert wurden, schlugen die Glocken hoch oben im Turm lautstark acht Uhr morgens. Ihr Fahrer war ein ungeschlacht wirkender Russe mit groben Gesichtszügen, der Lord nur deshalb keine Angst einflößte, weil die Fahrt von Hayes persönlich arrangiert worden war.

Der Rote Platz war menschenleer. Aus Respekt vor den Kommunisten, von denen noch immer einige in der Duma saßen, blieb die gepflasterte Fläche nach wie vor bis 13 Uhr durch ein Seil abgesperrt, dann wurde das Lenin-Mausoleum für Besucher geschlossen. Lord fand diese Geste lächerlich, doch sie schien ausreichend, um das Ego derjenigen zufrieden zu stellen, die einst dieses 150-Millionen-Volk regiert hatten.

Ein uniformierter Wachposten reagierte auf den leuchtend orangefarbenen Aufkleber auf der Windschutzscheibe ihres Wagens und winkte das Fahrzeug durch das Tor des Erlöserturms. Lord fand es aufregend, durch dieses Tor in den Kreml zu fahren. Der Erlöserturm war im Jahr 1491 von Iwan III. im Rahmen seines umfassenden Umbaus des Kreml errichtet worden, und durch dieses Tor war jeder neue Zar und jede neue Zarin in dieses alte Zentrum der Macht eingeführt worden. Heute war es der offizielle Eingang für die Zarenkommission und deren Mitarbeiterstab. Lord war noch immer ein wenig zittrig. Die Bilder der Jagd auf ihn, die sich am Tag zuvor unweit von hier abgespielt hatte, gingen ihm nicht aus dem Kopf. Hayes hatte ihm beim Frühstück versichert, dass man kein Risiko eingehen würde und seine Sicherheit garantiert sei. Darauf verließ sich Lord nun. Er vertraute Hayes, respektierte ihn. Lord wollte unbedingt dabei sein, wenn hier Geschichte geschrieben wurde, fragte sich aber dennoch, ob es nicht unklug war zu bleiben.

Was würde sein Vater wohl sagen, wenn er ihn jetzt sehen könnte?

Reverend Grover Lord hatte nie viel von Anwälten gehalten. Er hatte sie immer die Heuschreckenplage der Gesellschaft genannt. Für einen Fototermin besuchte sein Vater mit einer Gruppe von Südstaatenpredigern einmal das Weiße Haus, nachdem der Präsident einen vergeblichen Versuch gestartet hatte, das Schulgebet wieder einzuführen. Kein Jahr später hob der Oberste Gerichtshof das Gesetz als nicht verfassungskonform wieder auf. Gottlose Heuschrecken!, hatte sein Vater von der Kanzel gebrüllt.

Grover Lord war strikt dagegen, dass sein Sohn ausgerechnet Anwalt werden wollte, und drückte seine Missbilligung dadurch aus, dass er keinen Cent zur Lords Ausbildung beisteuerte, obwohl er diese problemlos hätte bezahlen können. So war Lord gezwungen gewesen, sich sein Studium mit Hilfe von Darlehen und Nachtarbeit zu finanzieren. Trotzdem hatte er seine Abschlussprüfung mit Auszeichnung bestanden. Er hatte einen hervorragenden Job gefunden und war schon ein gutes Stück die Karriereleiter hinaufgeklettert. Und jetzt sollte er Zeuge eines historischen Moments werden.

Zum Teufel also mit Grover Lord.

Der Wagen rollte in den Hof des Kreml.

Lord bewunderte das kompakte neoklassizistische Gebäude, in dem einst das Präsidium des Obersten Sowjet getagt hatte. Auf dem Dach flatterte nun anstelle der roten Fahne der Bolschewiken der kaiserliche doppelköpfige Adler im Morgenwind. Lord bemerkte auch das Fehlen des Lenin-Denkmals, das einst weiter rechts gestanden hatte, und musste an die heftigen Proteste bei dessen Entfernung denken. Dieses eine Mal hatte Jelzin den Widerstand des Volkes ignoriert und das eiserne Standbild kurzerhand einschmelzen lassen.

Lord bestaunte den Gebäudekomplex um ihn herum. Der Kreml verkörperte die Liebe der Russen zum Großformat. Plätze, auf denen bei Paraden mobile Raketenabschussbasen auffahren konnten, Glocken so groß und schwer, dass es nie gelang, sie in die für sie vorgesehenen Türme zu hieven, und Raketen, deren Antrieb so stark war, dass sie unkontrollierbar waren – all das hatte die Russen schon immer beeindruckt. Größer bedeutete für sie immer auch besser.

Der Wagen verlangsamte seine Fahrt und bog rechts ab.

Die Erzengel-Michael-Kathedrale und die Maria-Verkündigungs-Kathedrale erhoben sich zu seiner Linken, die Mariä-Himmelfahrts- und die Zwölf-Apostel-Kathedrale zu seiner Rechten. Weitere übertrieben protzige Gebäude. Sie alle waren von Iwan III. in Auftrag gegeben worden und hatten ihm den Beinamen »der Große« eingebracht. Lord wusste, dass zahlreiche Kapitel der russischen Geschichte in diesen altehrwürdigen, von vergoldeten Zwiebeltürmen und kunstvoll gearbeiteten byzantinischen Kreuzen gekrönten Gemäuern begonnen und geendet hatten. Er hatte sie natürlich schon besucht, aber nie zu träumen gewagt, je in einer Staatskarosse hierher chauffiert zu werden, um seinen Teil dazu beizutragen, in Russland wieder die Monarchie einzusetzen. Nicht schlecht für den Sohn eines Südstaaten-Predigers.

»Ach du liebe Scheiße«, entfuhr es Hayes.

Lord lächelte. »Besser hätte auch ich es nicht formulieren können.«

Der Wagen kam zum Stehen.

Sie traten in den frostigen Morgen hinaus. Der Himmel war strahlend blau und wolkenlos … eher ungewöhnlich für einen russischen Herbsttag. Vielleicht ein gutes Omen?

Er war noch nie im Facettenpalast gewesen. Touristen hatten hier keinen Zutritt. Als eines der wenigen Bauwerke im Kreml war dieses Gebäude noch in seiner ursprünglichen Form erhalten. Iwan der Große hatte den Palast 1491 errichten lassen und sein Meisterwerk nach den im Rautenmuster verlegten Kalksteinplatten benannt, die die Außenwand zierten.

Lord knöpfte seinen Mantel zu und folgte Hayes die einst feierlichen Anlässen vorbehaltene Rote Treppe hinauf. Die ursprüngliche Treppe war auf Stalins Befehl zerstört und dieser Nachbau erst vor ein paar Jahren anhand alter Gemälde rekonstruiert worden. Von hier aus waren die Zaren einst zu ihrer Krönung in die angrenzende Mariä-Himmelfahrts-Kathedrale gegangen. Und genau von dieser Stelle aus hatte Napoleon die Feuersbrunst beobachtet, die Moskau im Jahr 1812 vernichtete.

Sie gingen auf den Paradesaal zu.

Lord hatte bisher nur Bilder von diesem altehrwürdigen Raum gesehen, und als er Hayes in sein Inneres folgte, erkannte er schnell, dass keine der Abbildungen der Wirklichkeit gerecht wurde. Er wusste, dass dieser Saal mit seiner Grundfläche von rund 500 Quadratmetern der größte im Moskau des 15. Jahrhunderts gewesen war – erbaut allein zu dem Zweck, ausländische Würdenträger zu beeindrucken. Heute war er von eisernen Kronleuchtern hell erleuchtet, die die Mittelsäule und die prächtigen Wandgemälde mit ihren biblischen Motiven und den Porträts weiser Zaren in glitzerndes Gold tauchten.

Lord hatte die Szene vor Augen, die sich hier im Jahr 1613 abgespielt hatte.

Die Dynastie der Rurikiden, die siebenhundert Jahre lang geherrscht hatte – Iwan der Große und Iwan der Schreckliche waren ihre bekanntesten Vertreter –, war erloschen. Danach hatten drei Männer versucht, auf den Zarenthron zu gelangen, aber alle ohne Erfolg. Es folgte die Zeit der Wirren – zwölf Jahre des Schreckens, in denen mehrere Versuche, eine neue Dynastie zu gründen, scheiterten. Schließlich kamen die Bojaren, die genug vom Chaos hatten, in Moskau zusammen, um in ebendiesem Raum, in dem Lord und Hayes jetzt standen, eine neue Herrscherfamilie zu wählen. Die Romanows. Michail, der erste Zar der Romanows, fand allerdings eine in Auflösung begriffene Nation vor. Räuber und Diebe machten die Wälder unsicher, Hunger und Krankheiten hinterließen ihre Spuren. Der Handel war so gut wie zusammengebrochen. Steuern wurden nicht mehr eingetrieben, und die Staatskasse war nahezu leer.

Also ungefähr so wie heute, dachte Lord.

Siebzig Jahre Kommunismus hatten dasselbe Chaos hinterlassen wie damals zwölf Jahre ohne Zar.

Einen Moment lang sah er sich als Bojaren, der an der Wahl des Zaren teilgenommen hatte, stellte sich vor, dass er in Samt und Brokat gekleidet und mit einer Zobelmütze auf dem Kopf auf einer der Eichenbänke säße, die an den vergoldeten Wänden standen.

Was für ein Augenblick das gewesen sein musste!

»Schon verrückt«, flüsterte Hayes. »Über all die Jahrhunderte haben diese Narren es nicht geschafft, mehr als eine Ernte pro Jahr aus einem Weizenfeld herauszuholen, aber das hier konnten sie bauen.«

Lord stimmte ihm zu.

Eine hufeisenförmige Tischreihe mit Tischdecken aus rotem Samt nahm die eine Seite des Saals ein. Er zählte siebzehn hochlehnige Stühle und sah zu, wie jeder von einem männlichen Delegierten besetzt wurde. Keine einzige Frau hatte es unter die siebzehn Auserwählten geschafft. Regionale Wahlen hatten nicht stattgefunden. Nur eine dreißigtägige Anwartschaftszeit und dann eine russlandweite Abstimmung, aus der die siebzehn Kandidaten mit den meisten Stimmen als Mitglieder der Kommission hervorgegangen waren. Im Grunde einfach ein riesiger Beliebtheitswettbewerb, aber vielleicht das einfachste Mittel, um zu verhindern, dass bei der Abstimmung eine bestimmte politische Richtung die Oberhand gewann.

Er folgte Hayes zu einer Stuhlreihe und ließ sich dort gemeinsam mit den übrigen Mitarbeitern und Reportern nieder. Fernsehkameras waren installiert worden, um die Sitzungen live zu übertragen.

Ein Delegierter, der am Vortag zum Vorsitzenden der Kommission ernannt worden war, rief die Anwesenden zur Ordnung. Er räusperte sich und verlas in russischer Sprache eine vorbereitete Erklärung.

»Am 16. Juli 1918 wurden unser hochwohlgeborener Zar Nikolaus II. und all seine Erben aus diesem Leben gerissen. Unser Auftrag besteht nun darin, das Unrecht der darauf folgenden Jahre wieder gutzumachen und diesem Volk wieder einen Zaren zu geben. Das Volk hat diese Kommission gewählt, damit sie die Person bestimmt, die dieses Land regieren soll – eine Entscheidung, die in der Geschichte nicht ohne Präzedenzfall ist. Schon einmal, im Jahr 1613, kam eine andere Gruppe von Männern in diesem Raum hier zusammen, um den ersten Herrscher der Romanows zu bestimmen. Seine Familie herrschte bis ins zweite Jahrzehnt des zwanzigsten Jahrhunderts über dieses Land. Und nun haben wir uns hier versammelt, um das Unrecht, das damals geschehen ist, wieder gutzumachen.

Gestern Abend haben wir zusammen mit Adrian, dem Patriarchen von ganz Russland, gebetet. Er rief Gott an, uns bei unserem Unterfangen zu leiten. Ich erkläre vor allen Zuhörern, dass die Leitung dieser Kommission eine faire, offene und rücksichtsvolle Zusammenarbeit anstrebt. Diskussionen sind willkommen, denn nur so können wir zur Wahrheit gelangen. Und nun wollen wir mit unserer Arbeit beginnen.«

 

Lord verfolgte geduldig die Sitzung, die den ganzen Vormittag dauerte. Die Kommission verbrachte die Zeit mit einleitenden Bemerkungen, parlamentarischem Prozedere und der Festlegung der Tagesordnung. Die Delegierten einigten sich darauf, am nächsten Tag eine erste Kandidatenliste vorzulegen, wonach ein Repräsentant einen persönlichen Kandidaten vorschlagen konnte. Über einen Zeitraum von drei Tagen sollten weitere Kandidaten vorgeschlagen und über ihre Wahl debattiert werden. Am vierten Tag würde man dann in einer ersten Abstimmung die Liste auf drei Kandidaten begrenzen. Nach einer weiteren Runde intensiver Diskussionen sollte dann zwei Tage später die Endabstimmung erfolgen. Nur bei dieser war gemäß des Volksreferendums Einstimmigkeit erforderlich. Bei allen vorherigen Abstimmungen genügte die einfache Mehrheit. Falls man sich nach diesen sechs Tagen nicht auf einen Kandidaten einigen konnte, würde die ganze Prozedur wieder von vorn beginnen. Es schien jedoch Einigkeit zu herrschen, im nationalen Interesse alles zu tun, um schon beim ersten Anlauf zu einem Ergebnis zu kommen.

Kurz vor der Mittagspause zogen sich Hayes und Lord aus dem Paradesaal in die Vorhalle zurück. Hayes führte Lord zu einem Hintereingang, wo der grobschlächtige Chauffeur vom Morgen wartete.

»Miles, das ist Ilja Zenow. Er wird Ihr Leibwächter sein, wenn Sie den Kreml verlassen.«

Lord musterte den Russen, dessen ausdrucksloses Gesicht ihm eiskalt vorkam. Der Nacken das Mannes war so breit wie sein Unterkiefer, und Lord empfand seinen athletischen Körperbau als beruhigend.

»Ilja wird auf Sie aufpassen. Er hat die besten Referenzen, war früher bei der Armee und kennt sich in der Stadt hervorragend aus.«

»Ich weiß das sehr zu schätzen, Taylor. Wirklich.«

Hayes lächelte und warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Es ist schon fast zwölf, und Sie müssen zum Briefing. Ich bleibe vorerst noch hier, werde aber im Hotel sein, wenn Sie anfangen.« Hayes wandte sich an Zenow. »Sie passen auf diesen jungen Mann auf, genau wie wir es besprochen haben.«

9

12.30 Uhr

 

Als Lord den Konferenzsaal des Wolchow betrat, hielten sich in dem fensterlosen Saal bereits drei Dutzend konservativ gekleidete Männer und Frauen auf. Alle waren mit Getränken versorgt. Wie im ganzen Hotel roch die warme Luft nach Aschenbecher. Ilja Zenow wartete draußen gleich hinter der Doppeltür zum Foyer. Die Nähe des stämmigen Russen wirkte beruhigend auf Lord.

Die Gesichter, die er vor sich sah, wirkten besorgt. Er wusste, was diese Leute beunruhigte. Sie waren von Washington dazu ermutigt worden, im neuen Russland zu investieren, und hatten den Verlockungen dieses jungen Marktes nicht widerstehen können. Doch die fast durchgängige politische Instabilität, die täglichen Bedrohungen durch die Mafija und die Schutzgelder, die einen immer größeren Teil der Gewinne auffraßen, hatten aus vielversprechenden Investitionen wahre Albträume werden lassen. Die Anwesenden waren Vertreter der bedeutendsten in Russland engagierten amerikanischen Investoren aus dem Transport- und Bauwesen, der Getränke-, Bergbau- und Ölindustrie, der Telekommunikation, dem Fastfoodbereich, dem Bankwesen und der Computerbranche. Pridgen & Woodworth war mit der Wahrung ihrer kollektiven Interessen beauftragt worden, weil sie alle auf Taylor Hayes vertrauten, der als knallharter Verhandlungsführer galt und in der aufstrebenden russischen Wirtschaft über die erforderlichen Kontakte verfügte. Dies war Lords erstes Zusammentreffen mit der gesamten Gruppe, auch wenn er viele der Anwesenden bereits in Einzelgesprächen kennen gelernt hatte.

Hayes folgte ihm in den Saal und klopfte ihm leicht auf die Schulter. »Okay, Miles, tun Sie Ihr Bestes.«

Er ging nach vorne. »Guten Tag. Mein Name ist Miles Lord.« Die Gespräche verstummten. »Einige von Ihnen kennen mich ja bereits, und ich freue mich, nun auch die Übrigen kennen zu lernen. Taylor Hayes meinte, dass ich mit diesem Briefing schon einmal einen Teil Ihrer Fragen beantworten könne. Zumal die Dinge sich momentan so schnell entwickeln, dass uns womöglich nicht die Zeit bleibt, in den nächsten Tagen alles so ausführlich zu besprechen, wie Sie …«

»Und ob wir Fragen haben«, rief eine untersetzte blonde Frau mit New-England-Akzent dazwischen. Lord wusste, dass sie für die Osteuropageschäfte von Pepsico verantwortlich war. »Ich will endlich wissen, was hier abläuft. Mein Aufsichtsrat wird immer nervöser.«

Dazu hat er auch allen Grund, dachte Lord, ließ sich aber nichts anmerken. »Wollen Sie mir nicht wenigstens die Chance geben anzufangen?«

»Wir brauchen keine Reden. Was wir brauchen, sind Informationen.«

»Nun, die groben Daten kann ich Ihnen liefern. Die Industrieproduktion verzeichnet gegenwärtig einen Rückgang von vierzig Prozent. Die Inflation liegt bei einhundertfünfzig Prozent. Die Arbeitslosigkeit ist niedrig – sie liegt bei rund zwei Prozent –, aber das eigentliche Problem ist die Unterbeschäftigung …«

»Das wissen wir alles längst«, erklärte ein weiterer Vorstandschef, der Lord nicht bekannt war. »Chemiker backen Brot, Ingenieure stehen an Fließbändern. Die Moskauer Zeitungen sind doch voll davon.«

»Aber nichts ist so schlecht, dass es nicht noch schlimmer kommen könnte«, erwiderte Lord. »Es gibt da einen beliebten Witz. Jelzin und die Regierungen nach ihm haben in zwei Jahrzehnten geschafft, was die Kommunisten in 75 Jahren nicht zustande brachten: dass die Menschen sich nach dem Kommunismus sehnen.« Ein paar Lacher. »Die Kommunisten verfügen noch immer über eine relativ starke Basis. An jedem Jahrestag der Oktoberrevolution im November gehen Menschen massenweise auf die Straße. Sie predigen pure Nostalgie. Keine Verbrechen, kaum Armut, soziale Sicherheit – eine Botschaft, die bei einem verzweifelten Volk gut ankommt.« Er hielt einen Augenblick inne. »Aber das gefährlichste aller Szenarien wäre, wenn ein fanatischer faschistischer Führer an die Macht käme, weder Kommunist noch Demokrat, sondern Demagoge. Dies gilt vor allem im Hinblick auf das beträchtliche nukleare Potenzial Russlands.«

Kopfnicken bei einigen. Zumindest hörten sie zu.

»Und wie konnte es dazu kommen?«, fragte ein drahtiger kleiner Mann, der, wenn Lord sich nicht irrte, aus der Computerbranche kam. »Ich habe nie verstanden, wie es so weit kommen konnte.«

Lord trat ein paar Schritte zurück. »Die Russen waren schon immer sehr nationalbewusst, aber der russische Nationalcharakter hat sein Fundament nicht im Individualismus oder der Marktwirtschaft, sondern verfügt über eine spirituelle Dimension, die man nicht unterschätzen darf.«

»Einfacher wäre es, wenn wir das ganze Land verwestlichen könnten«, meinte einer der Männer.

Die Vorstellung, Russland zu »verwestlichen«, ließ Lord immer die Haare zu Berge stehen. Das russische Volk würde sich nie vollständig von der einen oder anderen Seite absorbieren lassen, weder vom Westen noch vom Osten. Stattdessen war und blieb es eine einzigartige Mischung. Seiner Ansicht nach hatte ein Investor langfristig nur eine Chance, wenn er dem Stolz der Russen ausreichend Rechnung trug. Lord erklärte seinen Standpunkt und schlug dann den Bogen zum eigentlichen Thema.

»Die russische Regierung gelangte schließlich zu der Einsicht, dass etwas vonnöten ist, was über der Tagespolitik steht. Etwas, mit dem das Volk sich identifizieren kann. Vielleicht sogar ein anderes Regierungssystem. Als die Duma dann vor achtzehn Monaten eine Volksbefragung zu den nationalen Wertevorstellungen durchführen ließ, überraschte das Ergebnis so manchen: Gott, der Zar und das Vaterland. Mit anderen Worten: Die Mehrheit wollte zurück zur Monarchie. Radikal, finden Sie? Sicherlich. Aber als die Frage dem Volk zur Abstimmung vorgelegt wurde, waren die Menschen mit klarer Mehrheit dafür.«

»Und aus welchem Grund?«, wollte einer der Männer wissen.

»Aus mehreren Gründen, denke ich. Zum einen fürchten viele ein Wiedererstarken des Kommunismus. Schon vor Jahren hätte sich Sjuganow als Jelzin-Herausforderer beinahe durchgesetzt. Die Mehrheit der Russen möchte aber keine Rückkehr zum Totalitarismus, wie sämtliche Meinungsumfragen belegen. Das würde allerdings einen Populisten nicht davon abhalten, diese schwierigen Zeiten auszunutzen und mit falschen Versprechungen ins Amt zu kommen.

Der zweite Grund geht tiefer. Die Menschen glauben einfach nicht mehr daran, dass die gegenwärtige Regierungsform geeignet ist, die Probleme des Landes zu lösen. Und ich fürchte, offen gesagt, dass sie damit Recht haben. Denken Sie doch nur an die Kriminalität. Ich bin mir sicher, dass jeder von Ihnen irgendeinem Mafioso Schutzgeld bezahlt. Sie haben gar keine andere Wahl. Im Falle einer Weigerung müssten Sie damit rechnen, in einem Leichensack nach Hause zurückzukehren.«

Wieder dachte Lord an die gestrigen Ereignisse, erwähnte sie aber nicht. Hayes hatte ihm geraten, darüber zu schweigen. Die Leute in diesem Raum waren seiner Ansicht nach ohnehin schon nervös genug – auch ohne sich fragen zu müssen, ob ihre Anwälte nun ebenfalls zum Ziel der Mafija wurden.

»Weit verbreitet ist die Vorstellung, dass derjenige, der sich nicht auf Kosten anderer bereichert, selber schuld ist. Nicht einmal zwanzig Prozent der Bevölkerung zahlen noch Steuern. Die ganze Infrastruktur steht kurz vor dem Zusammenbruch. Da ist es nur verständlich, wenn die Menschen glauben, dass es nur besser werden kann. Dazu kommt noch eine gewisse Nostalgie um das verlorene Zarentum.«

»Das ist doch Schwachsinn«, meinte einer der Männer. »Was wollen die denn mit so einem verdammten König?«

Lord wusste, wie Amerikaner autokratische Staatssysteme beurteilten. Die Russen dagegen, deren Mentalität durch das Verschmelzen tatarischer und slawischer Einflüsse geprägt war, schienen sich geradezu nach einer autokratischen Herrschaft zu sehnen – und ebendieses Ringen um absolute Macht hatte im Laufe der Jahrhunderte Russlands Entwicklung bestimmt und gefördert.

»Diese nostalgische Sehnsucht ist leicht nachvollziehbar«, erklärte Lord. »Erst in den vergangenen zehn Jahren ist die wahre Geschichte von Nikolaus II. und seiner Familie ans Licht gekommen. Inzwischen hat sich in ganz Russland das Empfinden verbreitet, dass das, was im Juli 1918 geschah, Unrecht war. Die Russen fühlen sich von der sowjetischen Ideologie getäuscht, die den Zaren als Verkörperung des Bösen hinstellte.«

»Na schön, dann gibt’s also wieder einen Zaren …«, begann einer der Zuhörer.

»Nicht ganz«, unterbrach ihn Lord. »Das wurde in der Presse nicht immer völlig korrekt dargestellt. Aus diesem Grund meinte Mr. Hayes auch, dass diese Zusammenkunft sinnvoll sein könnte.« Er merkte, dass er nun ihre volle Aufmerksamkeit hatte. »Das Konzept des Zarismus kommt wieder, aber vorher müssen zwei Fragen beantwortet werden: Wer soll Zar werden, und über welche Machtbefugnisse soll er verfügen.«

»Oder sie«, meinte eine der Frauen.

Er schüttelte den Kopf. »Nein. Nur er. So viel ist schon sicher. Ein russisches Gesetz von 1797 besagt, dass die Erbfolge nur über die männliche Linie weitergegeben wird. Wir gehen davon aus, dass dieses Gesetz beibehalten wird.«

»Na schön«, mischte sich ein weiterer Mann ein, »dann würden wir gern die Antwort auf Ihre beiden Fragen hören.«

»Die erste ist leicht zu beantworten. Zar wird derjenige, auf den sich die siebzehn Mitglieder der Kommission einigen. Die Russen lieben Kommissionen. In der Sowjetvergangenheit waren sie meist nicht viel mehr als willenlose Werkzeuge des Zentralkomitees, aber diese hier wird völlig unbeeinflusst von der Regierung arbeiten – was im Augenblick nicht besonders schwer ist, da von einer Regierung kaum mehr die Rede sein kann.

Man wird Kandidaten präsentieren und ihre Ansprüche bewerten. Als aussichtsreichster Kandidat gilt im Augenblick unser Bewerber, Stefan Baklanow. Seine Weltanschauung ist eindeutig westlich geprägt, aber er stammt in direkter Linie von den Romanows ab. Wir arbeiten in Ihrem Auftrag und mit Ihrem Geld dafür, dass sein Anspruch auf den Thron auch von der Kommission anerkannt wird. Taylor macht jede Menge Lobbyarbeit, um dies sicherzustellen. Und ich habe die letzten paar Wochen in den russischen Archiven zugebracht, um ganz sicherzugehen, dass dieser Anspruch unanfechtbar ist.«

»Erstaunlich, dass die Sie an all die Sachen herangelassen haben«, meinte jemand.

»So erstaunlich auch wieder nicht«, entgegnete Lord. »Wir haben kein Stimmrecht in der Zarenkommission, auch wenn wir entsprechende Ausweise bekommen haben, um bei den Debatten dabei zu sein. Wir sind hier, um Ihre Interessen zu vertreten und dafür zu sorgen, dass Stefan Baklanow gewählt wird. Wie bei uns zu Hause, so ist Lobbyarbeit auch hier eine ganz besondere Kunst.«

Ein Mann in der hintersten Reihe stand auf. »Mr. Lord, für uns steht viel auf dem Spiel. Ihnen ist doch wohl klar, wie wichtig das hier für uns ist? Wir sprechen hier von einer möglichen Abkehr von der Demokratie – das ist sie zumindest auf dem Papier – zu einer Autokratie. Das muss sich doch unweigerlich auf unsere Investitionen auswirken.«

Lord musste nicht lange nach einer Antwort suchen. »Wir wissen zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch gar nicht, wie viel Macht der neue Zar haben wird. Wir wissen noch nicht einmal, ob er nur eine symbolische Figur oder der Herrscher von Russland sein wird.«

»Jetzt bleiben Sie mal auf dem Teppich, Lord«, erwiderte einer der Männer. »Diese Idioten werden doch nie und nimmer einem einzelnen Mann die gesamte politische Macht übertragen.«

»Doch. Alle stimmen darin überein, dass genau das geschehen soll.«

»So weit wird es nie kommen«, meinte ein anderer.

»Vielleicht wird es ja gar nicht so schlimm«, warf Lord rasch ein. »Russland ist bankrott. Das Land braucht dringend ausländische Investitionen. Vielleicht lässt sich das mit einem Autokraten ja leichter bewerkstelligen als mit der Mafija.«

Einige murmelten zustimmend, aber ein Mann fragte: »Und dann sind wir dieses Problem los?«

»Das können wir nur hoffen.«

»Was glauben Sie, Mr. Hayes?«, fragte ein anderer.

Hayes erhob sich von seinem Platz an einem der hinteren Tische und trat nach vorn. »Ich habe dem, was Miles Ihnen gesagt hat, nichts hinzuzufügen. Wir werden die Wiedereinsetzung des Zaren von ganz Russland erleben. Die Wiederbelebung einer absoluten Monarchie. Erstaunlich, aber wahr.«

»Ich finde es eher beängstigend«, entgegnete einer der Männer.

Hayes lächelte. »Keine Sorge. Sie bezahlen uns verdammt gut dafür, dass wir Ihre Interessen vertreten. Die Kommission hat mit ihrer Arbeit begonnen, und wir werden dabei sein, um das zu tun, wozu Sie uns beauftragt haben. Von Ihnen erwarten wir jetzt nur noch eines: dass Sie uns vertrauen.«

10

14.30 Uhr

 

Hayes betrat den winzigen Konferenzraum im siebten Stock. Das Bürogebäude, das mitten im Zentrum von Moskau stand, war ein auffallend modernes Gebäude mit einer Fassade aus Spiegelglas. Hayes wusste die Wahl ihrer Treffpunkte immer zu schätzen. Seine Partner schienen im Luxus zu schwelgen.

Stalin saß an dem sargförmigen Konferenztisch.

Dmitri Jakowlew war der Vertreter der Mafija in der Geheimkanzlei. Der Mann war Mitte vierzig; sein weizenblondes Haar fiel ihm über die braun gebrannte Stirn, und er strahlte Charme und Macht aus. Zum ersten Mal hatten sich die rund dreihundert kriminellen Banden Westrusslands auf einen Vertreter ihrer gemeinsamen Interessen geeinigt. Zu viel stand auf dem Spiel, als dass sie es sich hätten erlauben können, über Fragen des Protokolls zu streiten. Die Kriminellen hatten offenbar begriffen, was zum Überleben nötig war und dass ein absoluter Monarch mit dem entsprechenden Rückhalt im Volk ihnen massiv nutzen oder schaden könnte.

Stalin war, wie Hayes bemerkt hatte, in vielerlei Hinsicht die zentrale Gestalt. Der Einfluss der Gangs reichte tief in die Sphären von Regierung, Geschäftswelt und Militär. Die Russen hatten sogar einen eigenen Begriff dafür: wory w zakone, wörtlich »Diebe im Gesetz«. Hayes gefiel diese Wendung, auch wenn die Bedrohung, die diese Menschen darstellten, durchaus real war. Ein Auftragsmord war, verglichen mit dem langwierigen Gang durch die Mühlen der Justiz, die weitaus billigere und schnellere Methode, ein Problem zu lösen.

»Na, wie war die Eröffnungssitzung?«, fragte Stalin in perfektem Englisch.

»Wie zu erwarten, haben die Kommissionsmitglieder erst einmal organisatorische Fragen besprochen. Aber morgen geht es richtig los. In sechs Tagen soll die erste Abstimmung stattfinden.«

Der Russe schien beeindruckt. »Weniger als eine Woche – genau, wie Sie es vorhergesagt haben.«

»Ich sagte Ihnen ja, dass ich weiß, was ich tue. Ist der Transfer bereits gelaufen?«

Das Zögern seines Gegenübers signalisierte eine gewisse Irritation. »Ich bin solche Direktheit nicht gewohnt.«

Was nicht ausgesprochen wurde, aber dennoch klar war, war, dass Stalin eine solche Direktheit von einem Ausländer nicht gewohnt war. Hayes entschied sich, taktvoll vorzugehen, obwohl auch er irritiert war. »Das sollte keineswegs respektlos klingen. Aber die Zahlungen wurden nicht wie vereinbart geleistet, und ich bin nun einmal daran gewöhnt, dass Abmachungen auch eingehalten werden.«

Auf dem Tisch lag ein Blatt Papier. Stalin schob es zu ihm hinüber. »Das ist das von Ihnen gewünschte neu eröffnete Konto in Zürich. Dieselbe Bank wie zuvor. Fünf Millionen US-Dollar. Heute Morgen eingegangen. Somit sind alle bis heute fälligen Zahlungen geleistet.«

Hayes war erfreut. Schon seit zehn Jahren vertrat er die amerikanischen Ableger der russischen Mafija. Millionen von Dollars waren über nordamerikanische Finanzinstitute gewaschen worden – sei es, dass man sie in legale Geschäfte investierte, für die dringend Kapital benötigt wurde, oder aber man kaufte Aktien, Gold oder Kunst. Pridgen & Woodworth hatten durch diese Vertretung Millionen an legalen Honoraren verdient – legal dank einer Kombination aus großzügigen amerikanischen Gesetzen und noch großzügigeren Beamten. Niemand wusste, woher das Geld kam, und bislang hatten diese Aktivitäten bei den Behörden keinerlei Misstrauen erregt. Hayes hatte seine Kontakte dazu genutzt, seinen Einfluss in der Firma zu vergrößern. Er hatte zahlreiche ausländische Klienten gewonnen, die sich an ihn wandten, weil er es verstand, im neuen Russland Geschäfte mit der Angst zu machen, und erkannt hatte, dass selbst Unsicherheit Vorteile bringen konnte, wenn man wusste, wie sie zu verringern war. Und genau das tat er.

Stalin grinste. »Das wird ganz schön profitabel für Sie, Taylor.«

»Ich sagte Ihnen ja, dass ich diese Risiken nicht aus Spaß eingehe.«

»Offensichtlich nicht.«

»Gestern sagten Sie, ich solle bei dieser Geschichte eine größere Rolle spielen. Was meinten Sie damit?«

»Wie ich schon sagte, werden wir gewisse Dinge in die Hand nehmen müssen, und Sie sind jemand, der jederzeit seine Hände in Unschuld waschen kann.«

»Ich möchte aber gern wissen, was Sie mir verschweigen.«

»Das spielt im Augenblick wirklich keine Rolle. Es gibt keinerlei Anlass zu Besorgnis; wir ergreifen einfach nur gewisse Vorsichtsmaßnahmen.«

Hayes griff in seine Hosentasche und zog die Karte hervor, die Stalin ihm am Vortag gegeben hatte. »Werde ich gezwungen sein, dort anzurufen?«

Stalin lachte in sich hinein. »Gefällt Ihnen etwa die Vorstellung, dass sich auf Ihren Befehl hin andere in den Fluss stürzen würden?«

»Ich möchte nur wissen, warum ich auf diese Leute angewiesen sein könnte.«

»Hoffen wir mal, der Fall tritt gar nicht erst ein. Und jetzt erzählen Sie mir was über die künftige Machtverteilung. Was wurde dazu in der heutigen Sitzung gesagt?«

Hayes beschloss, die Sache auf sich beruhen zu lassen. »Alle Macht wird vom Zaren ausgehen. Aber darüber hinaus sind auch ein Ministerrat und eine Duma vorgesehen, die zu Rate gezogen werden müssen.«

Stalin dachte darüber nach. »Anscheinend ist die Wankelmütigkeit Teil unserer Natur. Monarchie, Republik, Demokratie, Kommunismus … nichts davon funktioniert hier wirklich.« Er hielt inne und fügte dann lächelnd hinzu: »Gott sei Dank.«

Dann stellte Hayes die Frage, die ihm wirklich unter den Nägeln brannte. »Und was ist mit Stefan Baklanow? Spielt er mit?«

Stalin schaute auf seine Armbanduhr. »Ich bin davon überzeugt, dass Sie darauf bald eine Antwort bekommen.«