11

Landgut Grüne Lichtung

16.30 Uhr

 

Hayes bewunderte das Gewehr, eine Fox-Doppellaufflinte mit handpoliertem Ölschaft aus türkischem Walnussholz, schlankem Pistolengriff, Biberschwanz-Vorderschaft und einer Abschlusskappe aus Hartgummi. Er prüfte das System mit automatischem Ejektor. Der Preis eines solchen Gewehrs bewegte sich, wie Hayes wusste, zwischen siebentausend Dollar für das Basismodell und bis zu fünfundzwanzigtausend für eine Sonderanfertigung. Eine wahrhaft eindrucksvolle Waffe.

»Sie sind dran«, sagte Lenin.

Hayes legte an und zielte in den wolkenverhangenen Nachmittagshimmel. Er stabilisierte den Lauf mit einer federleichten Berührung.

»Ab«, rief er.

Eine Tontaube schoss aus dem Wurfgerät. Er folgte dem schwarzen Punkt und drückte ab.

Die Tontaube zerstob in tausend Stücke.

»Guter Schütze«, lobte Chruschtschow.

»Ich bin leidenschaftlicher Jäger.«

Hayes verbrachte mindestens neun Wochen im Jahr auf Jagdexpeditionen in allen möglichen Teilen der Welt. Kanadische Karibus und Gänse, asiatische Fasane und Wildschafe, europäische Rothirsche und Füchse, afrikanische Kaffernbüffel und Antilopen. Ganz zu schweigen von den Enten, Hirschen, Waldhühnern und Wildtruthähnen, auf die er in den Wäldern im Norden Georgias und in den Bergen des westlichen North Carolina Jagd machte. Sein Büro in Atlanta war voll gestopft mit Trophäen. Die letzten Monate aber waren so arbeitsintensiv gewesen, dass er kein einziges Mal zum Schießen gekommen war, und so war er dankbar für diesen Ausflug.

Unmittelbar nach seinem Treffen mit Stalin hatte er Moskau verlassen. Ein Chauffeur hatte ihn zu einem Landgut fünfzig Kilometer südlich der Hauptstadt gebracht. Das Gutshaus aus rotem Backstein war mit Efeu berankt. Es gehörte einem weiteren Mitglied der Geheimkanzlei – Georgi Ostanowitsch, den Hayes besser unter dem Namen Lenin kannte.

Ostanowitsch war Angehöriger des Militärs. Dicke Brillengläser umrahmten die stahlgrauen Augen des dünnen, leichenblassen Mannes. Er war General, auch wenn er nie eine Uniform trug. In der ersten Phase des Tschetschenienkrieges hatte er seine Soldaten als Frontoffizier zum Angriff auf Grosny geführt. Dieser Konflikt hatte ihn eine Lunge gekostet; seitdem fiel ihm das Atmen schwer. Nach dem Krieg hatte er sich zu einem der schärfsten Kritiker Jelzins und seiner unentschlossenen Militärpolitik entwickelt, und nur Jelzins Rückzug von den Schalthebeln der Macht hatte seine Degradierung verhindert. Die höchsten russischen Offiziere sorgten sich um ihre Zukunft unter dem neuen Zaren, und da die Armee überall mitmischte, hatte man Ostanowitsch in dieser Angelegenheit zu ihrem Vertreter bestimmt.

Lenin stellte sich in Position und bereitete sich auf den Schuss vor.

»Ab«, brüllte der Russe.

Volltreffer.

»Ausgezeichnet«, sagte Hayes anerkennend. »Bei der tief stehenden Sonne wird es immer schwieriger zu treffen.«

Stefan Baklanow, der »Thronanwärter«, stand ein wenig abseits, seine einläufige Schrotflinte geöffnet in der Hand. Er war eher klein und stämmig mit einem Brustkorb wie ein Fass und hatte eine Halbglatze, hellgrüne Augen und einen dichten Hemingway-Bart. Baklanow näherte sich den fünfzig, und sein emotionslos wirkendes Gesicht machte Hayes Sorgen. In der Politik kam es schließlich nicht darauf an, ob ein Kandidat tatsächlich Führungsqualitäten besaß oder nicht. Entscheidend war, ob es ihm gelang, den Eindruck zu erwecken, er habe sie. Obgleich Hayes nicht daran zweifelte, dass sich zum Schluss alle siebzehn Mitglieder der Zarenkommission bestechen lassen würden, musste ein passender Kandidat irgendwann vor die Öffentlichkeit treten und – was noch wichtiger war – Führungsaufgaben übernehmen oder zumindest auf effektive Weise die Anweisungen derer umsetzen, die ihn auf den Thron gehievt hatten.

Baklanow trat bis zur Linie vor. Lenin und Chruschtschow zogen sich zurück.

Mit seiner Baritonstimme fragte Baklanow: »Jetzt möchte ich aber zu gern wissen, ob eine absolute Monarchie geplant ist.«

»Anders funktioniert es nicht«, erklärte Lenin.

Hayes öffnete sein Gewehr und holte die leere Patronenhülse heraus. Nur die vier Männer standen auf der erhöhten Backsteinterrasse. Die aus Tannen und Birken bestehenden Wäldchen im Hintergrund nahmen bereits eine herbstliche Färbung an. Hinter einem Pavillon war in weiter Ferne auf offenem Feld eine Bisonherde zu erkennen.

»Werde ich das uneingeschränkte Oberkommando über das Militär haben?«, fragte Baklanow weiter.

»Innerhalb gewisser Grenzen«, erklärte Lenin. »Wir leben schließlich nicht mehr zu Nikolaus’ Zeiten. Wir müssen auch die Anforderungen der … Moderne berücksichtigen.«

»Und werde ich wenigstens die Landstreitkräfte kontrollieren?«

»Welche Politik würden Sie in Bezug auf das Militär bevorzugen?«, fragte Lenin.

»Ich wusste gar nicht, dass ich meine eigene Politik machen darf.«

Der Sarkasmus war nicht zu überhören, und Hayes sah, dass Lenin davon wenig begeistert war. Auch Baklanow schien es zu merken. »Ich verstehe natürlich, General, dass Sie der Meinung sind, das Militär verfüge über viel zu geringe Mittel, und unsere Verteidigungsfähigkeit sei durch die politische Instabilität beeinträchtigt. Ich glaube aber nicht, dass unsere Zukunft in einem starken Militär liegt. Die Sowjets haben diese Nation in den Staatsbankrott geführt, indem sie Bomben bauten, während unsere Straßen verrotteten und die Menschen hungern mussten. Unsere Aufgabe wird es sein, diese Grundbedürfnisse zu befriedigen.«

Hayes war klar, dass Lenin von diesen Ausführungen nicht begeistert war. Russische Frontoffiziere verdienten im Monat weniger als Straßenhändler. Die Lebensbedingungen in den Kasernen glichen mehr und mehr denen in Elendsvierteln. Fahrzeuge und anderes Gerät wurden seit Jahren nicht mehr gewartet, und selbst die modernste Ausrüstung war hoffnungslos veraltet.

»Selbstverständlich, Herr General, muss die Armee im Budget ausreichend berücksichtigt werden, um Defizite der Vergangenheit auszugleichen. Wir brauchen ein starkes Militär, um uns im Notfall verteidigen zu können.« Das war ein klares Signal für Baklanows Kompromissbereitschaft. »Aber ich habe noch eine andere Frage: Wird man dem Zarenhaus sein Eigentum zurückgeben?«

Hayes musste beinahe lächeln. Der Thronanwärter schien die missliche Lage, in der sein Gastgeber sich befand, zu genießen. Das Wort »Zar« war eine altrussische Verballhornung des lateinischen Caesar, und er fand diese Analogie durchaus passend. Dieser Mann würde einen hervorragenden Caesar abgeben. Seine ungezügelte Arroganz grenzte schon fast an Dummheit. Vielleicht hatte Baklanow ja vergessen, dass Caesars Kollegen im alten Rom auch irgendwann die Geduld verloren hatten.

»Wie haben Sie sich das vorgestellt?«, fragte Chruschtschow.

Chruschtschow – Maxim Zubarew – war Mitglied der Regierung. Er hatte ein draufgängerisches, großspuriges Gehabe an sich, mit dem er wohl, wie Hayes manchmal dachte, von seinem Pferdegesicht und der faltigen Augenpartie, einem insgesamt wenig attraktiven Äußeren, ablenken wollte. Zubarew repräsentierte einen ansehnlichen Block hoher Beamter der Moskauer Zentralverwaltung, die sich um ihren Einfluss unter der künftigen Monarchie sorgten. Er war sich sehr genau darüber im Klaren, dass so etwas wie eine nationale Ordnung nur deswegen überhaupt noch existierte, weil die Bevölkerung die Autorität der Regierung so lange anerkannte, bis die Zarenkommission ihre Arbeit erledigt hatte. Minister, die die bevorstehenden Veränderungen politisch überleben wollten, mussten sich rasch an die neuen Gegebenheiten anpassen. So wollten auch sie ein Wörtchen mitzureden haben, wenn in geheimer Runde über die Gestaltung des künftigen Systems entschieden wurde.

Baklanow wandte sich an Chruschtschow. »Ich erwarte die Rückgabe der Paläste, die zum Zeitpunkt der Revolution im Besitz meiner Familie waren und von Dieben gestohlen wurden.«

Lenin seufzte. »Und wie wollen Sie dann die laufenden Kosten bezahlen?«

»Ich doch nicht. Das macht natürlich der Staat. Aber vielleicht könnten wir ja zu einem Arrangement kommen, das so ähnlich ist wie bei der englischen Monarchie. Das meiste bleibt für die Öffentlichkeit zugänglich, und die Eintrittsgelder werden für die Erhaltung verwendet. Das gesamte Eigentum und die dazugehörigen Fotorechte gehören jedoch der Krone und werden für die übrige Welt nur gegen Entgelt freigegeben. Die englische Königsfamilie macht auf diese Weise jedes Jahr Millionen.«

Lenin zuckte die Achseln. »Ich sehe da kein Problem. Das Volk kann sich diese Monstrositäten ohnehin nicht leisten.«

»Natürlich«, fuhr Baklanow fort, »würde ich den Katharinenpalast in Zarskoje Selo wieder in eine Sommerresidenz umwandeln. In Moskau will ich die alleinige Verfügungsgewalt über die Kremlpaläste, wobei ich den Facettenpalast zum Mittelpunkt meines Hofs machen werde.«

»Ist Ihnen eigentlich klar, was solche Extravaganzen kosten?«, fragte Lenin.

Baklanow starrte den Mann an. »Das Volk will doch schließlich nicht, dass der Zar in einer schäbigen Hütte haust. Die Kosten sind Ihr Problem, meine Herren. Ein gewisser Prunk gehört für einen Herrscher einfach dazu.«

Hayes bewunderte die Unverfrorenheit des Mannes. Er erinnerte ihn an Jimmy Walker, der im New York der Zwanzigerjahre den Parteibonzen von Tammany Hall die Stirn geboten hatte. Doch ein solches Auftreten war riskant. Walker hatte schließlich aufgeben müssen, jegliches Ansehen in der Öffentlichkeit verloren und war wegen seines Ungehorsams aus der Parteiführung ausgeschlossen worden.

Baklanow ließ den Gewehrkolben auf seinen glänzenden rechten Stiefel sinken. Hayes warf einen bewundernden Blick auf Baklanows wollenen Anzug – Savile Row, wenn er nicht irrte –, das Baumwollhemd von Charvet, die Krawatte von Canali und den Filzhut mit Gamsbart. Dieser Russe verstand es, sich in Szene zu setzen.

»Die Sowjets haben uns jahrzehntelang mit den vermeintlichen Lastern der Romanows in den Ohren gelegen. Alles erstunken und erlogen«, erklärte Baklanow. »Die Menschen wollen eine Monarchie mit allem Drum und Dran. Etwas, das in der ganzen Welt Aufsehen erregt. Und das ist nur mit großem Tamtam zu erreichen. Wir beginnen mit einer komplizierten und prunkvollen Krönungszeremonie, dann folgt eine Geste der Ergebenheit von Seiten des Volkes für seinen neuen Herrscher – sagen wir mal eine Million Menschen auf dem Roten Platz. Danach erwartet man, dass ich Paläste bewohne.«

»Und was ist mit Ihrem Hof?«, fragte Lenin. »Werden Sie St. Petersburg zu Ihrer Hauptstadt machen?«

»Selbstverständlich. Die Kommunisten haben sich für Moskau entschieden, und deshalb wird eine Rückkehr nach St. Petersburg gewissermaßen zu einem Symbol der Veränderung.«

»Und werden Sie auch wieder Großfürsten und -fürstinnen einsetzen?«, erkundigte sich Lenin mit unverhohlenem Abscheu.

»Ja, auch das. Die Erbfolge muss schließlich gewährleistet werden.«

»Aber Sie verachten doch Ihre Familie«, wandte Lenin ein.

»Meine Söhne werden ihr Geburtsrecht zugesprochen bekommen. Darüber hinaus werde ich eine neue herrschende Schicht schaffen. Welch bessere Möglichkeit gäbe es, die Patrioten zu belohnen, die all das erst möglich gemacht haben?«

Chruschtschow mischte sich ein. »Einige von uns wollen eine neue Schicht von Bojaren, die sich aus den Rängen der Neureichen und der Verbrecherbanden zusammensetzt. Die Bevölkerung erwartet vom Zaren aber, dass er der Mafija ein Ende setzt, statt sie zu belohnen.«

Hayes fragte sich, ob Chruschtschow wohl ebenso offen reden würde, wenn Stalin hier wäre. Stalin und Breschnew waren aus gutem Grund nicht zu diesem Treffen eingeladen worden. Die Aufteilung in zwei Gruppen war Hayes’ Idee gewesen – eine Variation des bekannten Szenarios mit dem guten und dem bösen Polizisten.

»Dem kann ich nur zustimmen«, erklärte Baklanow. »Eine langsame Entwicklung wird für alle Beteiligten von Vorteil sein. Ich bin vor allem daran interessiert, dass meine leiblichen Erben mir auf den Thron folgen und die Romanow-Dynastie fortdauert.«

Baklanows drei Kinder, allesamt Söhne, waren zwischen fünfundzwanzig und dreiunddreißig Jahre alt. Sie hassten ihren Vater, doch die Aussicht, dass der Älteste Zarewitsch und die beiden anderen Großherzöge werden könnten, hatte den Familienfrieden zumindest oberflächlich wiederhergestellt. Baklanows Frau war eine hoffnungslose Alkoholikerin, aber gebürtige Russin und orthodoxe Christin und konnte sogar auf eine Spur königlichen Blutes verweisen. Im letzten Monat hatte sie eine Entziehungskur in einer australischen Klinik gemacht und dabei ständig jedem erzählt, dass sie als die zukünftige Zarin von ganz Russland liebend gern auf Alkohol verzichten werde.

»Wir alle sind an der Fortführung der Dynastie interessiert«, erklärte Lenin. »Ihr Erstgeborener scheint ja ein vernünftiger Mensch zu sein. Er hat versprochen, Ihre Politik fortzusetzen.«

»Und wie soll meine Politik aussehen?«

Hayes hatte schon darauf gewartet, sich einmischen zu können. »Ganz einfach: Sie machen, was wir sagen.« Er hatte die Nase voll davon, diesem Schwachkopf um den Bart zu gehen.

Baklanow war anzumerken, wie wütend ihn diese brutale Offenheit machte. Sehr gut, dachte Hayes. Soll er sich ruhig schon mal daran gewöhnen.

»Ich wusste gar nicht, dass ein Amerikaner bei der Angelegenheit auch eine Rolle spielen würde.«

Hayes fixierte ihn mit einem vielsagenden Blick. »Dieser Amerikaner finanziert Ihren Lebensstil.«

Baklanow sah Lenin an. »Stimmt das?«

»Wir haben nicht die Absicht, Ihnen unsere Rubel in den Rachen zu werfen. Die Leute aus dem Ausland machten uns ein Angebot, und wir nahmen es an. Sie haben in den nächsten Jahren viel zu verlieren oder zu gewinnen, je nachdem.«

»Wir sorgen dafür, dass Sie zum nächsten Zaren gewählt werden«, fuhr Hayes fort. »Außerdem werden Sie absolute Machtbefugnisse bekommen. Es wird zwar eine Duma geben, aber die wird so impotent sein wie ein kastrierter Bulle. Sämtliche Gesetzesvorlagen müssen erst von Ihnen und dem Staatsrat abgesegnet werden.«

Baklanow nickte zustimmend. »Stolypins Philosophie. Man stutze die Duma auf ein schmückendes Beiwerk zurück, das die Politik der Regierung billigt und nicht etwa kontrolliert oder ausführt. Alle Macht dem Monarchen.«

Petr Stolypin war einer der letzten Ministerpräsidenten von Nikolaus II. gewesen. Er hatte die zaristische Ordnung mit so harter Hand verteidigt, dass die Schlinge des Henkers, mit der er Bauernaufstände bestrafte, als »Stolypin-Krawatte« bezeichnet wurde und die Eisenbahnwaggons, in denen man politische Gefangene in die Verbannung nach Sibirien schickte, als »Stolypin-Wagen«. Am Ende war er vor der Kiewer Oper unter den Augen von Nikolaus II. von einem Revolutionär erschossen worden.

»Vielleicht lässt sich aus Stolypins Schicksal ja etwas lernen?«, meinte Hayes.

Baklanow antwortete nicht, doch sein bärtiges Gesicht ließ keinen Zweifel daran, dass er die Drohung verstanden hatte. »Wie wird der Staatsrat zusammengesetzt sein?«

»Zur Hälfte gewählt, zur anderen Hälfte von Ihnen eingesetzt«, antwortete Lenin.

»Als Versuch, ein demokratisches Element einzufügen«, erklärte Hayes. »Das macht sich in der Öffentlichkeit immer gut. Aber wir sorgen schon dafür, dass wir den Rat unter Kontrolle behalten. Was die Politik anbelangt, so hören Sie nur auf uns. Es hat verdammt viel Arbeit gekostet, alle für dieses Projekt zusammenzubringen. Sie stehen natürlich im Mittelpunkt, das ist uns klar. Diskretion ist zu unser aller Vorteil, und somit brauchen Sie keinen öffentlichen Beschuss von unserer Seite zu befürchten. Aber Ihr Gehorsam darf und wird nie in Frage stehen.«

»Und wenn ich mich weigere, sobald ich erst einmal an der Macht bin?«

»Dann geht es Ihnen wie Ihren Vorfahren«, entgegnete Lenin. »Wie war das noch mal? Iwan VI. brachte sein ganzes Leben in Einzelhaft zu. Peter II. wurde erschlagen, Paul der I. stranguliert, Alexander II. in die Luft gejagt, Nikolaus II. erschossen. Ihr Romanows habt in Bezug auf Attentate nie allzu viel Glück gehabt. Ein Tod, der Ihrem Rang angemessen ist, lässt sich jederzeit arrangieren. Dann werden wir ja sehen, ob der nächste Romanow kooperativer ist.«

Baklanow sagte kein Wort. Er wandte sich lediglich wieder zu den in Dämmerlicht getauchten Wäldern um und knallte den Verschluss seines Gewehrs zu. Dann gab er dem Mann an der Wurfmaschine ein Zeichen.

Eine Wurfscheibe stieg in die Luft.

Er schoss. Daneben.

»Oje«, meinte Chruschtschow. »Ich fürchte, an Ihrer Treffsicherheit werden wir noch arbeiten müssen.«

12

Moskau, 20.30 Uhr

 

Lord war beunruhigt, dass Hayes so plötzlich die Stadt verlassen hatte. Er fühlte sich wohler, wenn sein Chef in der Nähe war. Nach den Ereignissen vom Vortag hatte sich seine Nervosität immer noch nicht gelegt, und Ilja Zenow war zum Schlafen nach Hause gegangen. Er wollte am nächsten Morgen um sieben im Foyer des Wolchow auf ihn warten. Lord hatte ihm versprechen müssen, auf seinem Zimmer zu bleiben, aber er fand keine Ruhe und beschloss, auf einen Drink ins Erdgeschoss zu gehen.

Wie gewöhnlich saß am Ende des Korridors im dritten Stock eine ältere Frau hinter einer Art Schreibtisch, und es gab keine Möglichkeit, zu den Aufzügen zu gelangen, ohne an ihr vorbeizukommen. Sie war eine Deschurnaja – ein weiteres Überbleibsel aus der Sowjetära, als auf jedem Stockwerk eines jeden Hotels eine solche Frau gearbeitet hatte. Sie waren allesamt für den KGB tätig gewesen und hatten ihren Teil zur Überwachung ausländischer Gäste beigetragen. Jetzt waren sie nur noch bessere Dienstboten.

»Sie gehen aus, Mr. Lord?«

»Nur kurz in die Bar.«

»Waren Sie heute in der Sitzung der Kommission?«

Er hatte aus seiner Tätigkeit für die Kommission kein Geheimnis gemacht, denn schließlich war er Tag für Tag mit dem entsprechenden Anstecker an seinem Anzug gekommen und gegangen.

Er nickte.

»Wird man einen neuen Zaren für uns finden?«

»Möchten Sie das denn?«

»Von ganzem Herzen. Dieses Land muss zurück zu seinen Wurzeln.«

Jetzt hatte sie ihn neugierig gemacht.

»Wir sind ein großes Land, das nur allzu leicht seine Vergangenheit vergisst. Der Zar, ein Romanow, wird uns unsere Wurzeln zurückgeben.« Sie klang stolz.

»Und wenn der Auserwählte kein Romanow ist?«

»Dann funktioniert es nicht«, erklärte sie. »Sagen Sie diesen Leuten bitte, dass sie nicht einmal daran denken sollten. Das Volk will einen Romanow. Je näher er mit Nikolaus II. verwandt ist, desto besser.«

Sie schwatzten noch ein wenig, und bevor er zum Aufzug ging, versprach er der Frau, ihr Anliegen weiterzugeben.

Unten ging Lord auf dieselbe Lounge zu, in die er und Hayes sich am Vortag nach der Schießerei zurückgezogen hatten. Als er an einem der Restaurants vorbeilief, sah er ein bekanntes Gesicht. Es war der ältere Herr aus dem Archiv, der dort zusammen mit drei anderen Personen saß.

»Guten Abend, Professor Paschkow«, grüßte Lord auf Russisch.

»Mr. Lord! Was für ein Zufall! Sind Sie zum Essen hier?«

»Ich wohne in diesem Hotel.«

»Ich bin mit Freunden da. Wir essen oft hier. Das Restaurant ist recht ordentlich.« Paschkow stellte seine Begleiter vor.

Nach etwas Smalltalk entschuldigte sich Lord. »War schön, Sie wiederzusehen, Professor.« Er deutete mit dem Kopf zur Bar. »Ich wollte mir nur noch einen kleinen Schlummertrunk genehmigen.«

»Darf ich mich anschließen?«, fragte Paschkow. »Ich habe die Unterhaltung mit Ihnen neulich sehr genossen.«

Lord zögerte einen Augenblick, bevor er einwilligte: »Bitte sehr. Gegen ein wenig Gesellschaft habe ich nichts einzuwenden.«

Paschkow verabschiedete sich von seinen Freunden und folgte ihm in die Lounge. Ein dezentes Klavier-Medley schwebte durch den schwach beleuchteten Raum. Nur etwa die Hälfte der Tische war belegt. Sie setzten sich, und Lord bestellte eine Karaffe Wodka. »Sie sind gestern aber schnell verschwunden«, merkte er an.

»Ich sah, dass Sie sehr beschäftigt waren, und hatte Ihnen schon genug von Ihrer Zeit gestohlen.«

Der Kellner kam mit dem Wodka, und sein Gast bezahlte, noch bevor Lord sein Geld hervorholen konnte. Er dachte an das, was die Frau von oben gesagt hatte. »Professor, darf ich Ihnen eine Frage stellen?«

»Aber natürlich.«

»Was wäre, wenn die Kommission sich für einen Nicht-Romanow entscheiden sollte?«

Paschkow schenkte ihnen beiden ein. »Das wäre ein Fehler. Schließlich gehörte der Thron zum Zeitpunkt der Revolution den Romanows.«

»Manche würden argumentieren, dass Nikolaus bei seiner Abdankung im März 1917 auf den Thron verzichtete.«

Paschkow lachte leise. »Mit einer Pistole am Kopf. Ich glaube kaum, dass irgendjemand ernsthaft behaupten würde, er habe freiwillig auf den Thron und das Geburtsrecht seines Sohnes verzichtet.«

»Wer hat Ihrer Meinung nach am ehesten Anspruch auf den Thron?«

Der Russe zog eine Augenbraue hoch. »Schwierige Frage. Sind Sie mit der russischen Erbfolgeregelung vertraut?«

Lord nickte. »Zar Paul hat das entsprechende Gesetz im Jahr 1797 erlassen. Darin sind fünf Kriterien enthalten. Jeder Bewerber muss männlich sein, solange ein wählbarer Mann zur Verfügung steht. Er muss russisch-orthodoxen Glaubens sein. Seine Mutter und seine Frau ebenfalls. Er darf nur eine gleichrangige Frau aus einem anderen Herrscherhaus heiraten. Und er kann nur mit Erlaubnis des herrschenden Zaren heiraten. Wer auch nur eins dieser fünf Kriterien nicht erfüllt, ist aus dem Rennen.«

Paschkow grinste. »Sie sind wirklich ein Kenner unserer Geschichte. Und wie steht es mit Scheidung?«

»Daran haben sich die Russen nie gestört. Es kam immer wieder mal vor, dass geschiedene Frauen in die Zarenfamilie einheirateten. Ich fand das schon immer interessant. Einerseits diese fast schon fanatische Unterordnung unter die orthodoxe Doktrin, dann aber wieder dieses ganz pragmatische Denken.«

»Es dürfte wohl keine Garantie geben, dass sich die Kommission an das Erbfolgegesetz hält.«

»Ich denke, dass ihr gar nichts anderes übrig bleibt. Das Gesetz wurde niemals aufgehoben, außer durch eine Erklärung der Kommunisten, die niemand als rechtmäßig anerkennt.«

Paschkow legte den Kopf schief. »Aber kann denn überhaupt irgendein Bewerber alle fünf Kriterien erfüllen?«

Diesen Punkt hatte Lord auch schon mit Hayes durchgesprochen. Der Mann hatte Recht – das Erbfolgegesetz stellte ein ernsthaftes Problem dar. Und die wenigen Romanows, die die Revolution überlebt hatten, machten die Lage nicht einfacher. Sie hatten sich in fünf verschiedene Clans aufgespalten, von denen lediglich zwei – die Michailowitschi und die Wladimirowitschi – ausreichend enge genetische Verbindungen zu der Romanow-Dynastie hatten, um für den Thron überhaupt in Frage zu kommen.

»Das ist ein echtes Dilemma«, fuhr der Professor fort. »Aber wir stehen hier vor einer ungewöhnlichen Situation. Eine ganze Herrscherfamilie wurde eliminiert. Da ist es kein Wunder, wenn es eine gewisse Verwirrung bezüglich der Thronfolge gibt. Die Kommission wird dieses Rätsel entwirren und einen Zaren präsentieren müssen, den die Bevölkerung akzeptieren kann.«

»Ich habe bei der ganzen Sache so meine Bedenken. Baklanow bezeichnet einige der Wladimirowitschi als Verräter. Es heißt, er wolle Beweise für seine Anschuldigungen auf den Tisch legen, falls einer ihrer Namen auf der Kandidatenliste erscheint.«

»Und Sie machen sich deswegen Sorgen um ihn?«

»Ja.«

»Sind Sie auf etwas gestoßen, das seine Ansprüche gefährden könnte?«

Lord schüttelte den Kopf. »Nichts, was mit ihm zu tun hätte. Er gehört zu den Michailowitschi, die Nikolaus II. verwandtschaftlich am nächsten stehen. Seine Großmutter war Xenia, Nikolaus’ Schwester. Sie floh nach der Machtergreifung der Bolschewiki 1917 nach Dänemark. Ihre sieben Kinder wuchsen im Westen auf und zerstreuten sich in der Folgezeit in alle Winde. Baklanows Eltern lebten in Deutschland und Frankreich. Er besuchte die besten Schulen, stand aber vor dem vorzeitigen Ableben seiner Cousins in der Thronfolge nicht an erster Stelle. Nun aber ist er der älteste männliche Thronanwärter, und bis jetzt habe ich nichts gefunden, was gegen ihn spräche.«

Außer, dachte er, dass womöglich ein direkter Nachfahre von Nikolaus und Alexandra existiert – aber um das zu glauben, bedurfte es schon einer Menge Phantasie.

Zumindest war er bis gestern dieser Meinung gewesen.

Paschkow hielt sein Wodkaglas dicht an sein vom Alter gezeichnetes Gesicht. »Ich kenne Baklanow. Sein einziges Problem könnte seine Frau werden. Sie ist zwar orthodox und hat sogar eine Spur königlichen Blutes in den Adern, stammt aber natürlich nicht von einem Herrscherhaus ab. Wie sollte sie auch? Wo doch nur so wenige übrig sind. Sicherlich werden die Wladimirowitschi das als Hindernis anführen, aber aus meiner Sicht wird der Kommission gar nichts anderes übrig bleiben, als diese Anforderung einfach zu ignorieren. Ich fürchte, die kann sowieso keiner erfüllen. Ebenso wenig, wie einer der überlebenden Verwandten sich auf eine Erlaubnis des Zaren zur Heirat berufen kann, da es seit Jahrzehnten keinen Zaren mehr gibt.«

Zu diesem Schluss war Lord auch schon gelangt.

»Ich glaube nicht, dass das russische Volk in dieser Ehe ein Problem sieht«, fuhr Paschkow fort. »Weit mehr wird es auf das künftige Handeln des neuen Zaren und seiner Zarin ankommen. Diese letzten Nachfahren der Romanows können ziemlich engstirnig sein und sie führen zu viele Machtkämpfe gegeneinander. Das ist nicht zu tolerieren, schon gar nicht, wenn es in aller Öffentlichkeit vor der Kommission geschieht.«

Lord musste wieder an Lenins Notiz und Alexandras Schreiben denken und beschloss herauszufinden, was Paschkow darüber wusste. »Haben Sie noch einmal über das nachgedacht, was ich Ihnen gestern im Archiv gezeigt habe?«

Der ältere Mann grinste. »Ich verstehe, dass Sie sich Sorgen machen. Was wäre, wenn ein direkter Nachkomme von Nikolaus II. noch am Leben wäre? Dann hätte von allen Romanows nur dieser einen Anspruch auf den Thron. Aber Sie glauben doch wohl nicht, Mr. Lord, dass jemand das Massaker von Jekaterinburg überlebt haben könnte?«

»Ich weiß nicht, was ich glauben soll. Aber nein, wenn die Berichte über das Massaker zutreffend sind, hat keiner überlebt. Trotzdem scheint Lenin diese Berichte angezweifelt zu haben. Ich meine, Jurowski hätte Moskau ja schlecht berichten können, dass ihm zwei Leichen fehlten.«

»Stimmt. Obwohl mittlerweile klar ist, dass genau dies der Fall war. Die Gebeine von Alexej und Anastasia sind verschwunden.«

Lord erinnerte sich, dass 1979 ein pensionierter Geologe und ein russischer Filmemacher herausbekommen hatten, wo Jurowski und seine Henkersknechte die ermordete Zarenfamilie vergraben hatten. Sie hatten sich heimlich an die Stelle geschlichen und die sterblichen Überreste ausgegraben. Erst 1991 jedoch waren die Knochen exhumiert und mit Hilfe der DNA-Analyse sicher identifiziert worden. Paschkow hatte Recht. Nur neun Skelette kamen ans Tageslicht. Und trotz jahrelanger gründlicher Suche in der Umgebung des Grabes waren die Überreste der beiden jüngsten Kinder von Nikolaus II. nie gefunden worden.

»Sie könnten einfach an einer anderen Stelle begraben sein«, meinte Paschkow.

»Aber was hat Lenin mit seiner Bemerkung gemeint, dass die Berichte über die Ereignisse in Jekaterinburg nicht ganz zutreffend seien?«

»Schwer zu sagen. Lenin war ein sehr vielschichtiger Mensch. Es ist eindeutig klar, dass er den Befehl gab, die ganze Familie zu erschießen. Die Akten beweisen eindeutig, dass die Befehle aus Moskau kamen und von Lenin persönlich gutgeheißen wurden. Das Letzte, was er hätte brauchen können, wäre die Befreiung des Zaren durch die Weiße Armee gewesen. Die Weißen waren zwar keine Royalisten, aber dieser Akt hätte das Ende der Revolution bedeuten können.«

»Und was hat seine Anmerkung zu bedeuten, die Information über Felix Jussupow bestätige, dass die Berichte aus Jekaterinburg offensichtlich nicht der Wahrheit entsprächen?«

»Also das ist wirklich ein interessanter Punkt. Ich habe darüber nachgedacht, ebenso wie über Alexandras Bericht über Rasputins Vision. Das ist eindeutig eine neue Information, Mr. Lord. Ich halte mich für ziemlich belesen in der Geschichte des Zarentums, aber ich habe nie etwas gefunden, was Jussupow und die Zarenfamilie nach 1918 miteinander in Verbindung brächte.«

Lord füllte sein Wodkaglas nach. »Jussupow hat Rasputin ermordet. Viele meinen, er habe mit dieser Tat den Niedergang der Monarchie beschleunigt. Sowohl Nikolaus als auch Alexandra hassten Jussupow dafür.«

»Was die Sache nur noch geheimnisvoller macht. Warum hätte die Zarenfamilie etwas mit ihm zu tun haben wollen?«

»Wenn ich mich recht entsinne, standen die meisten Verwandten des Zaren hinter der Entscheidung, den Starez zu töten.«

»Schon wahr. Und das war vielleicht der größte Schaden, den Rasputin angerichtet hat. Er trieb einen Keil in die Familie der Romanows. Irgendwann standen Nikolaus und Alexandra allein gegen alle anderen.«

»Rasputin war schon ein Rätsel«, sinnierte Lord. »Ein sibirischer Bauer, der unmittelbaren Einfluss auf den Zaren von ganz Russland hatte. Ein Scharlatan mit kaiserlicher Macht.«

»Viele würden bestreiten, dass er ein Scharlatan war. Ein Großteil seiner Prophezeiungen hat sich bewahrheitet. Er sagte, der Zarewitsch werde nicht an seiner Bluterkrankheit sterben, und er hatte Recht. Er prophezeite, Zarin Alexandra werde eines Tages seinen Geburtsort in Sibirien sehen – und auch das traf zu, nämlich auf ihrem Weg als Gefangene nach Tobolsk. Des Weiteren sagte er voraus, dass die Zarenfamilie die nächsten zwei Jahre nicht überleben werde, falls er selbst von einem Mitglied der Zarenfamilie ermordet würde. Jussupow hat eine Nichte des Zaren geheiratet, im Dezember 1916 den Starez ermordet, neunzehn Monate danach wurden die Romanows abgeschlachtet. Keine schlechte Prophezeiung für einen Scharlatan.«

Lord war nicht sonderlich beeindruckt von heiligen Männern mit einem angeblichen Draht zum lieben Gott. Sein Vater hatte ebenfalls stets behauptet, ein solcher zu sein. Tausende waren zu seinen Versammlungen gekommen, um ihn das Wort Gottes predigen zu hören und mitzuerleben, wie er die Kranken heilte. Natürlich war all das vergessen, wenn Stunden später eine der Frauen aus dem Chor in sein Zimmer kam. Lord hatte viel über Rasputin gelesen und darüber, wie dieser Frauen auf dieselbe Weise verführt hatte.

Er schob die Gedanken an seinen Vater beiseite und wandte ein: »Es ist doch nie nachgewiesen worden, dass irgendjemand sich zu Rasputins Lebzeiten auch nur an eine seiner Prophezeiungen erinnerte. Das meiste, was man darüber weiß, kam später von seiner Tochter, die es wohl als ihre Lebensaufgabe ansah, das Image ihres Vaters aufzupolieren. Ich habe ihr Buch gelesen.«

»Das mag ja bisher zugetroffen haben; jetzt aber gilt das nicht mehr.«

»Wie meinen Sie das?«

»Alexandras Notiz zufolge soll er vorhergesagt haben, dass die Zarenfamilie innerhalb von zwei Jahren sterben werde. Das Blatt wurde von ihr selbst auf den 28. Oktober 1916 datiert. Das war zwei Monate vor dem Mord an Rasputin. Offensichtlich hat er ihr gegenüber etwas Entsprechendes geäußert. Eine Prophezeiung, erklärte sie. Und sie hat sie aufgeschrieben. Also haben Sie ein historisch bedeutsames Dokument in Ihrem Besitz, Mr. Lord.«

Lord hatte sich darüber noch keine Gedanken gemacht, aber der Professor hatte vollkommen Recht.

»Haben Sie die Absicht, nach St. Petersburg zu fahren?«, fragte Paschkow.

»Bislang hatte ich das nicht vor, aber jetzt werde ich es wohl tun.«

»Gute Entscheidung. Mit Hilfe Ihrer Papiere erhalten Sie Zutritt zu Teilen der Archive, die keiner von uns jemals hat einsehen dürfen. Vielleicht ist da ja noch mehr zu entdecken, zumal Sie jetzt wissen, wonach Sie suchen müssen.«

»Das ist genau das Problem, Professor. Ich weiß mittlerweile gar nicht mehr, wonach ich suchen soll.«

Den Akademiker schien das nicht zu beunruhigen. »Machen Sie sich mal keine Sorgen. Ich habe das Gefühl, Sie schaffen das schon.«

13

St. Petersburg

Donnerstag, 14. Oktober

12.30 Uhr

 

Lord betrat das Archiv im vierten Stock eines postrevolutionären Gebäudes am Newski Prospekt, einer der vielen geschäftigen Hauptstraßen. Er hatte zwei Plätze in einer Aeroflot-Maschine bekommen, die Moskau um neun Uhr morgens verließ. Obwohl der Flug problemlos verlaufen war, hatte er Lord einige Nerven gekostet, denn die Budgetkürzungen und der Mangel an ausgebildetem Personal forderten auch bei der nationalen Fluglinie ihren Tribut. Doch es hätte zu viel Zeit gekostet, die insgesamt 1300 Kilometer mit dem Zug zurückzulegen.

Ilja Zenow hatte wie versprochen um sieben Uhr im Foyer des Wolchow auf ihn gewartet, bereit, ihn einen weiteren Tag lang zu begleiten. Der Russe war überrascht, als Lord den Flughafen als Ziel genannt hatte, und er wollte Taylor Hayes anrufen, um entsprechende Instruktionen zu erbitten. Lord erklärte ihm, dass Hayes nicht in der Stadt sei und keine Telefonnummer hinterlassen habe. Dummerweise war der Rückflug am Nachmittag bereits ausgebucht, und so hatte er sich zwei Fahrkarten für den Nachtzug von St. Petersburg zurück nach Moskau reservieren lassen.

Wo Moskau mit seinen schmutzigen Straßen und langweiligen Bauwerken ein realistisches Bild der gesellschaftlichen Wirklichkeit bot, war St. Petersburg eine Märchenstadt aus prächtigen Palästen, Kathedralen und Kanälen. Während das übrige Land im ewig gleichen, eintönigen Grau schlummerte, erfreuten hier rosafarbener Granit und gelbe und grüne Stuckfassaden das Auge.

Lord musste an die Worte denken, mit denen der russische Schriftsteller Nikolai Gogol die Stadt beschrieben hatte: Alles in ihr verströmte Falschheit. Damals wie heute schien die Stadt, deren bedeutendste Bauwerke von großen italienischen Architekten entworfen worden waren und die sich in ihrem Grundriss an westeuropäischen Vorbildern orientierte, ganz mit sich selbst beschäftigt zu sein. Bis zur kommunistischen Machtübernahme im Jahr 1917 war sie Hauptstadt gewesen, und nun dachte man also tatsächlich ernsthaft darüber nach, sie nach der Krönung des neuen Zaren wieder in diesen Status zu erheben.

Für einen Werktagsvormittag in einer Fünfmillionenstadt war der Verkehr vom südlich der Stadt gelegenen Flughafen ins Zentrum nicht sehr dicht gewesen. Zunächst hatte man mit Lords Kommissionsausweis nicht viel anfangen können, doch nachdem ein Anruf in Moskau seine Identität bestätigt hatte, war ihm freier Zugang zum gesamten Bestand des Archivs gewährt worden, einschließlich der als geheim eingestuften Papiere.

Das Archiv von St. Petersburg war zwar nicht groß, enthielt aber eine reichhaltige Sammlung eigenhändiger Schreiben von Nikolaus, Alexandra und Lenin. Wie von Semjon Paschkow angekündigt, fanden sich auch die nach der Ermordung der Zarenfamilie aus Zarskoje Selo und Jekaterinburg hierher gebrachten Tagebücher und Briefe des Zaren und der Zarin.

Aus all diesen Seiten kristallisierte sich ein eindeutiges Bild heraus: das Porträt zweier Liebender. Alexandra schrieb im Stil einer romantischen Dichterin, und ihre Äußerungen waren mit leidenschaftlichen Ausdrücken gespickt. Lord verbrachte zwei Stunden damit, mehrere Kisten ihrer Korrespondenz zu überfliegen – mehr in der Absicht, ein Gefühl dafür zu entwickeln, wie diese vielgesichtige und gefühlsbetonte Frau ihre Gedanken formulierte, als in der Hoffnung, etwas Konkretes zu finden.

Es war schon mitten am Nachmittag, als er auf etliche Tagebücher von 1916 stieß. Die gebundenen Bände waren in einen muffigen Pappkarton gestopft worden, auf dem ein Schildchen mit den Buchstaben N & A klebte. Die Art, wie die Russen ihre Akten lagerten, verblüffte Lord immer wieder. Wie konnte etwas, das mit so viel Herzblut geschaffen worden war, derart lieblos aufbewahrt werden?

Die Tagebücher waren in chronologischer Ordnung gestapelt, und die Aufschriften auf den Rücken der leinengebundenen Bände zeigten, dass die meisten von ihnen Geschenke von Alexandras Töchtern waren. Bei einigen war der Buchdeckel mit Hakenkreuzen verziert, was nur auf den ersten Blick befremdlich erschien; Lord wusste, dass die Swastika schon lange, bevor Hitler dieses Zeichen übernahm, als Symbol des Wohlergehens gegolten hatte, dessen sich Alexandra immer wieder gern bediente.

Er blätterte mehrere Bände durch, ohne etwas anderes zu finden als die üblichen Ergüsse zweier sich liebender Gefährten. Dann stieß er auf zwei Stapel von Briefen. Aus seiner Aktenmappe holte er die Fotokopie von Alexandras Brief an Nikolaus vom 28. Oktober 1916. Ein Vergleich der Kopie mit den Originalen zeigte, dass die Handschrift sowie der mit Blumen und Blättern verschnörkelte Rand identisch waren.

Wieso war dieser eine Brief in Moskau so gut versteckt worden?

Vielleicht gehörte das ja zum Versuch der Sowjets, die Zeit des Zarismus aus der Geschichte zu tilgen. Oder es war einfach nur blanke Paranoia gewesen. Aber was machte einen einfachen Brief so wichtig, dass er in einem Beutel versiegelt und mit der ausdrücklichen Anweisung versehen worden war, ihn frühestens in fünfundzwanzig Jahren zu öffnen? Eines war sicher: Semjon Paschkow hatte Recht. Er war eindeutig auf ein historisch bedeutsames Dokument gestoßen.

Anschließend begann Lord damit, alles durchzusehen, was er über Lenin finden konnte. Es war schon fast vier Uhr, als er den Mann bemerkte. Er trug einen ausgebeulten, beigefarbenen Anzug, und irgendwie kam es Lord mehr als einmal so vor, als beobachte ihn der Fremde. Aber Zenow, der neben ihm saß und auf ihn aufpasste, war offensichtlich nichts aufgefallen, und so musste sein Verdacht wohl seiner Paranoia entsprungen sein. Beruhige dich, sagte er sich.

Gegen fünf Uhr fand er endlich etwas, erneut in Lenins Handschrift. Jussupows Name hatte seine Aufmerksamkeit erregt. Er las das Schreiben und verglich es in Gedanken mit dem Schriftstück aus Moskau.

 

Felix Jussupow lebt in der Rue Gutenberg unweit des Bois de Boulogne. Er verkehrt mit den zahlreichen russischen Aristokraten, die wie die Heuschrecken in Paris eingefallen sind. Diese Narren glauben, die Revolution werde scheitern und sie würden schon bald ihre Stellung und ihren Reichtum wiedererlangen. Wie ich gehört habe, hält eine bestimmte einstmals hoch geachtete Dame immer einen gepackten Koffer bereit in der Annahme, sie werde bald nach Hause reisen. Meine Agenten berichten, sie hätten Korrespondenz zwischen Jussupow und Kolja Maks gelesen. Mindestens drei Briefe. Das erscheint mir bedenklich. Erst jetzt wird mir klar, dass es ein Fehler war, den Sowjet des Ural mit der Ausführung der Exekutionen zu betrauen. Die neueren Berichte verheißen nichts Gutes. Wir haben bereits eine Frau unter Arrest, die sich als Anastasia ausgibt. Sie fiel uns wegen ihrer zahlreichen Briefe an König George V. auf, in denen sie ihn bat, ihr bei der Flucht zu helfen. Das Ural-Komitee berichtet, zwei der Zarentöchter würden in einem fernen Dorf versteckt. Es soll sich um Maria und Anastasia handeln. Ich habe Agenten hingeschickt, um die Angelegenheit zu überprüfen. Auch in Berlin ist eine Frau aufgetaucht, die steif und fest behauptet, Anastasia zu sein. Informanten zufolge weist sie tatsächlich eine verblüffende Ähnlichkeit mit der Zarentochter auf.

Das alles ist äußerst beunruhigend. Hätte ich nicht ohnehin schon Bedenken bezüglich der Ereignisse in Jekaterinburg, täte ich diese Berichte als Unsinn ab. So aber muss ich befürchten, dass an all dem doch etwas dran sein könnte. Wir hätten Jussupow und die gesamte Bourgeoisie umbringen sollen. Dieser arrogante Sack führt etwas im Schilde. Er macht keinen Hehl daraus, dass er unsere Regierung hasst. Seine Frau hat Romanow-Blut in den Adern, und manche faseln schon von einer Restauration mit ihm als Zar. Närrische Träumereien närrischer Männer. Sie sollten endlich begreifen, dass sie ihr Vaterland für immer verloren haben.

 

Lord las die Seite zu Ende, ohne weitere Hinweise auf Felix Jussupow zu finden. Zweifellos hatte Lenin befürchtet, dass Jurowski, der mit der Hinrichtung der Romanows in Jekaterinburg beauftragt worden war, einen falschen Bericht über die dortigen Ereignisse abgegeben hatte.

Waren in jenem Keller elf Menschen ermordet worden – oder nur neun?

Oder vielleicht acht?

Wer konnte das schon mit Sicherheit sagen?

Lord dachte an die angeblichen Angehörigen der Zarenfamilie, die bis 1920 aufgetaucht waren. Lenin bezog sich auf eine Frau aus Berlin. Sie wurde unter dem Namen Anna Anderson bekannt und galt als die Berühmteste von allen. Ihre Geschichte wurde in Filmen und Büchern breitgetreten, und sie stand bis zu ihrem Tod im Jahr 1984 über viele Jahrzehnte im Rampenlicht, weil sie bis zuletzt behauptete, die jüngste Tochter des Zaren zu sein. Später konnte jedoch anhand von DNA-Analysen nachgewiesen werden, dass sie in keiner Weise mit den Romanows verwandt gewesen war.

Außerdem verbreitete sich im Europa der Zwanzigerjahre das Gerücht, Alexandra und ihre Töchter seien nicht in Jekaterinburg ermordet, sondern vor der Erschießung Nikolaus’ und Alexejs weggeschafft worden. Es hieß, die Frauen würden in Perm – einer Provinzstadt unweit von Jekaterinburg – festgehalten. Lord erinnerte sich an ein in den USA erschienenes Buch, in dem zahlreiche Details angeführt wurden, die diese Behauptung untermauerten. Später aufgetauchte Dokumente jedoch, die den Autoren nicht zur Verfügung gestanden hatten, bewiesen – ganz abgesehen vom späteren Auffinden der sterblichen Überreste der Romanows –, dass Alexandra und mindestens drei ihrer Töchter in Jekaterinburg gestorben waren.

Das alles war äußerst verwirrend. Was entsprach der Wahrheit, was war Erfindung? Lord hielt es mit Churchill, der einmal gesagt hatte: »Russland ist ein Rätsel in einem Rätsel, das wiederum von einem Rätsel umschlossen ist.«

Aus seiner Aktentasche holte er eine weitere Kopie, die er im Moskauer Archiv gemacht hatte. Das Original war an eine handschriftliche Notiz Lenins geheftet gewesen. Er hatte dieses Dokument weder Hayes noch Semjon Paschkow gezeigt, weil er es für unwichtig erachtet hatte. Bis zu diesem Augenblick.

Es handelte sich um einen maschinengeschriebenen Auszug aus einer eidesstattlichen Erklärung, die einer der Wachposten von Jekaterinburg im Oktober 1918 – also drei Monate nach der Ermordung der Romanows – abgegeben hatte.

 

Der Zar war nicht mehr jung, sein Bart wurde schon grau. Tagtäglich trug er ein Soldatenhemd und einen Offiziersgürtel mit einer Schnalle um die Taille. Er hatte gütige Augen und wirkte auf mich wie ein einfacher, offener, gesprächiger Mensch. Manchmal hatte ich das Gefühl, dass er sich am liebsten mit mir unterhalten hätte. Er sah aus, als wollte er mit jemandem reden. Die Zarin war kein bisschen wie er. Sie wirkte streng und überheblich. Manchmal haben wir Wachen über sie geredet und gesagt, dass sie genau so aussieht, wie man sich eine Zarin vorstellt. Sie sah älter aus als der Zar. An ihren Schläfen war ihr Haar schon grau, und ihr Gesicht war nicht mehr das einer jungen Frau. Nach einer gewissen Zeit bei der Wache schwanden meine Vorurteile, und meine Einstellung gegenüber dem Zaren und der Zarin änderte sich völlig. Sie taten mir Leid. Ich bedauerte sie als Menschen und wünschte, ihr Leiden hätte ein Ende. Aber ich bekam mit, was ihnen bevorstand. Das Gerede über ihr Schicksal war eindeutig. Jurowski sorgte schon dafür, dass wir alle wussten, worin unsere Aufgabe bestand. Nach einer Weile sagte ich mir, dass etwas getan werden müsse, um ihnen die Flucht zu ermöglichen.

 

Auf was war er da gestoßen? Und warum hatte niemand zuvor Vergleichbares gefunden? Dann fiel ihm wieder ein, dass die Archive erst in den letzten Jahren der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden waren. Die als schutzwürdig eingestuften Papiere waren für die meisten Forscher noch immer tabu, und allein schon das Chaos in der russischen Art der Archivierung ließ solche Funde zur reinen Glückssache werden.

Er musste nach Moskau zurück, um Taylor Hayes davon zu berichten. Es war möglich, dass Stefan Baklanows Anspruch in Frage gestellt werden konnte. Womöglich gab es irgendwo noch einen Thronanwärter, der Nikolaus II. im Verwandtschaftsgrad näher stand als Baklanow. Sensationsjournalisten und Autoren populärer Machwerke verbreiteten ja schon lange die These von der Existenz eines solchen Thronanwärters. Ein Filmstudio hatte sogar einen Zeichentrickfilm über Anastasia produziert, der Millionen von Kindern glauben ließ, die Zarentochter sei noch am Leben. Aber wie bei Elvis und Jimmy Hoffa beruhte das alles auf Spekulation, und Beweise fehlten.

Oder gab es doch welche?

 

Hayes legte den Hörer auf und versuchte, seine Wut zu zügeln. Er war nicht nur aus geschäftlichen Gründen zum Landgut Grüne Lichtung hinausgefahren, sondern auch mit der Absicht, sich ein wenig zu entspannen. Für Lord hatte er im Hotel eine Nachricht hinterlassen mit dem Inhalt, er habe anderweitig zu tun, und Lord solle derweil seine Arbeit in den Archiven fortsetzen, bis er, Hayes, sich im Verlauf des Nachmittags mit ihm in Verbindung setze. Bewusst hatte er keinen Ort genannt, aber Ilja Zenow angewiesen, Lord im Auge zu behalten und ihn über alles zu informieren.

»Das war Zenow«, sagte er. »Lord hat den ganzen Tag in St. Petersburg in den Archiven gewühlt.«

»Und das wussten Sie nicht?«, fragte Lenin.

»Nein. Ich dachte, er arbeitet in Moskau. Zenow sagte, Lord habe ihn heute Morgen angewiesen, ihn zum Flughafen zu bringen. Sie fahren heute Nacht mit dem ›Roten Pfeil‹ zurück nach Moskau.«

Man konnte sehen, wie Chruschtschow sich aufregte. Das kam selten vor, wie Hayes bisher festgestellt hatte. Von den fünfen blieb der Vertreter der Regierung sonst immer am ruhigsten, und nur selten erhob er die Stimme. Er hielt sich auch beim Wodka zurück und wirkte, als beobachte er die anderen; vielleicht glaubte er, ihnen gegenüber nüchtern im Vorteil zu sein.

Stefan Baklanow hatte das Landgut verlassen. Schon am Vortag war er zu einem anderen Gut in der Nähe gefahren, wo er die Zeit bis zu seinem ersten Auftritt vor der Kommission in zwei Tagen in völliger Abgeschiedenheit verbringen konnte. Es war kurz nach neunzehn Uhr, und Hayes hätte eigentlich schon auf dem Rückweg nach Moskau sein sollen. Er war gerade im Aufbruch begriffen, als der Anruf aus St. Petersburg kam.

»Zenow hat sich beim Essen abgesetzt und seine Auftraggeber angerufen, und die haben ihn hierher verwiesen«, erklärte Hayes. »Er sagte auch, Lord habe sich gestern im Moskauer Archiv mit einem Mann unterhalten. Semjon Paschkow heißt er. Und der Hotelportier berichtete Zenow heute Morgen, dass Lord gestern Abend in der Bar mit einem Mann getrunken hat, auf den dieselbe Beschreibung passt.«

»Und wie lautet diese Beschreibung?«, fragte Chruschtschow.

»Ende fünfzig, Anfang sechzig. Schlank, hellblaue Augen, Glatze, Bartschatten auf Gesicht und Hals.«

Hayes bemerkte die Blicke, die Lenin und Chruschtschow einander zuwarfen. Er war schon die ganze Woche das Gefühl nicht losgeworden, dass ihm etwas verheimlicht wurde, und sein Unbehagen wuchs. »Wer ist das? Sie wissen ja offensichtlich, um wen es sich handelt.«

Lenin seufzte. »Er ist ein Problem.«

»Das habe ich auch schon gemerkt. Geht’s nicht etwas genauer?«

Chruschtschow ergriff das Wort. »Haben Sie schon einmal von der Heiligen Schar gehört?«

Hayes schüttelte den Kopf.

»Im 19. Jahrhundert rief der Bruder von Zar Alexander II. eine Gruppe ins Leben, die unter diesem Namen bekannt wurde. Die Angst vor Attentaten war damals groß. Alexander hatte die Leibeigenschaft abgeschafft und sich damit bei einigen Leuten sehr unbeliebt gemacht. Diese Heilige Schar war ein Witz. Ein paar Adlige, die geschworen hatten, das Leben des Zaren zu verteidigen. In Wahrheit konnten sie sich kaum selbst verteidigen, und am Ende starb Alexander durch die Bombe eines Attentäters. Paschkow führt eine Gruppe von Leuten an, die alles andere als Amateure sind. Seine Heilige Schar geht, soweit wir wissen, auf die Zwanzigerjahre zurück und hat sich bis zum heutigen Tag gehalten.«

»Diese Vereinigung wurde also nach der Ermordung Nikolaus II. und seiner Familie gegründet«, stellte Hayes fest. »Da gab es doch gar keinen Zaren mehr zu beschützen.«

»Genau da liegt das Problem«, sagte Lenin. »Seit Jahrzehnten hält sich hartnäckig das Gerücht, Nachkommen von Nikolaus hätten das Massaker überlebt.«

»So ein Quatsch«, erklärte Hayes. »Ich habe alles über diese Schwindler gelesen. Die sind doch alle nicht ganz richtig im Kopf.«

»Schon möglich. Aber die Heilige Schar gibt es noch immer.«

»Hat das etwas mit dem zu tun, was Lord in den Archiven gefunden hat?«

»Es hat alles damit zu tun«, bestätigte Lenin. »Und jetzt, wo Paschkow mehrmals mit ihm in Kontakt getreten ist, müssen wir Lord so schnell wie möglich loswerden.«

»Ein weiterer Anschlag?«

»Auf jeden Fall. Und zwar noch heute Nacht.«

Dagegen war aus Hayes’ Sicht nichts einzuwenden. »Aber wie soll ich noch vor Mitternacht die entsprechenden Leute nach St. Petersburg schaffen?«, fragte er nur.

»Wir besorgen ein Flugzeug.«

»Möchten Sie mir nicht erklären, wieso die Angelegenheit so dringlich ist?«

»Die Einzelheiten sind nicht weiter wichtig«, erklärte Chruschtschow. »Es genügt wohl, wenn ich Ihnen sage, dass dieses Problem alles gefährden könnte, woran wir arbeiten. Dieser Lord ist offensichtlich ein Freigeist. Den bringt keiner unter Kontrolle. Wir dürfen deshalb kein Risiko mehr eingehen. Rufen Sie die Nummer an, die wir Ihnen gegeben haben, und schicken Sie genügend Männer los. Dieser Tschorni darf auf keinen Fall lebend nach Moskau zurückkehren.«

14

St. Petersburg, 23.30 Uhr

 

Als Lord und sein Leibwächter am Bahnhof ankamen, waren die Bahnsteige überfüllt mit Menschen, die in schweren, teils mit Astrachanpelz besetzten Mänteln und Einkaufstüten oder ausgebeulten Aktentaschen an ihnen vorbeitrotteten. Niemand schien Lord zu beachten, und abgesehen von diesem Mann im Archiv, der ihn zu beobachten schien, hatte Lord sich den ganzen Tag recht sicher gefühlt.

Er und Zenow hatten im Grand Hotel Europe in aller Ruhe zu Abend gegessen und dann den Rest des Abends in einer der Lounges bei den Klängen eines Streichquartetts verbracht. Eigentlich hatte er ein wenig den Newski Prospekt entlangbummeln wollen, aber Zenow hatte nichts davon gehalten, bei Nacht durch die Straßen zu streifen. Also waren sie im Hotel geblieben und hatten dann ein Taxi zum Bahnhof genommen, wo ihnen gerade genug Zeit zum Einsteigen blieb.

Der Abend war kalt, und auf dem Platz des Aufstands brodelte der Verkehr. Lord stellte sich die blutigen Auseinandersetzungen zwischen der zaristischen Polizei und den Demonstranten vor, die im Jahr 1917 die Revolution ausgelöst hatten. Zwei Tage lang hatte die Schlacht um den Platz getobt. Der Bahnhof selbst war ein weiterer Protzbau aus der Zeit des Stalinismus, und seine prächtige, in Grün und Weiß gehaltene Fassade hätte eher zu einem Palast als zu einem Bahnhof gepasst. Nebenan hatte man bereits mit dem Bau eines neuen Terminals für einen Hochgeschwindigkeitszug nach Moskau begonnen. Das von einem Architekturbüro in Illinois entworfene, mehrere Milliarden Dollar teure Projekt sollte von einem britischen Baukonzern umgesetzt werden; der leitende Architekt war am Vortag beim Briefing im Wolchow gewesen. Verständlicherweise hatte er sich um seine Zukunft große Sorgen gemacht.

Lord hatte in der ersten Klasse ein Schlafabteil mit zwei Betten gebucht. Er war schon mehrere Male mit dem Expresszug »Roter Pfeil« gefahren und konnte sich noch gut an die Zeiten erinnern, als die Betttücher und Matratzen ebenso wie die Abteile selbst an Sauberkeit zu wünschen übrig ließen. Das hatte sich seither gründlich geändert, und nun galt die Fahrt mit dem »Roten Pfeil« als eine der luxuriösesten in ganz Europa.

Der Zug fuhr um 23.55 Uhr ab und sollte um 7.55 Uhr morgens in Moskau ankommen. Sechshundertfünfzig Kilometer in acht Stunden.

»Ich bin kein bisschen müde«, erklärte Lord seinem Begleiter Zenow. »Ich denke, ich genehmige mir im Speisewagen noch einen Drink. Sie können ja hier bleiben, wenn Sie möchten.«

Zenow nickte und sagte, er wolle ein kleines Schläfchen halten. Lord verließ das Abteil und ging durch den schmalen Gang, der gerade breit genug für eine Person war, durch zwei weitere Schlafwagen. Ein Hauch von Kohlenrauch brannte ihm in den Augen, verursacht von den Samowaren, die am Ende jedes Schlafwagens standen.

Der Speisewagen war mit bequemen Ledersitzen und Schnitzereien in Eichenholz ausgestattet. Lord entschied sich für einen Fensterplatz und sah in die vorbeiziehende Nachtlandschaft.

Da er keine Lust auf Wodka hatte, bestellte er eine Pepsi, dann öffnete er seine Aktentasche, um noch einmal die Notizen zu den entdeckten Dokumenten durchzugehen. Überzeugt, auf etwas Wichtiges gestoßen zu sein, fragte er sich, welche Auswirkungen seine Erkenntnisse wohl auf den Anspruch Stefan Baklanows auf den Thron haben würden.

Es stand viel auf dem Spiel – für Russland ebenso wie für die Gesellschaften, die von Pridgen & Woodworth vertreten wurden. Er hatte nicht die Absicht, irgendetwas zu tun, was im großen Maßstab gefährlich werden oder auch seine eigene Karriere beeinträchtigen könnte.

Doch seine Zweifel ließen sich nicht einfach abstellen.

Lord rieb sich die Augen. Jetzt war er doch verdammt müde. Er war es gewohnt, bis spät in die Nacht zu arbeiten, doch der Stress der letzten paar Wochen war nicht spurlos an ihm vorübergegangen.

Er lehnte sich in seinen lederbezogenen Sitz zurück und nippte an seinem Drink. An der Uni hatte er nicht gelernt, wie man mit solchen Situationen umging. Und seine zwölfjährige Laufbahn innerhalb der Firma hatte ihn darauf ebenso wenig vorbereitet. Anwälte wie er arbeiteten normalerweise in Büros, Gerichtssälen und Bibliotheken und mussten lediglich darauf achten, genug in Rechnung zu stellen, damit sich der Aufwand auch lohnte, sowie bei Vorgesetzten wie Taylor Hayes, deren Urteil für Lords künftige Karriere entscheidend war, Anerkennung zu finden.

Bei Leuten also, die er beeindrucken wollte.

Wie bei seinem Vater.

Noch immer sah er Grover Lord im offenen Sarg vor sich liegen; der Mund, der das Wort Gottes in die Welt hinausposaunt hatte, nun für immer geschlossen und Lippen und Gesicht aschgrau. Sie hatten ihm einen seiner besten Anzüge angezogen und seine Lieblingskrawatte umgebunden. Auch die goldenen Manschettenknöpfe hatten nicht fehlen dürfen, ebenso wenig seine Armbanduhr. Lord hatte damals gedacht, dass sein Vater allein mit dem Gegenwert dieser drei Schmuckstücke einen großen Teil seiner Ausbildung hätte bezahlen können. Fast tausend seiner treuen Anhänger waren zum Trauergottesdienst erschienen. Sie hatten geweint und gesungen, und einige waren gar in Ohnmacht gefallen. Seine Mutter hatte gewünscht, dass Lord eine Rede hielt. Doch was hätte er sagen sollen? Er konnte den Mann ja schlecht im Nachhinein als Scharlatan, Scheinheiligen und miserablen Vater hinstellen. Also hatte er geschwiegen, und seine Mutter hatte ihm das nie verziehen. Noch immer war ihr Verhältnis stark unterkühlt. Sie war Mrs. Grover Lord und stolz darauf.

Er rieb sich wieder die Augen, weil er fast eingenickt wäre.

Sein Blick schweifte durch den langen Waggon zu den Gesichtern anderer Reisender, die sich noch eine späte Erfrischung genehmigten. Ein Mann fiel ihm ins Auge. Jung, blond, stämmig. Er saß allein vor einem klaren Getränk, und seine Gegenwart jagte Lord einen kalten Schauer über den Rücken. Stellte er eine Bedrohung dar? Die Frage beantwortete sich von selbst, als eine junge Frau mit einem kleinen Kind auftauchte. Beide setzten sich zu dem Mann, und alle drei begannen ein angeregtes Gespräch.

Du wirst allmählich neurotisch, schalt sich Lord.

Dann aber sah er ganz hinten im Waggon einen Mann mittleren Alters vor seinem Bier sitzen. Das hagere Gesicht, die dünnen Lippen und die unruhigen wässrigen Augen hatte er am Nachmittag schon einmal gesehen.

Der Mann aus dem Archiv! Er trug noch immer denselben ausgebeulten beigefarbenen Anzug.

Auf einmal war Lord hellwach.

Das konnte kein Zufall sein. Er musste zu Zenow, wollte aber nicht, dass man ihm seine Besorgnis ansah. Also trank er gemächlich seine Pepsi aus und schloss dann langsam seine Aktentasche. Ganz ungezwungen stand er auf und warf ein paar Rubel auf den Tisch, hoffte, nach außen hin ruhig zu wirken, doch auf dem Weg nach draußen sah er in der Glastür, wie das Spiegelbild des Mannes ebenfalls aufstand und in seine Richtung ging.

Er riss die Schiebetür auf, trat schnell aus dem Speisewagen und schob die Tür wieder zu. Als er den nächsten Waggon betrat, sah er, dass der Mann ihm zielstrebig folgte.

Mist.

Lord lief weiter und betrat den Waggon, in dem sich sein Abteil befand. Mit einem raschen Blick zurück durch die Glastür vergewisserte er sich, dass sein Verfolger gerade den Waggon dahinter betrat.

Er schob die Tür zu seinem Abteil auf.

Zenow war nicht da. Vielleicht war sein Leibwächter ja gerade auf der Toilette? Er schloss die Tür wieder und lief durch den schmalen Gang, der am Ende des Waggons bei den Einstiegstüren abknickte. Die Tür zur Toilette war geschlossen, aber es war kein BESETZT-Zeichen zu sehen.

Er öffnete die Tür.

Leer.

Wo zum Teufel war Zenow?

Bevor er die Toilette betrat, riss er noch schnell die Tür zum Nachbarwaggon auf, um den Eindruck zu erwecken, jemand sei gerade ins nächste Abteil gegangen. Dann zog er die Toilettentür zu, verschloss sie aber nicht, so dass außen kein BESETZT erschien.

Reglos lehnte er sich gegen die Edelstahltür. Er atmete heftig, sein Herz pochte. Als sich Schritte näherten, bereitete er sich innerlich schon darauf vor, notfalls seine Aktentasche als Schlagwaffe zu benutzen. Von der anderen Seite der Toilettentür hörte er, wie die Schiebetür des Schlafwagens sich mit einem dumpfen, kratzenden Geräusch öffnete.

Eine Sekunde später wurde sie wieder geschlossen.

Er wartete eine ganze Minute.

Als er immer noch nichts hörte, öffnete er die Toilettentür einen Spalt weit. Im Vorraum war niemand. Er zog die Tür wieder zu und verschloss sie. Nun war er schon das zweite Mal in zwei Tagen erfolgreich um sein Leben gerannt. Er legte seine Aktentasche auf die Toilettenschüssel und spülte sich im Waschbecken den Schweiß aus dem Gesicht. Auf dem Abfluss stand eine Dose Desinfektionsmittel. Mit Hilfe des Sprays reinigte er das Seifenstück und wusch sich dann Hände und Gesicht – immer darauf bedacht, kein Wasser zu schlucken, weil es einem Schild in kyrillischer Schrift zufolge nicht trinkbar war. Mit seinem Taschentuch trocknete er sich dann das Gesicht ab. Papierhandtücher gab es nicht.

Er starrte sein Spiegelbild an.

Seine braunen Augen waren müde, die kantigen Gesichtszüge verzerrt, und sein Haar brauchte dringend einen neuen Schnitt. Was lief hier ab? Und wo war Zenow? Schöner Leibwächter. Er spritzte sich noch mehr Wasser ins Gesicht und spülte den Mund aus, wobei er weiter darauf achtete, nichts zu schlucken. Schon seltsam, dachte er. Eine Supermacht, die in der Lage ist, die Welt tausendmal in die Luft zu jagen, schafft es nicht, den Fahrgästen in ihren Zügen Trinkwasser zur Verfügung zu stellen.

Er versuchte, sich zu beruhigen. Durch ein ovales Fenster raste die Nacht an ihm vorbei. Ein entgegenkommender Zug rauschte vorüber. Minutenlang, so kam es ihm vor.

Lord holte tief Luft, griff nach seiner Aktentasche und öffnete die Tür.

Der Weg war blockiert von einem großen, kräftigen Mann mit pockennarbigem Gesicht, der sein glänzend schwarzes Haar hinten in einem Pferdeschwanz zusammengefasst hatte. Als Lord ihn anstarrte, fiel ihm sofort der große Zwischenraum zwischen dem rechten Auge und der Braue auf.

Hängelid!

Eine Faust landete in Lords Magengrube.

Er sackte zusammen. Die Luft blieb ihm weg, und Übelkeit überkam ihn. Die Wucht des Schlages schleuderte ihn gegen die Außenwand, und sein Kopf schlug so hart gegen das Fenster, dass ihm fast schwarz vor Augen wurde.

Lord sank auf den Toilettensitz.

Hängelid trat in die Toilette und schloss die Tür. »Jetzt, Mr. Lord, wir machen Finish.«

Er hatte noch immer die Aktentasche in der Hand. Ganz kurz spielte er mit dem Gedanken, sie hochzureißen, aber in diesem engen Raum fehlte ihm der Platz, um richtig Schwung zu holen. Seine Lungen füllten sich wieder mit Luft, und an die Stelle des Schocks trat nackte Angst. Pures Entsetzen.

In Hängelids Hand öffnete sich ein Schnappmesser.

Lord blieb nur noch ein kurzer Augenblick.

Das Desinfektionsmittel. Er griff sich die Dose und zielte damit seinem Angreifer voll ins Gesicht. Als ihm der brennende Sprühnebel in die Augen drang, schrie der Mann auf. Lord trat ihm mit dem rechten Knie in die Leistengegend. Hängelid krümmte sich vor Schmerz und ließ das Messer auf den gefliesten Boden fallen. Mit beiden Händen schlug Lord dem Mann seine Aktentasche auf den Schädel, und Hängelid kippte nach vorn.

Lord schlug noch einmal zu. Und noch einmal.

Dann sprang er über seinen Gegner, öffnete die Metalltür und stürzte in den Korridor. Dort wartete schon Cro-Magnon auf ihn – dieselbe fliehende Stirn, dasselbe buschige Haar und dieselbe Knollennase wie vor zwei Tagen.

»In Eile, Mr. Lord?«

Er trat dem Russen mit solcher Wucht gegen das linke Knie, dass der Mann zu Boden ging. Rechts von ihm kochte in einem silbernen Samowar gerade das Wasser. Daneben stand eine Glaskaraffe bereit für Fahrgäste, denen nicht nach Tee, sondern nach einem nächtlichen Kaffee zumute war. Er schüttete die siedende Flüssigkeit über Cro-Magnon aus.

Der Mann brüllte vor Schmerz.

Lord wirbelte herum und schoss auf den Ausgang neben der Toilette zu, hörte, wie Hängelid sich aufrappelte und Cro-Magnon etwas zurief.

Er rannte aus dem Schlafwagen in den nächsten Waggon und hastete so schnell es ging durch den engen Flur. Vielleicht tauchte ja ein Schaffner auf oder sonst jemand. Noch immer seine Aktentasche fest in der Hand haltend, betrat Lord gerade den nächsten Waggon, als er die Tür am hinteren Ende aufgehen hörte und seine beiden Verfolger sah.

Er rannte weiter, dann machte er sich klar, dass das sinnlos war. Früher oder später würden ihm die Waggons ausgehen.

Er warf einen Blick zurück. Weil der Zug gerade durch eine Kurve fuhr, konnten seine beiden Verfolger ihn nicht sehen. Vor ihm lagen weitere Schlafwagenabteile. Lord ging davon aus, dass er sich noch immer in der ersten Klasse befand. Er musste sich unbedingt in einem dieser Abteile verstecken, und sei es auch nur so lange, bis seine Verfolger vorbei waren. Vielleicht konnte er dann zurücklaufen und Zenow suchen.

Er versuchte es an der erstbesten Tür.

Verschlossen.

Die nächste auch.

Sie mussten jeden Augenblick kommen.

Er packte einen Türgriff und schaute sich um. Schatten näher kommender Gestalten verdunkelten den Flur im nächsten Waggon. Als schon die Schulter eines Mannes in Sicht kam, riss er am Türgriff.

Die Tür ging auf, er glitt hinein und schob die Tür wieder zu.

»Wer sind Sie denn?«, fragte eine weibliche Stimme auf Russisch.

Er wirbelte herum.

Keinen Meter von ihm entfernt saß eine Frau auf ihrem Bett. Sie war schlank wie eine Eiskunstläuferin und hatte schulterlanges blondes Haar. Er betrachtete ihr ovales Gesicht, ihre milchig weiße Haut und ihre Stupsnase. Sie stellte eine merkwürdige Mischung aus mädchenhafter Wildheit und Weiblichkeit dar, und ihre blauen Augen wirkten kein bisschen verängstigt.

»Keine Angst«, sagte er auf Russisch. »Mein Name ist Miles Lord, und ich habe ein ziemliches Problem.«

»Das erklärt noch lange nicht, warum Sie so einfach in mein Abteil platzen.«

»Zwei Männer sind hinter mir her.«

Sie stand auf und trat zu ihm. Die Frau reichte ihm gerade bis zu den Schultern; sie hatte dunkle Jeans an, die wirkten, als seien sie maßgeschneidert. Über einem blauen Rollkragenpulli trug sie eine körperbetont geschnittene Jacke mit Schulterpolstern, und sie verströmte einen dezenten Duft nach Parfüm.

»Sind Sie von der Mafija

Er schüttelte den Kopf. »Ich nicht, aber vielleicht die beiden Typen, die mich verfolgen. Vor zwei Tagen haben sie einen Mann getötet, und mich wollten sie auch umbringen.«

»Lassen Sie mich mal vorbei«, sagte sie.

Er trat zum einzigen Fenster des Abteils, bevor sie die Tür öffnete, einen beiläufigen Blick nach draußen warf und die Tür wieder schloss.

»Da sind drei Männer am hinteren Ende des Waggons.«

»Drei?«

»Ja. Einer hat einen schwarzen Pferdeschwanz, der zweite ein ziemlich derbes Gesicht mit einer breiten Nase, wie ein Tatar.«

Hängelid und Cro-Magnon.

»Der dritte ist muskulös. Stiernacken. Blondes Haar.«

Das klang nach Zenow. Lord spielte in Sekundenbruchteilen alle Möglichkeiten durch. »Unterhalten sie sich?«

Sie nickte. »Außerdem klopfen sie an die Abteiltüren. Sie kommen auf uns zu.«

Lords Angst stand ihm offenbar ins Gesicht geschrieben. Die Frau deutete auf den Verschlag über der Tür. »Klettern Sie da hoch und verhalten Sie sich ruhig.«

Die Nische war groß genug für zwei größere Gepäckstücke und mehr als ausreichend für Lord, wenn er sich in Embryonalstellung zusammenkauerte. Er sprang auf eines der Betten und zog sich hoch. Sie reichte ihm seine Aktentasche. Kaum war er drin, klopfte es auch schon an der Tür.

Sie wartete einen Augenblick und öffnete.

»Wir suchen nach einem Schwarzen mit Anzug und Aktentasche.« Zenows Stimme.

»So einer ist mir nicht begegnet«, erklärte sie.

»Lügen Sie uns nicht an«, entgegnete Cro-Magnon. »Wir lassen uns nicht verarschen. Also, haben Sie ihn gesehen?«, fügte er in barschem Tonfall hinzu.

»Ich habe keinen solchen Mann gesehen. Lassen Sie mich in Ruhe.«

»Ihr Gesicht kommt mir bekannt vor«, meinte Hängelid.

»Ich bin Akilina Petrowa vom Moskauer Staatszirkus.«

Pause.

»Genau, das ist es. Ich habe Sie schon mal auftreten sehen.«

»Wie schön für Sie. Vielleicht sollten Sie Ihre Suche woanders fortsetzen. Ich brauche meinen Schlaf. Ich habe heute Abend eine Vorstellung.«

Dann knallte sie die Tür zu.

Lord hörte, wie sie sie verschloss.

Und zum dritten Mal in zwei Tagen stieß er einen tiefen Seufzer der Erleichterung aus.

 

Er wartete eine volle Minute, bevor er wieder herunterkletterte. Auf seiner Brust stand kalter Schweiß. Seine Gastgeberin setzte sich auf das Bett gegenüber.

»Warum wollen diese Männer Sie umbringen?« Ihr sanfter Tonfall klang noch immer kein bisschen besorgt.

»Keine Ahnung. Ich bin amerikanischer Anwalt und arbeite hier für die Zarenkommission. Bis vor zwei Tagen dachte ich noch, außer meinem Chef wisse hier keiner, dass es mich überhaupt gibt.«

Er setzte sich ihr gegenüber. Das Adrenalin ging allmählich zurück und wich einem Zittern, das jeden Muskel in seinem Körper zu erfassen schien. »Einer dieser Männer – der Erste, der mit ihnen gesprochen hat – sollte eigentlich mein Leibwächter sein. Aber anscheinend ist er nicht ganz das, was ich von ihm dachte.«

Ihr Gesicht legte sich in Falten. »Ich würde Ihnen nicht unbedingt empfehlen, ihn um Hilfe zu bitten. Die drei haben auf mich den Eindruck gemacht, als steckten sie unter einer Decke.«

»Kommt das in Russland häufiger vor?«, fragte er. »Ich meine, dass fremde Männer sich in Ihr Abteil flüchten und Gangster an Ihre Tür klopfen? Sie scheinen kein bisschen Angst zu haben.«

»Sollte ich das?«

»Das wollte ich damit nicht sagen. Ich bin wirklich harmlos. Aber in Amerika würde man das wohl als gefährliche Situation einstufen.«

Sie zuckte die Achseln. »Gefährlich kommen Sie mir eigentlich nicht vor. Ich musste eher an meine Großmutter denken, als ich Sie sah.«

Er wartete auf die Erklärung.

»Meine Großmutter ist in der Zeit von Chruschtschow und Breschnew groß geworden. Die Amerikaner hatten damals Spione ins Land geschleust, die den Boden auf Radioaktivität überprüfen sollten; sie wollten herausfinden, wo die Raketensilos versteckt sind. Alle wurden vor diesen Spionen gewarnt; sie seien gefährlich, hieß es, und jeder sollte nach ihnen Ausschau halten. Einmal sah meine Großmutter im Wald dann einen Fremden, der Pilze sammelte. Er war wie ein Bauer gekleidet und trug einen Weidenkorb wie alle Pilzsammler. Sie ging völlig furchtlos auf ihn zu und sagte: ›Hallo, Spion.‹ Er starrte sie schockiert an und versuchte gar nicht erst, ihre Anschuldigung abzustreiten. Stattdessen klagte er: ›Jetzt habe ich so viele Schulungen hinter mir und alles über Russland gelernt, was ich nur lernen konnte. Woher wussten Sie, dass ich ein Spion bin?‹ ›Ganz einfach‹, erklärte meine Großmutter. ›Ich lebe hier schon ein ganzes Leben, und Sie sind der erste Schwarze, dem ich je in diesen Wäldern begegnet bin.‹ Dasselbe gilt auch für Sie, Miles Lord. Sie sind der erste Schwarze, dem ich je in diesem Zug begegnet bin.«

Er lächelte. »Ihre Großmutter scheint ja eine praktisch denkende Frau gewesen zu sein.«

»Allerdings. Bis die Kommunisten sie eines Tages abgeholt haben. Irgendwie muss diese Frau wohl eine Bedrohung für diese Weltmacht dargestellt haben.«

Er hatte gelesen, dass Stalin im Namen des Vaterlands zwanzig Millionen Menschen hatte umbringen lassen, und die Parteisekretäre und russischen Präsidenten nach ihm waren auch keine Waisenkinder gewesen. Wie hatte Lenin es noch einmal formuliert? Besser hundert Unschuldige verhaften als riskieren, dass auch nur ein einziger Regimefeind frei herumläuft.

»Das tut mir Leid.«

»Warum sollte es Ihnen Leid tun?«

»Ich weiß auch nicht. Das sagt man halt in einer solchen Situation so. Was hätte ich denn Ihrer Ansicht nach sagen sollen? Zu schade, dass Ihre Großmutter von einem Haufen von Fanatikern abgeschlachtet wurde?«

»Ja, genau das waren sie.«

»Haben Sie mich deswegen versteckt?«

Sie zuckte die Achseln. »Ich hasse die Regierung genauso wie die Mafija. Das ist doch alles ein und dasselbe.«

»Glauben Sie, diese Männer waren von der Mafija

»Zweifellos.«

»Ich muss einen Schaffner auftreiben und mit dem Zugführer sprechen.«

Sie lächelte. »Das wäre keine gute Idee. In diesem Land ist jeder käuflich. Falls diese Männer hinter Ihnen her sind, kaufen sie alle in diesem Zug.«

Sie hatte Recht. Die Polizei war kaum besser als die Mafija. Er musste an diesen Inspektor Oleg denken. Er hatte dem untersetzten Russen vom ersten Augenblick an nicht über den Weg getraut. »Und was würden Sie vorschlagen?«

»Ich habe keine Vorschläge. Sie sind doch der Anwalt für die Zarenkommission. Denken Sie sich was aus.«

Er bemerkte ihre Reisetasche auf dem Bett mit dem aufgestickten Emblem MOSKAUER STAATSZIRKUS. »Sie haben denen erzählt, dass Sie im Zirkus auftreten. Ist das wahr?«

»Natürlich.«

»Und was machen Sie da?«

»Raten Sie mal. Was glauben Sie denn?«

»Mit Ihrer geringen Körpergröße wären Sie die ideale Akrobatin.« Er betrachtete ihre dunklen Sportschuhe. »Ihre Füße sind schmal und kompakt, Ihre Zehen vermutlich lang. Ihre Arme kurz, aber muskulös. Ich bleibe bei Akrobatin – vielleicht Seiltänzerin?«

Sie lächelte. »Nicht schlecht. Haben Sie mich schon mal auftreten sehen?«

»Ich war schon seit vielen Jahren nicht mehr im Zirkus.«

Er fragte sich, wie alt sie sein mochte, und schätzte sie auf Ende zwanzig, Anfang dreißig.

»Wie kommt es, dass Sie unsere Sprache so gut beherrschen?«, fragte sie.

»Ich habe fünf Jahre Russisch studiert.« Dann dachte er wieder an seine derzeitige Situation. »Ich muss hier verschwinden und Sie aus der Sache heraushalten. Sie haben schon mehr für mich getan, als ich erwarten durfte.«

»Wo wollen Sie denn hin?«

»Ich suche mir irgendwo ein leeres Abteil und versuche dann morgen früh, unbemerkt aus dem Zug zu kommen.«

»Machen Sie sich nichts vor. Diese Typen werden Sie die ganze Nacht über suchen. Nur hier sind Sie sicher.«

Sie stieß ihre Reisetasche auf den Boden, um Lord den zweiten Liegeplatz frei zu machen, und streckte sich auf ihrem Bett aus. Dann schaltete sie das Licht über ihrem Kopfkissen aus. »Legen Sie sich schlafen, Miles Lord. Hier sind Sie sicher. Die kommen nicht zurück.«

Er war zu müde, um mit ihr zu diskutieren, und außerdem hatte sie Recht. Also lockerte er seine Krawatte, zog sein Jackett aus, legte sich auf sein Bett und tat, was sie ihm geraten hatte.

 

Lord öffnete die Augen.

Noch immer hörte er unter sich das Rattern der Räder auf den Schienen. Er schaute auf das Leuchtzifferblatt seiner Armbanduhr. Fünf Uhr zwanzig. Er hatte fast fünf Stunden geschlafen.

Ausgerechnet von seinem Vater hatte er geträumt. Von der Predigt vom Verlorenen Sohn, die er so oft gehört hatte. Grover Lord hatte immer gern Politik und Religion miteinander vermischt; Kommunisten und Atheisten waren seine Lieblingsfeinde gewesen und sein ältester Sohn das Paradebeispiel, das er den Gläubigen bei jeder Gelegenheit vor Augen hielt. So etwas kam bei Südstaatengemeinden immer gut an, und der Reverend hatte ein Talent dafür, erst Angst zu säen, um dann den Sammelteller herumgehen zu lassen und 80 Prozent in die eigene Tasche zu stecken, bevor er in die nächste Stadt weiterzog.

Seine Mutter hatte den Drecksack bis zum bitteren Ende verteidigt und sich schlicht geweigert zu glauben, was sie eigentlich hätte wissen müssen. Ihm, dem ältesten Sohn, war die Aufgabe zugefallen, den Leichnam seines Vaters aus einem Motel in Alabama abzuholen. Die Frau, mit der er die Nacht verbracht hatte, war ziemlich hysterisch geworden, als sie nackt neben dem Leichnam von Reverend Grover Lord aufgewacht war. Man hatte sie rasch weggebracht. Erst später hatte er herausgefunden, was er schon lange vermutet hatte – dass er zwei Halbbrüder hatte, die der gottesfürchtige Reverend schon seit Jahren aus dem Erlös seiner Kollekten finanzierte. Warum ihm die fünf Kinder zu Hause nicht genügt hatten, wussten wohl nur Gott und Grover Lord. Offensichtlich hatten seine Predigten gegen die Unzucht und die Sünden des Fleisches bei ihm selbst keine bleibenden Spuren hinterlassen.

Etwas unschlüssig sah er sich in dem verdunkelten Abteil um. Akilina Petrowa schlummerte sanft unter einer weißen Bettdecke. Ihre regelmäßigen Atemzüge waren beim monotonen Geratter des Zuges kaum zu hören. In eine üble Sache war er da hineingeraten, und obwohl in den nächsten Tagen geschichtsträchtige Ereignisse stattfinden würden, musste er schnellstmöglich Russland verlassen. Gott sei Dank hatte er seinen Reisepass dabei. Morgen würde er den ersten Flug nach Atlanta nehmen. Noch aber lag er hier in einem schwankenden Abteil im Dunkeln, und das regelmäßige Klack-Klack-Klack der Räder auf den Schienen trug seinen Teil dazu bei, ihn wieder in den Schlaf zu lullen.

15

Freitag, 15. Oktober

 

»Miles Lord.«

Als er die Augen öffnete, sah Akilina Petrowa aufmerksam zu ihm herunter.

»Wir sind bald in Moskau.«

»Wie spät ist es?«

»Kurz nach sieben.«

Er schlug die Decke zurück und setzte sich auf. Akilina saß einen Meter entfernt auf dem Rand ihres Betts. Lords Mund fühlte sich an, als hätte er mit Klebstoff gegurgelt. Er hätte sich gerne rasiert und geduscht, doch dazu blieb keine Zeit. Außerdem musste er zu Taylor Hayes Kontakt aufnehmen, aber das würde nicht einfach sein. Ganz und gar nicht einfach. Und seine Gastgeberin schien das zu wissen.

»Diese Männer werden auf dem Bahnhof auf Sie warten.«

Er leckte sich den Belag von den Zähnen. »Das ist mir klar.«

»Es gibt einen Ausweg.«

»Und welchen?«

»Wenn wir in ein paar Minuten über den Gartenring fahren, muss der Zug stark abbremsen. Dahinter gilt eine Geschwindigkeitsbeschränkung. Als ich noch ein Kind war, sind wir immer auf- und abgesprungen, wenn der Petersburg-Express kam. Das war der schnellste Weg ins Zentrum und zurück.«

Auch wenn ihn die Vorstellung, von einem fahrenden Zug zu springen, nicht übermäßig begeisterte, hatte er auf ein Wiedersehen mit Hängelid und Cro-Magnon noch weniger Lust.

Der Zug wurde langsamer.

»Sehen Sie?«, sagte sie.

»Wissen Sie, wo wir uns befinden?«

Sie schaute aus dem Fenster. »Etwa zwanzig Kilometer vor dem Bahnhof. Ich würde vorschlagen, dass Sie jetzt schleunigst verschwinden.«

Er griff nach seiner Aktentasche und ließ die Schlösser aufschnappen. Viel war nicht drin – nur die paar Kopien von dem, was er in den Archiven von Moskau und St. Petersburg gefunden hatte, sowie einige weitere, weniger wichtige Papiere. Er faltete alle Blätter zusammen und stopfte sie in sein Jackett. Dann tastete er nach seinem Pass und der Brieftasche. Beides steckte noch immer in seinen Taschen. »Diese Aktentasche wäre nur im Weg.«

Sie nahm ihm die Ledertasche ab. »Ich hebe sie für Sie auf. Wenn Sie sie wiederhaben wollen, kommen Sie einfach in den Zirkus.«

Er lächelte. »Danke. Vielleicht tue ich das.« Aber irgendwann später einmal, dachte er. Gewiss nicht während dieser Reise.

Er stand auf und zog sein Jackett an.

Sie ging zur Tür. »Ich sehe mal im Korridor nach, ob die Luft rein ist.«

Er umfasste sanft ihren Arm. »Danke für alles.«

»Keine Ursache, Mr. Lord. Ohne Sie wäre die Fahrt viel langweiliger gewesen.«

Sie standen dicht beieinander, und derselbe blumige Duft wie in der Nacht stieg ihm in die Nase. Akilina Petrowa war durchaus attraktiv, auch wenn man ihrem Gesicht ansehen konnte, dass sie es nicht immer leicht gehabt hatte. Die sowjetische Propaganda hatte einst behauptet, die kommunistischen Frauen seien die freiesten der Welt. Keine Fabrik funktionierte ohne sie, und der Dienstleistungssektor bräche ohne ihren Beitrag glatt zusammen. Doch sie alterten rasch. Schon seit langem bewunderte Lord die Schönheit junger russischer Frauen, bedauerte aber zugleich die unvermeidlichen Spuren, die ihr hartes Leben früher oder später bei ihnen hinterließ, und er fragte sich, wie diese schöne Frau wohl in zwanzig Jahren aussehen würde.

Er trat einen Schritt zurück, als sie die Tür des Abteils öffnete und hinausging.

Kurz darauf öffnete sich die Tür erneut.

»Kommen Sie«, forderte sie ihn auf.

Der Korridor war in beiden Richtungen leer. Sie befanden sich bereits im hinteren Teil des langen Waggons. Links, hinter einem weiteren dampfenden Samowar, ging eine Tür nach draußen. Durch das Fenster raste die triste Wirklichkeit Moskaus vorbei. Anders als in amerikanischen oder westeuropäischen Zügen war die Tür während der Fahrt nicht verschlossen.

Akilina drückte den Griff herunter und zog die Stahltür nach innen auf. Das Rattern der Räder auf den Schienen wurde lauter.

»Viel Glück, Mr. Lord«, sagte sie, als er an ihr vorbeiging.

Er schaute ein letztes Mal in ihre blauen Augen und sprang. Im nächsten Augenblick traf er auf dem kalten, harten Boden auf und rollte sich ab.

Der letzte Waggon fuhr an ihm vorbei, und er stand in der gespenstischen Stille, während der Zug weiter nach Süden rollte.

In einem von Unkraut überwucherten Grundstück zwischen schäbigen Wohnblocks war er gelandet, und darüber konnte er froh sein. Wäre er etwas später abgesprungen, hätte ihn nur noch harter Beton erwartet. Von der Straße hinter den Gebäuden drang der morgendliche Verkehrslärm zu ihm, und ein stechender Geruch nach Auspuffgasen stieg ihm in die Nase.

Er stand auf und klopfte sich die Kleider ab. Wieder ein Anzug hinüber. Aber was soll’s, sagte er sich – er würde dieses Land ja heute verlassen.

Auf der Suche nach einem Telefon näherte er sich einer Straße. Die Geschäfte öffneten gerade, Busse entließen ihre Fahrgäste und stießen beim Weiterfahren schwarze Rußwolken aus. Jenseits der Straße sah er zwei Milizionäre in ihren blaugrauen Uniformen. Anders als Hängelid und Cro-Magnon trugen sie die richtigen grauen Mützen mit rotem Rand. Er beschloss, ihnen aus dem Weg zu gehen.

Schon nach wenigen Metern fand er ein Lebensmittelgeschäft und trat ein. Der Mann vor den Regalen war hager und alt. »Haben Sie ein Telefon, das ich mal kurz benutzen kann?«, fragte Lord auf Russisch.

Der Mann warf ihm einen ernsten Blick zu, antwortete aber nicht. Lord griff in die Tasche und zog zehn Rubel heraus. Der Mann nahm das Geld und deutete auf den Ladentisch. Lord wählte das Wolchow und bat die Frau in der Vermittlung des Hotels, ihn mit Taylor Hayes’ Zimmer zu verbinden. Das Telefon läutete ein gutes Dutzend Mal. Als sich die Frau in der Vermittlung wieder meldete, bat Lord sie, es im Restaurant zu versuchen. Zwei Minuten später war Hayes am Apparat.

»Miles, wo zum Teufel stecken Sie denn?«

»Taylor, wir haben ein ziemliches Problem.«

Er erzählte Hayes, was geschehen war. Ein paarmal schaute er zu dem Mann hinüber, der sich an seinen Regalen zu schaffen machte, und fragte sich, ob er wohl Englisch verstand, doch der Verkehrslärm, der von draußen hereindrang, machte das Gesagte ohnehin schwer verständlich.

»Sie sind hinter mir her, Taylor. Nicht hinter Bely oder sonst wem. Hinter mir.«

»Schon gut, beruhigen Sie sich.«

»Beruhigen? Dieser Leibwächter, den Sie mir vermittelt haben, steckt mit ihnen unter einer Decke.«

»Wie meinen Sie das?«

»Er hat nach mir gesucht, zusammen mit den beiden anderen.«

»Ich verstehe …«

»Nein, nichts verstehen Sie, Taylor. Solange Sie noch nie von russischen Gangstern gejagt worden sind, verstehen Sie gar nichts.«

»Miles, jetzt hören Sie mir mal zu. Mit Panik kommen Sie jetzt auch nicht weiter. Gehen Sie einfach zur nächsten Polizeidienststelle.«

»Kommt nicht in Frage. Ich traue keinem mehr in diesem Dreckloch. Dieses ganze verdammte Land ist doch von der Mafija bestochen. Sie müssen mir helfen, Taylor. Sie sind der Einzige, dem ich noch trauen kann.«

»Wozu sind Sie überhaupt nach St. Petersburg gefahren? Ich hatte Ihnen doch geraten, sich nicht zu viel in der Öffentlichkeit zu zeigen.«

Er erklärte, was Semjon Paschkow ihm erzählt hatte. »Und er hatte Recht. Ich habe tatsächlich etwas gefunden.«

»Und das könnte Baklanows Anspruch auf den Thron gefährden?«

»Schon möglich.«

»Wollen Sie damit sagen, dass Lenin der Meinung war, einige Mitglieder der Zarenfamilie könnten das Massaker in Jekaterinburg überlebt haben?«

»Er hat sich auf jeden Fall sehr für das Thema interessiert. Es gibt mehr schriftliche Andeutungen in dieser Richtung, als man glauben möchte.«

»Verdammter Mist. Das hat uns gerade noch gefehlt.«

»Hören Sie, wahrscheinlich ist an der Sache gar nichts dran. Seit der Ermordung von Nikolaus II. sind schließlich fast hundert Jahre vergangen. Wenn es da jemanden gäbe, wäre er doch längst aufgetaucht.« Als er den Namen des Zaren erwähnte, schaute der Verkäufer zu ihm auf. Leiser sprach Lord weiter. »Aber das ist jetzt nicht meine größte Sorge. Erst mal will ich lebend hier rauskommen.«

»Wo sind die Papiere?«

»Die habe ich bei mir.«

»Okay. Gehen Sie zur nächsten U-Bahn-Station und fahren Sie zum Roten Platz. Lenin-Mausoleum.«

»Wieso nicht ins Hotel?«

»Könnte unter Beobachtung stehen. Wir bleiben lieber in der Öffentlichkeit. Das Mausoleum macht in Kürze auf. Auf dem ganzen Platz stehen bewaffnete Wachen. Da sind Sie sicher. Die können ja nicht alle von der Mafija bestochen sein.«

Lord wurde allmählich paranoid. Aber Hayes hatte Recht. Er sollte auf ihn hören.

»Warten Sie vor dem Mausoleum. Ich komme und bringe Hilfe. Haben Sie mich verstanden?«

»Ja, aber beeilen Sie sich.«

16

8.30 Uhr

 

An einem Bahnhof im Norden der Stadt nahm Lord die Metro. In dem hoffnungslos überfüllten Zug stand er zwischen stinkenden Pendlern eingequetscht und hatte das Gefühl zu ersticken. An eine Eisenstange geklammert, spürte er das Rattern der Räder auf den Schienen. Zumindest kam ihm keiner der Fahrgäste irgendwie bedrohlich vor. Alle wirkten wachsam wie er selbst.

Am Historischen Museum stieg er aus, überquerte eine viel befahrene Straße und schritt durch das Auferstehungstor, hinter dem der Rote Platz lag. Er bestaunte das erst in jüngerer Zeit wieder aufgebaute Tor, dessen Original aus dem siebzehnten Jahrhundert mit seinen weißen Türmen und Bögen aus rotem Backstein Stalins Zerstörungswut zum Opfer gefallen war.

Immer wieder wunderte er sich, wie kompakt der Rote Platz doch war. In den Fernsehübertragungen der Kommunisten hatte die gepflasterte Fläche immer endlos gewirkt, obwohl sie in Wirklichkeit nicht viel länger war als ein Fußballfeld und nicht einmal halb so breit. Die imposanten roten Backsteinmauern des Kreml erhoben sich auf der Südwestseite. Nordöstlich vom Kreml stand das Kaufhaus GUM – ein wuchtiger Barockbau, der eher an einen Bahnhof aus dem 19. Jahrhundert erinnerte denn an eine Bastion des Kapitalismus. Die Nordwestseite des Platzes wurde vom Historischen Museum mit seinem weißen Ziegeldach beherrscht. Ein doppelköpfiger Romanow-Adler zierte nun das Dach des Gebäudes, nachdem der Rote Stern mit dem kommunistischen Regime verschwunden war. Im Südosten stand die Basiliuskathedrale mit ihren bunten Zwiebeltürmchen. Mit ihrer Farbenpracht, die, von Flutlichtern angestrahlt, in der Dunkelheit der Moskauer Nächte eindrucksvoll zur Geltung kam, war sie das bekannteste Wahrzeichen Moskaus.

Eiserne Absperrungen zu beiden Seiten des Platzes hielten Fußgänger vom Betreten ab. Lord wusste, dass der Bereich bis zur Schließung des Lenin-Mausoleums um 13 Uhr abgesperrt blieb.

Und er sah, dass Hayes Recht hatte.

Um das kastenförmige Mausoleum herum standen mindestens zwei Dutzend Milizionäre. Vor dem Granitbau hatte sich bereits eine kleine Besucherschlange gebildet. Das Gebäude stand auf dem höchsten Punkt des Platzes unmittelbar vor der Kremlmauer, zu beiden Seiten abgeschirmt durch eine Reihe von Weißtannen.

Er umging die Absperrung und folgte einer Touristengruppe zum Mausoleum. Zum besseren Schutz vor der Kälte knöpfte er sein Jackett zu. Nur zu gern hätte er seinen Wollmantel dabei gehabt, doch der war im Abteil des »Roten Pfeils« geblieben, das er für kurze Zeit mit Ilja Zenow geteilt hatte. Im Glockenturm über der Kremlmauer läuteten die Glocken. Überall wuselten mit Kameras behängte Touristen in weiten Daunenjacken herum. Die leuchtenden Farben ihrer Kleidung machten sie leicht erkennbar. Die meisten Russen dagegen schienen Schwarz, Grau, Braun und Marineblau zu bevorzugen. Auch Handschuhe verrieten die Ausländer, denn wahre Russen verzichteten auch im tiefsten Winter auf sie.

Unauffällig folgte er der Touristengruppe zur Vorderseite des Mausoleums. Einer der Milizionäre trat auf ihn zu, ein blasser junger Mann in einem olivgrünen Mantel und blauer Pelzmütze. Er trug keine Waffe; seine Funktion war offenbar rein repräsentativer Natur. Zu dumm.

»Wollen Sie die Grabstätte besuchen?«, fragte der Wachposten auf Russisch.

Lord verstand ihn sehr wohl, beschloss jedoch, sich dumm zu stellen. Er schüttelte den Kopf. »Nix Russisch. Englisch?«

Das Gesicht des Wachpostens blieb wie versteinert. »Passport«, sagte er schließlich knapp.

Das Letzte, was Lord jetzt gebrauchen konnte, war Aufmerksamkeit. Er blickte sich rasch um in der Hoffnung, dass jeden Augenblick Taylor Hayes oder sonst jemand auf ihn zutreten würde.

»Passport«, wiederholte der Wachposten.

Ein zweiter Wächter kam auf ihn zu.

Er griff in die Tasche und fand den Pass. Der blaue Deckel wies ihn auf den ersten Blick als Amerikaner aus. Er wollte ihn dem Wachposten reichen, war aber so nervös, dass ihm das Büchlein aus den Fingern glitt und aufs Pflaster fiel. Als er sich bückte, um es aufzuheben, spürte er, wie etwas an seinem rechten Ohr vorbeizischte und in die Brust des Wachpostens schlug. Er blickte auf und sah, wie sich ein rotes Band aus dem grünen Mantel des Mannes ergoss. Der Posten rang nach Luft, verdrehte die Augen und sackte zu Boden.

Lord wirbelte herum und gewahrte den Scharfschützen auf dem Dach des Kaufhauses GUM, rund hundert Meter von ihm entfernt.

Der Schütze zielte erneut.

Lord steckte rasch seinen Pass ein und hastete die Granitstufen hinauf, während er auf Englisch und Russisch schrie: »Hier wird geschossen. Lauft weg!«

Touristen stoben in alle Richtungen auseinander.

Er ließ sich zu Boden fallen, als eine weitere Kugel vom glatt polierten Stein neben ihm abprallte. Schmerzhaft landete er auf dem schwarzen Granit der Vorhalle von Lenins Grab und rollte sich ins Innere ab, während das nächste Geschoss in den roten Porphyr des Eingangsbereichs einschlug.

Zwei weitere Wachen kamen aus dem Innern des Mausoleums.

»Ein Scharfschütze«, schrie er auf Russisch. »Auf dem Dach des GUM.«

Keiner der beiden war bewaffnet, aber einer zog sich rasch in eine kleine Nische zurück, um zu telefonieren. Lord tastete sich zum Eingang vor. Die Menschen rannten in ihrer Panik kopflos hin und her, dabei waren sie nicht in Gefahr. Er war das Ziel. Der Schütze war noch immer auf dem Dach, halb versteckt zwischen einer Reihe von Scheinwerfern. Plötzlich schoss aus einer Seitenstraße südlich des GUM unmittelbar vor der Basiliuskathedrale ein dunkler Volvo Kombi heraus. Der Wagen kam mit quietschenden Reifen zum Stehen, und zwei Türen flogen auf.

Heraus sprangen Hängelid und Cro-Magnon, die sofort auf das Mausoleum zurannten.

Lord blieb nur ein Fluchtweg, und der führte die Treppe hinab in die Tiefen des Mausoleums. Am unteren Ende der Treppe drängten sich angsterfüllte Menschen zusammen. Er quetschte sich an ihnen vorbei und betrat die Hauptkammer. Dort rannte er an Lenins gläsernem Sarg vorbei, ohne dem wachsartig glänzenden Leichnam mehr als einen flüchtigen Blick zuzuwerfen. Zu beiden Seiten des Sargs standen zwei weitere Wachen. Keiner sagte ein Wort. Er sprang eine glatte Marmortreppe hinauf und verließ das Gebäude durch einen Seitenausgang. Anstatt nach rechts zum Roten Platz wandte er sich nach links.

Ein kurzer Blick machte ihm klar, dass der Scharfschütze ihn bereits gesehen hatte. Er hatte aber keine gute Schussposition und musste deshalb die Stellung wechseln.

Lord befand sich jetzt im baumbestandenen Bereich hinter der gestaffelten Struktur des Mausoleums. Zu seiner Linken führte eine mit einer Kette abgesperrte Treppe nach oben zur Aussichtsplattform, doch die kam für ihn nicht in Frage. Er musste in Deckung bleiben, also rannte er zunächst einmal auf die Kremlmauer zu. Mit einem Blick über die Schulter sah er, wie der Scharfschütze eine neue Position am äußersten Ende der Scheinwerferreihe einnahm. Lord war nun im Bereich hinter dem Mausoleum, wo steinerne Büsten die Gräber von Männern wie Swerdlow, Breschnew, Kalinin und Stalin zierten.

Zwei Schüsse fielen.

Er duckte sich hinter den Stamm einer Weißtanne. Ein Geschoss schwirrte durch die Zweige des Baums und schlug in die Kremlmauer hinter ihm ein, eine zweite Kugel prallte von einem der steinernen Monumente ab. Nach rechts, zum Historischen Museum, konnte er nicht laufen. Zu offen. Lief er nach links, bot das Mausoleum ihm Deckung. Dort aber stellten die beiden Kerle aus dem Volvo ein größeres Problem dar als der Scharfschütze.

Er wandte sich nach links und rannte in gerader Linie den schmalen Weg zwischen den Gräbern der Parteiführer hindurch. In geduckter Haltung lief er, so schnell er konnte, und benutzte dabei die Baumstämme als Deckung.

Als er hinter dem Mausoleum hervorkam, fielen vom Dach des GUM erneut Schüsse. Weitere Kugeln schlugen in die Kremlmauer. War der Mann ein so schlechter Schütze? Wohl kaum, dachte Lord, dem es allmählich dämmerte, dass er nur in die Richtung getrieben werden sollte, in der schon Hängelid und Cro-Magnon auf ihn warteten.

Plötzlich rasten von Süden her drei Streifenwagen mit Blaulicht und Sirenengeheul auf den Roten Platz. Als Hängelid und Cro-Magnon sie sahen, blieben sie stehen. Lord verharrte ebenfalls und zog sich dann in den Schutz eines steinernen Monolithen zurück.

Hängelid und Cro-Magnon sahen zum Dach des GUM. Der Schütze gab ihnen ein Zeichen und verschwand. Sie reagierten sofort auf seine Anweisung und rannten zum Volvo zurück.

Polizeifahrzeuge rasten auf den Platz, und eins durchbrach sogar eine Absperrung. Heraus sprangen uniformierte Milizionäre mit den Waffen im Anschlag. Lord blickte nach links in die Richtung, aus der er gekommen war. Weitere Milizionäre rannten auf dem schmalen Weg parallel zur Kremlmauer auf ihn zu. Über ihren aufgeknöpften Mänteln kondensierte ihr Atem in der kalten, trockenen Luft.

Sie waren bewaffnet.

Für Lord gab es keinen Ausweg mehr.

Er hob die Hände über den Kopf und stand auf.

Der erste Polizist, der ihn erreichte, schlug ihn zu Boden und hielt ihm die Mündung seiner Waffe in den Nacken.

17

11.00 Uhr

 

Lord wurde in einem Streifenwagen vom Roten Platz weggebracht. Sie hatten ihm Handschellen angelegt. Die Polizisten waren alles andere als höflich, und Lord wurde bewusst, dass er sich nicht in den Vereinigten Staaten befand. Er verhielt sich ruhig, nannte auf Englisch seinen Namen und wies sich als amerikanischer Staatsbürger aus. Auf Taylor Hayes aber wartete er vergeblich.

Aus Gesprächsfetzen entnahm er, dass der Wachposten tot war. Zwei seiner Kollegen waren verletzt, einer davon schwer. Der Schütze vom Dach war spurlos verschwunden. Offensichtlich hatte keiner der Wachen oder der Milizionäre den dunklen Volvo Kombi und seine beiden Insassen bemerkt. Lord beschloss, nichts zu sagen, bevor er nicht mit Hayes gesprochen hatte. Nun schien klar, dass die Telefone im Wolchow überwacht wurden. Wie sonst hätte jemand wissen können, wo er war? Das hieß womöglich, dass Leute aus der Regierung hinter der Sache steckten.

Aber Hängelid und Cro-Magnon waren beim Eintreffen der Polizei geflohen.

Er musste unbedingt zu Hayes. Sein Chef würde wissen, was nun zu tun war. Vielleicht konnte ihm ja ein Polizist helfen? Aber er hatte seine Zweifel. Er traute keinem Russen mehr über den Weg.

Unter Sirenengeheul brachte man ihn ohne Umwege ins Polizeihauptquartier. Das moderne, vielstöckige Gebäude lag direkt an der Moskwa, gegenüber dem früheren Russischen Weißen Haus. Lord wurde in den dritten Stock gebracht und durch einen düsteren Korridor mit leeren Stuhlreihen zu einem Büro geführt, in dem ihn Inspektor Felix Oleg begrüßte. Der untersetzte Russe trug denselben dunklen Anzug wie vor drei Tagen, als Lord ihn neben dem blutenden Leichnam von Artemy Bely zum ersten Mal gesehen hatte.

»Mr. Lord. Treten Sie ein. Setzen Sie sich«, sagte Oleg auf Englisch.

Das Büro war ein enger Raum mit schmutzigen Wänden, ausgestattet mit einem schwarzen Metallschreibtisch, einem Aktenschrank und zwei Stühlen. Der Boden war gefliest, die Decke gelb vom Nikotin. Lord sah gleich, warum: Oleg zog intensiv an einer schwarzen türkischen Zigarette. Immerhin hatte der dichte blaue Qualm den Vorteil, dass er den starken Körpergeruch des Inspektors ein wenig überdeckte.

Oleg befahl, Lord die Handschellen abzunehmen. Die Tür wurde geschlossen, und sie waren allein.

»Fesseln hier nicht nötig. Korrekt, Mr. Lord?«

»Warum werde ich wie ein Verbrecher behandelt?«

Oleg saß hinter seinem Schreibtisch auf einem wackligen, quietschenden Eichenstuhl. Seine Krawatte hatte er gelockert, den vergilbten Kragen seines Hemds aufgeknöpft. »Zweimal Sie waren, wo jemand erschossen. Diesmal Polizist.«

»Ich habe niemanden erschossen.«

»Aber Gewalt folgt Ihnen. Warum?«

Er mochte den sturen Inspektor noch weniger als bei ihrer ersten Begegnung. Der Russe hatte wässrige Augen, die er beim Sprechen zusammenkniff. Verachtung sprach aus seinem Gesicht, und Lord fragte sich, was wohl in dem Kerl vorgehen mochte, während er seine eiskalte Fassade präsentierte. Das seltsame Flattern in seiner eigenen Brust gefiel ihm gar nicht. War das Angst?

»Ich möchte telefonieren«, erklärte er.

Oleg paffte an seiner Zigarette. »Mit wem?«

»Das geht Sie gar nichts an.«

Ein dünnes Lächeln, während die Augen ausdruckslos blieben. »Wir nicht in Amerika, Mr. Lord. Keine Rechte für Menschen in Haft.«

»Ich möchte mit der amerikanischen Botschaft telefonieren.«

»Sie Diplomat?«

»Ich arbeite für die Zarenkommission, das wissen Sie doch.«

Ein weiteres irritierendes Lächeln. »Das gibt Ihnen Privileg?«

»Das habe ich nicht gesagt. Aber ich bin mit Erlaubnis Ihrer Regierung in diesem Land.«

Oleg lachte. »Regierung, Mr. Lord? Keine Regierung. Wir warten auf Zar zurückkommen.« Er versuchte gar nicht erst, den Sarkasmus in seinen Worten zu verbergen.

»Ich nehme an, Sie haben dagegen gestimmt?«

Olegs Gesicht wurde ernst. »Nichts annehmen. Ist sicherer so.«

In diesen Worten schwang etwas mit, das Lord gar nicht gefiel. Doch bevor er antworten konnte, schreckte ihn das Klingeln des Telefons auf Olegs Schreibtisch auf. Oleg nahm den Hörer ab, während er mit der anderen Hand weiter an seiner Zigarette herumfingerte. Er antwortete auf Russisch und wies die Person am anderen Ende der Leitung an, den Ruf durchzustellen.

»Was kann ich für Sie tun?«, plärrte Oleg in die Sprechmuschel, noch immer auf Russisch.

Dann hörte Oleg eine Zeit lang nur noch zu.

»Ich habe den Tschorni hier«, erklärte der Inspektor.

Lords Interesse stieg, aber er ließ sich nicht anmerken, dass er verstand, was Oleg sagte. Der Polizist schien sich hinter der Sprachbarriere nach wie vor sicher zu fühlen.

»Ein Wachposten ist tot. Die Männer, die Sie geschickt haben, waren nicht erfolgreich. Er wurde nicht getroffen. Ich habe Ihnen doch gesagt, dass man die Sache besser hätte lösen können …. Da muss ich Ihnen allerdings zustimmen. Ja. Er hat verdammt viel Glück.«

Offenbar war der Anrufer die Ursache des Schlamassels, in dem Lord jetzt steckte. Und er hatte sich in Oleg nicht getäuscht. Dem Kerl war nicht zu trauen.

»Ich behalte ihn hier, bis Ihre Leute eintreffen. Diesmal wird es richtig gemacht. Keine Gangster mehr. Ich töte ihn eigenhändig.«

Lord lief es eiskalt über den Rücken.

»Keine Sorge. Ich behalte ihn persönlich im Auge. Er sitzt mir gerade gegenüber.« Ein Lächeln breitete sich über das Gesicht des Russen aus. »Er versteht kein Wort von dem, was ich sage.«

Nach einer kurzen Pause fuhr Oleg plötzlich hoch. Der Inspektor glotzte Lord an.

»Was?«, stieß Oleg hervor. »Er spricht …«

Lord riss beide Beine hoch und stieß den schweren Schreibtisch mit einem Ruck über den Fliesenboden gegen Olegs Brust. Der Stuhl des Inspektors kippte um und prallte gegen die Wand. Oleg war eingeklemmt. Lord riss die Telefonleitung aus der Buchse und sprang aus dem Zimmer, schlug die Tür zu und rannte durch den leeren Flur zur Treppe. Drei Stufen auf einmal nehmend, raste er ins Erdgeschoss und hinaus auf die Straße.

Sobald er draußen in der kalten Vormittagsluft war, tauchte er in der Menschenmenge auf dem Gehsteig unter.

18

12.30 Uhr

 

Hayes stieg auf den Sperlingsbergen – den ehemaligen Leninbergen – aus dem Taxi und bezahlte den Fahrer. Der mittägliche Himmel war blau wie poliertes Platin, und die Sonne kämpfte wie durch eine Milchglasscheibe gegen den kalten Wind an. Die Moskwa beschrieb unter ihm einen engen Bogen und bildete eine Halbinsel, auf der das Luschniki-Stadion lag. In der Ferne ragten in nordöstlicher Richtung die goldenen und silbernen Zwiebeltürme der Kreml-Kathedralen wie Grabsteine im Nebel aus dem kalten Dunst. In den umliegenden Hügeln hier waren die Pläne Napoleons und Hitlers durchkreuzt worden. Und im Jahr 1917 hatten revolutionäre Gruppen unter den Bäumen dieser Hügel, wo sie sich vor der Geheimpolizei sicher wähnten, heimliche Treffen abgehalten und den Sturz des Zaren geplant. Nun aber schien eine neue Generation gewillt, das Ergebnis ihrer Bemühungen rückgängig zu machen.

Zu Hayes’ Rechter erhob sich über den Bäumen die Moskauer Staatsuniversität, ein überwältigendes Konglomerat von Türmchen, Schnörkeln und üppig dekorierten Seitenflügeln. Einer dieser gewaltigen Hochhausbauten im Zuckerbäckerstil, mit denen Stalin die Welt hatte beeindrucken wollen. Dieses Gebäude war das größte von allen, erbaut von deutschen Kriegsgefangenen. Hayes erinnerte sich an eine Geschichte über einen dieser Gefangenen, von dem es hieß, er habe sich aus Holzresten Flügel gezimmert und versucht, mit ihnen von der Spitze des Gebäudes nach Hause zu fliegen. Wie sein Volk und Führer war auch er gescheitert.

Felix Oleg erwartete ihn auf einer Bank unter Birken. Hayes war immer noch aufgebracht über das, was zwei Stunden zuvor geschehen war, zwang sich aber zur Ruhe. Er befand sich hier nicht in Atlanta. Nicht einmal in Amerika. Er war nur ein Teil eines großen Teams, wenn auch leider im Augenblick der entscheidende Mann.

Er setzte sich auf die Bank und fragte auf Russisch: »Haben Sie Lord gefunden?«

»Noch nicht. Hat er nicht angerufen?«

»Würden Sie das an seiner Stelle tun? Offensichtlich traut er inzwischen auch mir nicht mehr. Überlegen Sie doch mal – ich erzähle ihm, dass ich da sein werde, um ihm zu helfen, und dann tauchen zwei Killer auf. Wir wollten doch das Problem eliminieren – jetzt aber streift dieses Problem in Moskau umher.«

»Wieso ist es so wichtig, diesen einen Mann aus dem Weg zu räumen? Wir verschwenden damit nur unsere Energie.«

»Das haben weder Sie noch ich zu beurteilen, Oleg. Der einzige Trost ist, dass er deren Killern entkommen ist und nicht Ihren oder meinen.«

Eine leichte Brise wehte Blätter von den Bäumen herab. Obwohl Hayes seinen schweren Wollmantel und Handschuhe trug, kroch ihm die Kälte bis ins Mark.

»Haben Sie über das Geschehene schon Bericht erstattet?«, fragte Oleg.

Die Schärfe im Tonfall des Inspektors war Hayes nicht entgangen. »Noch nicht. Ich tue mein Bestes, aber erfreut werden sie nicht gerade sein. Es war eine Riesendummheit, in seiner Gegenwart mit mir zu telefonieren.«

»Wie sollte ich wissen, dass er Russisch spricht?«

Hayes versuchte, nicht die Geduld zu verlieren, aber dieser arrogante Polizist hatte ihn in eine schwierige Lage gebracht. »Jetzt hören Sie mir mal zu. Sie müssen ihn finden. Verstehen Sie mich? Finden Sie ihn und bringen Sie ihn um. Und zwar schnell. Keine Fehler mehr. Keine Ausreden. Tun Sie’s einfach.«

Olegs Miene verriet seine Anspannung. »Von Ihnen habe ich schon genug Befehle entgegengenommen.«

Hayes stand auf. »Das klären Sie wohl besser mit den Leuten, für die wir beide arbeiten. Wenn Sie möchten, schicke ich Ihnen gerne jemanden vorbei, bei dem Sie sich beschweren können.«

Der Russe hatte verstanden. Obgleich ein Amerikaner sein unmittelbarer Vorgesetzter war, leiteten Russen die gesamte Operation. Gefährliche Russen. Männer, die Geschäftsleute, Minister der Regierung, Armeeoffiziere und Ausländer ermorden ließen. Jeden, der zu einem Problem wurde.

Wie beispielsweise unfähige Polizeiinspektoren.

Oleg stand auf. »Ich werde diesen verdammten Tschorni finden und töten. Und dann könnte ich eigentlich ebenso gut auch gleich Sie umbringen.«

Die prahlerische Drohung des Russen beeindruckte Hayes nicht im Geringsten. »Nur zu, reihen Sie sich ein in die Schlange. Vor Ihnen stehen schon eine Menge Leute an, die gerne dasselbe tun würden.«

 

Lord nahm Zuflucht in einem Café. Nach seiner Flucht aus dem Polizeipräsidium war er in die erste U-Bahn-Station abgetaucht und in den erstbesten Zug gestiegen. Danach hatte er mehrmals die Richtung gewechselt. Später hatte er die Metro verlassen und sich unter die abendliche Menge gemischt. Er war eine volle Stunde herumgelaufen, bevor er sicher war, dass ihm niemand folgte. Das Café war voll junger Leute in ausgewaschenen Jeans und dunklen Lederjacken. Der durchdringende Espressoduft machte die nikotingeschwängerte Luft ein wenig erträglicher. Lord setzte sich an einen Tisch an der Wand und versuchte, etwas zu essen. Er hatte schon auf Frühstück und Mittagessen verzichten müssen, aber der Teller mit Bœuf Stroganoff übersäuerte seinen ohnehin schon brennenden Magen noch mehr.

Er hatte Recht gehabt, was Inspektor Oleg anging. Klar war, dass die Behörden irgendwie in die Sache verwickelt waren. Die Telefonleitungen im Wolchow wurden ganz sicher überwacht. Und mit wem hatte Oleg da telefoniert? Hatte das alles mit der Zarenkommission zu tun? Es schien so. Aber inwiefern? Vielleicht ging jemandem die Unterstützung Stefan Baklanows durch das Konsortium westlicher Investoren, die er und Hayes vertraten, gegen den Strich. Aber sollte ihre Arbeit nicht eigentlich geheim bleiben? Und betrachtete nicht ein erheblicher Teil der Russen Baklanow als engsten lebenden Verwandten der Romanows? Einer erst kürzlich durchgeführten Meinungsumfrage zufolge sprach sich über die Hälfte der Bevölkerung für ihn aus. Das konnten andere natürlich als Bedrohung werten. In jedem Fall hatte die Mafija mit der Sache zu tun. Hängelid und Cro-Magnon gehörten mit Sicherheit zu ihr. Was hatte Oleg gesagt? Keine Gangster mehr. Ich töte ihn selber.

Zwischen dem organisierten Verbrechen und der Regierung gab es enge Verbindungen. Die russische Politik war so verworren wie das Äußere des Facettenpalasts. Fast stündlich kam es zu neuen Bündnissen. Treu blieb man allenfalls dem Rubel – oder besser gesagt dem Dollar. Das alles war zu viel für Lord. Er musste schnellstens das Land verlassen.

Aber wie?

Zum Glück hatte er noch immer seinen Reisepass, die Kreditkarten und etwas Bargeld. Außerdem verfügte er nach wie vor über die Informationen, auf die er in den Archiven gestoßen war. Aber das interessierte ihn jetzt nicht mehr besonders. Nun ging es in erster Linie darum, am Leben zu bleiben – und Hilfe zu finden.

Doch was sollte er tun?

Zur Polizei konnte er nicht gehen.

Vielleicht zur amerikanischen Botschaft … aber da würden sie ihn sicher zuallererst erwarten. Bislang waren die Drecksäcke schon in einem Zug von St. Petersburg nach Moskau und auf dem Roten Platz aufgetaucht – beides Orte, an denen er eigentlich der Einzige hätte sein dürfen, der von seiner Anwesenheit wusste.

Er und Hayes.

Was war mit Hayes? Sein Chef hatte sich doch bestimmt Sorgen gemacht, nachdem er gehört hatte, was geschehen war. Vielleicht konnte Hayes ja irgendwie zu ihm kommen? Er hatte jede Menge Beziehungen zur russischen Regierung, aber er würde wohl kaum ahnen, dass die Telefone im Wolchow abgehört wurden. Oder inzwischen vielleicht doch?

Er trank heißen Tee, um seinen Magen zu beruhigen, und fragte sich, was sein Vater in dieser Situation wohl getan hätte. Seltsam, dass er gerade jetzt an ihn dachte, aber Grover Lord war ein Meister darin gewesen, sich aus schwierigen Situationen herauszuwinden. Seine feurigen Reden hatten ihm so manches Problem eingebrockt, aber er hatte ständig Gott und Jesus als Zeugen gerufen und nie klein beigegeben. Doch nein. Raffiniertes Geschwätz würde ihm hier nicht helfen.

Aber was dann?

Er schaute zum Nebentisch hinüber. Ein junges Paar saß dicht beieinander und las in einer Tageszeitung. Er sah den Artikel über die Zarenkommission auf dem Titelblatt und las mit, soweit er konnte.

Am dritten Tag der ersten Sitzungsperiode waren fünf mögliche Bewerber genannt worden. Baklanow wurde zwar als führender Kandidat bezeichnet, aber Verwandte aus zwei anderen Zweigen der Romanow-Familie beteuerten beharrlich ihre engere Blutsverwandtschaft zu Nikolaus II. Der formelle Nominierungsprozess sollte erst in zwei Tagen beginnen, und alle warteten schon gespannt auf die Diskussionen zwischen den einzelnen Bewerbern und ihren Anhängern.

In den letzten paar Stunden hatte er an den Nachbartischen einige Gespräche über die bevorstehende Wahl mitgehört. Man schien allgemein angetan von der Entwicklung, und überraschenderweise unterstützten gerade auch die jungen Russen die Schaffung einer modernen Monarchie. Der typische Russe schien sich eine Nation mit großen Ambitionen zu wünschen. Lord aber fragte sich, ob eine Autokratie im einundzwanzigsten Jahrhundert überhaupt noch funktionieren konnte. Dafür sprach seiner Ansicht nach allenfalls, dass Russland das vielleicht einzige Land auf der Erde war, in dem eine Monarchie tatsächlich eine Chance hatte.

Aber das interessierte ihn im Augenblick nur am Rande.

In ein Hotel konnte er nicht gehen. Jedes lizenzierte Etablissement musste nach wie vor Nacht für Nacht eine Liste der bei ihm registrierten Gäste abliefern. Zug oder Flugzeug kamen auch nicht in Frage, denn Bahnhöfe und Flughäfen wurden mit Sicherheit überwacht. Ein Auto zu mieten war ohne russische Fahrerlaubnis nicht möglich, und ebenso wenig konnte er einfach ins Wolchow spazieren. Er saß in der Falle; das ganze Land war sein Gefängnis. Irgendwie musste er in die amerikanische Botschaft gelangen. Dort saßen Leute, die ihm zuhören würden. Aber er konnte nicht einfach dort anrufen. Wer auch immer die Telefone im Wolchow überwachte, würde sicher auch ein Ohr an den Leitungen haben, die in die Botschaft führten. Er brauchte jemanden, der an seiner Stelle den Kontakt aufnahm, und einen Ort, an dem er bis dahin untertauchen konnte.

Noch einmal warf er einen Blick auf die Zeitung und bemerkte eine Anzeige. Sie warb für den Zirkus, kündigte für jeden Abend um sechs Uhr Vorstellungen an und versprach den Besuchern beste Unterhaltung für die ganze Familie.

Er sah auf die Uhr. Siebzehn Uhr fünfzehn.

Dann dachte er an Akilina Petrowa. Ihr zerzaustes blondes Haar und ihr koboldhaftes Gesicht. Sie hatte ihn mit ihrem Mut und ihrer Geduld schwer beeindruckt. Er verdankte ihr sein Leben. Sie hatte noch seine Aktentasche und sie hatte ihm angeboten, er könne sie jederzeit abholen.

Warum also nicht?

Plötzlich kam ihm ein ernüchternder Gedanke. Er war auf dem Weg zu einer Frau, damit diese ihm aus einer verzwickten Situation half.

Genau wie sein Vater.

19

Dreifaltigkeitskloster des Hl. Sergij Sergijew

Possad

17.00 Uhr

 

Achtzig Kilometer nordöstlich von Moskau befand sich Hayes auf dem Weg zu Russlands heiligster Stätte. Ihre Geschichte war ihm vertraut. Die Festung mit ihrem unregelmäßigen Grundriss hatte sich erstmals im vierzehnten Jahrhundert über die Wälder der Umgebung erhoben. Hundert Jahre später hatten dann Tataren die Zitadelle belagert und schließlich geplündert. Im siebzehnten Jahrhundert hatten die Polen vergeblich versucht, die Wälle des Klosters zu stürmen. Peter der Große hatte hier während eines Aufstands in den frühen Jahren seiner Herrschaft Zuflucht gefunden. Und nun war es ein Pilgerort für Millionen russisch-orthodoxer Christen, der ihnen so heilig war wie der Vatikan den Katholiken. Hier lag der heilige Sergij in einem silbernen Sarkophag, und die Gläubigen kamen aus dem ganzen Land angereist, nur um einmal sein Grab zu küssen.

Als Hayes eintraf, wurde das Kloster gerade geschlossen. Er stieg aus dem Wagen, band hastig den Gürtel seines Mantels zu und zog ein Paar schwarze Lederhandschuhe an. Die Sonne war bereits untergegangen, eine weitere Herbstnacht senkte sich übers Land, und die glitzernden Zwiebeltürme mit ihren blauen und goldenen Sternen hoben sich im Dämmerlicht nur noch schwach vom Horizont ab. Ein scharfer Wind heulte und polterte wie Kanonendonner.

Hayes war in Lenins Begleitung. Die anderen drei Mitglieder der Geheimkanzlei hatten einstimmig beschlossen, dass Hayes und Lenin als Erste an den Patriarchen herantreten sollten. Dieser, so hoffte man, würde vielleicht eher Vertrauen fassen, wenn er sah, dass ein russischer Frontoffizier bereit war, für das Unternehmen seinen guten Ruf aufs Spiel zu setzen.

Hayes beobachtete den leichenblassen Lenin, der seinen grauen Wollmantel glatt strich und sich einen kastanienbraunen Schal fest um den Hals schlang. Sie hatten auf der Fahrt kaum ein Wort gewechselt, doch beide wussten, was zu tun war.

Am Haupttor wartete ein schwarz gewandeter Priester mit einem moosartigen Bart, während eine nicht abreißende Prozession von Pilgern zu beiden Seiten an ihm vorbeizog. Der Priester führte sie zwischen dicken Steinmauern hindurch direkt in die Mariä-Himmelfahrts-Kathedrale. Die Kirche war von Kerzen erleuchtet, Schatten flackerten über eine vergoldete Ikonostase hinter dem Hauptaltar, und die Messdiener hatten alle Hände voll damit zu tun, das Heiligtum zu schließen.

Sie folgten dem Priester in einen unterirdischen Raum. Man hatte ihnen mitgeteilt, das Treffen werde in der Krypta stattfinden, wo etliche Patriarchen der russisch-orthodoxen Kirche bestattet lagen. Wände und Boden des Gewölbes waren mit hellgrauem Marmor verkleidet. Ein eiserner Kerzenleuchter warf ein schwaches Licht auf die Gewölbedecke. Goldene Kreuze, eiserne Kandelaber und gemalte Ikonen schmückten die kunstvoll verzierten Gräber.

Der Mann, der am hintersten Grab kniete, war mindestens siebzig Jahre alt. Büschel dichten grauen Haares sprossen aus seinem schmalen Kopf. Die untere Hälfte seines rotbackigen Gesichts war mit einem verfilzten, dichten Vollbart bedeckt. An einem Ohr trug er ein Hörgerät, und seine zum Gebet gefalteten Hände waren mit Altersflecken übersät. Hayes hatte schon Fotos von diesem Mann gesehen: Seiner Heiligkeit Patriarch Adrian, dem apostolischen Oberhaupt der tausendjährigen russisch-orthodoxen Kirche.

Ihr Begleiter ließ sie allein und zog sich wieder in die Kathedrale zurück.

Oben wurde hörbar eine Tür geschlossen.

Der Patriarch bekreuzigte sich und stand auf. »Meine Herren, wie schön, dass Sie gekommen sind.« Seine Stimme war tief und rau.

Lenin stellte sich und Hayes vor.

»Ich habe schon von Ihnen gehört, General Ostanowitsch. Wohl informierte Berater legen mir nahe, mir anzuhören, was Sie vorzuschlagen haben, und mir dann eine Meinung zu bilden.«

»Der Treffpunkt ist gut gewählt«, bemerkte Lenin.

»Ja, ich dachte, hier in der Krypta wäre der sicherste Ort für unsere Unterhaltung. Hier sind wir ungestört. Mutter Erde wird uns vor neugierigen Ohren schützen. Und vielleicht verhelfen mir die Seelen all der bedeutenden Männer, die hier bestattet sind – meiner Vorgänger –, dazu, den richtigen Weg zu finden.«

Hayes ließ sich von dieser Erklärung nicht narren. Der Vorschlag, den sie zu unterbreiten hatten, war so geartet, dass ein Mann in Adrians Position es sich gar nicht leisten konnte, ihn publik werden zu lassen. Es war eine Sache, hinterher davon zu profitieren, aber eine ganz andere, offen an einer verräterischen Verschwörung teilzunehmen – insbesondere für einen Mann, der eigentlich über der Politik stehen sollte.

»Ich frage mich, meine Herren, weshalb ich auch nur über Ihren Vorschlag nachdenken sollte. Seit dem Ende der Sowjetunion hat meine Kirche eine beispiellose Wiederbelebung erfahren, und nun gibt es für uns keine Verfolgung und keine Beschränkungen mehr. Wir haben Zehntausende neuer Mitglieder getauft, und jeden Tag werden neue Kirchen eröffnet. Bald schon werden wir wieder auf demselben Stand sein wie vor dem Kommunismus.«

»Aber Sie könnten noch sehr viel mehr erreichen«, entgegnete Lenin.

Die Augen des alten Mannes leuchteten auf wie Kohlen in einem erlöschenden Feuer. »Sie machen mich neugierig. Bitte erläutern Sie das näher.«

»Ein Bündnis mit uns wird Ihnen Einfluss auf den neuen Zaren sichern.«

»Aber jeder Zar wird doch ohnehin mit der Kirche zusammenarbeiten müssen. Darauf würde das Volk in jedem Fall bestehen.«

»Wir leben in einem neuen Zeitalter, Patriarch. Heute können negative Schlagzeilen mehr Schaden anrichten, als es eine noch so repressive Polizeimacht jemals vermochte. Denken Sie darüber nach. Die Menschen nagen am Hungertuch, aber die Kirche baut weiterhin vergoldete Monumente. Die Priester stolzieren in aufwändig bestickten Gewändern herum und lamentieren zugleich, wenn die Gläubigen ihre Gemeinden nicht mit angemessenen Geldbeträgen unterstützen. All die Unterstützung, die Sie im Augenblick noch genießen, könnte durch eine gezielte Veröffentlichung von Skandalen untergraben werden. Einige der Mitglieder unserer Vereinigung haben die wichtigsten Medien – Zeitungen, Rundfunk, Fernsehen – unter ihrer Kontrolle, und mit einer solchen Macht lässt sich viel erreichen.«

»Ich bin schockiert, dass ein Mann Ihres Ranges solche Drohungen äußert, General.« Das war eine sehr scharfe Erwiderung, wenn auch äußerlich ruhig vorgebracht.

Lenin wirkte nicht sonderlich beeindruckt von dem Tadel. »Es sind harte Zeiten, Patriarch. Es steht viel auf dem Spiel. Die Offiziere bekommen beim Militär kaum genug, um sich selbst über die Runden zu bringen, von ihren Familien ganz zu schweigen. Es gibt Invaliden und schwer behinderte Veteranen, die keinerlei Rente bekommen. Allein im vergangenen Jahr haben fünfhundert Frontoffiziere Selbstmord begangen. Eine Armee, die einst die Welt erschütterte, droht heute in Bedeutungslosigkeit zu versinken. Unsere Regierung hat den gesamten militärischen Komplex verkümmern lassen. Ich bezweifle, Eure Heiligkeit, dass auch nur eine einzige unserer Raketen abschussbereit ist. Diese Nation ist nicht mehr in der Lage, sich zu verteidigen. Unser Glück ist nur, dass es noch niemand gemerkt hat.«

Der Patriarch dachte über das Gesagte nach. »Und wie könnte meine Kirche bei den künftigen Veränderungen behilflich sein?«

»Der Zar wird die volle Unterstützung der Kirche brauchen«, erklärte Lenin.

»Die hätte er doch ohnehin.«

»Mit voller Unterstützung meine ich alles, was nötig sein wird, um die öffentliche Meinung unter Kontrolle zu halten. Die Presse muss frei sein, zumindest im Prinzip, und die Bevölkerung muss das Recht haben, in einem gewissen Rahmen abweichende Meinungen zu äußern. Die ganze Idee der Wiedereinsetzung eines Zaren soll doch auf einen Bruch mit der repressiven Vergangenheit hinauslaufen. Die Kirche könnte einen wertvollen Beitrag leisten, um auf lange Sicht für eine stabile Regierung zu sorgen.«

»Eigentlich geht es Ihnen doch darum, dass einige Ihrer Verbündeten die Kritik der Kirche fürchten. Ich bin nicht ganz ahnungslos, General. Ich weiß, dass auch die Mafija zu Ihrer Gruppe gehört. Ganz zu schweigen von den Blutsaugern aus der Regierung, die keinen Deut besser sind. Gegen Sie, Herr General, ist nichts einzuwenden, aber Sie befinden sich da in ganz schön übler Gesellschaft.«

Hayes wusste, dass der alte Mann Recht hatte. Die Minister der Regierung standen fast alle entweder auf der Gehaltsliste der Mafija oder auf der der Neureichen, und kein öffentlicher Auftrag wurde ohne Bestechungsgelder vergeben. »Wären die Kommunisten Ihnen lieber?«, fragte er.

Der Patriarch wandte sich ihm zu. »Was versteht denn ein Amerikaner von diesen Dingen?«

»Mit meinem Wissen über dieses Land verdiene ich seit vielen Jahren mein Geld. Ich vertrete eine bedeutende Gruppe amerikanischer Investoren – Unternehmen, für die es um Milliarden geht. Unternehmen, die auch Ihren Gemeinden beträchtliche Summen zukommen lassen könnten.«

Auf dem bärtigen Gesicht des alten Mannes zeichnete sich ein fröhliches Grinsen ab. »Amerikaner glauben immer, dass sich mit Geld alles kaufen lässt.«

»Ist es nicht so?«

Adrian trat an eines der kunstvoll verzierten Grabmäler heran, die Hände fest zusammengepresst, seinen beiden Gästen den Rücken zugewandt. »Ein viertes Rom.«

»Wie bitte?«, fragte Lenin.

»Ein viertes Rom. Darauf läuft Ihr Vorschlag doch hinaus. Zur Zeit Iwans des Großen hatte Rom, der Sitz des ersten Papstes, bereits an Bedeutung verloren. Dann fiel auch noch Konstantinopel, wo der Papst der Ostkirche residierte. Danach rief Iwan Moskau zum dritten Rom aus. Der letzte Ort auf Erden, wo Kirche und Staat eine politische Einheit bildeten – unter seiner Führung natürlich. Er sagte voraus, dass es nie ein viertes geben werde.«

Der Patriarch drehte sich wieder zu ihnen um.

»Iwan der Große heiratete die letzte byzantinische Prinzessin, um sein Russland mit ihrem byzantinischen Erbe sichtbar zu vereinen. Nachdem Konstantinopel im Jahr 1453 an die Türken gefallen war, rief er Moskau zum säkularen Zentrum der christlichen Welt aus. Das war ein kluger Schachzug, der es ihm ermöglichte, sich selbst zur Personifikation des ewigen Bundes zwischen Kirche und Staat zu erklären und somit zu einer Art Stellvertreter Gottes auf Erden. Seit Iwan galt deshalb jeder Zar als von Gott eingesetzt, und die Christen hatten ihm zu gehorchen. Eine theokratische Autokratie, die die Kirche und die herrschende Dynastie zu einer Einheit zusammenschweißte. Das hat vierhundertfünfzig Jahre lang gut funktioniert, bis die Kommunisten Nikolaus II. ermordeten und die Einheit von Staat und Kirche auflösten. Und jetzt soll alles wieder so werden wie vorher?«

Lenin lächelte. »Aber diesmal, Eure Heiligkeit, wird die Verbindung sehr umfassend sein. Wir schlagen eine Vereinigung aller Parteien vor, die Kirche eingeschlossen. Eine gemeinsame Kraftanstrengung, um unser kollektives Überleben zu sichern. Wie Sie schon sagten, ein viertes Rom.«

»Einschließlich der Mafija

Lenin nickte. »Wir haben keine andere Wahl. Ihr Einfluss ist einfach zu groß. Vielleicht lässt die Mafija sich ja im Laufe der Zeit in die Gesellschaft integrieren.«

»Das bleibt wohl ein frommer Wunsch. Sie saugt das Volk aus, und ihre Gier ist einer der Hauptgründe für unsere missliche Lage.«

»Da bin ich ganz Ihrer Meinung, Heiligkeit. Aber uns bleibt keine Wahl. Wir müssen schon froh darüber sein, dass die verschiedenen Gruppen der Mafija – wenigstens im Augenblick – an einem Strang ziehen.«

Hayes beschloss, die Gelegenheit beim Schopf zu packen. »Wir könnten Ihnen auch bei Ihrem kleinen Public-Relations-Problem unter die Arme greifen.«

Der Patriarch zog die Brauen hoch. »Mir war bislang nicht bewusst, dass meine Kirche ein solches Problem hat.«

»Lassen Sie mich offen reden, Heiligkeit. Wenn Sie kein Problem hätten, wären wir nicht hier unter Russlands heiligster Kathedrale zusammengekommen, um zu besprechen, wie wir eine neue Monarchie in unserem Sinne lenken können.«

»Fahren Sie fort, Mr. Hayes.«

Patriarch Adrian gefiel ihm immer besser. Er schien ein Pragmatiker zu sein. »Es geht doch kaum einer mehr in die Kirche. Die wenigsten Russen möchten, dass ihre Söhne Priester werden, und noch weniger spenden Geld für die Gemeinden. Ihre finanzielle Situation muss allmählich kritische Ausmaße annehmen. Außerdem steht Ihnen möglicherweise eine Art Bürgerkrieg bevor. Meinen Informationen zufolge ist eine beträchtliche Anzahl von Priestern und Bischöfen dafür, die Orthodoxie zur alleinigen Staatsreligion zu machen. Jelzin lehnte das ab und legte gegen den entsprechenden Gesetzesentwurf sein Veto ein, um anschließend eine verwässerte Version zu verabschieden. Er hatte keine andere Wahl: Die Vereinigten Staaten hätten im Fall religiöser Verfolgungen jede Unterstützung gestrichen, und Russland ist auf fremde Hilfe angewiesen. Ohne Unterstützung durch die Regierung könnte Ihre Kirche bald in größte Schwierigkeiten kommen.«

»Ich bestreite nicht, dass uns eine Spaltung zwischen Ultra-Traditionalisten und Modernisten droht.«

Hayes setzte nach. »Ausländische Missionare untergraben Ihre Basis. Aus ganz Amerika strömen Priester ins Land, die Russen zu ihrer jeweiligen Glaubensrichtung bekehren wollen. Und das führt, wie Sie wissen, unweigerlich zu Problemen. Es ist nicht leicht, seine Schäfchen zusammenzuhalten, wenn andere erst einmal Alternativen anbieten.«

»Unglücklicherweise können wir Russen mit Wahlmöglichkeiten nicht gut umgehen.«

»Apropos: Was war die erste demokratische Wahl der Menschheit?«, warf Lenin ein. »Gott schuf Adam und Eva und sagte dann zu Adam: ›Und jetzt wähle dir ein Weib.‹«

Der Patriarch lächelte.

»Was Sie brauchen, Heiligkeit«, fuhr Hayes fort, »ist staatlicher Schutz ohne staatliche Repression. Sie wollen die Orthodoxie, möchten aber nichts von Ihrer Macht abgeben. Und genau diesen Luxus bieten wir Ihnen.«

»Ich bitte um Einzelheiten.«

Lenin erklärte: »Sie als Patriarch bleiben de facto Oberhaupt der Kirche. Der neue Zar wird sich zwar offiziell auch zum Kirchenoberhaupt erklären, sich aber nicht in kirchliche Belange einmischen. Der Zar wird die Bevölkerung sogar offen auffordern, sich zur Orthodoxie zu bekennen. Die Romanows lagen schon immer auf dieser Linie, besonders Nikolaus II. Diese Kirchentreue passt auch voll und ganz in die russische Nationalphilosophie des neuen Zaren. Im Gegenzug sorgen Sie dafür, dass die Kirche eine pro-zaristische Position einnimmt und die Regierung in jeder Beziehung unterstützt. Ihre Priester sollen unsere Verbündeten sein. Auf diese Weise werden Kirche und Staat vereint, ohne dass die Massen je etwas davon zu erfahren brauchen. Ein viertes Rom, angepasst an eine neue Realität.«

Der alte Mann dachte schweigend über den Vorschlag nach.

»Also gut, meine Herren. Die Kirche steht Ihnen zur Verfügung.«

»Das ging aber schnell«, wunderte sich Hayes.

»Überhaupt nicht. Über diese Frage denke ich schon nach, seit Sie Kontakt zu mir aufgenommen haben. Ich wollte lediglich einmal von Angesicht zu Angesicht mit Ihnen sprechen, um die Männer kennen zu lernen, mit denen ich zusammenarbeite. Und ich muss sagen, ich bin hocherfreut.«

Beide erwiderten das Kompliment.

»Aber ich muss Sie bitten, in dieser Angelegenheit ausschließlich mit mir zu verhandeln.«

Lenin verstand. »Hätten Sie gern einen Vertreter bei unseren Versammlungen? Dieses Zugeständnis würden wir Ihnen natürlich gern machen.«

Adrian nickte. »Ich werde einen Priester benennen. Er und ich werden die Einzigen sein, die von unserer Abmachung wissen. Den Namen teile ich Ihnen demnächst mit.«

20

Moskau, 17.40 Uhr

 

Der Regen hörte gerade in dem Augenblick auf, als Lord aus der Metrostation trat. Der Zwetnoi-Bulwar war noch feucht von den heftigen Regengüssen, die Luft merklich kühler, und ein eiskalter Nebel hing über der Stadt. Lord trug noch immer keinen Mantel und wirkte im Gedränge der in Wolle und Pelz gehüllten Passanten reichlich seltsam. Er war froh, dass es mittlerweile dunkel war. Die Nacht und der Nebel würden ihm helfen, sich zu verbergen.

Er folgte einer Menschenmenge zum Theater auf der anderen Straßenseite. Der Moskauer Zirkus war, wie er wusste, bei Touristen sehr beliebt und galt noch immer als einer der besten der Welt. Auch Lord war vor Jahren einmal da gewesen, um sich die Tanzbären und die dressierten Hunde anzusehen.

Bis zum Beginn der Vorstellung blieben ihm noch zwanzig Minuten. Vielleicht gelang es ihm ja in der Pause, Akilina Petrowa in ihrer Garderobe eine Botschaft zu übermitteln. Und falls nicht, würde er sie eben später aufsuchen. Er hoffte, mit ihrer Hilfe Kontakt zur amerikanischen Botschaft aufnehmen zu können. Eventuell konnte sie sogar für ihn ins Wolchow gehen und mit Taylor Hayes sprechen. Bestimmt hatte sie eine Wohnung, in der er in der Zwischenzeit sicher war.

Das Theater lag fünfzig Meter weiter auf der anderen Straßenseite. Er wollte gerade die Straße überqueren und auf den Kartenverkauf zugehen, als eine Stimme hinter ihm »Stoi!« rief. Stehen bleiben.

Er lief weiter.

Wieder ertönte die Stimme: »Stoi!«

Er warf einen Blick über die linke Schulter und sah einen Polizisten. Der Mann drängte sich mit erhobenem Arm durch die Menge, den Blick starr nach vorn gerichtet. Lord lief schneller und überquerte hastig die verstopfte Straße, bevor er sich auf der anderen Seite in der dichten Menschenmenge verlor. Ein Touristenbus spie seine Passagiere aus, und Lord schloss sich einer langen Prozession von Japanern an, die auf dem Weg ins hell erleuchtete Theater waren. Bei einem weiteren Blick zurück konnte er den Polizisten nicht mehr entdecken.

Vielleicht hatte er sich ja nur eingebildet, dass der Mann hinter ihm her war.

Mit gesenktem Kopf folgte er der lärmenden Menge. Am Kartenschalter zahlte er seine zehn Rubel, und dann ging er hinein in der Hoffnung, Akilina Petrowa dort zu finden.

 

Akilina schlüpfte in ihr Kostüm. Die Gemeinschaftsumkleide war wie ein Ameisenhaufen, in dem ständig Künstler ein und aus gingen. Den Luxus eines eigenen Umkleideraums kannte hier keiner. So etwas hatte sie nur in amerikanischen Filmen gesehen, in denen das Zirkusleben weitaus romantischer dargestellt wurde, als es in Wirklichkeit war.

Sie war müde, nachdem sie in der Nacht zuvor wenig Schlaf abbekommen hatte. Die Fahrt von St. Petersburg nach Moskau war für sie äußerst interessant gewesen, und den ganzen Tag lang hatte sie über Miles Lord nachgedacht. Sie hatte ihm die Wahrheit erzählt. Er war der erste Schwarze, den sie je in diesem Zug getroffen hatte. Und sie hatte keine Angst vor ihm gehabt. Vielleicht hatte seine Angst ja irgendwie entwaffnend gewirkt.

Keines der Vorurteile, die man so über Schwarze hatte, schien auf Lord zu passen. Seine Haut erinnerte sie an den rostfarbenen Fluss Woina, den sie von Besuchen im Dorf ihrer Großmutter kannte. Sein braunes Haar war kurz geschnitten und gepflegt, sein Körper kompakt und sehnig. Sein Auftreten war förmlich, aber freundlich, die tiefe, kehlige Stimme ausgesprochen einprägsam. Ihre Einladung, die Nacht in ihrem Abteil zu verbringen, hatte ihn anscheinend sehr überrascht; vielleicht war er eine solche Offenheit bei Frauen nicht gewohnt. Auf jeden Fall fand sie ihn äußerst interessant.

Als sie aus dem Zug gestiegen war, hatte sie gesehen, wie die drei Männer, die hinter Lord her waren, den Bahnhof verließen und in einen wartenden dunkelblauen Volvo stiegen. Sie hatte Lords Aktentasche in ihre Reisetasche gestopft und wie versprochen aufbewahrt in der Hoffnung, dass er sie bei ihr abholen würde.

Den ganzen Tag über hatte sie sich gefragt, wie es Lord wohl ergangen sein mochte. In den letzten paar Jahren hatten Männer in ihrem Leben keine große Rolle gespielt. Im Zirkus gab es fast jeden Abend eine Vorstellung, im Sommer sogar zweimal pro Abend. Und wenn die Truppe nicht in Moskau auftrat, reiste sie in der halben Welt herum. Sie hatte schon fast ganz Russland und die meisten Länder Europas gesehen, und selbst in New York City – im Madison Square Garden – war sie bereits aufgetreten. Da blieb wenig Zeit für Männer, abgesehen von einem gelegentlichen Essen oder einem Gespräch während einer langen Flug- oder Bahnreise.

Sie war neunundzwanzig und fragte sich, ob sie wohl je heiraten würde. Ihr Vater hatte immer gehofft, dass sie einmal dem Zirkus den Rücken kehren und ein bürgerliches Familienleben führen würde. Sie aber hatte mit ansehen müssen, was nach der Hochzeit aus ihren Freundinnen geworden war. Den ganzen Tag lang schufteten sie in einer Fabrik oder einem Laden, und wenn sie dann endlich nach Hause kamen, wartete schon der Haushalt auf sie – und das tagein, tagaus. Chancengleichheit zwischen Mann und Frau hatte es nie gegeben, obwohl die Sowjets behauptet hatten, die kommunistischen Frauen seien die freiesten auf der ganzen Welt. Zudem bot auch die Ehe wenig Trost. Ehemänner und Ehefrauen arbeiteten meist zu unterschiedlichen Zeiten, und selbst Urlaub machten sie oft getrennt, weil sie nur selten gleichzeitig frei bekamen. Dass unter diesen Umständen jede dritte Ehe geschieden wurde, fand Akilina nicht weiter erstaunlich. Auch nicht, dass die meisten Paare nur ein einziges Kind haben wollten. Für ein zweites oder gar drittes hatten sie weder die Zeit noch das Geld. Ein solches Leben war für sie nie in Frage gekommen. Wie ihre Großmutter zu sagen pflegte: Man kennt einen Menschen erst, wenn man ein Pud Salz mit ihm gegessen hat.

Sie nahm ihren Platz vor dem Spiegel ein und spritzte sich Wasser ins Haar, um es zu einem Knoten zu binden. Sie trug nur wenig Make-up auf der Bühne – gerade genug, um im harten, bläulich weißen Scheinwerferlicht nicht ganz so bleich zu wirken. Die helle Haut, das blonde Haar und die blauen Augen hatte sie von ihrer slawischen Mutter geerbt, das Talent hingegen von ihrem Vater. Er hatte jahrzehntelang als Trapezkünstler im Zirkus gearbeitet. Zu ihrer aller Glück hatte sein Talent ihnen eine größere Wohnung, umfangreichere Lebensmittelrationen und bessere Kleidung verschafft. Die Kunst war immer ein bedeutendes Element der kommunistischen Propaganda gewesen und der Zirkus, ebenso wie Ballett und Oper, über Jahrzehnte ein gefragter Exportartikel – es war ein Versuch, der Welt zu zeigen, dass Hollywood keineswegs das Monopol auf Unterhaltung besaß.

Mittlerweile war die gesamte Truppe zu einem rein kommerziellen Unternehmen geworden. Der Staatszirkus gehörte inzwischen einer Moskauer Firma, die das Spektakel weiterhin weltweit vermarktete – mit dem Unterschied, dass nun nicht mehr Propaganda, sondern Profit das Ziel war. So verdiente Akilina für postsowjetische Verhältnisse gar nicht schlecht. Wenn sie aber irgendwann nicht mehr in der Lage war, auf dem Trapez das Publikum zu fesseln, würde sie sich mit größter Wahrscheinlichkeit sehr bald ins Millionenheer der Arbeitslosen einreihen müssen. Aus diesem Grund hielt sie sich bestens in Form und achtete auf ihre Ernährung und auf ausreichend Schlaf. Die letzte Nacht war die erste seit längerer Zeit gewesen, in der sie weniger als acht Stunden geschlafen hatte.

Wieder musste sie an Miles Lord denken.

Vorhin in ihrer Wohnung hatte sie seine Aktentasche geöffnet. Sie erinnerte sich, dass er ein paar Papiere herausgenommen hatte, hoffte aber dennoch, etwas zu finden, das ihr mehr über diesen faszinierenden Mann erzählen würde. Doch dann hatte sie nur einen leeren Schreibblock, drei Kugelschreiber, ein paar Karten vom Hotel Wolchow und ein Aeroflot-Ticket vom Vortag für einen Flug von Moskau nach St. Petersburg gefunden.

Miles Lord. Amerikanischer Anwalt in der Zaristenkommission.

Vielleicht würde sie ihn Wiedersehen.

 

Lord saß geduldig die erste Hälfte der Vorstellung ab. Kein Polizist – jedenfalls kein uniformierter – war ihm in den Zirkus gefolgt, und er hoffte, dass auch keiner in Zivil nach ihm Ausschau hielt. Die Arena war recht eindrucksvoll – ein überdachtes Amphitheater, das sich im Halbkreis um eine farbenprächtige Bühne zog. Mehrere tausend Menschen, darunter viele Touristen und Kinder, saßen dicht gedrängt auf den roten Polsterbänken und folgten gebannt den Darbietungen der Artisten. Lord kam die Szenerie schon fast surreal vor, und die Trampolinspringer, die dressierten Hunde, die Trapezkünstler, Clowns und Jongleure lenkten ihn eine Zeit lang von seiner prekären Lage ab.

Er beschloss, während der Pause auf seinem Platz zu bleiben. Je weniger er sich bewegte, desto besser. Er saß nur wenige Reihen von der Bühne entfernt und war von dort aus so gut zu sehen, dass er hoffte, Akilina Petrowa aufzufallen, wenn sie zu ihrem Auftritt erschien.

Eine Glocke erklang und jemand verkündete, der zweite Teil werde in fünf Minuten beginnen. Lord ließ den Blick noch einmal über die Sitzreihen schweifen.

Dann erkannte er ein Gesicht.

Der Mann saß auf der gegenüberliegenden Seite. Er trug eine dunkle Lederjacke und Jeans statt des ausgebeulten, beigefarbenen Anzugs, aber es war eindeutig derselbe Kerl, den Lord am Vortag im St. Petersburger Archiv und in der vergangenen Nacht im Zug gesehen hatte. Er saß inmitten einer Gruppe von Touristen, die schnell noch ein paar Fotos schossen, bevor die Pause zu Ende ging.

Lords Herz pochte. Plötzlich war ihm flau im Magen.

Dann erblickte er Hängelid.

Der Dreckskerl kam zwischen Lord und Lords anderem Problem den Mittelgang hinunter. Sein öliges, dunkel glänzendes Haar war wie immer zu einem Pferdeschwanz zurückgebunden. Er trug einen gelbbraunen Sweater und eine dunkle Hose.

Als die Scheinwerfer angingen und die Musik den zweiten Teil einleitete, erhob sich Lord, um zu gehen. Doch oben, am Ende des Mittelganges, kaum fünfzehn Meter von ihm entfernt, stand Cro-Magnon, ein Lächeln im pockennarbigen Gesicht.

Lord setzte sich wieder. Er konnte nirgendwo hin.

Der erste Akt nach der Pause war der Auftritt von Akilina Petrowa, die in einem blauen, mit Pailletten besetzten Trikot barfuß auf die Bühne sprang. Im lebhaften Rhythmus der Musik stieg sie rasch auf den Schwebebalken und begann unter Beifall ihre Nummer.

Panik überfiel Lord. Mit einem Blick nach hinten sah er, dass Cro-Magnon noch immer oben vor dem Ausgang stand, und nicht weit davon entfernt erblickte er dann auch noch das Bluthundgesicht Hängelids, der nun etwa auf halber Höhe saß. In seinen pechschwarzen Augen – Zigeuneraugen, wie ihm schien – lag ein Blick, der signalisierte, dass die Jagd zu Ende war. Die rechte Hand des Kerls steckte in seiner Jacke, die gerade so weit zurückgeschlagen war, dass der Griff einer Pistole sichtbar wurde.

Lord wandte sich wieder der Bühne zu.

Akilina Petrowa tanzte mit traumwandlerischer Sicherheit über den Schwebebalken. Die Musik wurde leiser, und Akilina bewegte sich elegant in ihrem sanften Rhythmus. Lord durchbohrte sie mit seinem Blick, als wolle er sie zwingen, zu ihm hinzuschauen.

Und das tat sie dann auch.

Einen Augenblick lang trafen sich ihre Augen, und er merkte, dass sie ihn erkannt hatte. Dann sah er in ihrer Miene noch etwas anderes. War es Angst? Hatte auch sie die Männer hinter ihm entdeckt? Oder sah sie das Entsetzen in seinem eigenen Blick? Falls ja, dann ließ sie es sich nicht anmerken. Weiterhin voll konzentriert, beeindruckte sie das Publikum mit ihrem langsamen, athletischen Tanz über den zehn Zentimeter breiten Eichenbalken.

Sie drehte, nur auf einen Arm gestützt, eine Pirouette und sprang vom Schwebebalken. Die Menge applaudierte, und gleich darauf rollten Clowns mit winzigen Fahrrädern auf die Bühne. Während Helfer den schweren Schwebebalken hinaustrugen, entschied Lord, dass ihm keine Wahl blieb. Er sprang von seinem Sitz und machte einen Satz auf die Bühne, als gerade einer der Clowns hupend vorbeifuhr. Die Menge brüllte vor Lachen, weil sie glaubte, das gehöre zur Vorstellung. Ein Blick nach links verriet Lord, dass sowohl Hängelid als auch der Mann aus St. Petersburg aufgestanden waren. Er verschwand hinter dem Vorhang und stieß fast mit Akilina Petrowa zusammen.

»Ich muss hier raus«, erklärte er ihr auf Russisch.

Sie packte ihn bei der Hand und zog ihn weiter nach hinten, vorbei an zwei Käfigen mit weißen Pudeln.

»Ich habe die Kerle gesehen. Sie scheinen immer noch in Schwierigkeiten zu stecken, Mr. Lord.«

»Wem sagen Sie das.«

Sie kamen an weiteren Artisten vorbei, die sich auf ihren Auftritt vorbereiteten. Niemand schien sie zu beachten. »Ich muss mich irgendwo verstecken«, sagte er. »Wir können ja nicht immer weiterrennen.«

Zielstrebig führte sie ihn durch einen Flur, an dessen schmutzigen Wänden alte Plakate hingen. In der Luft hing ein säuerlicher Geruch nach Urin und feuchtem Pelz. Zu beiden Seiten des schmalen Korridors zweigten Türen ab.

Sie öffnete eine der Türen. »Hier rein.«

Es war eine Abstellkammer, in der Mopps und Besen standen, aber er bot Lord genügend Platz, sich hineinzuquetschen.

»Bleiben Sie hier, bis ich wiederkomme«, wies sie ihn an.

Dann wurde die Tür geschlossen.

In der vollständigen Dunkelheit hielt er den Atem an, während Schritte in beide Richtungen vorbeihasteten. Er konnte es einfach nicht glauben. Der Polizist vor dem Zirkus musste Felix Oleg benachrichtigt haben. Hängelid, Cro-Magnon und Oleg steckten alle unter einer Decke. Kein Zweifel. Was sollte er jetzt tun? Die wichtigste Aufgabe eines guten Anwalts bestand oft darin, einem Mandanten zu erklären, dass es klüger sei, sich nicht in eine Sache zu verbeißen. Das sollte er sich jetzt selbst zu Herzen nehmen. Er musste Russland einfach so schnell wie möglich verlassen.

Die Tür ging auf.

Im Licht des Korridors erblickte er zwei männliche Gesichter.

Das erste kannte er nicht, aber der Mann hielt Hängelid eine lange, silbrig schimmernde Klinge an die Kehle. Das andere war das Gesicht des Mannes, den er am Vortag in St. Petersburg gesehen hatte. Er hatte eine Pistole in der Hand, deren Mündung genau auf ihn, Lord, zeigte.

Dann sah er Akilina Petrowa.

Sie stand seelenruhig neben dem Mann mit der Pistole.