ZWEITER TEIL

21

»Wer sind Sie?«, fragte Lord.

»Für Erklärungen ist jetzt keine Zeit, Mr. Lord«, entgegnete der Mann neben Akilina. »Wir müssen schleunigst hier weg.«

Davon war Lord keineswegs überzeugt.

»Wir wissen nicht, wie viele von denen noch hier sind. Nicht wir sind Ihr Feind, Mr. Lord, sondern dieser Mann hier.« Der Mann zeigte auf Hängelid.

»Das ist nicht leicht zu glauben, wenn derjenige, der das sagt, mir eine Schusswaffe unter die Nase hält.«

Der Mann ließ die Pistole sinken. »Natürlich. Aber jetzt müssen wir gehen. Mein Partner wird sich um den Mann hier kümmern, während wir uns aus dem Staub machen.«

Lord starrte Akilina an und fragte: »Gehören Sie zu ihm?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Wir müssen jetzt wirklich gehen, Mr. Lord«, drängte der Mann.

Er schaute sie fragend an: Sollen wir?

»Ich denke schon«, antwortete sie.

Er beschloss, sich auf ihren Instinkt zu verlassen, zumal der seine sich in jüngster Zeit nicht gerade bewährt hatte. »Also gut.«

Der Mann wandte sich seinem Gefährten zu und sagte etwas in einem Dialekt, den Lord nicht verstand. Hängelid wurde unsanft durch den Flur zu einer Tür am hinteren Ende des Korridors geführt.

»Hier entlang«, sagte der Mann.

»Warum muss sie mitkommen?«, fragte Lord und deutete auf Akilina. »Sie hat nichts damit zu tun.«

»Ich bin angewiesen, sie mitzunehmen.«

»Von wem?«

»Darüber können wir unterwegs reden. Jetzt müssen wir erst mal weg.«

Lord beschloss, nicht länger zu diskutieren.

Sobald Akilina sich ein Paar Schuhe und einen Mantel geholt hatte, folgten sie dem Mann hinaus in die kalte Nacht. Der Ausgang führte auf eine Gasse hinter dem Theater. Hängelid wurde auf den Rücksitz eines schwarzen Ford verfrachtet, der am Ende der Gasse wartete. Ihr Begleiter trat zu einem hellen Mercedes, öffnete die hintere Tür und bat sie einzusteigen. Dann setzte er sich auf den Beifahrersitz. Ein weiterer Mann saß bereits bei laufendem Motor hinter dem Lenkrad. Es begann zu nieseln, als sie das Theater hinter sich ließen.

»Wer sind Sie?«, fragte Lord erneut.

Der Mann antwortete nicht. Stattdessen überreichte er ihm eine Visitenkarte.

 

SEMJON PASCHKOW

Professor für Geschichte

Moskauer Staatsuniversität

 

Allmählich sah Lord klarer. »Also war meine Begegnung mit ihm kein Zufall?«

»Wohl kaum. Professor Paschkow hat erkannt, in welcher Gefahr Sie beide waren, und uns angewiesen, ein Auge auf Sie zu haben. Das habe ich schon in St. Petersburg getan, aber anscheinend habe ich da keine gute Arbeit geleistet.«

»Ich dachte, Sie gehören zu den anderen.«

Der Mann nickte. »Das kann ich gut verstehen, aber der Professor wollte, dass ich nur Kontakt zu Ihnen aufnehme, wenn es unvermeidlich ist. Und das dürfte auf die Situation eben im Theater wohl zutreffen.«

Das Auto kämpfte sich durch den dichten Feierabendverkehr, während die schwerfälligen Scheibenwischer nicht allzu viel bewirkten. Sie fuhren in südlicher Richtung am Kreml vorbei auf den Gorki-Park und den Fluss zu. Lord bemerkte, wie misstrauisch der Fahrer die anderen Wagen um sie herum musterte, und nahm an, dass die zahlreichen Umwege dazu dienen sollten, eventuelle Verfolger abzuschütteln.

»Glauben Sie, wir sind jetzt in Sicherheit?« flüsterte Akilina.

»Ich hoffe es.«

»Kennen Sie diesen Paschkow?«

Er nickte. »Aber das will nichts heißen. Es ist gar nicht so einfach, hier jemanden wirklich zu kennen.« Dann fügte er mit einem leichten Lächeln hinzu: »Anwesende natürlich ausgenommen.«

Ihre Fahrtroute hatte sie von den anonymen Blocks aus Hochhäusern und neoklassizistischen Absonderlichkeiten weggeführt – von den Hunderten von Wohngebäuden, in denen die Menschen dicht gedrängt unter erbärmlichsten Bedingungen hausten. Nun fuhren sie durch eine der unauffälligen, von Bäumen gesäumten Straßen, die strahlenförmig von der belebten Hauptverkehrsstraße abzweigten. Sie führte in nördlicher Richtung auf den Kreml zu und verband die beiden Ringstraßen miteinander.

Der Mercedes bog nach rechts in ein beleuchtetes, asphaltiertes Grundstück ein. Ein Wachposten beobachtete den Eingang aus einem verglasten Pförtnerhaus. Das dreistöckige Wohngebäude dahinter stach ins Auge, denn es bestand nicht aus Beton, sondern aus für russische Verhältnisse ungewöhnlich sauber gemauerten, honiggelben Ziegelsteinen. Die wenigen Fahrzeuge in den markierten Parkbuchten waren teure, ausländische Modelle. Der Mann auf dem Beifahrersitz öffnete per Fernbedienung ein Garagentor. Der Mercedes fuhr hinein, bevor das Tor sich wieder schloss.

Sie wurden in eine geräumige Vorhalle geführt, die von einem Kristallleuchter erhellt war. Es roch nach Kiefernholz und nicht nach jener grauenhaften Mischung aus Schmutz und Urin, die für die meisten Eingangsbereiche von Wohnhäusern so typisch und von einem Moskauer Journalisten einmal zutreffend als Katzengestank bezeichnet worden war. Eine mit Teppichboden ausgelegte Treppe führte zu einer Wohnung im dritten Stock hinauf.

Auf ihr leises Klopfen an die weiße Kassettentür hin bat Semjon Paschkow sie herein.

Lord registrierte den Parkettboden, die Orientteppiche, den gemauerten Kamin und die skandinavischen Möbel – Luxusgüter nicht nur in der ehemaligen Sowjetunion, sondern auch im neuen Russland. Die Wände waren in einem beruhigenden Beige gestrichen und mit elegant gerahmten Drucken behängt, die Szenen aus der sibirischen Tierwelt zeigten. Der ganze Raum war vom Geruch nach gekochtem Kohl und Kartoffeln erfüllt. »Sie wohnen nicht schlecht, Professor.«

»Ein Geschenk meines Vaters. Zu meinem größten Verdruss war er überzeugter Kommunist, und so genoss er die seinem Rang entsprechenden Privilegien. Ich habe dann diese Annehmlichkeiten geerbt und bekam die Wohnung schließlich zum Kauf angeboten. Zum Glück verfügte ich über die nötigen Rubel.«

Lord wandte sich seinem Gastgeber zu, der in der Mitte des Zimmers stand. »Ich nehme an, wir sind Ihnen zu Dank verpflichtet.«

Abwehrend hob Paschkow die Hände. »Keine Ursache. Im Grunde sind wir es, die Ihnen Dank schulden.«

Lord wusste nicht, wie er das verstehen sollte, sagte aber nichts.

Paschkow deutete auf eine Sitzgruppe. »Setzen wir uns doch. Ich habe uns etwas zu essen gemacht. Ein Schlückchen Wein gefällig?«

Er sah Akilina an, doch die schüttelte den Kopf. »Nein, danke.«

Der Professor bemerkte, dass Akilina nur ein Trikot trug, und bat einen der Männer, ihr einen Bademantel zu holen. Sie setzten sich vor ein Kaminfeuer, und Lord legte sein Jackett ab.

»Ich schlage das Holz bei meiner Datscha nördlich von Moskau«, erklärte Paschkow. »Ich liebe offenes Feuer, auch wenn diese Wohnung über Zentralheizung verfügt.«

Wieder eine Seltenheit für russische Verhältnisse, dachte Lord. Ihm fiel auch auf, dass der Fahrer des Mercedes an einem der Fenster Position bezog und in regelmäßigen Abständen durch die geschlossenen Vorhänge spähte. Als der Mann seinen Mantel auszog, kam ein Schulterholster mit Handfeuerwaffe zum Vorschein.

»Wer sind Sie, Professor?«, fragte Lord.

»Ein Russe, der sich auf die Zukunft freut.«

»Könnten Sie vielleicht aufhören, in Rätseln zu sprechen? Ich bin hundemüde. Die letzten drei Tage waren verdammt anstrengend.«

Paschkow verbeugte sich entschuldigend. »Nach allem, was ich gehört habe, kann ich das gut nachvollziehen. Der Vorfall auf dem Roten Platz kam sogar in den Nachrichten. Merkwürdig, dass Sie in den offiziellen Berichten gar nicht erwähnt werden, aber Witali« – Paschkow deutete auf den Mann, den Lord aus St. Petersburg kannte – »hat alles mit eigenen Augen gesehen. Die Polizei kam gerade noch rechtzeitig.«

»Ihr Mann war da?«

»Er fuhr nach St. Petersburg, um dafür zu sorgen, dass Ihre Bahnfahrt ohne Zwischenfälle verläuft. Aber dann kamen ihm die beiden Herren in die Quere, die Ihnen mittlerweile ja bestens bekannt sind.«

»Wie hat er mich gefunden?«

»Er sah Sie und Fräulein Petrowa zusammen und beobachtete, wie Sie vom Zug absprangen. Ein Begleiter von ihm nahm dann Ihre Spur auf und entdeckte Sie in dem Lebensmittelgeschäft, als Sie gerade telefonierten.«

»Und was ist mit meinem Leibwächter?«

»Wir hegten bereits den Verdacht, dass er für die Mafija arbeitet. Jetzt sind wir uns sicher.«

»Darf ich fragen, was ich mit der Sache zu tun habe?«, fragte Akilina.

»Sie haben selbst dafür gesorgt, dass Sie nun damit zu tun haben, meine Liebe.«

»Ich habe für gar nichts gesorgt. Mr. Lord platzte vergangene Nacht in mein Abteil. Das ist alles.«

Paschkow richtete sich in seinem Sessel auf. »Auch ich war neugierig, wie Sie dazu kamen, und so habe ich mir erlaubt, ein paar Erkundigungen über Sie einzuziehen. Wir pflegen gute Kontakte zu Regierungskreisen.«

Akilinas Miene versteinerte. »Ich mag es gar nicht, wenn jemand in meiner Privatsphäre herumschnüffelt.«

»Privatsphäre ist für uns Russen ein Fremdwort, meine Liebe. Wollen wir mal sehen. Sie wurden hier in Moskau geboren. Ihre Eltern ließen sich scheiden, als Sie zwölf waren. Da keiner von beiden im Sowjetstaat eine andere Wohnung genehmigt bekam, waren sie gezwungen, weiterhin zusammenzuleben. Na schön, Ihre Unterkunft war ein wenig besser als der Durchschnitt, da Ihr Vater als Künstler dem Staat von Nutzen war, aber dennoch wird es Spannungen gegeben haben. Übrigens habe ich Ihren Vater mehrmals auftreten sehen. Er war ein wundervoller Akrobat.«

Sie nahm das Kompliment mit einem Kopfnicken entgegen.

»Ihr Vater hatte dann eine Beziehung mit einer Rumänin, die ebenfalls im Zirkus auftrat. Sie wurde schwanger, kehrte aber mit dem Kind nach Hause zurück. Ihr Vater bemühte sich um ein Ausreisevisum, aber die Behörden verweigerten es ihm. Die Kommunisten pflegten ihre Künstler nicht ausreisen zu lassen. Als er versuchte, unerlaubt das Land zu verlassen, wurde er festgenommen und in ein Straflager gebracht.

Ihre Mutter heiratete erneut, ließ sich aber bald wieder scheiden. Als sie nach ihrer zweiten Scheidung keine Wohnung fand – ich weiß noch genau, wie groß die Wohnungsnot damals war –, sah sie sich ein weiteres Mal gezwungen, mit Ihrem Vater zusammenzuleben, der mittlerweile aus dem Lager entlassen worden war. Also vegetierten die beiden in dieser winzigen Wohnung in getrennten Zimmern dahin, bis sie beide eines frühen Todes starben. Das sagt einiges über unsere sozialistische Republik aus, nicht wahr?«

Akilina erwiderte nichts, doch Lord spürte förmlich den Schmerz in ihrem Blick. »Ich lebte bei meiner Großmutter auf dem Land«, erklärte sie Paschkow, »um das Elend meiner Eltern nicht mit ansehen zu müssen. In den letzten drei Jahren habe ich nicht einmal mehr mit ihnen gesprochen. Sie starben verbittert und einsam.«

»Waren Sie dabei, als die Sowjets Ihre Großmutter abholten?«, fragte Paschkow.

Sie schüttelte den Kopf. »Damals war ich schon auf der Artistenschule. Man erklärte mir, sie sei an Altersschwäche gestorben. Die Wahrheit habe ich erst später erfahren.«

»Wenn jemand der lebende Beweis dafür ist, dass sich etwas verändern muss, dann Sie. Alles ist besser als das, was wir hinter uns haben.«

Lord empfand tiefes Mitgefühl für die Frau neben ihm. Er hätte ihr gerne versichert, dass so etwas nie wieder passieren könne, aber das wäre eine Lüge gewesen. Stattdessen fragte er: »Herr Professor, können Sie mir erklären, was hier abläuft?«

Eine Sorgenfalte zog sich über die Stirn des Älteren. »Ja, das kann ich. Haben Sie jemals von der Allrussischen Monarchistischen Versammlung gehört?«, fragte Semjon Paschkow.

Lord schüttelte den Kopf.

»Ich schon«, erklärte Akilina. »Sie wollten wieder einen Zaren einsetzen. Nach dem Ende der Sowjetunion haben sie große Partys gefeiert. Ich habe einen Zeitschriftenartikel über sie gelesen.«

Er nickte. »Ja, sie haben große Feiern abgehalten. Riesige Veranstaltungen, bei denen die Leute als Adlige, Kosaken oder Weißgardisten verkleidet waren – und das alles nur, um Publicity zu bekommen und das Thema des Zarismus in den Herzen und Köpfen der Bevölkerung zu verankern. Man hielt diese Leute damals für Extremisten, aber heute gilt das nicht mehr.«

»Ich bezweifle, dass von dieser Gruppe der Anstoß für die Volksabstimmung kam, die über die Wiedereinführung des Zarismus entschieden hat«, meinte Akilina.

»Da wäre ich mir nicht so sicher. Hinter diesen Leuten steckte mehr, als auf den ersten Blick zu erkennen war.«

»Könnten Sie endlich zur Sache kommen, Professor?«, drängte Lord.

Paschkow saß in einer fast unnatürlichen Pose da, die keinerlei Emotion verriet. »Mr. Lord, ist Ihnen die Heilige Schar ein Begriff?«

»Ja. Das war eine Gruppe von Adligen, die geschworen hatten, für die Sicherheit des Zaren ihr Leben zu geben. Eine unfähige und feige Bande. Keiner von ihnen war zur Stelle, als Alexander II. im Jahr 1881 einem Bombenattentat zum Opfer fiel.«

»Eine spätere Gruppe nahm denselben Namen an«, fuhr Paschkow fort. »Aber diese war alles andere als unfähig, glauben Sie mir. Im Gegenteil: Sie hat Lenin, Stalin und den Zweiten Weltkrieg überlebt und existiert sogar heute noch. Die öffentliche Abteilung dieser Gruppe ist die Allrussische Monarchistische Versammlung. Aber es gibt auch einen im Untergrund arbeitenden Teil, der mir unterstellt ist.«

Lord starrte Paschkow gebannt an. »Und was will diese Heilige Schar erreichen?«

»Die Sicherheit des Zaren.«

»Aber es gibt doch schon seit 1918 keinen Zaren mehr.«

»O doch!«

»Was wollen Sie damit sagen?«

Paschkow legte nachdenklich die gefalteten Hände an die Lippen. »In Alexandras Brief und Lenins Notiz haben Sie gefunden, wonach wir lange vergeblich suchten. Ich muss gestehen, dass ich bis zu dem Tag, als ich diese Schreiben las, selbst Zweifel hegte. Aber jetzt bin ich mir sicher. Ein Thronerbe hat Jekaterinburg überlebt.«

Lord schüttelte den Kopf. »Das kann doch nicht Ihr Ernst sein, Professor.«

»Doch, das ist mein voller Ernst. Meine Gruppe wurde kurz nach dem Juli des Jahres 1918 gegründet. Sowohl mein Onkel als auch mein Großonkel waren Mitglieder der Heiligen Schar. Ich selbst wurde bereits vor Jahrzehnten rekrutiert und bin mittlerweile zum Leiter der Gruppe aufgestiegen. Unser Ziel ist es, das Geheimnis zu wahren und seine Bestimmungen erst dann zu erfüllen, wenn die Zeit gekommen ist. Das ist jetzt der Fall. Aber im Verlauf der kommunistischen Säuberungen sind viele unserer Mitglieder ums Leben gekommen. Um unsere Sache nicht zu gefährden, hatte der Gründer der Gruppe dafür gesorgt, dass niemand alle Einzelheiten kannte. Auf diese Weise ist ein Großteil der Botschaft verloren gegangen, darunter auch der Ausgangspunkt. Und Sie haben diesen Ausgangspunkt jetzt wiederentdeckt.«

»Was meinen Sie damit?«

»Haben Sie die Kopien noch?«

Lord griff in sein Jackett und überreichte Paschkow die gefalteten Blätter. Dieser deutete auf eines davon. »Hier, in Lenins Notiz heißt es: Die Sache mit Jurowski bereitet mir Sorgen. Ich glaube nicht, dass die Berichte aus Jekaterinburg der Wahrheit entsprachen, und die Information in Bezug auf Felix Jussupow bestätigt diese Zweifel. Die Erwähnung von Kolja Maks finde ich interessant. Ich habe diesen Namen schon einmal gehört. Auch das Dorf Starodug ist von zwei auf ähnliche Weise zum Reden gebrachten Weißgardisten erwähnt worden. Hier haben wir die Informationen, die uns verloren gegangen waren – zum einen den Namen Kolja Maks und zum anderen das Dorf Starodug. Das ist der Ausgangspunkt unserer Suche.«

»Welcher Suche?«, fragte Lord.

»Der Suche nach Alexej und Anastasia.«

Lord ließ sich in seinen Sessel zurücksinken. So müde er auch war – was dieser Mann da sagte, versetzte ihn in Erregung.

Paschkow fuhr fort: »Als die sterblichen Überreste der Romanows im Jahr 1991 ausgegraben und später identifiziert wurden, erfuhren wir, dass zwei Personen das Massaker überlebt haben könnten. Die Leichen von Anastasia und Alexej sind bis auf den heutigen Tag nicht gefunden worden.«

»Jurowski behauptete, er habe sie anderswo verbrannt«, wandte Lord ein.

»Was hätten Sie behauptet, wenn man Ihnen befohlen hätte, die gesamte kaiserliche Familie zu töten, und dann fehlen Ihnen auf einmal zwei Leichen? Sie würden lügen, weil man Sie sonst wegen Unfähigkeit erschießen würde. Jurowski hat Moskau nur das gemeldet, was man dort hören wollte. Aber seit dem Ende der Sowjetunion sind genügend Berichte aufgetaucht, die Jurowskis Erklärung äußerst zweifelhaft erscheinen lassen.«

Paschkow hatte Recht. Eidesstattliche Erklärungen von Rotgardisten und anderen Augenzeugen bestätigten, dass möglicherweise in jener Julinacht nicht alle Mitglieder der Zarenfamilie ums Leben gekommen waren. Diese Berichte stimmten nicht in allen Punkten überein; im einen war davon die Rede, wie die leise jammernden jungen Großfürstinnen mit dem Bajonett getötet wurden, während anderen zufolge hysterische Opfer erstochen oder mit Gewehrkolben erschlagen wurden. Es gab zahlreiche Widersprüchlichkeiten. Lord erinnerte sich auch an das Bruchstück der Aufzeichnung des Wachposten von Jekaterinburg, die drei Monate nach den Morden datiert war:

Aber ich bekam mit, was ihnen bevorstand. Das Gerede über ihr Schicksal war eindeutig, Jurowski sorgte schon dafür, dass wir alle wussten, worin unsere Aufgabe bestand. Nach einer Weile sagte ich mir, dass etwas getan werden müsse, um ihnen die Flucht zu ermöglichen.

Er zeigte auf die Papiere. »Ich hätte da noch ein Blatt, Professor. Von einem der Jekaterinburger Bewacher. Ich habe es Ihnen noch nicht gezeigt, aber ich denke, es könnte Sie interessieren.«

Paschkow überflog es.

»Das passt zu den anderen Dokumenten«, erklärte er, als er es durchgelesen hatte. »Immer mehr Menschen hatten Mitleid mit der Zarenfamilie. Manche ihrer Bewacher hassten sie regelrecht und stahlen, was sie konnten, aber andere waren nicht so. Der Gründer unserer Gruppe machte sich dieses Mitgefühl zunutze.«

»Wer ist dieser Gründer?«, fragte Akilina.

»Felix Jussupow.«

Lord war schockiert. »Der Mann, der Rasputin getötet hat?«

»Genau der.« Paschkow beugte sich vor. »Mein Vater und mein Onkel erzählten mir einmal eine Geschichte über etwas, das im Alexanderpalast in Zarskoje Selo geschehen war. Diese Geschichte wurde vom Gründer selbst über die Heilige Schar weitergegeben. Die Sache ereignete sich am 28. Oktober 1916.«

Lord deutete auf den Brief, den Paschkow in der Hand hielt. »Das ist doch dasselbe Datum wie auf dem Brief Alexandras an Nikolaus.«

»Genau. Alexej hatte wieder einmal einen seiner Anfälle gehabt. Die Kaiserin ließ Rasputin suchen, und der kam und linderte die Schmerzen des Jungen. Danach brach Alexandra zusammen, und der Starez schalt sie dafür, dass sie weder an Gott noch an ihn glaube. In dieser Situation prophezeite Rasputin, dass derjenige, der die größte Schuld auf sich geladen habe, seinen Irrtum einsehen und dafür sorgen werde, dass das Blut der kaiserlichen Familie wiederauferstehen werde. Weiter sagte er, dass nur ein Rabe und ein Adler Erfolg haben könnten, wo alle scheiterten …«

»… und die Unschuld von Tieren den Weg zum Erfolg weisen werde«, ergänzte Lord.

»Der Brief bestätigt also die Geschichte, die ich vor Jahren hörte. Ein Brief, der im Staatsarchiv versteckt wurde und den Sie nun gefunden haben.«

»Aber was hat das alles mit uns zu tun?«, fragte Lord.

»Ganz einfach: Sie sind der Rabe, Mr. Lord.«

»Weil ich schwarz bin?«

»Zum Teil. Sie sind eine Rarität in diesem Land. Aber das ist noch nicht alles.« Paschkow zeigte auf Akilina. »Da wäre noch diese schöne Dame hier. Ihr Name, meine Liebe, bedeutet auf Altrussisch ›Adlerin‹.«

Ihre Miene spiegelte ihre Verblüffung wider.

»Jetzt verstehen Sie vielleicht, warum wir so neugierig sind. Nur ein Rabe und ein Adler können Erfolg haben, wo alle anderen scheitern. Der Rabe geht mit dem Adler eine Verbindung ein. Ich fürchte, Fräulein Petrowa, sie stecken da mittendrin, ob Sie nun wollen oder nicht. Deshalb habe ich auch den Zirkus überwachen lassen. Ich war mir sicher, dass Sie beide wieder zusammentreffen würden. Dass Sie es getan haben, stellt eine weitere Bestätigung von Rasputins Prophezeiung dar.«

Lord hätte beinahe losgelacht. »Rasputin war doch nur ein kleiner Opportunist. Ein korrupter Bauer, der sich das Leid der von Schuldgefühlen geplagten Zarin zunutze machte. Ohne die Bluterkrankheit des Zarewitsch hätte sich der Starez niemals in den Haushalt des Zaren einschleimen können.«

»Tatsache bleibt, dass Alexej schwer krank war und Rasputin seine Anfälle lindern konnte.«

»Aber heute wissen wir, dass solche Blutungen durch die Reduktion von emotionalem Stress beeinflussbar sind. Eine Zeit lang wurden Bluter sogar mit Hypnose behandelt. Stress wirkt sich auf den Blutfluss und die Stärke der Gefäßwände aus. Nach allem, was ich darüber gelesen habe, verfügte Rasputin einfach nur über die Fähigkeit, den Jungen zu beruhigen. Er redete auf ihn ein, erzählte ihm Geschichten über Sibirien und versprach ihm, dass alles wieder gut würde. Danach fiel Alexej meist in einen tiefen Schlaf, der naturgemäß ebenfalls zur Genesung beitrug.«

»Auch ich habe diese Erklärungen gelesen. Dennoch ist nicht zu bestreiten, dass Rasputin auf die Gesundheit des Zarewitsch einen positiven Einfluss hatte. Und außerdem hat er anscheinend seinen eigenen Tod Wochen im Voraus vorhergesagt, ebenso wie das, was geschehen würde, wenn ein Angehöriger des Zarenhofes ihn tötete. Auch hat er eine Wiederauferstehung des Zarentums prophezeit. Genau das, was Felix Jussupow in Gang setzte. Und Sie tragen nun beide zur Vollendung bei.«

Lord warf einen Blick auf Akilina. Natürlich konnten Akilinas Name und ihrer beider Begegnung reiner Zufall sein – allerdings ein Zufall, der schon vor vielen Jahrzehnten vorausgesagt worden war. Nur ein Rabe und ein Adler können Erfolg haben, wo andere scheitern. Was lief hier ab?

»Stefan Baklanow ist unfähig, über diese Nation zu herrschen«, erklärte Paschkow. »Er ist ein aufgeblasener Narr ohne jegliches Talent zum Regieren. Der lässt sich viel zu leicht manipulieren, und ich fürchte, die Zaristenkommission wird ihn mit großen Machtbefugnissen ausstatten – ein Geschenk, das die Duma wohl oder übel absegnen muss. Aber die Menschen wollen einen Zaren und keinen Hampelmann.« Paschkow richtete den Blick auf Lord. »Mr. Lord, ich weiß ja, dass es Ihre Aufgabe ist, Baklanows Anspruch auf den Thron zu untermauern, aber ich glaube, dass ein direkter Nachfahre von Nikolaus II. existiert. Wo genau er steckt, weiß ich nicht. Das können nur Sie und Fräulein Petrowa herausfinden.«

Lord seufzte. »Das ist zu viel verlangt, Professor. Viel zu viel.«

Der Anflug eines Lächelns zeigte sich auf dem Gesicht des älteren Mannes. »Ihre Reaktion ist verständlich. Aber bevor ich Ihnen noch mehr erzähle, gehe ich erst mal in die Küche und kümmere mich um das Essen. Sie können sich ja derweil unter vier Augen beraten. Schließlich müssen Sie eine schwere Entscheidung treffen.«

»Und worüber sollen wir entscheiden?«, fragte Akilina.

Paschkow erhob sich aus seinem Sessel. »Über Ihre Zukunft. Und über Russlands Zukunft.«

22

20.40 Uhr

 

Hayes legte sich auf den Rücken und griff nach der Hantelstange über seinem Kopf. Dann hob er die Hantel aus ihrer Ablage und stemmte sie schwitzend zehnmal hoch, bis er die Anstrengung in Bizeps und Schultern spürte. Er war froh, dass das Wolchow einen Fitness-Club hatte. Obwohl er schon auf die sechzig zuging, war er fest entschlossen, nicht vorzeitig abzuschlaffen. Er mochte durchaus noch vierzig Jahre vor sich haben. So viel Zeit brauchte er auch noch. Es gab nach wie vor viel zu tun, und erst jetzt war er in der Position, etwas erreichen zu können. Nach Stefan Baklanows Krönung wäre er so weit, dass er nur noch nach Lust und Laune zu arbeiten brauchte und tun und lassen konnte, was er wollte. Er hatte bereits ein Auge auf ein hübsches Chalet in den Schweizer Alpen geworfen, wo er die Natur genießen, jagen und angeln konnte und Herr über sein eigenes Anwesen wäre. Der Gedanke faszinierte ihn und motivierte ihn ausreichend, um weiterzumachen, was auch immer seine Aufgabe sein mochte.

Er stemmte die Gewichte noch ein paarmal hoch, griff sich ein Handtuch und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Dann verließ er den Fitnessraum und ging zu den Aufzügen.

Wo steckte bloß Lord? Warum hatte er nicht angerufen? Gut, er hatte Oleg gegenüber bereits geäußert, dass Lord mittlerweile womöglich an ihm zweifelte, aber überzeugt war er nicht davon. Vielleicht vermutete Lord, dass die Hoteltelefone abgehört wurden.

Lord war mit der russischen Paranoia vertraut und wusste, dass eine solche Aktion der Regierung oder auch einer privaten Gruppierung ein Leichtes wäre. Das erklärte vielleicht, warum Hayes seit Lords überstürztem Aufbruch aus Felix Olegs Büro nichts mehr von seinem Mitarbeiter gehört hatte. Aber Lord hätte ja wenigstens die Firma in Atlanta anrufen und eine Kontaktaufnahme arrangieren können. Eine Nachfrage dort vor einer Stunde hatte jedoch ergeben, dass nichts dergleichen geschehen war.

Verdammter Mist.

Miles Lord entwickelte sich zu einem echten Problem.

Hayes trat aus dem Fahrstuhl in eine holzgetäfelte Lobby im sechsten Stock. Auf jedem Stockwerk gab es einen derartigen, im Grunde überflüssigen Aufenthaltsbereich mit Zeitschriften und Zeitungen. In zwei Ledersesseln saßen Breschnew und Stalin. Er wunderte sich, sie hier zu sehen, da er in zwei Stunden mit ihnen und den anderen Mitgliedern der Geheimkanzlei in einer Villa südlich der Stadt verabredet war.

»Was verschafft mir die Ehre, meine Herren?«

Stalin erhob sich. »Es gibt da ein Problem, das sofortiges Handeln erfordert. Wir müssen miteinander reden, und telefonisch haben wir Sie nicht erreicht.«

»Wie Sie sehen, habe ich ein wenig trainiert.«

»Können wir auf Ihr Zimmer gehen?«, fragte Breschnew.

Hayes schritt voraus, vorbei an der Deschurnaja, die nicht von ihrer Zeitschrift aufblickte. Kaum hatten sie die Zimmertür hinter sich geschlossen, ergriff Stalin das Wort: »Man hat Mr. Lord im Zirkus entdeckt. Unsere Leute versuchten, ihn abzufangen. Einer wurde von Männern, die es anscheinend ebenfalls auf Lord abgesehen hatten, ausgeschaltet. Unser zweiter Mann musste seinen Gegner töten, um zu entkommen.«

»Und wer kam dazwischen?«, fragte Hayes.

»Genau da liegt das Problem. Es wird höchste Zeit, dass Sie ein paar Dinge erfahren.« Breschnew setzte sich auf den Stuhl. »Es geht seit einiger Zeit das Gerücht, dass Mitglieder der Zarenfamilie das Todesurteil überlebt haben, das die Sowjets 1918 über sie verhängten. Ihr Mr. Lord ist in geheimen Papieren auf interessantes Material gestoßen – Informationen, die uns bis dahin noch nicht vorlagen. Anfangs hielten wir die Situation für ernst, aber lösbar. Das hat sich geändert. Lord hat in Moskau Kontakt mit einem gewissen Semjon Paschkow aufgenommen. Er ist Professor für Geschichte an der Universität, führt aber auch eine Gruppierung an, die sich die Wiedereinführung des Zarismus zum Ziel gesetzt hat.«

»Aber wie könnte das unsere Arbeit gefährden?«, fragte Mayes.

Breschnew lehnte sich zurück, und Hayes betrachtete ihn gespannt.

Wladimir Kulikow vertrat die große Interessengruppe der Neureichen des Landes – der wenigen Glücklichen, denen es gelungen war, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion gewaltige Profite zu erzielen. Er war ein kleiner, stämmiger und ernsthafter Mann, dessen wettergegerbtes Gesicht Hayes immer an einen Bauern erinnerte; seine Nase hatte die Form eines Vogelschnabels, und sein kurzes, spärliches Haar war grau. Mit seiner Arroganz trieb er die anderen drei Mitglieder der Geheimkanzlei oft zur Weißglut.

Die Neureichen waren weder bei den Militärs noch in der Regierung sonderlich beliebt. Die meisten waren ehemalige Parteifunktionäre mit einem weit reichenden Netz von Beziehungen – clevere Männer, die das herrschende Chaos zu ihrem persönlichen Vorteil zu nutzen wussten. Keiner von ihnen war auf harte Arbeit angewiesen, und viele wurden von den amerikanischen Geschäftsleuten finanziert, die Hayes vertrat.

»Bis zu seinem Tod«, erklärte Breschnew, »interessierte sich Lenin sehr für das, was damals in Jekaterinburg geschehen war. Auch Stalin war die Angelegenheit so wichtig, dass er sämtliche Unterlagen über die Romanows in den staatlichen Archiven versiegeln ließ. Dann ließ er alle, die etwas darüber wussten, töten oder verbannte sie in die Straflager. Sein Fanatismus ist einer der Gründe dafür, dass heute kaum mehr etwas aus erster Hand in Erfahrung zu bringen ist. Stalin machte sich große Sorgen, dass einer der Romanows überlebt haben könnte, aber zwanzig Millionen Tote erzeugen eben ein beträchtliches Chaos, und so konnte sich nie eine ernst zu nehmende Opposition gegen ihn entwickeln. Paschkows Gruppe hat irgendetwas mit der Möglichkeit zu tun, dass ein oder zwei Romanows das Massaker überlebt haben könnten. Den genauen Zusammenhang kennen wir nicht. Es gibt aber schon seit Jahrzehnten Gerüchte, die besagen, dass einer der Romanows versteckt würde, bis die Zeit reif sei, seinen oder ihren Aufenthaltsort preiszugeben.«

Nun ergriff Stalin das Wort. »Heute wissen wir, dass nur zwei der Kinder überlebt haben können, nämlich Alexej und Anastasia, denn ihre Leichen wurden nie gefunden. Aber selbst, wenn einer von beiden oder auch alle beide damals mit dem Leben davongekommen wären, wären sie natürlich längst tot – vor allem der Junge, der ja an Hämophilie litt. Wir sprechen also von ihren Kindern oder Enkeln, falls es welche gibt. Und die wären dann direkte Nachkommen des Zaren. Damit wäre dann Stefan Baklanows Anspruch auf den Thron gegenstandslos.«

Hayes sah Stalin an, wie besorgt er war, aber er konnte einfach nicht glauben, was er soeben gehört hatte. »Es kann niemand überlebt haben. Sie wurden aus kürzester Entfernung erschossen und dann mit dem Bajonett erstochen.«

Stalin ließ eine Hand über die Schnitzereien auf der Sessellehne gleiten. »Ich sagte Ihnen schon einmal, dass es Amerikanern schwer fällt, die Schicksalsgläubigkeit der Russen zu verstehen. Deshalb will ich Ihnen ein Beispiel nennen. Ich habe sowjetische Dokumente eingesehen, die über Verhöre durch den KGB berichten. Rasputin prophezeite, das Blut der Romanows werde wiederauferstehen. Er soll auch gesagt haben, dass ein Adler und ein Rabe für diese Erneuerung sorgen würden. Ihr Mr. Lord hat nun ein Schriftstück gefunden, das diese Vorhersage bestätigt.« Er beugte sich vor. »Könnte Mr. Lord nicht als dieser Rabe durchgehen?«

»Weil er schwarz ist?«

Stalin zuckte die Achseln. »Dieser Grund ist so gut wie jeder andere.«

Hayes konnte es kaum glauben: Da versuchte ein Mann von Stalins Ruf, ihn davon zu überzeugen, dass ein zwielichtiger Bauer zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts das Wiederaufleben der Romanow-Dynastie vorhergesagt hatte. Und mehr noch – ausgerechnet ein Afroamerikaner aus South Carolina sollte dabei eine entscheidende Rolle spielen. »Ich verstehe vielleicht nichts von eurer Schicksalsgläubigkeit, aber dafür etwas von gesundem Menschenverstand. Das ist doch alles Blödsinn.«

»Semjon Paschkow glaubt das nicht«, erwiderte Breschnew prompt. »Er hat aus irgendeinem Grund seine Leute in den Zirkus geschickt, und er hat Recht behalten: Lord tauchte tatsächlich auf. Unsere Männer berichteten, dass letzte Nacht eine Zirkusartistin im Zug war. Akilina Petrowa. Sie sprachen sogar mit ihr und dachten sich nichts dabei, aber sie wurde zusammen mit Lord von Paschkows Männern aus dem Zirkus geführt. Warum wohl, frage ich Sie, wenn dahinter nicht mehr steckt?«

Gute Frage, räumte Hayes im Stillen ein.

Stalins Miene war ernst. »Akilina ist altrussisch und bedeutet ›Adlerin‹. Wussten Sie das? Sie sprechen doch unsere Sprache!«

Hayes schüttelte den Kopf.

»Das ist eine wirklich ernste Sache«, fuhr Stalin fort. »Hier gehen Dinge vor, die wir nicht verstehen. Bis vor wenigen Monaten, als die Volksabstimmung durchgeführt wurde, hat niemand eine Rückkehr des Zarismus ernsthaft für möglich gehalten, geschweige denn eine Restauration, aus der sich politische Vorteile ziehen lassen. Plötzlich aber erscheint beides möglich. Wir müssen die eingetretene Entwicklung stoppen, bevor sie uns gefährlich werden kann. Rufen Sie die Nummer an, die wir Ihnen gegeben haben, stellen Sie die Leute zusammen und suchen Sie Ihren Mr. Lord.«

»Das ist schon geschehen.«

»Dann tun Sie mehr.«

»Warum tun Sie es nicht selbst?«

»Weil Sie über eine größere Bewegungsfreiheit als wir verfügen. Deswegen müssen Sie diese Aufgabe übernehmen. Die Sache könnte sogar Auswirkungen auf internationaler Ebene haben.«

»Oleg ist bereits auf der Suche nach Lord.«

»Vielleicht könnte ja eine Bekanntmachung der Polizei über die Schießerei auf dem Roten Platz die Anzahl aufmerksamer Augen vervielfachen«, meinte Breschnew. »Immerhin kam dabei ein Polizist ums Leben. Die Miliz möchte den Schützen doch bestimmt gern finden. Womöglich löst sie unser Problem sogar mit einem wohlgezielten Schuss.«

23

»Das mit Ihren Eltern tut mir Leid«, sagte Lord.

Akilina hatte mit niedergeschlagenen Augen wortlos dagesessen, seit Paschkow das Zimmer verlassen hatte.

»Mein Vater wollte bei seinem Sohn sein. Er hatte die Absicht, dessen Mutter zu heiraten, aber um auszuwandern, musste man die Erlaubnis der Eltern einholen – ein absurdes sowjetisches Gesetz, das jeden von der Ausreise abhielt. Meine Großmutter gab natürlich ihre Zustimmung, aber mein Großvater war seit dem Zweiten Weltkrieg vermisst.«

»Und trotzdem brauchte Ihr Vater seine Zustimmung?«

Sie nickte. »Er war nie für tot erklärt worden. Das geschah nie, mit keinem der Vermissten. Kein Vater, keine Erlaubnis, kein Visum. Natürlich hatte sein Antrag auch noch weitere Folgen. Mein Vater wurde aus dem Zirkus entlassen und durfte nicht mehr auftreten. Und etwas anderes hatte er nicht gelernt.«

»Warum haben Sie Ihre Eltern in den letzten paar Jahren nicht besucht?«

»Keiner von beiden war mehr zu ertragen. Meine Mutter dachte nur noch an die Frau, die ein Kind ihres Exgatten zur Welt gebracht hatte. Und er konnte nicht vergessen, dass sie ihn wegen eines anderen Mannes verlassen hatte. Doch sie mussten die Situation zum Wohle des Kollektivs aushalten.« Akilinas Abneigung gegen ihre Eltern war nun verständlich. »Sie schickten mich zu meiner Großmutter. Zuerst hasste ich sie dafür, aber als ich älter wurde, konnte ich sie einfach nicht mehr ertragen, und so blieb ich eben auf Distanz. Sie starben beide innerhalb weniger Monate. Ein einfacher grippaler Infekt, der sich zu einer Lungenentzündung auswuchs. Ich frage mich oft, ob mich dasselbe Schicksal erwartet. Wenn ich das Publikum nicht mehr mitreißen kann, wo werde ich dann wohl enden?«

Lord wusste keine Antwort.

»Für Amerikaner ist es sicherlich schwer zu verstehen, wie das damals war. Eigentlich ist es immer noch so, zu einem gewissen Grad jedenfalls. Man konnte nicht einfach wohnen, wo man wollte, oder tun, was man wollte. Über unser Leben wurde schon früh von anderen entschieden.«

Er wusste, wovon sie sprach: Man nannte es Raspredelenie, Zuteilung. Die Entscheidung über einen Menschen im Alter von sechzehn Jahren – die Entscheidung darüber, was er mit seinem übrigen Leben anfangen sollte. Wer Beziehungen hatte, hatte auch eine Wahl. Wer keine hatte, nahm, was er bekommen konnte. Wer in Ungnade gefallen war, tat, was man ihm sagte.

»Den Kindern der Parteimitglieder ging es immer gut«, erklärte sie. »Sie bekamen die besten Stellen in Moskau – also dort, wo jeder leben wollte.«

»Außer Ihnen?«

»Ich hasste die Stadt. Für mich war sie immer ein elendes Loch. Aber ich musste zurück. Der Staat brauchte mein Talent.«

»Sie wollten also nie wirklich auftreten?«

»Wussten Sie etwa mit sechzehn schon genau, was Sie mit Ihrem Leben anfangen wollten?«

Lord schwieg.

»Einige meiner Freunde nahmen sich das Leben. Das war aus ihrer Sicht immer noch besser, als ihre Zeit am Polarkreis oder in einem abgelegenen sibirischen Dorf mit irgendeiner verhassten Arbeit zu vergeuden. Ich hatte eine Schulfreundin, die Ärztin werden wollte. Sie brachte hervorragende Leistungen, hatte aber nicht die nötigen Beziehungen zur Partei, um zum Studium zugelassen zu werden. Andere, die weit weniger begabt waren, haben es dagegen geschafft. Meine Freundin landete als Arbeiterin in einer Spielzeugfabrik.« Sie durchbohrte Lord mit ihrem Blick. »Sie sind ein Glückspilz, Mr. Lord. Wenn Sie alt oder krank werden, bekommen Sie Hilfe von Ihrer Regierung. Bei uns gibt es so etwas nicht. Die Kommunisten schimpften auf den Zaren und seine Verschwendungssucht, aber selber waren sie keinen Deut besser.«

Langsam begann Lord die Vorliebe der Russen für die ferne Vergangenheit besser zu verstehen.

»Im Zug habe ich Ihnen von meiner Großmutter erzählt. Das war alles wahr. Sie wurde eines Tages abgeholt und tauchte nie wieder auf. Sie arbeitete in einem staatlichen Laden und musste mit ansehen, wie die Geschäftsführer die Regale plünderten und den Diebstahl dann anderen in die Schuhe schoben. Irgendwann schrieb sie einen Beschwerdebrief nach Moskau. Sie wurde entlassen, ihre Rente gestrichen, und man stempelte sie als Denunziantin ab. Danach wollte niemand mehr sie einstellen. Also hat sie angefangen zu dichten. Die Dichtung war ihr Verbrechen.«

Er blickte sie fragend an: »Was meinen Sie damit?«

»Sie schrieb bevorzugt über den russischen Winter, über Hunger und das Weinen der Kinder. Über die Gleichgültigkeit der Regierung den Menschen gegenüber. Der örtliche Parteisowjet betrachtete das als Bedrohung der öffentlichen Ordnung. Sie fiel auf – ein Individuum, das sich über die Gemeinschaft erhebt. Das war ihr Verbrechen. Man betrachtete sie als Gefahr, als jemanden, der Gleichgesinnte um sich scharen könnte. Also ließ man sie verschwinden. Wir sind vielleicht das einzige Land der Welt, das seine Dichter hingerichtet hat.«

»Akilina, ich verstehe sehr gut, dass Sie alle die Kommunisten hassen. Aber man darf doch die Realitäten nicht verkennen. Vor 1917 war der Zar ein ziemlich unfähiger Herrscher, dem es mehr oder weniger egal war, ob seine Polizei Zivilisten erschoss. Am Blutsonntag des Jahres 1905 mussten Hunderte nur deswegen sterben, weil sie gegen seine Politik protestiert hatten. Dies war ein brutales Regime, das gezielt Gewalt und Terror einsetzte, um zu überleben, genau wie später die Kommunisten.«

»Aber der Zar stellt ein Bindeglied zu unserem nationalen Erbe dar. Eines, das mehrere hundert Jahre zurückreicht. Er ist die Verkörperung Russlands.«

Lord lehnte sich in seinem Sessel zurück und holte ein paarmal tief Luft. Er verfolgte die Flammen im Kamin und lauschte dem Knistern des Holzes. »Akilina, dieser Mann möchte, dass wir nach einem vermuteten Thronerben suchen, also nach jemandem, von dem wir nicht einmal wissen, ob es ihn gibt. Und das alles nur, weil so ein Idiot von Wunderheiler vor fast hundert Jahren vorhergesagt haben soll, dass wir das tun werden.«

»Ich möchte es tun.«

Er starrte sie an. »Was?«

»Schon seit unserer ersten Begegnung habe ich ein merkwürdiges Gefühl. So, als wäre es vorherbestimmt, dass wir beide uns treffen sollten. Ich hatte keine Angst, als Sie mein Abteil betraten, und meine Entscheidung, Sie bei mir übernachten zu lassen, habe ich keine Sekunde lang in Frage gestellt. Als hätte etwas in meinem Innern mir befohlen, es zu tun. Ich wusste auch, dass wir uns Wiedersehen würden.«

Lord war weniger mystisch veranlagt, als diese attraktive Russin es zu sein schien. »Mein Vater war Prediger. Er fuhr von Stadt zu Stadt, um die Menschen zu belügen. Er posaunte gern das Wort Gottes heraus, aber in Wirklichkeit nutzte er nur die Armut und die Ängste der Menschen aus. Er war der unheiligste Mann, der mir je begegnet ist. Er betrog seine Frau, seine Kinder und seinen Gott.«

»Aber er war Ihr Vater.«

»Er war bei der Empfängnis beteiligt, aber ein Vater war er nicht. Ich habe mich praktisch selbst großgezogen.«

Sie deutete auf ihre Brust. »Er ist noch immer da drinnen, ob Sie es sich eingestehen oder nicht.«

Das war so ziemlich das Letzte, was Lord zugegeben hätte. Vor einigen Jahren hatte er sogar einmal ernsthaft erwogen, seinen Nachnamen ändern zu lassen. Nur das Flehen seiner Mutter hatte ihn davon abgehalten. »Sie müssen sich darüber im Klaren sein, Akilina, dass das alles womöglich nur Schwindel ist.«

»Aber wozu sollte jemand das tun? Sie fragen sich doch schon seit Tagen, warum bestimmte Leute Sie umbringen wollen. Und dieser Professor hat Ihnen die Antwort geliefert.«

»Dann sollen er und seine Leute doch selber diesen Romanow-Überlebenden suchen. Meine Informationen haben sie ja.«

»Rasputin meinte, nur Sie und ich könnten das schaffen.«

Er schüttelte den Kopf. »Sie glauben das doch wohl nicht im Ernst?«

»Ich weiß nicht, was ich glauben soll. Als ich noch ein Kind war, sagte meine Großmutter immer, sie sehe Gutes für mich im Leben. Vielleicht hatte sie ja Recht.«

Das war nicht unbedingt die Antwort, die Lord hören wollte, aber er spürte einen ähnlichen Antrieb in sich. Zumindest würde ihn diese Suche aus Moskau herausführen – und somit aus der Reichweite von Hängelid und Cro-Magnon. Außerdem konnte er nicht leugnen, dass die ganze Angelegenheit ihn faszinierte. Paschkow hatte Recht. In den letzten paar Tagen waren eine Menge Zufälle zusammengekommen. Er glaubte zwar keine Sekunde lang, dass Rasputin die Zukunft hatte vorhersagen können, doch die Verwicklung Felix Jussupows in die Sache faszinierte ihn. Den Gründer hatte Paschkow ihn fast ehrfurchtsvoll genannt.

Lord ließ sich noch einmal die Geschichte des Mannes durch den Kopf gehen. Jussupow, ein bisexueller Transvestit, hatte Rasputin aus dem Irrglauben heraus ermordet, dass das Schicksal einer ganzen Nation davon abhing. Er war auf fast perverse Weise stolz auf seine Leistung und genoss es noch fünfzig Jahre danach, wegen dieser törichten Tat im Rampenlicht zu stehen. Er war auch einer dieser scheinheiligen Egomanen – ein gefährlicher und bösartiger Schwindler, genau wie Rasputin und Lords eigener Vater. Und doch war Jussupow offenbar in etwas verwickelt, das von einer gewissen Uneigennützigkeit zeugte.

»Also gut, Akilina. Wir machen mit. Warum auch nicht? Was bleibt mir schon anderes übrig?« Er blickte hinüber zur Küchentür, aus der Semjon Paschkow wieder ins Zimmer trat.

»Ich habe soeben eine beunruhigende Nachricht erhalten«, erklärte er. »Einer unserer Gefährten – derjenige, der den Mann aus dem Zirkus weggebracht hat – ist mit seinem Gefangenen nicht am vereinbarten Ort aufgetaucht. Er wurde tot aufgefunden.«

Hängelid war also entkommen. Keine beruhigende Aussicht.

»Das tut mir Leid«, erklärte Akilina. »Er hat uns das Leben gerettet.«

Paschkow dagegen wirkte eher teilnahmslos. »Er wusste, was er riskierte, als er sich unserer Heiligen Schar anschloss. Er ist nicht der Erste, der für die Sache sein Leben lassen musste.« Der ältere Mann setzte sich auf einen Stuhl. Er sah müde aus. »Und er wird wohl auch nicht der Letzte sein.«

»Wir haben uns entschieden. Wir machen mit«, informierte ihn Lord.

»Das hatte ich gehofft. Aber vergessen Sie nicht, was Rasputin sagte. Zwölf müssen sterben, bevor die Suche vollendet ist.«

Die hundert Jahre alte Prophezeiung bereitete Lord weniger Sorgen. Schon mehr als einmal hatten solche Mystiker sich geirrt. Hängelid und Cro-Magnon dagegen stellten eine reale Bedrohung dar.

»Ihnen ist ja wohl inzwischen klar, Mr. Lord«, sagte Paschkow, »dass Sie – und nicht Artemy Bely – das Ziel des Mordanschlags auf der Nikolskaja Uliza vor vier Tagen waren. Hinter Ihnen sind Leute her, die, wie ich vermute, schon einiges von dem wissen, was wir herausgekriegt haben. Diese Männer werden versuchen, Sie aufzuhalten.«

»Ich nehme doch an«, erwiderte Lord, »dass niemand außer Ihnen weiß, wohin wir gehen?«

»Das ist richtig. Und dabei wird es auch bleiben. Nur Sie, ich und Fräulein Petrowa kennen die Einzelheiten bezüglich unseres Ausgangspunkts.«

»Das stimmt nicht ganz. Der Mann, für den ich arbeite, weiß von Alexandras Schreiben, aber ich wüsste nicht, wie er eine entsprechende Verbindung herstellen sollte. Und selbst wenn, würde er es niemandem erzählen.«

»Haben Sie Gründe, Ihrem Chef zu misstrauen?«

»Ich zeigte ihm die Sachen vor zwei Wochen, und er ging nie darauf ein. Ich glaube nicht einmal, dass er groß darüber nachgedacht hat.« Dann kam ihm ein anderer Gedanke. »Wollen Sie uns nicht noch mehr Details liefern? Ich meine, jetzt, wo wir uns bereit erklärt haben, Ihnen bei der Suche zu helfen?«

Paschkow richtete sich auf, und sein Gesicht belebte sich. »Der Gründer hat die Suche in einzelnen Stufen aufgebaut, die voneinander unabhängig sind. Wenn die richtige Person mit den richtigen Worten auf der jeweiligen Stufe auftaucht, erhält sie die Information für die nächste. Nur Jussupow kannte den gesamten Plan, und wenn man ihm glauben darf, hat er niemandem davon erzählt.

Wir wissen jetzt, dass irgendwo in Starodug der erste Hinweis zu finden ist. Ich habe es nach unserem Gespräch vor ein paar Tagen überprüft. Kolja Maks war einer jener Palastwächter des Zaren, die nach der Revolution zu den Bolschewiken überliefen. Als die Romanows ermordet wurden, war er Mitglied des Ural-Sowjets. In den Anfängen der Revolution, also bevor Moskau alles beherrschte, regierten die örtlichen Sowjets ihr jeweiliges Gebiet. Somit hatte der Sowjet des Ural weit mehr Einfluss auf das Schicksal der Zaren als der Kreml. Das Gebiet des Ural war extrem antizaristisch eingestellt. Dort wollte man Nikolaus’ Tod schon von seinem ersten Tag in Jekaterinburg an.«

»Ich erinnere mich«, erklärte Lord und dachte an den von Lenin im März 1918 unterzeichneten Friedensvertrag, mit dem sich Russland aus dem Ersten Weltkrieg zurückgezogen hatte. »Lenin dachte, er wäre die Deutschen los. Mein Gott, er hat praktisch um Frieden gebettelt. Die Bedingungen waren so demütigend, dass einer der russischen Generäle sich kurz nach der Unterzeichnung erschoss. Dann wurde am 6. Juli 1918 der deutsche Botschafter in Moskau erschossen, und Lenin musste eine weitere deutsche Invasion befürchten. Also plante er, die Romanows als Tauschobjekt zu benutzen, weil er dachte, ihre Freiheit läge dem Kaiser am Herzen, vor allem Alexandra, die aus Deutschland stammte.«

»Aber die Deutschen wollten von den Romanows nichts wissen«, fügte Paschkow hinzu. »Von da an wurde die Familie zur Last. Deshalb erhielt der Sowjet des Ural den Befehl, sie zu töten. Kolja Maks war womöglich in die Sache verwickelt und vielleicht sogar an der Hinrichtung beteiligt.«

»Professor, der Mann ist mit Sicherheit tot«, sagte Akilina.

»Aber es war seine Pflicht, dafür zu sorgen, dass die Information weitergegeben wurde. Und wir müssen annehmen, dass Maks seinem Schwur treu geblieben ist,«

Lord war perplex. »Warum suchen Sie eigentlich nicht selber nach Maks? Mir ist klar, dass Sie seinen Namen erst jetzt erfahren haben, aber warum schicken Sie jetzt uns zu ihm?«

»Der Gründer sorgte dafür, dass die Informationen nur an den Raben und den Adler weitergegeben werden können. Selbst wenn ich hinginge – oder auch jemand anders –, würden wir nichts erfahren. Wir müssen Rasputins Prophezeiung respektieren. Der Starez sagte, dass nur Sie beide Erfolg haben könnten, wo alle anderen scheitern. Auch ich muss meinem Schwur treu bleiben und den Willen des Gründers respektieren.«

Lord versuchte, sich an Einzelheiten über Felix Jussupow zu erinnern. Seine Familie war eine der reichsten in ganz Russland gewesen, und Felix war zu ihrem Oberhaupt geworden, als ein älterer Bruder bei einem Duell ums Leben kam. Doch seit seiner Geburt war er für seine Familie eine einzige Enttäuschung gewesen. Seine Mutter hatte sich ein Mädchen gewünscht, und um sich zu trösten, ließ sie Felix das Haar lang wachsen und zog ihm Mädchenkleider an, bis er fünf war.

»War Jussupow nicht von Rasputin fasziniert?«, fragte Lord.

Paschkow nickte. »Einige Biografen unterstellen sogar, dass Rasputin homosexuelle Avancen von Seiten Jussupows zurückgewiesen haben könnte, was wiederum Jussupows späteren Hass auf Rasputin erklären würde. Seine Frau war die Lieblingsnichte Nikolaus’ II. und galt als die vielleicht beste Partie in ganz Russland. Er war Nikolaus zu größter Loyalität verpflichtet und betrachtete es als seine Aufgabe, den Zaren von Rasputins verderblichem Einfluss zu befreien. Diese absurde Idee wurde noch von anderen Adligen unterstützt, die auf die Position des Starez bei Hofe neidisch waren.«

»Ich habe Jussupow nie für sonderlich intelligent gehalten, eher für einen Gefolgsmann als für eine Führungspersönlichkeit.«

»Vielleicht wollte er selbst diesen Eindruck erwecken. Wir gehen jedenfalls davon aus.« Paschkow hielt inne. »Nun, da Sie einverstanden sind, kann ich Ihnen ja mehr über die Informationen erzählen, die mich erreicht haben. Mein Großonkel und mein Onkel hüteten ihren Teil des Geheimnisses bis zu ihrem Tod. Es sind die Worte, die an die nächste Person in der Kette weitergegeben werden müssen, also nach meiner jetzigen Überzeugung entweder an Kolja Maks oder an seinen Nachfolger. ›Wer aber bis ans Ende beharret, der wird selig.‹«

 

Lord musste sofort an seinen Vater denken. »Das ist aus dem Matthäus-Evangelium.«

Paschkow nickte. »Diese Worte sollten den Zugang zum zweiten Teil der Reise liefern.«

»Ihnen ist doch wohl klar, dass das Ganze ein hoffnungsloses Unterfangen sein könnte«, meinte Lord.

»Das glaube ich jetzt nicht mehr. Sowohl Alexandra als auch Lenin erwähnten dieselbe Information. Alexandra verfasste ihren Brief im Jahr 1916 und beschrieb darin den Vorfall mit Rasputin, den der Gründer unabhängig davon an uns überlieferte. Sechs Jahre später schrieb Lenin nieder, was ein gefolterter Weißgardist geäußert hatte. Er erwähnte eigens den Namen Kolja Maks. Nein. Da ist etwas in Starodug. Etwas, das Lenin verborgen blieb. Nach seinem Schlaganfall im Jahr 1922 war Lenin so geschwächt, dass er sich mehr oder weniger aus der Politik zurückzog. 1924 starb er dann. Vier Jahre später ließ Stalin das gesamte Material versiegeln, und es blieb versiegelt bis 1991. Die Romanow-Sache, wie Stalin es nannte. Er verbot allen, die Zarenfamilie auch nur zu erwähnen. Deshalb ist keiner je Jussupows Spur gefolgt, falls jemand diese Spur bemerkt haben sollte.«

»Wenn ich mich recht entsinne«, sagte Lord, »betrachtete Lenin den Zaren nicht unbedingt als potenziellen Sammelpunkt für eine Opposition. Im Jahr 1918 waren die Romanows ziemlich in Verruf geraten – Sie wissen schon, ›Nikolaus der Blutige‹ und so. Die Kampagne der Kommunisten gegen die Zarenfamilie war recht erfolgreich.«

Paschkow nickte. »Einige der Briefe des Zaren und der Zarin wurden damals erstmals veröffentlicht. Das war alles Lenins Idee. So konnten die Menschen aus erster Hand erfahren, wie gleichgültig die Zarenfamilie ihnen gegenüber geworden war. Natürlich war das veröffentlichte Material sehr genau ausgewählt und stark bearbeitet. Zudem wollte Lenin damit für das Ausland ein Signal setzen. Er hoffte, der deutsche Kaiser sei an der Befreiung Alexandras interessiert. Vielleicht glaubte er, durch das Spiel mit ihrem Schicksal die Deutschen zum Friedensvertrag bewegen oder die Rückkehr russischer Kriegsgefangener erreichen zu können. Aber die Deutschen verfügten über ein ausgedehntes Spionagenetz in ganz Russland und besonders im Ural, und deshalb nehme ich an, dass der Kaiser von der Ermordung der Zarenfamilie im Juli 1918 wusste. Lenin handelte gewissermaßen mit Leichen.«

»Und was ist mit all den Geschichten, dass die Zarin und ihre Töchter überlebt haben?«

»Das sind nur weitere Desinformationen, die von den Sowjets gestreut wurden. Lenin war nicht sicher, wie die Welt die Ermordung von Frauen und Kindern aufnehmen würde. Moskau versuchte mit allen Mitteln, das Geschehene als gerechte Exekution hinzustellen, die auf heldenhafte Weise ausgeführt worden war. Also erfanden die Kommunisten eine Geschichte, der zufolge die weiblichen Romanows zunächst von der Erschießung ausgenommen wurden und später in einer Schlacht gegen die Weiße Armee ums Leben kamen. Lenin wollte die Deutschen mit Fehlinformationen verunsichern. Erst als er merkte, dass das Schicksal der Romanows ohnehin niemanden interessierte, ließ er die Geschichte nicht weiter verbreiten.«

»Aber das Gerücht blieb im Umlauf.«

Paschkow grinste. »Das ist zum Teil auch einigen Mitgliedern unserer Heiligen Schar zu verdanken. Meine Vorgänger verstanden es hervorragend, falsche Fährten zu legen. Zum Plan des Gründers gehörte auch, die Sowjets und die ganze Welt in die Irre zu führen. Obwohl ich mir nicht sicher bin, glaube ich, dass die Sache mit Anna Anderson von Jussupow eingefädelt wurde. Er brachte sie zu diesem ganzen Schwindel, und die Welt fiel bereitwillig darauf herein.«

»Bis DNA-Analysen sie als Hochstaplerin entlarvten.«

»Aber das geschah erst in jüngster Zeit. Ich vermute, dass sämtliche Details, die sie für ihre Täuschung brauchte, von Jussupow stammten. Den Rest besorgte sie mit ihrem schauspielerischen Talent.«

»Sie meinen, das alles gehörte zu seinem Plan?«

»Das und noch viel mehr, Mr. Lord. Jussupow lebte bis 1967 und stellte persönlich sicher, dass sein Plan aufging. Die Fehlinformationen zielten nicht nur darauf ab, die Sowjets in Sicherheit zu wiegen; sie sollten auch die übrigen Romanows im Zaum halten. Die konnten nie ganz sicher sein, ob nicht doch ein direkter Thronerbe überlebt hatte, und so gelang es keiner Gruppierung jemals, die Familie vollständig unter ihre Kontrolle zu bringen. Anna Anderson spielte ihre Rolle so hervorragend, dass sogar viele der Romanows unter Eid schworen, sie sei Anastasia. Jussupow hatte das alles brillant eingefädelt. Nach einiger Zeit tauchten überall Thronanwärter auf. Es gab Bücher, Filme und Streitigkeiten innerhalb der Romanow-Verwandtschaft. Die Täuschung nahm ein Eigenleben an.«

»Und das alles nur, um das wahre Geheimnis zu hüten.«

»Genau. Seit Jussupows Tod ist die Verantwortung auf andere – unter anderem auch auf mich – übergegangen, doch wegen der Reisebeschränkungen der Sowjets war eine erfolgreiche Arbeit kaum möglich. Vielleicht ist ja Ihr Auftauchen ein Geschenk Gottes.« Paschkow durchbohrte Lord mit seinem Blick. »Ich freue mich, Mr. Lord, dass Sie sich dazu durchringen konnten, uns zu helfen. Diese Nation ist auf Ihre Dienste angewiesen.«

»Ich bin mir nur nicht sicher, ob ich eine große Hilfe sein kann.«

Paschkow wandte sich an Akilina. »Auch Ihnen danke ich, meine Liebe.« Dann lehnte er sich zurück. »Jetzt aber zu weiteren Details. In Rasputins Prophezeiung heißt es, dass auch Tiere eine Rolle spielen werden – auch wenn ich keine Ahnung habe, in welcher Hinsicht. Und Gott werde dafür sorgen, dass die Rechtmäßigkeit des Anspruchs nicht in Frage gestellt werden kann. Das könnte sich auf eine DNA-Analyse beziehen. Damit könnten wir die Authentizität jeder Person verifizieren, die Sie finden. Wir leben schließlich nicht mehr zu Zeiten Lenins oder Jussupows. Heute kann uns die Wissenschaft weiterhelfen.«

Die angenehme Atmosphäre der Wohnung hatte Lords Nerven beruhigt, und allmählich wurde er müde. Außerdem war der Duft nach Kohl und Kartoffeln einfach zu verlockend. »Professor, ich bin halb verhungert.«

»Aber natürlich. Die Männer, die Sie hergebracht haben, bereiten schon alles vor.« Er wandte sich wieder an Akilina. »Während wir essen, schicke ich jemanden in Ihre Wohnung, um alles zu holen, was Sie brauchen. Ich würde empfehlen, dass Sie Ihren Reisepass mitnehmen, denn es ist nicht vorauszusehen, wohin diese Reise führt. Wir haben auch Beziehungen zu der Organisation, der der Zirkus gehört. Ich werde dafür sorgen, dass Sie eine Auszeit bekommen, die Ihre Karriere nicht gefährdet. Falls diese ganze Geschichte zu nichts führt, wartet hinterher wenigstens Ihre Arbeit auf Sie.«

»Danke.«

»Was ist mit Ihren Sachen, Mr. Lord?«

»Ich gebe den Männern meinen Hotelschlüssel, dann können sie mir meinen Koffer bringen. Außerdem muss ich meinen Chef, Taylor Hayes, benachrichtigen.«

»Davon würde ich abraten. Die Prophezeiung fordert absolute Geheimhaltung, und das sollten wir respektieren.«

»Aber Taylor könnte vielleicht behilflich sein.«

»Sie benötigen keine Hilfe.«

Lord war zu müde zum Diskutieren, und außerdem hatte Paschkow vermutlich Recht. Je weniger Leute sein Ziel kannten, desto besser. Hayes konnte er später immer noch anrufen.

»Heute Nacht sind Sie hier in Sicherheit«, erklärte Paschkow. »Und gleich morgen können Sie mit der Suche beginnen.«

24

Samstag, 16. Oktober

16.45 Uhr

 

Lord lenkte den verbeulten Lada über die Landstraße. Paschkow hatte ihm das voll getankte Fahrzeug und fünftausend US-Dollar überlassen. Lord hatte um amerikanische Währung statt um Rubel gebeten, weil, wie Paschkow am Vorabend selbst erklärt hatte, niemand wusste, wohin die Reise führte. Lord hielt das Ganze noch immer für Zeitverschwendung, doch nun, fünf Autostunden südlich von Moskau, fühlte er sich schon unendlich viel besser.

Er trug Jeans und einen Pullover, nachdem es Paschkows Leuten problemlos gelungen war, seinen Koffer aus dem Wolchow zu holen. Er war ausgeruht, und eine heiße Dusche sowie eine Rasur hatten Wunder gewirkt. Auch Akilina sah erfrischt aus. Paschkows Männer hatten ihre Kleidung, ihren Pass und ihr Ausreisevisum beschafft. Zirkusdarsteller hatten ein unbegrenzt gültiges Visum.

Sie hatte während der Fahrt die meiste Zeit geschwiegen. Bekleidet war sie mit einem Rollkragenpullover, Jeans und einer Wildlederjacke – ein Outfit, das sie, wie sie erklärte, im Vorjahr in München erworben hatte. Dunkle Farben und ein konservativer Stil standen ihr gut. Das hohe Revers betonte ihre schmalen Schultern und verlieh ihr einen Annie-Hall-Look, der Lord gut gefiel.

Durch die Windschutzscheibe sah er Felder und Wälder vorüberziehen. Die schwarze Erde war so ganz und gar nicht mit dem roten Boden des nördlichen Georgia zu vergleichen. Diese Gegend hier war berühmt für ihre Kartoffeln. Belustigt rief Lord sich die Geschichte von Peter dem Großen in Erinnerung, der den Bauern per Erlass befohlen hatte, die seltsame Pflanze anzubauen. Erdäpfel hatte Peter sie genannt. Da Kartoffeln aber in Russland unbekannt waren, wusste auch der Zar nicht, welcher Teil der Pflanze geerntet werden musste. Als die Bauern in ihrer Verzweiflung alle Teile mit Ausnahme der Knollen durchprobierten, wurde ihnen übel. Wütend und enttäuscht verbrannten sie die gesamte Ernte. Erst als jemand das Innere der verkohlten Knollen versuchte, hatte die Pflanze eine neue Heimat gefunden.

Ihre Fahrt führte sie durch mehrere heruntergekommene und verschmutzte Zentren der Metallverhüttung und Traktorenherstellung. In der Luft hing ein bitterer Geruch nach Kohle und Säure, und alles war voller Ruß. In der ganzen Region hatten in früheren Zeiten immer wieder Kämpfe getobt; Heiden hatten sich hier gegen Christen zur Wehr gesetzt, Fürsten um Macht gerungen und Tataren ihren Eroberungsdrang gestillt. Es war ein Ort, an dem, wie es ein Schriftsteller einmal formuliert hatte, russische Erde russisches Blut trank.

Starodug war eine lang gezogene, schmale Stadt, die mit ihren Kolonnaden und ihren Holz- und Backsteinhäusern an die Zarenzeit erinnerte. Weiße Birkenstämme säumten die Straßen, und eine Kirche mit drei nachtblauen Zwiebeltürmen und goldenen Sternen, die in den letzten Strahlen der untergehenden Sonne glänzten, beherrschte das Zentrum. Heruntergekommene Häuser, aufgerissenes Straßenpflaster und ungepflegte Grünanlagen verbreiteten eine deprimierende Atmosphäre des Verfalls.

»Haben Sie eine Idee, wie wir Kolja Maks finden können?«, fragte er Akilina, als sie langsam durch eine der Straßen rollten.

Sie zeigte nach vorn. »Das dürfte wohl kein Problem sein.«

Durch die schmutzige Windschutzscheibe sah er das Schild über dem Café Sneschinki, das Kuchen, Fleischpasteten und Eiskrem als Spezialitäten anpries. Das Lokal nahm das Erdgeschoss eines dreistöckigen Backsteinhauses mit auffälligen, mit Schnitzereien verzierten Fensterrahmen ein. Auf dem Schild stand auch: INHABER JOSIF MAKS.

»Das ist ungewöhnlich«, bemerkte Lord.

In Russland war es nicht üblich, Besitzverhältnisse derart offen darzulegen. Lord vergewisserte sich, dass keines der anderen Ladenschilder um ihn herum mit Namen versehen war. Er erinnerte sich auch an den Newski Prospekt in St. Petersburg und den Arbat in Moskau, wo in den Geschäften nur in den seltensten Fällen Preise, geschweige denn der Name des Herstellers zu finden waren – offenbar weitere Überbleibsel des Bolschewismus.

»Das ist vielleicht ein Zeichen der Zeit«, meinte Akilina. »Für das Aufkommen des Kapitalismus – selbst hier in der russischen Provinz.« Ihr Lächeln verriet, dass dies ein Scherz sein sollte.

Lord parkte den Lada, und sie stiegen aus, um im Dämmerlicht zum Café Sneschinki zurückzugehen. Der Gehsteig war leer bis auf einen Hund, der einer Elster hinterherjagte. Nur wenige Geschäfte waren erleuchtet. Außerhalb der großen Städte waren nur die wenigsten Läden in Russland am Wochenende geöffnet – auch das ein Relikt der Vergangenheit, die hier noch so vieles dominierte.

Das Café war nur spärlich möbliert. In der Mitte standen vier Reihen Tische. In Glasvitrinen lag das Speiseangebot des Tages. Der Duft nach bitterem Kaffee erfüllte die Luft. Drei Gäste saßen an einem Tisch, ein vierter an einem anderen. Niemand schien Akilina und ihn zu beachten, sodass Lord sich schon fragte, wie viele Schwarze hier wohl sonst so vorbeikamen.

Der Mann hinter den Glasvitrinen war klein und korpulent. Er hatte buschiges, kupferrotes Haar und einen struppigen roten Vollbart. Seine Schürze wies Flecken unterschiedlichster Herkunft auf, und als er sich ihnen näherte, verströmte er einen Geruch, der an Feta-Käse erinnerte. Er trocknete sich gerade die Hände an einem schmutzigen Handtuch ab.

»Sind Sie Josif Maks?«, fragte Lord auf Russisch.

Sein Gegenüber bedachte ihn mit einem seltsamen Blick.

»Wo kommen Sie denn her?«, fragte der Mann.

Lord beschloss, so wenig wie möglich von sich preiszugeben. »Warum sollte das eine Rolle spielen?«

»Weil Sie hier in meinen Laden kommen und Fragen stellen. Und weil Sie wie ein Russe reden.«

»Dann darf ich also annehmen, dass Sie Josif Maks sind?«

»Sagen Sie schon, was Sie von mir wollen.«

Sein Tonfall war schroff und unfreundlich. Lord fragte sich, ob das auf Vorurteile oder Ignoranz zurückzuführen war. »Hören Sie, Herr Maks, wir sind nicht gekommen, um Ihnen Schwierigkeiten zu machen. Wir suchen nach einem Mann namens Kolja Maks. Er ist wahrscheinlich schon lange tot, aber vielleicht wissen Sie ja, ob noch irgendwelche Verwandten von ihm hier leben?«

Der Mann schaute sie mit stechendem Blick an. »Wer seid ihr?«

»Mein Name ist Miles Lord, und das ist Akilina Petrowa. Wir kommen aus Moskau und suchen Kolja Maks.«

Der dicke Mann warf das Handtuch zur Seite und verschränkte die Arme vor der Brust. »Hier in der Gegend heißen viele Maks. Aber einen Kolja kenne ich nicht.«

»Er muss zur Zeit Stalins hier gelebt haben. Seine Kinder oder Enkel könnten ja noch hier wohnen.«

»Ich heiße Maks nach meiner Mutter; von den anderen habe ich nie einen näher gekannt.«

»Aber Ihr Nachname ist doch Maks?«, setzte Lord schnell nach.

Der Russe schien nervös zu werden. »Ich habe keine Zeit für so was. Ich muss meine Gäste bedienen.«

Akilina trat an die Glasvitrine. »Herr Maks, es ist wirklich wichtig. Wir suchen nach den Verwandten von Kolja Maks. Bitte sagen Sie uns doch, ob sie noch hier leben.«

»Wie kommen Sie darauf, dass sie hier leben könnten?«

Lord hörte Schritte hinter sich und drehte sich um. Ein groß gewachsener Polizist in der Uniform der Milizija und mit einer blauen Pelz-Schapka auf dem Kopf betrat das Café. Er knöpfte seinen Mantel auf, zog ihn aus, setzte sich an einen der Tische und gab Josif Maks ein Zeichen. Der Inhaber verstand und begann sofort, Kaffee zu brauen. Lord trat dichter an den Tresen heran. Der Polizist machte ihn nervös. Mit leiser Stimme sagte er zu Maks, der ihm den Rücken zuwandte:

»Wer aber bis ans Ende beharret, der wird selig.«

Maks’ Kopf fuhr herum. »Was soll das heißen?«

»Sagen Sie’s mir.«

Der Russe schüttelte den Kopf. »Verrückter Amerikaner. Seid ihr alle plemplem?«

»Wer sagt, dass ich Amerikaner bin?«

Maks schaute Akilina an. »Was machen Sie eigentlich bei diesem Tschorni

Lord reagierte nicht auf die abfällige Bemerkung. Sie mussten das Café nach Möglichkeit verlassen, ohne Aufsehen zu erregen. In Maks’ Augen jedoch lag etwas, das so gar nicht zu seinen Worten passen wollte. Lord war sich nicht sicher, hatte aber das Gefühl, der Mann wolle ihm womöglich verständlich machen, dass hier jetzt weder der richtige Ort noch der richtige Zeitpunkt waren. Er beschloss, es darauf ankommen zu lassen. »Wir reisen morgen wieder ab, Herr Maks. Könnten Sie uns vielleicht sagen, wo wir hier übernachten können?«

Der Kaffee war fertig, und der Mann brachte ihn zum Tisch des Polizisten. Dann kam er wieder zurück.

»Versuchen Sie’s doch mal im Hotel Oktjabrski. Da vorn an der Ecke nach links, dann drei Querstraßen weiter Richtung Zentrum.«

»Danke«, sagte Lord.

Maks zog sich schweigend hinter den Tresen zurück. Lord und Akilina mussten auf dem Weg zum Ausgang an dem Polizisten vorbei, der an seinem dampfenden Kaffee nippte. Der Mann musterte den Amerikaner auffallend lange. Ein Blick zu den Glasvitrinen verriet Lord, dass auch Josif Maks dies bemerkt hatte.

 

Sie fanden das Oktjabrski. Das Hotel befand sich in einem vierstöckigen Gebäude mit Balkonen zur Straße hin, die nicht sehr vertrauenerweckend wirkten. Der Fußboden im Eingangsbereich war mit schwarzem Staub bedeckt, die Luft geschwängert vom schwefligen Gestank undichter Abwasserrohre. Der mürrische Angestellte am Empfang erklärte sofort, dass das Hotel keine Ausländer aufnehme. Da nahm Akilina die Sache in die Hand und ließ den Mann wissen, dass Lord ihr Gatte und mit dem gebührenden Respekt zu behandeln sei. Nach einigem Hin und Her überließ der Mann ihnen zu einem überhöhten Preis ein Zimmer im dritten Stock.

Das Zimmer war geräumig, aber reichlich abgenutzt, und seine Ausstattung erinnerte an Spielfilme der Vierzigerjahre. Das einzige Zugeständnis an die Moderne war ein kleiner Kühlschrank, der in einer Ecke vor sich hin brummte. Das angrenzende Bad war auch nicht viel besser; es wies weder Toilettenpapier noch eine Klobrille auf, und als Lord sich das Gesicht waschen wollte, stellte er fest, dass es zwar fließendes heißes und kaltes Wasser gab, doch lief immer nur das eine oder das andere.

»Ich nehme an, so weit nach Süden kommen nicht viele Touristen«, sagte er, als er aus dem Badezimmer trat und sich das Gesicht trocknete.

Akilina saß am Rand des Betts. »Diese Gegend war in der kommunistischen Zeit Sperrgebiet. Fremde dürfen erst seit kurzem hierher.«

»Ich weiß sehr zu schätzen, wie Sie das an der Rezeption geregelt haben.«

»Tut mir Leid, was Maks zu Ihnen gesagt hat. Er hatte kein Recht dazu.«

»Ich bin mir gar nicht so sicher, ob er es wirklich so gemeint hat«, entgegnete Lord und erklärte ihr, was er aus dem Blick des Russen abgelesen hatte. »Ich denke, der Polizist hat ihn genauso nervös gemacht wie uns.«

»Aber warum denn? Er sagte doch, er wisse nichts von einem Kolja Maks.«

»Ich glaube, er hat gelogen.«

Sie lächelte. »Sie sind aber ein optimistischer Rabe.«

»Ich weiß nicht, ob ich optimistisch bin, aber ich gehe davon aus, dass an dieser ganzen Angelegenheit mindestens ein Körnchen Wahrheit ist.«

»Das hoffe ich sehr.«

Neugierig hakte er nach: »Warum?«

»Was Sie gestern Abend sagten, ist richtig. Die Russen wollen sich nur an das Gute am zaristischen Regime erinnern. Aber wie Sie zu Recht sagten: Es war eine Autokratie, repressiv und grausam. Trotzdem … diesmal könnte es anders werden.« Ihre Lippen formten sich zu einem Lächeln. »Mit dem, was wir hier tun, könnten wir die Sowjets endgültig austricksen. Die haben sich immer für so schlau gehalten. Aber die Romanows haben vielleicht überlebt. Wäre das nicht das passende Ende?«

Ja, zweifellos, dachte er.

»Haben Sie Hunger?«, fragte Akilina.

Er bejahte. »Ich denke, wir sollten uns so wenig wie möglich blicken lassen. Ich gehe nur kurz runter und kaufe etwas zu essen. Brot und Käse sahen ganz gut aus. Das können wir hier dann in aller Ruhe verspeisen.«

Sie lächelte. »Das wäre gut.«

 

Unten im Eingangsbereich trat Lord an die alte Frau hinter dem kleinen Verkaufsstand heran und wählte einen Laib Schwarzbrot, etwas Käse, ein paar Würste und zwei Flaschen Bier. Er zahlte mit einem Fünf-Dollar-Schein, den sie bereitwillig annahm. Lord war schon wieder auf dem Weg zur Treppe, als er draußen Autos kommen hörte. Blaue und rote Lichter blitzten in der Dunkelheit auf und drangen durch das Fenster in den Empfangsbereich. Als er hinausblickte, sah er, wie drei Streifenwagen vor dem Hotel zum Stehen kamen und die Fahrzeugtüren aufsprangen.

Er wusste, wohin sie wollten.

Er rannte die Treppe hoch und in ihr Zimmer. »Nehmen Sie Ihre Sachen. Unten ist Polizei.«

Akilina reagierte sofort, sie warf ihre Schultertasche über und zog den Mantel an.

»Wohin gehen wir?«

Er wusste, dass nur eine Richtung in Frage kam – hoch in den vierten Stock. »Kommen Sie.« Er ging zur Tür hinaus und schloss sie leise.

Sie stiegen die schwach beleuchtete Eichentreppe hinauf, als von unten polternde Schritte heraufdrangen. Auf Zehenspitzen schlichen sie ins oberste Stockwerk. Unter ihnen hallten Schritte durch den Flur. Im Licht einer nackten Glühbirne sah Lord sich die sieben Zimmer an. Drei lagen zur Straßenseite, drei zur Rückseite des Gebäudes, das letzte am Ende des Flurs. Alle Türen waren geöffnet, die Zimmer also nicht belegt.

Unten klopften Fäuste auf Holz.

Lord mahnte Akilina durch ein Handzeichen zur Stille und zeigte auf das letzte Zimmer.

Leise schloss er die Türen der anderen Räume zu beiden Seiten des Korridors. Dann folgte er Akilina in das hinterste Zimmer und sperrte leise die Tür ab.

Von unten war wieder Gepolter zu hören.

Das Zimmer war dunkel, und Lord wagte nicht, die Nachttischlampe anzuschalten. Er ging zum Fenster und schaute hinaus. Etwa zehn Meter unter ihnen lag eine Seitenstraße mit parkenden Autos. Er riss das Fenster auf und steckte den Kopf in die Kälte hinaus. Kein Polizist war zu sehen. Vielleicht hielten sie ihre Überrumpelungstaktik für ausreichend, um ihr Ziel zu erreichen. Rechts vom Fenster führte ein Regenrohr von der Dachrinne zum Boden hinunter.

»Wir sitzen in der Falle.«

Akilina ging an ihm vorbei und beugte sich aus dem Fenster. Schwere Schritte kamen die Treppe herauf. Die Polizisten hatten mittlerweile offenbar festgestellt, dass das Zimmer im dritten Stock leer war. Die geschlossenen Türen würden sie ein wenig aufhalten, aber nicht sehr lange.

Akilina nahm ihre Tasche von der Schulter und warf sie aus dem Fenster. »Geben Sie mir Ihre.«

Er gehorchte. »Was haben Sie vor?«

Sie warf seine Tasche ebenfalls hinaus. »Sehen Sie zu, was ich mache, und folgen Sie mir.«

Akilina schwang sich aus dem Fenster und hielt sich an der Fensterbank fest. Er sah zu, wie sie die Hände um das feuchte Regenrohr legte und die Füße gegen die Backsteinfassade stemmte. Geschickt hangelte sie sich hinab, und nach wenigen Sekunden sprang sie von der Hauswand auf die Straße.

Im Flur wurden Türen geöffnet. Er hatte keine andere Wahl. In wenigen Sekunden würde das Zimmer voller Polizisten sein.

Er stieg aus dem Fenster und bekam das Rohr zu fassen. Das Metall war eiskalt, und seine steifen Hände rutschten auf dem nassen Rohr ab; dann aber griff er fester zu, stemmte die Füße gegen die Außenwand und begann mit dem Abstieg.

Fäuste trommelten gegen die Zimmertür.

Lord ließ sich schneller nach unten gleiten. Als er das Fenster des zweiten Stocks passierte, hörte er oben Holz splittern. Sie hatten die Tür aufgebrochen. An einer der Streben, mit denen das Rohr an der Wand befestigt war, verlor er den Halt. Gerade, als oben einer der Polizisten den Kopf aus dem Fenster streckte, fiel er. Er schrammte an den rauen Ziegelsteinen entlang, wappnete sich gegen den Aufprall und schlug auf dem Beton auf, rollte sich ab und knallte gegen den Reifen eines geparkten Autos.

Als er nach oben blickte, sah er eine Pistole in der Hand des Polizisten. Den Schmerz in seinem Oberschenkel ignorierend, sprang Lord auf, packte Akilina und schob sie auf die andere Seite des Fahrzeugs.

Zwei Schüsse fielen.

Eine Kugel prallte von der Motorhaube ab, die andere durchschlug die Windschutzscheibe.

»Kommen Sie, aber bleiben Sie geduckt«, sagte er.

Mit ihren Reisetaschen krochen sie im Schutz der parkenden Autos durch die Seitenstraße. Mehrere Geschosse folgten ihnen, doch der Schusswinkel vom Fenster des vierten Stocks war ungünstig, und die Kugeln schlugen in Metall und Glas ein. Sie waren fast an der Hauptstraße angekommen, und Lord fragte sich, ob dort weitere Polizisten auf sie warteten.

Er sah sich in beiden Richtungen um. Die Geschäfte waren dunkel. Straßenlaternen gab es nicht. Lord warf seine Tasche über die Schulter, packte Akilinas Hand und rannte mit ihr auf die andere Straßenseite.

Von rechts kam ein Auto um die Ecke geschossen. Scheinwerfer blendeten Lord. Der Wagen raste geradewegs auf sie zu.

Wie erstarrt blieben sie mitten auf der Straße stehen.

Bremsen quietschten, Reifen rutschten über das feuchte Pflaster.

Der Wagen kam zum Stehen.

Lord bemerkte, dass sie kein Polizeiauto vor sich hatten. Keine blauen oder roten Lichter, keine Aufschrift. Das Gesicht hinter der Windschutzscheibe dagegen war deutlich zu erkennen.

Josif Maks.

Der Russe streckte den Kopf aus dem Fenster und rief: »Steigt ein, schnell.«

Sie gehorchten. Maks drückte das Gaspedal bis zum Anschlag durch.

»Gutes Timing«, meinte Lord anerkennend, während er einen Blick aus dem Heckfenster warf.

Der dicke Russe behielt die Straße im Auge und sagte: »Kolja Maks ist tot, aber morgen treffen Sie seinen Sohn.«

25

Moskau

Sonntag, 17. Oktober

7.00 Uhr

 

Hayes nahm im größten Speisesaal des Wolchow Platz. Das Hotel hatte ein hervorragendes Frühstücksbüfett zu bieten. Besonders gut schmeckten ihm die süßen Bliny, die der Küchenchef mit Puderzucker und frischem Obst servierte. Der Kellner brachte die neue Iswestija, und Hayes lehnte sich zurück und fing an, die aktuellen Nachrichten zu lesen.

Ein Artikel auf der Titelseite fasste die Tätigkeit der Zaristenkommission in der vergangenen Woche zusammen. Nach der Eröffnungssitzung am Mittwoch hatte man am Donnerstag mit der Nominierung der Kandidaten begonnen. Stefan Baklanows Name war als erster gefallen. Die Geheimkanzlei hatte erreicht, dass der beliebte Moskauer Bürgermeister Baklanow vorstellte. Baklanows Einführung durch eine hoch angesehene Persönlichkeit sollte seiner Kandidatur zusätzlich Glaubwürdigkeit verleihen, und nach Aussage des Iswestija-Reporters war diese Strategie aufgegangen und Baklanow gewann zunehmend an Unterstützung.

Zwei konkurrierende Gruppen der Romanow-Verwandtschaft stellten daraufhin Kandidaten auf, die ihrer Ansicht nach eine engere Blutsverwandtschaft zu Nikolaus II. aufzuweisen hatten. Darüber hinaus waren noch drei weitere Namen genannt worden, doch der Reporter räumte diesen Kandidaten keine ernsthaften Chancen ein, da sie nur sehr entfernt mit den Romanows verwandt waren. In einem Kasten rechts auf dem Titelblatt hieß es, dass es in Russland noch viele andere Menschen mit Romanow-Blut geben könne. Labore in St. Petersburg, Nowosibirsk und Moskau boten Interessenten für fünfzig Rubel an, in Bluttests ihre genetischen Merkmale mit denen der Zarenfamilie zu vergleichen. Offenbar hatten schon viele von diesem Angebot Gebrauch gemacht.

Die erste Debatte innerhalb der Kommission über die Kandidaten war sehr lebhaft verlaufen, doch Hayes wusste, dass dies nur Show war, da seinen Informationen zufolge bereits vierzehn von siebzehn Mitgliedern gekauft waren. Es war seine Idee gewesen, die Mitglieder der Kommission zunächst uneinig wirken zu lassen, weil es glaubwürdiger wirkte als eine zu schnelle Entscheidung.

Am Schluss des Berichts stand, dass der Nominierungsprozess am nächsten Tag abgeschlossen werde. Eine erste Abstimmung zur Begrenzung der Kandidatenzahl auf drei war für Dienstag geplant, dann sollte zwei Tage diskutiert werden, bevor es am Donnerstag zur Schlussabstimmung kam.

Am kommenden Freitag würde also alles vorüber sein.

Stefan Baklanow würde Stefan I. Zar von ganz Russland, werden. Hayes’ Klienten würden ebenso zufrieden sein wie die Geheimkanzlei – und er selbst um mehrere Millionen Dollar reicher.

Während er den Artikel zu Ende las, amüsierte er sich über die Neigung der Russen, potemkinsche Dörfer zu errichten. Ihm fiel ein besonders eindrucksvolles Beispiel für diese Eigenart ein. Um ein besseres Stadtbild zu schaffen, waren aus Anlass des Besuchs von Gerald Ford in den Siebzigerjahren an der gesamten Strecke vom Flughafen ins Stadtzentrum Tannen in den Schnee gestellt worden, die man in einem nahen Wald geschlagen hatte.

Der Kellner brachte die dampfenden Bliny und Kaffee. Hayes blätterte den Rest der Zeitung durch und überflog die eine oder andere Meldung. Eine stach ihm besonders ins Auge. Die Überschrift lautete: ANASTASIA LEBT, ZUSAMMEN MIT IHREM BRUDER, DEM ZAREN. Hayes war schockiert, bis er weiter las und feststellte, dass es sich bei dem Artikel lediglich um die Besprechung eines Theaterstücks handelte, das kürzlich in Moskau uraufgeführt worden war:

 

Inspiriert von einem Buch über eine fragwürdige Verschwörungstheorie, das ihr in einem Antiquariat in die Hände gefallen war, befasste die englische Dramatikerin Lorna Gant sich mit Berichten über die angeblich unvollständige Hinrichtung der Zarenfamilie. »Ich war fasziniert von dieser Sache mit Anna Anderson«, erklärte Gant in Anspielung auf die berühmteste der Möchtegern-Anastasias.

Das Stück beruht auf der Annahme, dass es Anastasia und ihrem Bruder Alexej 1918 in Jekaterinburg gelang, ihrer Hinrichtung zu entgehen. Ihre Leichen wurden bis heute nicht gefunden, und seit vielen Jahrzehnten wird darüber spekuliert, was damals wirklich geschehen ist. Dies alles ist ein fruchtbarer Boden für die Phantasie der Bühnenautorin.

»Es hat so einen Touch von ›Elvis lebt und wohnt zusammen mit Marilyn Monroe in Alaska‹«, meint Gant. »Das Ganze wird mit Ironie und schwarzem Humor präsentiert.«

 

Hayes wurde bald klar, dass das Stück offenbar eher eine Farce denn eine ernsthafte Auseinandersetzung mit möglichen Romanow-Überlebenden war. Der Kritiker verglich es mit »Tschechow trifft Carol Burnett« und riet am Ende von einem Besuch der Vorstellung ab.

Als ein Stuhl an seinem Tisch verrückt wurde, hörte Hayes auf zu lesen.

Er sah von der Zeitung auf, als Felix Oleg sich neben ihn setzte.

»Sieht gut aus, Ihr Frühstück«, sagte der Inspektor.

»Ich würde Ihnen ja gern auch etwas bestellen, aber hier wären Sie wohl ein wenig zu sehr in der Öffentlichkeit.« Hayes versuchte gar nicht erst, seinen Unmut zu verbergen.

Oleg zog den Teller zu sich heran und griff nach der Gabel. Hayes beschloss, den Mistkerl gewähren zu lassen. Oleg streute Puderzucker über die dünnen Pfannkuchen und verschlang sie gierig.

Hayes faltete die Zeitung zusammen und legte sie auf den Tisch. »Kaffee?«, fragte er sarkastisch.

»Saft wäre mir lieber«, murmelte der Russe mit vollem Mund.

Hayes zögerte, bevor er schließlich doch den Kellner rief und eine Karaffe Orangensaft bestellte. Oleg aß die Bliny auf und wischte sich den Mund mit einer Stoffserviette ab. »Ich habe schon gehört, dass es in diesem Hotel ein gutes Frühstück gibt, aber ich kann mir hier kaum eine Vorspeise leisten.«

»Vielleicht kommen Sie ja bald zu etwas Geld.«

Der Inspektor verzog seine rissigen Lippen zu einem Lächeln. »Ich kann Ihnen versichern, dass ich nicht hier bin, um Ihnen Gesellschaft zu leisten.«

»Und wozu dient dann dieser nette Sonntagmorgenbesuch?«

»Das Polizei-Bulletin über Lord hat Wirkung gezeigt. Wir haben ihn lokalisiert.«

Hayes’ Interesse war geweckt.

»In Starodug. Rund fünf Stunden südlich von hier.«

Hayes erinnerte sich sofort, dass die Stadt in dem Material erwähnt wurde, das Lord in den Archiven gefunden hatte. Lenin hatte sie im Zusammenhang mit einem Namen genannt: Kolja Maks. Was hatte der ehemalige Sowjetführer gesagt? Das Dorf Starodug wurde von zwei Weißgardisten erwähnt, die man auf ähnliche Weise zum Reden brachte. Da ist etwas im Busch, ich bin mir ganz sicher. Auch Hayes war jetzt sicher. Zu viele Zufälle. Lord war offenbar auf etwas Wichtiges gestoßen. Irgendwann in der Nacht von Freitag auf Samstag war Lords Zimmer auf mysteriöse Weise ausgeräumt worden. Die Mitglieder der Geheimkanzlei waren sehr besorgt, und er mit ihnen. Sie hatten Hayes angewiesen, die Sache selbst in die Hand zu nehmen, und genau das wollte er jetzt tun.

»Was ist passiert?«, fragte er.

»Lord wurde mit einer Frau in einem Hotel gefunden.«

Er wartete auf mehr. Oleg genoss sichtlich den Augenblick.

»Was der dortigen Milizija an Wissen fehlt, macht sie mit Dummheit wieder wett. Sie haben im Hotel eine Razzia durchgeführt, aber vergessen, es zu umstellen. Lord und die Frau konnten durch ein Fenster entkommen. Sie versuchten, ihn zu erschießen, aber er entkam.«

»Haben sie herausgefunden, was er da wollte?«

»Er fragte in einem Lokal des Ortes nach einem gewissen Kolja Maks.«

Das war die Bestätigung. »Welche Befehle haben Sie Ihren Kollegen dort gegeben?«

»Ich habe sie angewiesen, nichts zu tun, bis sie von mir hören.«

»Wir müssen sofort aufbrechen.«

»Das dachte ich mir schon, deshalb bin ich hier. Und jetzt habe ich sogar ein Frühstück bekommen.«

Der Kellner brachte den Orangensaft.

Hayes erhob sich. »Trinken Sie aus. Ich muss noch telefonieren, bevor wir fahren.«

26

Starodug, 10.00 Uhr

 

Akilina beobachtete, wie Lord abbremste. Ein kalter Regen prasselte auf die Windschutzscheibe. In der Nacht zuvor hatte Josif Maks sie in einem Haus westlich von Starodug versteckt. Es gehörte einem weiteren Angehörigen der Familie Maks, der ihnen zwei Feldbetten vor einem offenen Kamin zur Verfügung gestellt hatte.

Maks war vor ein paar Stunden zurückgekehrt und hatte erklärt, dass die Polizei sich noch spät in der Nacht bei ihm nach dem schwarzen Mann und der russischen Frau erkundigt habe, die in seinem Café gewesen seien. Er hatte ihnen genau erzählt, was passiert war, das meiste davon hatte der Polizist im Lokal ohnehin mitbekommen. Offenbar hatten sie ihm geglaubt, denn sie waren nicht zurückgekommen. Zum Glück hatte niemand die Flucht vom Oktjabrski beobachtet.

Maks überließ ihnen auch ein Fahrzeug – ein zerbeultes, cremefarbenes, von schwarzem Schlamm überzogenes Mercedes Coupé, dessen Ledersitze schon ganz brüchig waren. Außerdem erklärte er ihnen, wo der Sohn von Kolja Maks lebte.

Das einstöckige Bauernhaus war aus doppelten Holzbohlenwänden mit einer isolierenden Wergschicht errichtet, und die Dachschindeln aus Baumrinde waren dunkel vom Moder. Aus dem gemauerten Kamin stieg eine dicke Rauchsäule in die kalte Luft. In der Ferne war ein Acker zu sehen; Pflüge und Eggen standen in einem offenen Schuppen mit Pultdach.

Die ganze Szene erinnerte Akilina an die Kate, in der ihre Großmutter früher gewohnt hatte, zumal es auch hier auf der einen Seite ein Birkenwäldchen gab. Akilina hatte den Herbst immer schon für eine traurige Jahreszeit gehalten. Er kam ohne jede Vorwarnung und ging über Nacht in den Winter über. Und er bedeutete das Ende grüner Wälder und Wiesen – auch damit waren Erinnerungen an ihre Kindheit verbunden, an das Dorf unweit des Ural, in dem sie aufgewachsen war, und an die Schule, in der sie alle die gleichen Kleider mit Schürzen und roten Bändern getragen hatten. Zusammen mit dem übrigen Lehrstoff war ihnen eingetrichtert worden, welcher Unterdrückung die Arbeiter im Zarismus ausgesetzt gewesen waren, wie Lenin all das geändert hatte, warum der Kapitalismus von Übel war und was das Kollektiv von jedem einzelnen seiner Mitglieder erwartete. Lenins Porträt hatte in jedem Klassenzimmer, jeder Wohnung gehangen. Das Wissen um die Tatsache, dass sie alle dieselben Ideale teilten, war tröstlich gewesen.

Offiziell gab es keine Individuen.

Aber ihr Vater war ein Individuum gewesen.

Alles, was er wünschte, war, mit seiner neuen Frau und seinem Kind in Rumänien zu leben. Das Kollektiv aber wollte diesen bescheidenen Wunsch nicht erfüllen. Von guten Eltern erwartete man, dass sie Parteimitglieder waren. Sie hatten keine andere Wahl. Und wer nicht die »revolutionären Ideale« hochhielt, sollte gemeldet werden. Es gab eine berühmte Geschichte, in der ein Sohn seinen Vater denunzierte, weil dieser Dokumente an aufständische Bauern verkauft hatte. Der Sohn sagte gegen den Vater aus und wurde dafür später von den Bauern ermordet. In der Folgezeit entstanden zahlreiche Lieder und Gedichte über diesen Sohn, und den Kindern wurde seine Vaterlandstreue als höchstes Ideal vor Augen gehalten.

Aber warum?

Was war so bewundernswert daran, seine eigene Familie zu verraten?

»Ich war in Russland nur zweimal auf dem Land«, unterbrach Lord ihre Gedanken. »Und beide Male unter Aufsicht. Aber das hier ist ganz anders, eine andere Welt.«

»Zur Zeit der Zaren nannten sie das Dorf Mir, das bedeutet Frieden. Eine gute Beschreibung, weil die wenigsten Menschen je ihr Dorf verließen. Es war ihre Welt, ein Ort für Frieden.«

Sie hatten die qualmenden Fabrikschornsteine von Starodug hinter sich gelassen, an ihrer Stelle waren jetzt grüne Bäume, Hügel und Heuwiesen zu sehen, die, wie Akilina sich vorstellte, im Sommer voll mit munter zwitschernden Sperlingen waren.

Lord parkte das Auto vor dem Häuschen.

Der Mann, der ihnen die Tür öffnete, war klein und stämmig. Er hatte rötlich braunes Haar und ein Gesicht, dessen rundliche Form und kräftige Farbe an Rote Bete erinnerte. Akilina schätzte ihn auf knapp siebzig, doch er bewegte sich mit verblüffender Leichtigkeit. Bevor er sie hereinbat, musterte er sie mit prüfenden Blicken, die Akilina an einen Grenzpolizisten denken ließen.

Das relativ geräumige Haus bestand aus Schlafzimmer, Küche und einer gemütlichen Wohnecke. Das Mobiliar war bunt zusammengewürfelt und schien nur praktischen Zwecken zu dienen. Die Fußböden aus breiten, glatt geschliffenen Holzdielen waren lackiert, aber von der Lackschicht war kaum mehr etwas übrig. Es gab kein elektrisches Licht, die Räume waren durch rußende Öllampen und eine Feuerstelle erhellt.

»Ich bin Wassili Maks. Kolja war mein Vater.«

Sie nahmen am Küchentisch Platz. Auf einem Holzofen stand ein Topf Lapscha – die hausgemachte Nudelsuppe, die Akilina immer so gemocht hatte. Außerdem zog der kräftige Duft von gebratenem Fleisch – Lamm, wenn sie sich nicht irrte – durch die Küche, obwohl er überdeckt wurde vom muffigen Geruch eines billigen Tabaks. In einer Ecke des Zimmers standen Kerzen um eine Ikone herum. Auch Akilinas Großmutter hatte eine solche Andachtsecke gehabt – bis zu dem Tag, an dem sie verschwand.

»Ich habe uns etwas zu essen gemacht«, erklärte Maks. »Ich hoffe, Sie haben ordentlich Hunger mitgebracht.«

»Das kommt wie gerufen«, erwiderte Lord. »Und es riecht ausgezeichnet.«

»Kochen ist eine der wenigen Freuden, die mir noch geblieben sind.« Maks stand auf und ging zum Herd. Mit dem Rücken zu ihnen rührte er in der Suppe. »Mein Neffe meinte, Sie hätten mir etwas zu sagen.«

Lord ahnte, wovon er sprach. »Wer aber bis ans Ende beharret, der wird selig.«

Der alte Mann legte den Löffel auf den Tisch und setzte sich wieder zu ihnen. »Ich habe nicht geglaubt, diese Worte jemals zu hören. Ich dachte schon, sie wären ein Hirngespinst meines Vaters. Und dann auch noch von einem Farbigen ausgesprochen …« Maks wandte sich an Akilina. »Ihr Name bedeutet ›Adlerin‹, mein Kind.«

»So hat man es mir erklärt.«

»Sie sind ein hübsches Wesen.«

Sie lächelte.

»Ich hoffe nur, diese Suche bringt Ihre Schönheit nicht in Gefahr.«

»Wie meinen Sie das?«, fragte sie.

Der alte Mann rieb seine Knollennase. »Als mein Vater mich über die Aufgabe aufklärte, die ich übernehmen sollte, warnte er mich, dass sie mich vielleicht eines Tages das Leben kosten werde. Ich habe ihn nie ernst genommen … bis zu diesem Augenblick.«

»Was wissen Sie?«, fragte Lord.

Der alte Mann stieß die Luft aus. »Ich denke oft an das, was geschehen ist. Mein Vater hat mir immer gesagt, dass diese Sache mich noch einmal sehr beschäftigen werde, aber ich habe ihm nicht geglaubt. Ich sehe sie fast vor mir, wie sie mitten in der Nacht geweckt und die Treppe hinuntergetrieben werden. Sie glauben, dass die Weißgardisten kurz davor stehen, die Stadt einzunehmen und sie zu befreien. Jurowski, dieser verrückte Jude, erklärt ihnen, dass sie evakuiert würden, aber zuerst müsse ein Foto nach Moskau geschickt werden als Beweis dafür, dass sie am Leben und gesund seien. Er erklärt jedem, wo er zu stehen hat. Aber es wird kein Foto gemacht. Stattdessen kommen Männer mit Pistolen ins Zimmer, und der Zar erfährt, dass er und seine Familie hingerichtet werden sollen. Dann hebt Jurowski die Pistole.«

Der Alte legte eine Pause ein und schüttelte den Kopf.

»Ich mache jetzt erst mal unser Essen. Dann erzähle ich Ihnen alles, was in jener Julinacht in Jekaterinburg geschehen ist.«

 

Jurowski feuerte die Pistole ab, und aus dem Kopf von Nikolaus II. Zar von ganz Russland, spritzte das Blut. Der Zar fiel nach hinten auf seinen Sohn. Alexandra schlug gerade das Kreuzzeichen, als ein weiterer Schütze das Feuer eröffnete. Kugeln trafen die Zarin, und sie kippte von ihrem Stuhl. Jurowski hatte jedem Schützen ein Opfer zugewiesen und befohlen, diesen ins Herz zu schießen, um die Blutung in Grenzen zu halten. Nikolaus’ Körper jedoch wurde geradezu durchlöchert, als die anderen elf Mann des Exekutionskommandos beschlossen, ihrem einst göttlichen Herrscher eine Kugel zu verpassen.

Die Schützen waren in Dreierreihen aufgestellt. Die zweite und die dritte Reihe feuerten über die Schultern der ersten hinweg und kamen ihren Kameraden ganz vorne dabei so nahe, dass diese Verbrennungen vom Schmauch erlitten. Kolja Maks stand in der ersten Reihe, und sein Hals bekam zwei Brandwunden ab. Er war angewiesen worden, die älteste Tochter Olga zu erschießen, brachte es aber nicht über sich. Er war nach Jekaterinburg geschickt worden, um die Flucht der Familie zu organisieren, und erst drei Tage zuvor angekommen, doch dann hatten sich die Ereignisse überschlagen.

Die Wachposten hatte man zuvor in Jurowskis Büro gerufen. Der Kommandant hatte ihnen erklärt: »Heute töten wir die ganze Familie, den Arzt und die Dienerschaft. Sagt den Leuten vom Sonderkommando, dass sie sich nicht wundern sollen, wenn sie Schüsse hören.« Einschließlich Maks’ wurden elf Männer ausgewählt. Es war ein Glücksfall, dass Maks unter ihnen war, aber er war mit besten Empfehlungen vom Sowjet des Ural eingetroffen – ein Mann, auf dessen Gehorsam absoluter Verlass war, hatte es geheißen –, und offenbar suchte Jurowski dringend solche Leute.

Zwei Letten hatten sofort erklärt, sie würden nicht auf Frauen schießen. Maks war beeindruckt gewesen, als er merkte, dass selbst solch brutale Männer ein Gewissen haben konnten, Jurowski ersetzte sie durch zwei andere, die keine Skrupel hatten. Am Ende bestand das Exekutionskommando aus Jurowski, sechs Letten und fünf Russen. Abgestumpfte Männer namens Nikulin, Fermakow, Pawel sowie zwei Medwedjews. Namen, die Kolja Maks nie vergessen sollte.

Draußen wurde ein Lastwagen abgestellt, dessen Motor lief, um die Schüsse zu übertönen. Der Rauch aus den Läufen hüllte die ganze Szenerie in einen dichten, gespenstischen Nebel. Es wurde immer schwieriger zu erkennen, wer auf wen schoss. Maks ging davon aus, dass nach dem mehrstündigen Trinkgelage außer ihm und Jurowski niemand mehr nüchtern war. Kaum einer würde sich an Einzelheiten erinnern – höchstens daran, dass sie auf alles geschossen hatten, was sich bewegte. Maks hatte nur mäßig getrunken, weil er einen klaren Kopf behalten wollte.

Maks sah, wie Olga nach einem Kopfschuss zusammensackte. Ein Hund jaulte vor Schmerz. Die Schützen zielten auf das Herz ihrer Opfer, doch dann geschah etwas Seltsames. Die Kugeln prallten von der Brust der Frauen ab und flogen durch den Raum, als ob es hagelte. Einer der Letten murmelte, die Frauen würden von Gott beschützt. Ein anderer fragte, ob sie nicht unklug handelten.

Maks sah, wie die Großfürstinnen Tatjana und Marija sich in eine Ecke kauerten und die Arme schützend vor ihre Körper hielten. Kugeln trafen ihre jungen Körper, einige prallten ab, andere drangen ein. Zwei Männer brachen aus der Formation aus, traten näher und schossen den Mädchen in den Kopf.

Der Kammerdiener, der Koch und der Arzt wurden erschossen und sanken zu Boden. Die Zofe spielte völlig verrückt. Wild gestikulierend und schreiend rannte sie durch den Raum und hielt dabei ein Kissen wie einen Schild vor sich. Etliche der Schützen feuerten auf das Kissen, doch die Kugeln prallten ab. Es war erschreckend. Welchen Schutz mochten diese Menschen haben? Schließlich bohrte sich eine Kugel in den Kopf der Zofe, und sie verstummte.

»Feuer einstellen«, brüllte Jurowski.

Stille senkte sich über den Raum.

»Die Schüsse könnten von der Straße aus zu hören sein. Macht sie mit den Bajonetten fertig.«

Die Schützen warfen ihre Pistolen weg und griffen zu den Gewehren.

Irgendwie hatte die Zofe den Kopfschuss überlebt. Sie richtete sich auf und stieg leise heulend über die blutigen Leichen. Zwei Letten traten auf sie zu und stießen ihre Bajonette in das Kissen, das sie noch immer umklammert hielt. Doch die Spitzen waren stumpf und drangen nicht durch. Die Zofe packte ein Bajonett und fing an zu kreischen. Die Männer traten auf sie zu. Einer schlug ihr den Gewehrkolben gegen den Kopf. Ihr Stöhnen erinnerte Maks an ein verwundetes Tier. Nach ein paar weiteren Hieben hörte das Stöhnen auf. Die Männer stießen ihre Bajonette in die Sterbende, als wollten sie den Teufel austreiben. Es waren so viele Stöße, dass Maks sie nicht hätte zählen können.

Auch der Cockerspaniel lebte noch. Ein Gewehrkolben sorgte dafür, dass er sich nicht mehr regte, und mehrere Bajonettstöße beendeten sein Leben.

Maks ging auf den Zaren zu. Blut floss über sein Soldatenhemd und seine Hose. Die anderen stachen mit ihren Bajonetten auf die Zofe und eine der Großfürstinnen ein. Beißender Rauch erfüllte die Luft und verschlug Maks den Atem. Jurowski untersuchte die Zarin.

Maks beugte sich nieder und wälzte Nikolaus auf eine Seite. Unter ihm lag der Zarewitsch, bekleidet mit Soldatenhemd, Hose, Stiefeln und der Zarenmütze, die Maks oft an ihm gesehen hatte. Und an seinem Vater. Maks wusste, dass sie sich gern in gleicher Weise kleideten.

Der Junge öffnete die Augen. In seinem Blick lag blankes Entsetzen. Maks hielt ihm sofort den Mund zu und legte einen Finger an die Lippen.

»Nicht bewegen. Stell dich tot.«

Die Augen des Jungen schlossen sich.

Maks stand auf, zielte auf den Fußboden unmittelbar neben dem Kopf des Jungen und schoss. Die Kugel schlug in die Holzdielen ein, und Alexej zuckte zusammen. Maks feuerte auf die andere Seite und hoffte, dass niemand sah, wie Alexejs Körper erneut zuckte, doch alle schienen mit dem Gemetzel rundum vollauf beschäftigt zu sein. Elf Opfer, zwölf Henker, auf engstem Raum und mit wenig Zeit.

»War der Zarewitsch noch am Leben?«, fragte Jurowski durch den Rauch.

»Jetzt nicht mehr«, erwiderte Maks.

Die Antwort schien den Kommandanten zu befriedigen.

Maks wälzte den blutigen Leichnam Nikolaus’ II. auf den Jungen zurück. Als er aufblickte, trat gerade einer der Letten auf die jüngste Zarentochter Anastasia zu. Sie war schon nach der ersten Salve zu Boden gestürzt und lag in einer immer größer werdenden Blutlache da. Das Mädchen stöhnte, und Maks fragte sich, ob die Kugeln womöglich ihr Ziel verfehlt hatten. Der Lette hob den Gewehrkolben, um seine Arbeit zu Ende zu bringen, als Maks ihm in den Arm fiel.

»Lass mich auch mal«, sagte er. »Ich hatte noch nicht das Vergnügen.«

Der andere lächelte und trat zurück. Maks starrte auf das Mädchen hinab. Sie atmete schwer und von ihrem Kleid floss Blut, auch wenn nicht zu erkennen war, ob es das ihre oder das ihrer Schwester war, die neben ihr lag.

Mochte Gott ihm vergeben.

Er traf das Mädchen mit dem Gewehrkolben am Kopf, er wollte sie bewusstlos schlagen und hoffte, dass der Hieb nicht tödlich war.

»Ich mache sie fertig«, sagte Maks, drehte das Gewehr um und pflanzte das Bajonett auf.

Glücklicherweise wandte sich der Leite ohne weitere Diskussionen einem anderen Leichnam zu.

»Aufhören«, schrie Jurowski.

Eine gespenstische Stille senkte sich über den Raum. Keine Bajonettstöße mehr, keine Schüsse, kein Stöhnen. Nur noch zwölf Männer in dichtem Rauch, die elektrische Lampe über ihnen wie die Sonne in einem Sturm.

»Öffnet die Türen und lasst den Rauch raus«, befahl Jurowski. »Wir sehen ja gar nichts mehr. Und dann Puls prüfen und Meldung machen.«

Maks beugte sich sofort zu Anastasia. Ihr Puls war fühlbar, wenn auch schwach. »Großfürstin Anastasia. Tot«, rief er.

Andere Wachen meldeten weitere Tote, während Maks zum Zarewitsch hinüberging und Nikolaus zur Seite rollte. Er fühlte den Puls des Jungen, der so deutlich zu spüren war, dass Maks sich fragte, ob er überhaupt getroffen worden war. »Zarewitsch. Tot.«

»Kein Schaden für die Menschheit«, meinte einer der Letten.

»Wir müssen die Leichen schnell wegschaffen«, sagte Jurowski. »Dieser Raum muss noch vor dem Morgen gesäubert sein.« Dann baute sich der Kommandant vor einem der Russen auf. »Hol ein paar Betttücher von oben.« Er drehte sich wieder zu den anderen um und befahl: »Und ihr fangt schon mal an, die Leichen gerade hinzulegen.«

Maks sah zu, wie ein Lette eine der Großfürstinnen packte. Welche es war, konnte er nicht erkennen.

»Schaut mal her«, rief der Mann auf einmal.

Alle wandten sich zu der blutüberströmten jungen Frau um. Maks trat ebenso wie die anderen näher. Ein glitzernder Diamant steckte zwischen den Stäben ihres Korsetts. Der Kommandant beugte sich hinab und betastete den Stein. Dann nahm er ein Bajonett und schnitt das Korsett vollständig auf. Weitere Juwelen fielen in die Blutlache auf dem Boden.

»Die Steine haben sie geschützt«, erklärte Jurowski. »Die verdammten Bastarde haben sie in ihre Kleider eingenäht.«

Einige der anderen Männer begriffen, dass da ein Vermögen lag, und traten auf die Frauen zu.

»Nein«, rief Jurowski. »Später. Aber alles wird an mich abgeliefert. Es gehört dem Staat. Wer auch nur einen Knopf für sich behält, wird erschossen. Ist das klar?«

Keiner sagte ein Wort.

Der Mann kam mit den Bettlaken. Maks wusste, dass Jurowski es eilig hatte, die Leichen aus dem Haus zu schaffen. Jurowski hatte es ihnen vorher klar gemacht, bis Sonnenaufgang blieben nur noch ein paar Stunden, und die Weißgardisten rückten zügig auf die Stadt vor.

Der Leichnam des Zaren wurde als Erster eingewickelt und auf den wartenden Lastwagen geworfen.

Dann legten sie eine der Großfürstinnen auf eine Bahre. Mit einem Mal fuhr das Mädchen ruckartig auf und schrie los. Die Männer waren entsetzt. Es schien, als stelle der Himmel sich gegen sie. Schießen kam nicht mehr in Frage, weil die Türen und Fenster des Hauses jetzt geöffnet waren. Jurowski nahm eines der Gewehre und stieß dem Mädchen das Bajonett in die Brust, doch die Klinge drang kaum ein. Rasch drehte er das Gewehr um und rammte ihr den Kolben gegen den Kopf. Maks hörte, wie der Schädel brach. Dann stieß Jurowski ihr das Bajonett tief in den Hals und drehte es herum. Sie hörten ein gurgelndes Geräusch, Blut spritzte, und dann regte sich nichts mehr.

»Bringt diese Hexen hier raus«, murmelte Jurowski. »Die sind ja vom Teufel besessen.«

Maks ging zu Anastasia und hüllte sie in eines der Tücher. Aus dem Flur drangen tumultartige Laute herein. Eine weitere Großfürstin war wieder zum Leben erwacht, und Maks sah, wie die Männer mit Gewehrkolben und Messern über sie herfielen. Er nutzte die Ablenkung und trat zum Zarewitsch, der noch immer im Blut seiner Eltern lag.

Er beugte sich über den Jungen. »Mein Kleiner.«

Der Junge öffnete die Augen.

»Sei still. Ich muss dich jetzt zum Lastwagen tragen. Verstehst du?«

Ein leichtes Nicken.

»Wenn du dich rührst, spießen sie dich auf.«

Er rollte den Jungen ins Laken und trug Alexej und Anastasia auf den Schultern nach draußen. Er hoffte, dass die Großfürstin nicht aus ihrer Betäubung erwachte und dass keiner mehr den Puls der beiden überprüfte, doch draußen sah er, dass die Männer weit mehr an dem interessiert waren, was sie an den Leichen fanden. Uhren, Ringe, Armreife, Zigarettenetuis und Edelsteine.

»Ich wiederhole«, sagte Jurowski, »wer nicht alles abgibt, wird erschossen. Unten lag eine Uhr, die jetzt verschwunden ist. Ich hole jetzt die letzte Leiche, und wenn ich zurückkomme, sollte sie besser wieder da sein.«

Niemand bezweifelte, was geschehen würde, wenn die Uhr dann noch immer fehlte, und so zog einer der Letten die Uhr aus seiner Tasche und warf sie auf den Stapel mit der restlichen Beute.

Jurowski kam mit dem letzten Leichnam zurück und warf ihn auf die Ladefläche. Der Kommandant hielt eine Mütze in den Händen.

»Die Zarenmütze«, sagte er und setzte sie einem der Mörder auf. »Passt.«

Die anderen lachten.

Ein anderer Mann nahm den toten Cockerspaniel und warf ihn ebenfalls auf die Ladefläche. »Pass gut auf den Zaren und seine Familie auf, Hündchen«, sagte er.

»Die waren ganz schön zäh«, meinte einer der Letten.

Jurowski starrte auf die Ladefläche. »Es ist nicht leicht, Menschen zu töten.«

Laken wurden unter die Leichen gelegt, um das Blut aufzunehmen, dann breitete man eine Plane über ihnen aus. Jurowski suchte vier Männer aus, die mitfahren sollten, und stieg dann ins Fahrerhaus. Die restlichen Männer des Exekutionskommandos nahmen wieder ihre Posten ein. Als Jurowski Maks nicht aufforderte mitzukommen, trat er ans Beifahrerfenster.

»Genosse Jurowski, kann ich nicht mitkommen? Ich würde gerne mithelfen, die Sache zu Ende zu bringen.«

Jurowski drehte sich zu ihm um. Mit seinem schwarzen Bart, dem schwarzen Haar und der schwarzen Lederjacke war er in der Dunkelheit kaum zu sehen. Alles, was Maks erkennen konnte, war das Weiße in seinen Augen, das seinen Blick eiskalt erscheinen ließ.

»Warum nicht? Steig auf.«

Der Lastwagen fuhr durch das offene Tor des Ipatiew-Anwesens hinaus. Jemand sagte laut, dass es schon drei Uhr morgens war. Sie würden sich beeilen müssen. Zwei Flaschen Wodka machten die Runde unter den Männern, die sich die Ladefläche mit den Leichen teilten. Maks trank nur wenig.

Man hatte ihn nach Jekaterinburg geschickt, um die Flucht vorzubereiten. In der früheren Armee des Zaren gab es Generäle, die ihren Eid auf die Krone ernst nahmen. Seit Monaten schon hatte es Gerüchte gegeben, denen zufolge das Schicksal der Zarenfamilie besiegelt sei. Doch erst am letzten Tag hatte Maks erfahren, was das bedeutete.

Sein Blick fiel auf den Leichenberg unter der Plane. Er hatte den Jungen und seine Schwester nach oben unter die Leiche ihrer Mutter gelegt, und jetzt fragte er sich, ob der Zarewitsch ihn erkannt hatte. Vielleicht hatte ihm das geholfen, die Ruhe zu bewahren.

Am Stadtrand passierte der Lastwagen die Rennbahn. Dann Sümpfe, Senken und verlassene Bergwerke. Hinter der Isetzk-Fabrik und den Eisenbahnschienen führte die Straße durch dichten Wald. Etliche Kilometer weiter war wieder ein Bahnübergang. Die einzigen Gebäude weit und breit waren die Bahnwärterhäuschen, und die Bahnwärter schliefen um diese Zeit.

Maks merkte, dass die Straße immer schlammiger wurde. Der Lastwagen rutschte mehrfach weg, und schließlich drehten die Hinterräder im Schlamm durch. Vergeblich versuchte der Fahrer freizukommen. Es qualmte aus der Motorhaube. Der Fahrer stellte den überhitzten Motor ab, und Jurowski stieg aus, zeigte auf das Bahnwärterhäuschen, das sie soeben passiert hatten, und befahl dem Fahrer: »Weck den Bahnwärter und hol Wasser.« Dann wandte er sich den Männern auf der Ladefläche zu: »Sucht Holz, das wir unter die Reifen legen können, um aus dieser Pampe rauszukommen. Ich geh schon mal vor und suche Fermakow und seine Männer.«

Zwei der Männer waren betrunken und nicht mehr ansprechbar. Zwei andere sprangen ab und verschwanden in der Dunkelheit. Maks tat, als sei er betrunken und blieb auf der Ladefläche. Er sah zu, wie der Fahrer zur Bahnwärterhütte ging und an die Tür hämmerte. Drinnen flammte ein Licht auf, und die Tür ging auf. Maks hörte, wie der Fahrer dem Bahnwärter erklärte, dass sie Wasser bräuchten. Sie sprachen noch eine Weile weiter, und dann hörte Maks die Wachen rufen, dass sie Holz gefunden hätten.

Jetzt oder nie.

Er kroch auf die Plane zu und zog sie langsam zurück. Der Blutgeruch drehte ihm fast den Magen um. Er wälzte den Leichnam der Zarin zur Seite und packte das Bündel mit dem Zarewitsch.

»Ich bin’s, Kleiner. Ganz ruhig.«

Der Junge murmelte etwas, das Maks nicht verstand.

Maks hob das Bündel von der Ladefläche und legte es im Wald wenige Meter neben der Straße ab.

»Nicht bewegen«, flüsterte er.

Dann hastete er zurück und holte das Bündel, in dem Anastasia steckte. Sachte legte er sie auf den Boden und zog die Plane über die Leichen, bevor er sie wieder aufhob und in den Wald zu ihrem Bruder trug. Er lockerte die Laken um die beiden Kinder und überprüfte den Puls des Mädchens. Schwach, aber vorhanden.

Alexej schaute ihn an.

»Ich weiß, das alles ist schrecklich, aber du musst jetzt hier bleiben und auf deine Schwester aufpassen. Rühr dich nicht vom Fleck. Ich komme wieder. Wann, weiß ich noch nicht. Hast du mich verstanden?«

Der Junge nickte.

»Du erinnerst dich doch an mich?«

Wieder nickte Alexej.

»Dann vertrau mir, Kleiner.«

Der Junge umarmte ihn so verzweifelt, dass es Maks fast das Herz brach.

»Schlaf jetzt. Ich komme wieder.«

Maks eilte zum Lastwagen zurück, kletterte auf die Ladefläche und legte sich zu den beiden anderen Männern, die noch immer ohne Bewusstsein waren. Er hörte Schritte durch die Dunkelheit näher kommen, stöhnte und tat, als versuche er, sich aufzurichten.

»Steh auf Kolja. Wir brauchen deine Hilfe«, sagte einer der Männer. »Wir haben am Bahnwärterhaus Holz gefunden.«

Maks sprang vom Wagen und half den anderen, Bretter über die schlammige Straße zu legen. Der Fahrer kam derweil mit einem Eimer Wasser für den Kühler zurück.

Wenige Minuten später traf Jurowski ein. »Fermakows Leute sind unmittelbar vor uns.«

Mit einiger Mühe schafften sie es, den Wagen aus dem Schlamm zu befreien. Kaum einen Kilometer weiter stießen sie auf eine Gruppe von Männern, die mit Fackeln auf sie warteten. An ihrem Gegröle hörte man, dass sie betrunken waren. Maks erkannte Pjotr Fermakow im Lampenschein, Jurowski war lediglich mit der Vollstreckung des Todesurteils beauftragt worden. Für die Beseitigung der Leichen war Genosse Fermakow zuständig. Er war ein Arbeiter der Isetzk-Fabrik, der so gerne tötete, dass alle ihn Genosse Mauser nannten.

»Warum habt ihr sie uns nicht lebend gebracht?«, schrie jemand.

Maks konnte sich schon denken, was Fermakow den Männern versprochen hatte. Wenn ihr gute Sowjetbürger seid und tut, was man euch sagt, könnt ihr mit den Frauen machen, was ihr wollt, während Papa Zar zuschaut. Die Aussicht, sich mit vier Jungfrauen vergnügen zu können, war sicherlich Anreiz genug gewesen, sie dazu zu bringen, die nötigen Vorbereitungen zu treffen.

Um die Plane auf dem Lastwagen hatte sich eine Menschenmenge versammelt, deren Fackeln in der Nacht knisterten. Einer der Männer riss die Plane weg.

»Scheiße, wie das stinkt«, sagte einer.

»Der Gestank königlicher Hoheiten«, meinte ein anderer.

»Schafft die Leichen in die Karren«, befahl Jurowski.

Jemand grummelte, er werde das Dreckzeugs nicht anfassen, und Jermakow sprang auf die Ladefläche. »Holt diese verdammten Leichen vom Wagen. Wir haben bis Sonnenaufgang nur noch wenig Zeit, und es gibt viel zu tun.«

Maks merkte, dass mit Jermakow nicht zu spaßen war. Die Männer machten sich daran, die blutigen Bündel abzuladen und in Droschkis zu werfen. Sie hatten nur vier dieser hölzernen Karren, und er hoffte, dass niemand auf den Gedanken kam, die Leichen zu zählen. Nur Jurowski kannte die genaue Zahl, aber der Kommandeur trat mit Jermakow vor den Lastwagen. Die übrigen Männer, die von Ipatiews Haus mitgekommen waren, waren zu betrunken oder zu müde, als dass es sie gekümmert hätte, ob es nun neun oder elf Leichen waren.

Die Laken wurden entfernt, als man die Leichen auf die Karren warf. Maks sah, wie einige der Männer anfingen, die Taschen der blutverschmierten Kleidung zu durchsuchen. Einer der Männer vom Exekutionskommando hatte den anderen erzählt, was sie zuvor gefunden hatten.

Jurowski feuerte einen Warnschuss ab. »Nichts da. Wir ziehen sie erst am Ort der Bestattung aus. Aber wenn ihr etwas gefunden habt, dann gebt es her, sonst werdet ihr auf der Stelle erschossen.«

Niemand protestierte.

Da es nur vier Karren gab, sollte der Lastwagen mit den übrigen Leichen so weit wie möglich vorausfahren, während die Karren ihm folgen sollten. Maks saß am Rand der Ladefläche und sah zu, wie die Karren hinter ihm her rollten, während der Lastwagen sich langsam vorwärts bewegte. Er wusste, dass sie irgendwo anhalten, die Straße verlassen und die Karren in den Wald ziehen mussten. Wie er gehört hatte, sollten die Leichen in einen der verlassenen Bergwerksschächte gekippt werden. »Vier Brüder« hatte jemand den Ort genannt.

Zwanzig Minuten lang ruckelte der Lastwagen vor sich hin. Dann blieb er auf einmal stehen, und Jurowski sprang aus dem Führerhaus. Er ging auf Fermakow zu und hielt ihm eine Pistole an den Hals.

»Das ist doch eine gottverdammte Scheiße«, schrie Jurowski. »Der Mann im Lastwagen behauptet, er könne den Weg zum Bergwerk nicht mehr finden. Ihr wart doch alle gestern erst da. Und jetzt wollt ihr euch nicht mehr erinnern? Ihr hofft doch nur, dass ich müde werde und euch die Leichen überlasse, damit ihr sie ausrauben könnt. Aber da könnt ihr lange warten. Entweder ihr findet jetzt den Weg, oder ich bringe euch alle um. Das Ural-Komitee wird dafür volles Verständnis haben, das garantiere ich euch.«

Zwei Männer vom Exekutionskommando sprangen vom Lastwagen, und die Schlösser ihrer Gewehre klickten in der Nacht. Maks tat es ihnen gleich.

»Schon gut, Genosse«, erklärte Fermakow ruhig. »Kein Grund zur Aufregung. Ich zeige euch persönlich den Weg.«

27

Lord sah Tränen in Wassili Maks’ Augen, und er fragte sich, wie oft diese Ereignisse vor dem inneren Auge des alten Mannes abgelaufen sein mochten.

»Mein Vater hat in Nikolaus’ Garde gedient. Er war dem Alexanderpalast in Zarskoje Selo zugeteilt, wo die Zarenfamilie lebte. Die Kinder kannten ihn vom Sehen. Insbesondere Alexej.«

»Und wie kam es, dass er dann in Jekaterinburg dabei war?«, fragte Akilina.

»Felix Jussupow war an ihn herangetreten. Sie suchten Leute, die sie in Jekaterinburg einschleusen konnten. Die Bolschewiken stellten besonders gerne ehemalige Palastwächter ein. Sie waren Vorzeigeobjekte, mit denen die Propagandisten ihre Revolution legitimierten – jeder sollte sehen, dass selbst Nikolaus’ vertrauteste Männer sich gegen ihn kehrten. Viele der Wächter fielen tatsächlich um, Feiglinge, die um ihre Haut fürchteten, aber einige wurden auch wie mein Vater als Spione eingeschleust. Er kannte viele der Revolutionsführer, sie nahmen ihn gerne in ihre Bewegung auf. Es war einfach eine glückliche Fügung, dass er rechtzeitig in Jekaterinburg eintraf. Und noch mehr Glück, dass Jurowski ihn für das Exekutionskommando auswählte.«

Sie waren mit dem Essen fertig und saßen am Küchentisch.

»Es klingt so, als wäre Ihr Vater ein sehr tapferer Mann gewesen«, sagte Lord.

»Unbedingt. Er schwor dem Zaren einen Eid und blieb diesem bis an sein Lebensende treu.«

Lord wollte mehr über Alexej und Anastasia erfahren. »Haben sie überlebt?«, fragte er. »Wie ging es weiter?«

Der alte Mann lächelte wehmütig. »Etwas Wunderbares geschah. Aber zunächst passierte etwas Schreckliches.«

 

Der Konvoi rollte tiefer in den Wald hinein. Die Straße war kaum mehr als ein in den Schlamm eingeschnittener Pfad, und der Lastwagen kam nur langsam voran. Als er schließlich zwischen zwei Bäumen stecken blieb, beschloss Jurowski, ihn stehen zu lassen und den Weg zum Bergwerk per Droschki zurückzulegen. Die verbliebenen Leichen wurden auf improvisierte Bahren gelegt, für die man die Abdeckplane des Wagens verwendete. Das Vier-Brüder-Bergwerk lag nur noch hundert Schritte entfernt, und Maks half, die Bahre mit der Leiche des Zaren zu tragen.

»Legt sie auf den Boden«, befahl Jurowski, als sie auf der Lichtung angekommen waren.

»Ich dachte, ich hätte das Kommando«, wandte Fermakow ein.

»Das ist vorbei«, machte der Kommandant klar.

Sie entfachten ein Feuer. Die Leichen wurden ausgezogen, ihre Kleidungsstücke verbrannt. Da die Männer betrunken waren, an die dreißig Mann, herrschte ein ziemliches Chaos. Maks war dankbar dafür, da so das Verschwinden der zwei Leichen leichter übersehen wurde.

»Diamanten«, brüllte einer der Männer.

Darauf stürzten die anderen herbei.

»Kolja, komm mit«, sagte Jurowski und drängte sich durch die Menge.

Die Männer hatten sich dicht um eine weibliche Leiche geschart. Einer von Fermakows Leuten hatte noch ein juwelengefülltes Korsett entdeckt. Den Revolver gezückt, schnappte Jurowski dem Mann einen Diamanten aus der Hand.

»Geplündert wird nicht. Wer nicht gehorcht, stirbt, und wer von euch die Hand gegen mich erhebt, wird die Vergeltung des Sowjets zu spüren bekommen. Tut jetzt, was ich euch gesagt habe, und entkleidet die Leichen. Alles, was ihr findet, habt ihr bei mir abzugeben.«

»Damit Sie es behalten können?«, fragte jemand.

»Diese Sachen gehören weder mir noch euch, sondern dem Staat. Ich werde alle Wertgegenstände dem Sowjet des Ural übergeben. Ihr habt meinen Befehl gehört.«

»Scheißjude«, sagte jemand.

Im flackernden Licht sah Maks das Aufblitzen der Wut in Jurowskis Augen. Er kannte diesen mürrischen Mann gut genug, um zu wissen, dass er nicht gerne an seine Abstammung erinnert wurde. Sein Vater war Glaser gewesen, die Mutter Näherin, und sie hatten gemeinsam zehn Kinder großgezogen. Er hatte eine ärmliche, harte Kindheit erlebt und war nach der gescheiterten Revolution von 1905 ein loyaler Parteigenosse geworden. Wegen revolutionärer Umtriebe war er nach Jekaterinburg verbannt, aber nach dem Februaraufstand im Vorjahr in den Sowjet des Ural gewählt worden, und seitdem hatte er Tag für Tag treu und sorgsam für die Partei gearbeitet. Er war kein Jude mehr. Er war ein Mann, der Befehle entgegennahm und die Gewähr bot, dass sie präzise umgesetzt wurden.

Über den Pappeln, die die Lichtung umstanden, brach der Tag herein.

»Alle Mann abtreten«, erklärte Jurowski laut. »Bis auf die, die zu mir gehören.«

»Das können Sie nicht machen«, brüllte Fermakow.

»Gehen Sie, oder ich lasse Sie erschießen.«

Die einen legten die Gewehre an, die anderen schulterten rasch ihre Waffen. Wieder hatten die vier Soldaten des Exekutionskommandos dem Befehl ihres Kommandanten gehorcht. Der restliche Trupp schien zu verstehen, dass Widerstand töricht wäre. Selbst wenn es ihnen jetzt gelänge, die wenigen Gegner zu überwältigen, würde der Sowjet des Ural die Tat nicht ungestraft durchgehen lassen. Maks war nicht überrascht, dass die betrunkene Schar gehorchte und sich auf den Rückweg machte.

Als sie weg waren, schob Jurowski seine Waffe wieder in den Gürtel. »Zieht die Leichen fertig aus.«

Maks und zwei Männer befolgten den Befehl, während zwei weitere Soldaten Wache standen. Die Leichen waren inzwischen kaum noch zu identifizieren, nur die Zarin war aufgrund ihres hohen Wuchses und ihres Alters auch im Tod noch gut zu erkennen. Maks spürte, wie sich ihm beim Anblick dieser Menschen, denen er einmal gedient hatte, fast der Magen umdrehte.

Zwei weitere juwelengefüllte Korsetts wurden gefunden. Der überraschendste Fund war ein in den Wäschesaum der Zarin eingenähter Perlengürtel.

»Hier sind nur neun Leichen«, bemerkte Jurowski plötzlich. »Der Zarewitsch und eine der Frauen fehlen. Wo sind sie?«

Keiner sagte etwas.

»Diese Drecksäcke. Die verdammten Saukerle«, schimpfte der Kommandant. »Gewiss haben sie die Leichen unterwegs versteckt, weil sie hofften, noch Wertgegenstände zu finden. Wahrscheinlich sind sie in diesem Moment auf der Suche nach ihnen.«

Maks stieß einen lautlosen Seufzer der Erleichterung aus.

»Was machen wir jetzt?«, fragte einer der Wächter.

Jurowski zögerte nicht. »Gar nichts, verdammt. Wir erstatten Bericht, dass neun in den Schacht geworfen und zwei verbrannt wurden. Wir suchen sie, sobald wir fertig sind. Hat das jeder hier begriffen?«

Schlagartig wurde Maks klar, dass keiner der Anwesenden und am allerwenigsten Jurowski scharf darauf waren, berichten zu müssen, dass zwei der Leichen verschwunden waren. Dafür gab es keine Entschuldigung, sie würden den Zorn des Sowjets unweigerlich auf sich ziehen. Ein kollektives Schweigen bestätigte, dass in dieser Sache alle einer Meinung waren.

Der Rest der blutigen Kleider wurde ins Feuer geworfen und dann wurden die neun nackten Leichen neben die dunkle Schachtöffnung gelegt. Auch Anastasias Hund lag da. Maks fiel auf, dass die Verschnürungen der Korsetts regelmäßige Abdrücke auf der Haut der toten Frauen hinterlassen hatten. Die Prinzessinnen trugen noch Amulette mit einem Bild Rasputins und einem eingenähten Gebet um den Hals. Diese wurden abgerissen und auf den Beutehaufen geworfen. Maks rief sich in Erinnerung, wie schön diese Frauen im Leben gewesen waren, und war traurig, dass davon nun im Tod nichts mehr blieb.

Einer der Männer streckte die Hand aus und streichelte Alexandras Brüste.

Einige weitere folgten seinem Beispiel.

»Jetzt, wo ich die Titten der Zarin gedrückt habe, kann ich in Frieden ruhen«, erklärte einer von ihnen, und die anderen stimmten in sein Gelächter ein.

Maks wandte sich ab und sah zu, wie im Feuer knisternd Stoff zu Asche verbrannte.

»Werft die Leichen hinunter«, befahl Jurowski dann.

Die Männer schleppten die Leichen zum Schacht und stießen sie über den Rand. Erst nach einigen Sekunden hörte man sie unten im Wasser aufklatschen.

Kurz darauf waren alle neun Leichen verschwunden.

 

Wassili Maks hielt inne, holte ein paarmal tief Atem und trank einen Schluck aus seinem Wodkaglas. »Dann setzte Jurowski sich auf einen Baumstumpf und frühstückte ein paar hart gekochte Eier. Sie waren am Vortag von Nonnen aus dem Kloster für den Zarewitsch gebracht worden, und Jurowski hatte sie gebeten, die Eier gut einzupacken. Er hatte genau gewusst, was geschehen würde. Nachdem er sich den Bauch voll geschlagen hatte, warf er Granaten in den Schacht, um ihn zum Einsturz zu bringen.«

»Sie sagten, es sei auch etwas Wunderbares geschehen«, bemerkte Lord.

Der alte Mann trank noch einen Schluck Wodka. »Allerdings.«

 

Zusammen mit den anderen Männern verließ Maks die Leichenstätte gegen zehn Uhr. Ein Posten wurde aufgestellt, um den Schauplatz zu bewachen, und Jurowski machte sich auf den Weg, um dem Sowjet des Ural von den nächtlichen Ereignissen Bericht zu erstatten. Glücklicherweise hatte der Kommandant nicht angeordnet, die verschwundenen Leichen zu suchen, sondern seinen Männern gesagt, er werde berichten, dass sie getrennt verbrannt worden seien.

Sie erhielten den Befehl, zur Stadt zurückzugehen, ohne Aufmerksamkeit zu erregen. Wenn Maks bedachte, wie viele Männer an den Ereignissen der Nacht beteiligt gewesen waren, kam ihm das eigenartig vor. Der Ort, wo die Leichen unter der Erde lagen, konnte unmöglich geheim bleiben, umso mehr, als einige der Männer sich gekränkt fühlten, und die Hoffnung auf Reichtum lockte. Jurowski schärfte seinen Männern ein, sie dürften den Vorfall gegenüber niemandem erwähnen und müssten sich noch am selben Nachmittag im Ipatiew-Haus zum Dienst melden.

Maks ließ die anderen vier vorgehen. Er erklärte ihnen, er wolle auf einem Umweg nach Hause gehen, um den Kopf wieder frei zu bekommen. In der Ferne war Kanonendonner zu hören. Seine Kameraden warnten Maks, die Weiße Armee stehe nur einige Kilometer vor Yekaterinburg, doch er versicherte ihnen, die Weißen würden ihm gewiss nicht begegnen wollen.

Maks trennte sich von seinen Kameraden und wartete eine gute halbe Stunde, bevor er über den Weg zurücklief, den der Lastwagen in der Nacht genommen hatte, Jetzt, bei Tageslicht, fiel Maks das dichte Unterholz des Waldes auf. Er fand das Bahnwärterhäuschen, näherte sich ihm aber nicht, sondern suchte die Stelle, an der sie die Bretter über die verschlammte Straße gelegt hatten.

Er blickte sich um. Weit und breit war niemand zu sehen.

Da schob er sich ins Unterholz.

»Mein Kleiner. Bist du da?« Seine Stimme war nur ein leises Flüstern. »Ich bin es, mein Kleiner. Kolja. Ich bin zurückgekommen.«

Nichts.

Er drängte sich tiefer ins Geäst und schob das Gewirr der stachligen Zweige beiseite. »Alexej. Ich bin zurückgekommen. Komm raus! Die Zeit ist knapp.«

Nur die Vögel antworteten auf sein Rufen.

Er blieb auf einer Lichtung stehen. Die Kiefern am Rand der Lichtung waren alt, die dicken Stämme hatten Jahrzehnte gesehen. Ein morscher Baum war zu Boden gestürzt, und seine frei liegenden Wurzeln erinnerten Maks an die Arme und Beine der Opfer, die kreuz und quer übereinander gelegen hatten. Er würde es sein Leben lang nicht vergessen. Was für eine Schande! Was waren das für Teufel, die vorgaben, im Namen des Volkes zu handeln? War das, was sie mit Russland im Sinn hatten, in irgendeiner Weise besser als die Übel, die sie – zu Recht oder Unrecht – anprangerten und gegen die sie kämpften? War das nach diesem barbarischen Anfang überhaupt möglich?

Die Bolschewiken exekutierten ihre Gefangenen normalerweise mit einem Genickschuss. Warum nun dieses Gemetzel? Vielleicht war das unterschiedslose Abschlachten Unschuldiger ein Hinweis auf das, was noch zu erwarten war. Und warum die Geheimhaltung? Warum wurde Nikolaus II. nicht öffentlich hingerichtet, wenn er wirklich ein Staatsfeind war? Die Antwort war einfach – keiner würde das Abschlachten von Frauen und Kindern gutheißen.

Es war abscheulich.

Hinter sich hörte Maks einen Zweig knacken.

Er griff zur Pistole und wirbelte herum.

Der Lauf zeigte in das weiche, beinahe engelhafte Antlitz Alexej Romanows.

Seine Mutter nannte ihn Kleiner und Sonnenschein. Er stand im Mittelpunkt der ganzen Familie. Ein intelligenter, liebevoller Junge mit einem Hang zum Eigensinn. Maks hatte gehört, wie man im Palast von Alexejs Unaufmerksamkeit sprach, seiner Unwilligkeit im Unterricht und seiner Vorliebe für russische Bauernkleidung. Er war verzogen und launisch. Einmal hatte er einer Truppe von Palastwächtern befohlen, ins Meer zu marschieren, und sein Vater hatte oft darüber gewitzelt, ob Russland wohl Alexej den Schrecklichen überstehen werde.

Doch nun war er der Zar. Alexej II. Der gottgewollte Nachfolger auf dem Zarenthron, den zu beschützen Maks geschworen hatte.

Neben Alexej stand seine Schwester, die ihrem Bruder in vieler Hinsicht ähnelte. Ihre Dickköpfigkeit war sprichwörtlich, ihre Arroganz oft unerträglich, jetzt war ihre Stirn voll Blut und ihre Kleider hingen in Fetzen. Unter den zerrissenen Lumpen erhaschte er einen Blick auf ihr Korsett. Beide Kinder waren blutüberströmt, hatten verdreckte Gesichter und stanken nach Tod.

Doch sie lebten.

 

Lord konnte kaum glauben, was er da hörte, aber der Alte sprach mit einer Überzeugung, die keine Zweifel zuließ. Durch die Tapferkeit eines einzigen Mannes hatten zwei Romanows das blutige Massaker in Jekaterinburg überlebt. Immer wieder hatten Leute dies behauptet, doch es war stets als reine Spekulation abgetan worden.

Hier aber war nun die Wahrheit.

»Bei Einbruch der Nacht schaffte mein Vater die Kinder von Jekaterinburg fort. Helfer standen an der Grenze der Stadt bereit, und gemeinsam brachten sie die Kinder nach Osten. So weit wie möglich von Moskau weg.«

»Warum suchten sie nicht Schutz bei der Weißen Armee?«, fragte Lord.

»Wozu? Die Weißen waren keine Zaristen. Sie hassten die Romanows nicht weniger als die Roten. Nikolaus hielt sie irrtümlich für rettende Kräfte, aber sie hätten die Familie vermutlich ebenfalls umgebracht. Im Jahr 1918 hatte mit Ausnahme einer sehr kleinen Minderheit niemand etwas für die Romanows übrig.«

»Die Menschen, für die Ihr Vater arbeitete?«

Maks nickte.

»Wer waren sie?«

»Ich weiß es nicht. Diese Information hat man nicht an mich weitergegeben.«

»Wie ging es mit den Kindern weiter?«, fragte Akilina.

»Mein Vater schaffte sie aus dem Gebiet, in dem noch zwei Jahre lang der Bürgerkrieg tobte. Nach Osten, über den Ural hinaus und tief nach Sibirien hinein. Es war nicht schwierig, ihre Identität zu verheimlichen. Schließlich wussten nur die Höflinge in St. Petersburg, wie die Kinder aussahen, und die waren zum größten Teil tot. Alte Kleider und dreckige Gesichter waren die beste Verkleidung für die Kinder.« Maks hielt inne und trank einen Schluck Tee. »Sie lebten in Sibirien bei Menschen, die eingeweiht waren, und schafften es schließlich nach Wladiwostok am Pazifik. Von dort wurden sie heimlich außer Landes gebracht. Wohin? Ich weiß es nicht. Das ist ein Abschnitt der vor Ihnen liegenden Reise, in den ich nicht eingeweiht bin.«

»In welcher Verfassung waren die beiden, als Ihr Vater sie fand?«, fragte Lord.

»Alexej war von keiner Kugel getroffen worden. Der Körper des Zaren hatte ihn abgeschirmt. Anastasia hatte Wunden, die aber heilten. Auch die beiden Kinder trugen Korsetts mit eingenähten Edelsteinen. Wie gesagt, damit hatte die Familie sich ja vor Raub schützen wollen. Den Schmuck wollten sie später zu Geld machen. Diese Vorsichtsmaßnahme rettete den Kindern das Leben.«

»Das, und die Tat Ihres Vaters.«

Maks nickte. »Er war ein guter Mann.«

»Wie ist es ihm anschließend ergangen?«, erkundigte sich Akilina.

»Er kehrte hierher zurück und hatte noch ein langes Leben. Von den Säuberungen blieb er verschont. Vor dreißig Jahren ist er gestorben.«

Lord dachte an Jakow Jurowski. Der Leiter des Exekutionskommandos hatte ein weit weniger friedvolles Ende gefunden. Jurowski war zwanzig Jahre nach Jekaterinburg gestorben, ebenfalls im Monat Juli, und zwar an einem aufgeplatzten Magengeschwür. Doch zuvor hatte Stalin Jurowskis Tochter zum Arbeitslager verurteilt. Der alte Parteikämpe hatte vergebens versucht, ihr zu helfen. Es kümmerte niemanden, dass er der Mann war, der den Zaren getötet hatte. Auf seinem Totenbett klagte Jurowski das Schicksal an. Lord war klar, wie so etwas hatte geschehen können. Wieder die Bibel. Mein ist die Rache, ich will vergelten, spricht der Herr.

»Und was machen wir jetzt?«, fragte er.

Maks zuckte die Schultern. »Das wird uns mein Vater sagen müssen.«

»Wie sollte das möglich sein?«

»Die entscheidende Information liegt in einem Metallkästchen versiegelt. Es war mir nicht gestattet, den Inhalt des Kästchens in Augenschein zu nehmen oder zu lesen. Ich hatte nur die Aufgabe, die Botschaft an denjenigen weiterzugeben, der zu mir kam und die Losungsworte sprach.«

Lord war verwirrt. »Wo ist denn das Kästchen?«

»Am Tage seines Todes kleidete ich meinen Vater in seine kaiserliche Uniform und begrub das Kästchen mit ihm. Seit dreißig Jahren liegt es auf seiner Brust.«

Das gefiel Lord überhaupt nicht.

»Ja, Rabe. Mein Vater erwartet dich im Grab.«

28

Starodug, 16.30 Uhr

 

Hayes sah zu, wie Felix Oleg, vor dessen Mund sich in der kalten Luft Atemwölkchen bildeten, die Holztür aufbrach. Auf einem Schild, das über der Tür in den roten Backstein geschraubt war, stand: Café Sneschinki – INHABER: JOSIF MAKS.

Der Türpfosten zersplitterte, und die Tür flog krachend nach innen. Oleg trat ein und verschwand.

Die Straße war menschenleer und alle Geschäfte rundum geschlossen. Stalin folgte Hayes nach drinnen. Da sie für die Fahrt von Moskau nach Starodug fünf Stunden gebraucht hatten, war es seit einer Stunde dunkel. Die Geheimkanzlei hatte Stalins persönliche Anwesenheit für wichtig erachtet, da man der Mafija in einer solchen Angelegenheit die größte Kompetenz zutraute. Deswegen hatte ihr Vertreter nun die Aufgabe, alles zu tun, was die Situation erforderte. Zunächst hatten sie Josif Maks’ Haus am Stadtrand von Starodug aufgesucht. Die örtliche Polizei ließ das Haus seit dem Morgen diskret beschatten und war der Meinung gewesen, der Mann halte sich zu Hause auf, doch Maks’ Frau hatte ihnen mitgeteilt, er sei für ein paar Stunden in die Stadt gefahren, um dort zu arbeiten. Ein Licht hinten in Maks’ Lokal gab Anlass zu Hoffnung, und so war Stalin in Aktion getreten.

Hängelid und Cro-Magnon waren auf die Rückseite des Gebäudes geschickt worden. Hayes erinnerte sich an die Spitznamen, die Lord seinen Verfolgern gegeben hatte, und fand sie recht passend. Er hatte gehört, dass Hängelid mit Waffengewalt aus dem Moskauer Zirkus entführt worden und dass sein Entführer ums Leben gekommen war, ein bisher nicht identifizierter Mann, bei dem nichts auf eine Verbindung zu jener Heiligen Schar hinwies, die unter Semjon Paschkows Führung existieren sollte. Die ganze Angelegenheit wurde immer seltsamer, und der Ernst, mit dem die Russen die Angelegenheit behandelten, bereitete Hayes große Sorgen. Es kam nicht oft vor, dass Männer dieses Schlages in Erregung gerieten.

Oleg tauchte in einem Korridor auf, der vom Hintereingang ins Haus führte. Einen Mann mit buschigem, rotem Haar und Schnauzbart fest im Griff haltend, ging er um ein paar Kästen mit Gläsern herum. Hängelid und Cro-Magnon folgten ihm.

»Er wollte durch den Hinterausgang entwischen«, erklärte Oleg.

Stalin zeigte auf einen Stuhl aus Eichenholz. »Setzt ihn dorthin.«

Hayes bemerkte, dass Stalin Hängelid und Cro-Magnon ein unauffälliges Zeichen gab, das die beiden sofort zu verstehen schienen. Die zersplitterte Vordertür wurde geschlossen, und die Männer stellten sich mit gezogenen Schusswaffen an die Fenster. Eine Stunde zuvor hatte Oleg die einheimische Polizei aufgefordert, das Gebiet nicht zu betreten, und die Angehörigen der örtlichen Milizija hüteten sich normalerweise, den Befehl eines Moskauer Inspektors zu missachten. Etwas früher hatte Chruschtschow der einheimischen Verwaltung über Regierungskanäle mitteilen lassen, dass im Stadtgebiet eine Polizeioperation bevorstehe, die mit einem Attentat am Roten Platz zu tun habe, und dass Einmischung unerwünscht sei.

»Herr Maks«, erklärte Stalin. »Es geht hier um eine äußerst wichtige Angelegenheit. Ich möchte, dass Sie sich das klar machen.«

Hayes beobachtete Maks’ Reaktion auf diese Ankündigung. Im Gesicht des Mannes zeichnete sich nicht einmal eine Andeutung von Angst ab.

Stalin trat dicht an den Stuhl heran. »Gestern kamen ein Mann und eine Frau zu Ihnen. Erinnern Sie sich daran?«

»Ich habe viele Besucher.« In der Stimme lag Verachtung.

»Gewiss. Aber vermutlich wird Ihr Lokal nur selten von Tschornis besucht.«

Der untersetzte Russe streckte ruckartig das Kinn vor. »Verpisst euch.«

Seine Stimme klang selbstbewusst, doch Stalin reagierte nicht auf den scharfen Tonfall. Er machte einfach nur ein Zeichen, und Hängelid und Cro-Magnon kamen gleichzeitig heran und legten Maks mit dem Gesicht nach unten auf den Bretterboden.

»Amüsieren wir uns mit ihm«, sagte Stalin.

Hängelid verschwand im Hinterzimmer, während Cro-Magnon den Mann weiter festhielt. Oleg war als Wachposten zur Hintertür geschickt worden. Es war ihm wichtig, nicht aktiv an der Sache beteiligt zu sein. Auch Hayes hielt das für geraten. Vielleicht mussten sie in den nächsten Wochen ihre Beziehungen zur Polizei nutzen, und im Moskauer Revier war Oleg ihr bester Kontaktmann.

Hängelid kam mit einer Rolle Isolierband zurück und fesselte dem Gefangenen damit die Hände. Cro-Magnon zerrte den Russen hoch und stieß ihn auf den wackligen Stuhl, an dem sie auch seine Brust und Beine festbanden. Schließlich klebte man ihm mit einem letzten Streifen den Mund zu.

»Nun, Herr Maks«, sagte Stalin, »erzähle ich Ihnen, was wir wissen. Ein Amerikaner namens Miles Lord und eine Russin mit dem Namen Akilina Petrowa kamen gestern hier vorbei. Die beiden erkundigten sich bei Ihnen nach Kolja Maks, doch Sie gaben an, ihn nicht zu kennen, jetzt wüsste ich gerne von Ihnen, wer dieser Kolja Maks ist und warum Lord und die Frau ihn suchen. Sie kennen die Antwort auf meine erste Frage, und ich bin mir sicher, dass Sie mir auch die zweite beantworten können.«

Maks schüttelte den Kopf.

»Eine törichte Entscheidung, Herr Maks.«

Hängelid riss einen kurzen Streifen des grauen Bandes ab und reichte ihn Stalin. Die beiden schienen die Prozedur zu kennen. Stalin strich sich das Haar aus der gebräunten Stirn und beugte sich vor. Er drückte das Band lose auf Maks’ Nase. »Wenn ich dieses Band fest andrücke, wird es Ihre Nasenlöcher versiegeln. Es bleibt Ihnen ein wenig Luft in der Lunge, aber die reicht nicht lange. Dann ersticken Sie ganz schnell. Wie wär’s mit einer kleinen Demonstration?« Stalin drückte das Band fest über der Nase zusammen.

Hayes beobachtete, wie Maks’ Brust heftig arbeitete. Er wusste, dass das kräftige Band wegen seiner Luftundurchlässigkeit auch zur Abdichtung der Rohre von Klimaanlagen verwendet wurde. Inzwischen quollen dem Russen fast die Augen aus dem Kopf, und während der Sauerstoff in seinem Blut immer knapper wurde, verfärbte sich seine Haut, bis er schließlich aschfahl war. Er rang zappelnd um Atem, doch Cro-Magnon hielt ihn von hinten unbeirrbar fest.

Stalin streckte beiläufig die Hand aus und befreite den Mund des Gefesselten von dem Band. Sofort sog er keuchend die Luft ein.

Die Farbe kehrte in Maks’ Gesicht zurück.

»Bitte antworten Sie auf meine Fragen«, forderte Stalin ihn auf.

Maks atmete nur.

»Sie sind offensichtlich ein tapferer Mann, Herr Maks. Welchen Zweck Ihr Mut hat, weiß ich nicht. Aber er ist bewunderungswürdig.« Stalin hielt inne, scheinbar, um Maks Gelegenheit zum Luftholen zu geben. »Ich möchte Sie wissen lassen, dass wir vorhin bei Ihnen zu Hause waren und Ihre reizende Frau uns hereingebeten hat. Eine äußerst charmante Dame. Wir traten ein, und sie teilte uns mit, wo Sie sich aufhalten.«

Ein gehetzter Ausdruck trat in Maks’ Gesicht. Endlich. Angst.

»Keine Sorge«, erklärte Stalin. »Es geht ihr gut. Sie glaubt, dass wir im Auftrag der Regierung arbeiten und hier eine offizielle Untersuchung durchführen. Mehr nicht. Aber ich versichere Ihnen, dass das eben durchgeführte Verfahren auch bei Frauen ausgezeichnet funktioniert.«

»Gottverfluchte Mafija.«

»Das hier hat nichts mit der Mafija zu tun. Es geht um etwas viel Bedeutenderes, und ich glaube, dass Sie das wissen.«

»Sie werden mich ohnehin töten, gleichgültig, was ich aussage.«

»Aber ich gebe Ihnen mein Wort, dass Ihre Frau nicht behelligt wird, wenn Sie mir sagen, was ich wissen will.«

Der Rotschopf schien über den Vorschlag nachzudenken.

»Sie glauben mir?«, fragte Stalin ruhig.

Maks erwiderte nichts.

»Zweifeln Sie nicht daran, dass ich diese Männer losschicken werde, um Ihre Frau zu holen, wenn Sie weiter schweigen. Ich werde sie neben Ihnen am Stuhl festbinden, und dann können Sie zusehen, wie sie erstickt. Danach lasse ich Sie selbst wahrscheinlich am Leben, damit die Erinnerung Sie für den Rest Ihres Lebens verfolgt.«

Stalin sprach so kühl und nüchtern, als führe er eine geschäftliche Verhandlung. Hayes war beeindruckt, wie gelassen dieser gut aussehende Mann, der in seinen Armani-Jeans und dem Kaschmirpullover über den Gefangenen gebeugt stand, Menschen quälte.

»Kolja Maks ist tot«, antwortete Maks schließlich. »Sein Sohn Wassili wohnt etwa zehn Kilometer südlich von Starodug an der Schnellstraße. Warum Lord ihn suchte, weiß ich nicht. Wassili ist mein Großonkel. Seit jeher hängen die Angehörigen meiner Familie, die ein Geschäft führen, ein Schild vor die Tür. Wassili hat uns darum gebeten, und ich bin seinem Wunsch gefolgt.«

»Ich glaube, dass Sie lügen, Herr Maks. Und Sie wissen genau, warum. Gehören Sie zur Heiligen Schar?«

Maks erwiderte nichts. Offensichtlich kannte seine Kooperationsbereitschaft Grenzen.

»Nein. Das werden Sie auf keinen Fall zugeben, nicht wahr? Schließlich haben Sie dem Zaren einen Eid geschworen.«

Maks sah ihn starr an. »Fragen Sie Wassili.«

»Gewiss«, antwortete Stalin und machte seinen Männern ein Zeichen.

Hängelid klebte Maks den Mund wieder zu.

Um Atem ringend kämpfte der Russe gegen seine Fesseln an. Dabei kippte der Stuhl um und krachte zu Boden.

Bald darauf war sein Todeskampf zu Ende.

»Ein guter Mann, der seine Frau beschützt«, erklärte Stalin mit einem Blick auf die Leiche. »Man muss ihn bewundern.«

»Werden Sie Ihr Wort halten?«, fragte Hayes unvermittelt.

Stalin sah ihn richtiggehend verletzt an. »Natürlich. Wofür halten Sie mich denn?«

29

6.40 Uhr

 

Lord hielt im Wald am Rand einer schlammigen Straße an. Die kühle Abenddämmerung war inzwischen zu einer kalten, mondlosen Nacht geworden. Er war nicht scharf auf die Aussicht, einen dreißig Jahre alten Sarg aus der Erde zu graben, doch ihm blieb keine Wahl. Inzwischen war er überzeugt, dass zwei Romanows aus Jekaterinburg entflohen waren. Ob sie endgültig entkommen konnten und dann auch noch Nachkommen hinterlassen hatten, war eine andere Frage, aber es schien nur eine einzige Möglichkeit zu geben, das herauszufinden.

Wassili Maks hatte ihnen zwei Schaufeln gegeben und eine Taschenlampe, die nur noch schwach leuchtete. Er hatte ihnen eingeschärft, dass der Friedhof tief im Wald lag, gute dreißig Kilometer von Starodug entfernt, und dass sie ihn nur an einer Reihe dicker Pappeln und einer alten Steinkapelle erkennen konnten, die gelegentlich für Begräbnisgottesdienste genutzt wurde.

»Da vorne den Pfad entlang, da müsste der Friedhof liegen«, sagte Lord, als er aus dem Wagen stieg.

Sie hatten noch immer das Auto, das Josif Maks ihnen am Vormittag besorgt hatte. Maks hatte erklärt, er werde nachmittags mit ihrem Wagen zurückkehren. Als er um achtzehn Uhr noch immer nicht eingetroffen war, hatte Wassili ihnen aufgetragen, sich allein auf den Weg zu machen. Er würde es Josif erklären und zusammen mit ihm auf ihre Rückkehr warten. Der alte Mann schien genauso gespannt auf das Geheimnis zu sein, das sein Vater mit ins Grab genommen hatte, wie sie selbst es waren. Wassili machte sie darauf aufmerksam, dass er ihnen noch eine weitere Information geben müsse, aber erst, wenn sie das Geheimnis seines Vaters gelüftet hatten. Das war eine weitere Sicherheitsmaßnahme, die er an seinen Neffen Josif weitergeben wollte, der das Geheimnis hüten sollte, wenn er selbst einmal nicht mehr war.

Lord trug ein Jackett und ein Paar Lederhandschuhe, die er zusammen mit dicken Wollsocken aus Atlanta mitgebracht hatte. Seine Jeans waren die einzige lässige Kleidung, die er für Russland eingepackt hatte. Den Pullover hatte er vor ein paar Wochen in Moskau gekauft. Eigentlich sollte er sich jetzt in einer Welt der Anzüge und Krawatten bewegen, in der lässige Kleidung allenfalls am Sonntagnachmittag angesagt war, aber in den zurückliegenden Tagen hatten die Ereignisse eine dramatische Wendung genommen.

Maks hatte ihn außerdem mit einer Waffe ausgestattet, einem alten Repetiergewehr, das man ohne zu übertreiben als antik bezeichnen konnte. Doch die Waffe war gut geölt, und Maks hatte ihm gezeigt, wie man sie lud und abschoss. Dabei hatte er vor Bären gewarnt, die jetzt, wo es auf den Winterschlaf zuging, nachts durch die Wälder streiften. Lord kannte sich mit Schusswaffen nicht aus und hatte nur in Afghanistan einmal ein paar Übungsschüsse abgegeben. Er fand den Gedanken, bewaffnet zu sein, nicht angenehm, doch die Vorstellung, einem hungrigen Bären zu begegnen, beunruhigte ihn noch stärker. Da überraschte ihn Akilina. Sie legte die Waffe an und gab drei Schüsse auf einen fünfzig Meter entfernten Baum ab. Noch so eine Lektion, die sie von ihrer Großmutter gelernt habe, erzählte sie. Lord war froh darüber. Wenigstens sie wusste, was sie hier tat.

Er schnappte sich Schaufeln und Taschenlampe vom Rücksitz. Auch ihre Kleidersäcke lagen dort. Sobald sie hier fertig waren, würden sie nach einem kurzen Abstecher zu Wassili Maks endgültig aufbrechen. Wohin sie sich wenden würden, war noch unklar, doch Lord hatte beschlossen, südwestwärts nach Kiew zu fahren und einen Flug in die Vereinigten Staaten zu nehmen, falls diese Reise sich als Sackgasse erwies. Taylor Hayes würde er dann von Atlanta aus anrufen, wenn er zu Hause und in Sicherheit war.

»Los«, sagte er. »Bringen wir es hinter uns.«

Rundum erhoben sich schwarze Baumsäulen, und die Zweige raschelten in dem eiskalten Wind, der ihm ins Gesicht blies. Er setzte die Taschenlampe sparsam ein, da sie beim Graben noch Licht brauchten.

Auf einer Lichtung vor ihnen waren nun verschwommen Grabsteine zu erkennen. Wie im alten Europa üblich, waren es hohe Steine, und selbst in der Dunkelheit war unübersehbar, dass die Grabstätten nicht mehr gepflegt wurden. Eine dicke Reifschicht hatte alles weiß überzogen. Der schwarze Himmel ließ weiteren Regen vorausahnen. Kein Zaun umgrenzte den Friedhof, und kein Tor hieß den Besucher willkommen. Der Pfad, der von der Straße herbeiführte, verlor sich einfach hinter der ersten Reihe von Gedenksteinen. Lord konnte sich gut vorstellen, wie ein Leichenzug einem feierlichen, schwarz gekleideten Priester über den Pfad folgte, um einen schlichten Holzsarg geschart, auf den in der schwarzen Erde eine rechteckige Grube wartete.

Ein kurzes Aufblitzen der Taschenlampe verriet, dass alle Gräber mit Gestrüpp überwuchert waren. Hier und dort lagen Steinhaufen, und die meisten Grabsteine waren von Kletterpflanzen und dornigen Ranken überwachsen. Er leuchtete mit der Lampe auf die Inschriften. Einige der Toten lagen schon seit zweihundert Jahren dort.

»Maks sagte, es ist das Grab, das am weitesten vom Weg entfernt liegt«, erklärte er und führte Akilina tiefer in den Friedhof hinein.

Da es seit dem Nachmittag nahezu ununterbrochen geregnet hatte, war der Friedhof sehr schlammig. Das sollte das Graben erleichtern, dachte Lord.

Sie fanden das Grab.

Er las die Inschrift unter Kolja Maks’ Namen:

Wer aber bis ans Ende beharret, der wird selig.

Akilina ließ das Gewehr von der Schulter gleiten. »Nun, das hier könnte der richtige Weg sein.«

Er reichte ihr eine der beiden Schaufeln. »Das werden wir gleich herausfinden.«

Die Erde ließ sich in weichen Klumpen abstechen, und bald füllte scharfer Torfgeruch die Luft. Wassili hatte erklärt, der Eichensarg läge nicht allzu tief. Die Russen begruben ihre Toten meistens auf diese Weise, und Lord hoffte, dass der alte Mann Recht hatte.

Akilina arbeitete dicht beim Grabstein, während Lord von der anderen Seite her anfing. Er beschloss, senkrecht nach unten zu graben, um sich ein Bild davon zu machen, wie tief sie die Grube ausheben mussten. In einem Meter Tiefe stieß er auf etwas Hartes. Er räumte den feuchten Dreck beiseite und legte angefaulte, zersplitterte Holzbretter frei.

»Dieser Sarg lässt sich vermutlich nicht mehr rausholen«, meinte Lord.

»Was für die Leiche nichts Gutes erwarten lässt.«

Sie gruben weiter und räumten die Erde Schicht um Schicht beiseite, bis sie zwanzig Minuten später eine rechteckige Grube vor sich hatten.

Er leuchtete mit der Taschenlampe hinunter.

Durch Löcher im Sarg war die Leiche zu sehen. Lord nahm wieder die Schaufel zur Hand, hebelte die morschen Sargbretter ab und legte Kolja Maks’ Leiche vollständig frei.

Der Russe trug die Uniform eines Palastwächters. Im schwachen Schein der Lampe leuchteten hier und da Farbreste auf. Gedämpfte Rottöne, dunkles Blau und ein Erdschwarz, das früher einmal Weiß gewesen sein musste. Messingknöpfe und eine goldene Gürtelschnalle waren unversehrt geblieben, doch von der Hose und der Uniformjacke waren nur noch ein paar Fetzen, Lederriemen und ein Gürtel übrig.

Auch an dem Verstorbenen selbst hatte die Zeit ihre Spuren hinterlassen. An Gesicht und Händen war kein Fleisch mehr. Nur die Augenhöhlen, das Nasenbein, die freiliegende Kieferpartie und die im Tod zusammengebissenen Zähne verliehen dem Schädel noch einen gewissen Ausdruck. Genau wie vom Sohn angekündigt, barg der Vater ein Metallkästchen auf den Überresten seiner Brust, aus der die Rippen in merkwürdigen Winkeln herausstachen, während die Armknochen das Kästchen noch immer umfasst hielten.

Lord erwartete den Hauch der Verwesung, doch nur schaler Geruch von feuchter Erde und Flechten stieg zu ihm auf. Mit der Schaufel schob er die Arme auseinander. Der Rest eines Ärmels löste sich ab und zerfiel. Ein paar Regenwürmer flüchteten sich vom Deckel des Kästchens. Akilina holte es heraus und stellte es vorsichtig auf die Erde. Es war schmutzig, aber unversehrt – und aus Bronze, wohl damit die Feuchtigkeit ihm nichts anhaben konnte. Lord bemerkte ein Vorhängeschloss.

»Das Kästchen ist schwer«, sagte Akilina.

Er kniete sich hin und hob es versuchsweise an. Sie hatte Recht. Vorsichtig schüttelte er es. Im Inneren rutschte etwas hin und her, das ein verhältnismäßig großes Gewicht hatte. Er legte das Kästchen auf den Boden zurück und griff wieder zur Schaufel.

»Tritt zurück.«

Lord ließ die Schaufelspitze auf das Schloss niederkrachen. Mit drei Hieben hatte er es aufgebrochen. Er wollte gerade die Hand ausstrecken und den Deckel aufklappen, da wirbelten Lichtstreifen über die Baumreihe. Er riss den Kopf herum und sah in der Ferne vier Lichtpunkte – die Scheinwerfer zweier Autos, die sich auf der Straße rasch der Stelle näherten, wo sie geparkt hatten. Ungefähr dort, wo ihr eigener Wagen stand, gingen die Lichter aus.

»Mach die Taschenlampe aus«, flüsterte er. »Und komm.«

Die Schaufeln ließ er liegen und schnappte das Kästchen. Akilina trug das Gewehr. Er verschwand zwischen den Bäumen und schob sich so tief ins Unterholz, dass er vor Blicken geschützt war. Die nassen Blätter durchweichten seine Kleider, und er achtete darauf, das Kästchen nicht zu sehr zu rütteln, da er nicht wusste, ob der Inhalt zerbrechlich war. Langsam bewegte er sich mit Akilina in einem Bogen um den Friedhof herum und auf ihren Wagen zu. Der Wind frischte auf und ließ die Zweige laut und rhythmisch schlagen.

In der Ferne leuchteten zwei Taschenlampen auf.

Gebückt schlich Lord auf die Lichtung zu, blieb dabei aber in der Deckung der Bäume. Vier dunkle Gestalten tauchten auf dem Pfad auf und betraten den Friedhof. Drei gingen hoch aufgerichtet mit festen Schritten. Der Vierte schlurfte vornübergebeugt und bewegte sich langsamer. Der Lichtstrahl einer Taschenlampe streifte Hängelids Züge. Der Schein der anderen Lampe fiel auf das fette Gesicht von Inspektor Felix Oleg. Während sie näher kamen, erkannte Lord den dritten Mann an seiner Silhouette: Cro-Magnon! Als Letzter folgte Wassili Maks.

»Herr Lord«, rief Oleg auf Russisch. »Wir wissen, dass Sie hier sind. Seien Sie vernünftig und erschweren Sie uns unsere Arbeit nicht unnötig.«

»Wer ist das?«, fragte Akilina flüsternd.

»Ein Problem«, hauchte er zurück.

»Der Mann, der die Taschenlampe trägt, war im Zug«, flüsterte sie.

»Beide.« Er warf einen Blick auf das Gewehr in ihrer Hand. »Wenigstens sind wir bewaffnet.«

Durchs Unterholz und die dunklen Baumsäulen hindurch beobachtete Lord, wie die vier Gestalten auf das geöffnete Grab zugingen, wobei die Taschenlampen den Weg erhellten.

»Ist das die Stelle, wo Ihr Vater begraben liegt?«, hörte er Olegs Stimme.

Wassili Maks trat auf den steinernen Grabstein zu, der von einer Taschenlampe beleuchtet wurde. Einen Moment lang übertönte der Wind die Stimmen, und Lord konnte nicht hören, ob der alte Mann etwas sagte. Dagegen hörte er, was Oleg gleich darauf auf Russisch brüllte: »Lord, entweder Sie kommen raus, oder ich töte diesen alten Mann. Sie haben die Wahl.«

Lord wollte Akilina das Gewehr entreißen und sich vorwärts stürzen, doch die drei Männer waren ohne Zweifel ebenfalls bewaffnet und wussten, wie man mit einer Waffe umging. Er dagegen war halb tot vor Angst und hatte keine Ahnung, was er hier eigentlich tat. Tatsächlich setzte er sein Leben gerade auf die Prophezeiung eines alten Scharlatans, der vor hundert Jahren ermordet worden war. Doch bevor er eine Entscheidung treffen konnte, traf Wassili Maks sie für ihn.

»Mach dir keine Sorgen um mich, Rabe. Ich bin bereit.«

Maks rannte plötzlich los, weg vom Grab seines Vaters und auf die parkenden Autos zu. Die anderen drei Gestalten blieben stehen, doch Lord sah, dass Hängelid den Arm hob, und erkannte den Umriss eines Revolvers in seiner Hand.

»Wenn du mich hören kannst, Rabe«, schrie Maks. »Russenberg.«

Im Dunkeln krachte ein Schuss, und der alte Mann stürzte zu Boden.

Lord stöhnte auf und spürte, wie Akilina an seiner Seite erstarrte. Sie sahen zu, wie Cro-Magnon gelassen herankam, die Leiche des alten Mannes zum Grab schleppte und sie in die Grube warf.

»Wir müssen hier weg«, flüsterte Lord Akilina zu.

Sie widersprach nicht.

Gebückt huschten sie von Baum zu Baum, zurück zu der Stelle, wo die drei Wagen am Straßenrand parkten.

Vom Friedhof her hörte man eilige Schritte näher kommen.

Lord und Akilina duckten sich am matschigen Straßenrand ins Unterholz.

Hängelid tauchte auf, eine Taschenlampe in der Hand. Im Dunkeln klirrten Schlüssel, dann wurde ein Kofferraum geöffnet. Lord zögerte keine Sekunde und stürmte aus dem Gebüsch. Hängelid, der sich über den Kofferraum gebeugt hatte, schien seine Schritte zu hören und richtete sich auf. Lord ließ das Metallkästchen auf seinen Schädel niederkrachen.

Hängelid sank zu Boden.

Lord sah auf ihn hinunter, stellte erleichtert fest, dass er das Bewusstsein verloren hatte, und warf dann einen Blick in den Kofferraum. Im Schein eines Lämpchens blickte er in die starren Augen des toten Josif Maks.

Was hatte Rasputin gesagt? Zwölf müssen sterben, bevor die Suche vollendet ist.

Heilige Mutter Gottes. Gerade waren zwei weitere Männer gestorben.

Akilina eilte zu ihm und erblickte die Leiche.

»Oh nein«, murmelte sie. »Alle beide?«

»Dafür haben wir keine Zeit. Steig schon ein.« Er reichte ihr die Schlüssel. »Aber pass auf, dass man die Tür nicht hört. Und lass den Motor erst an, wenn ich es dir sage.« Er reichte ihr das Kästchen und nahm das Gewehr.

Der Friedhof lag gut fünfzig Meter von der Straße entfernt, und der Weg war nass und matschig und im Dunkeln gewiss nicht leicht zu gehen. Cro-Magnon und Oleg durchkämmten im Moment vermutlich den Wald. Hängelid hatten sie zurückgeschickt, um die zweite Leiche zu holen, da man sie wohl nirgendwo besser loswerden konnte als in einem offenen Grab. Lord hatte ihnen ja sogar zwei Schaufeln zurückgelassen. Es würde jedoch nicht mehr lange dauern, bis sie ihren Genossen vermissten.

Lord legte eine Kugel ein, zielte auf den rechten Hinterreifen des einen Fahrzeugs und drückte ab. Schnell lud er nach und zerschoss den Vorderreifen des anderen Autos. Dann rannte er zu seinem Wagen und sprang hinein.

»So. Los jetzt.«

Akilina drehte den Zündschlüssel und legte hastig den ersten Gang ein. Mit durchdrehenden Rädern setzte sie einmal vor und zurück, um auf der engen Straße zu wenden.

Dann trat sie voll aufs Gas, und sie schossen in die Dunkelheit davon.

 

Sie fanden die Schnellstraße und fuhren südwärts. Länger als eine Stunde schwiegen sie, und je mehr ihre Erregung nachließ, desto stärker wurde ihnen bewusst, dass gerade zwei Männer ums Leben gekommen waren.

Es fing wieder an zu regnen. Selbst der Himmel schien ihre Trauer zu teilen.

»Die ganze Sache ist einfach unglaublich«, sagte Lord, mehr zu sich als zu Akilina gewandt.

»Professor Paschkow hat offensichtlich Recht.«

Nicht gerade das, was Lord jetzt hören wollte. »Fahr an den Straßenrand. Halt hier an.«

Rundum nichts als dunkle Felder und dichter Wald. Seit Stunden hatten sie kein Haus mehr zu Gesicht bekommen; es waren ihnen nur drei Autos entgegengekommen.

Akilina hielt am Straßenrand an. »Wozu?«

Er griff nach dem Metallkästchen, das auf dem Rücksitz lag. »Wir schauen nach, ob es sich wenigstens gelohnt hat.« Und er stellte das verdreckte Kästchen auf seinen Schoß. Das Vorhängeschloss war von den Schlägen mit der Schaufel aufgebrochen, und der Boden hatte nach dem Hieb auf Hängelids Schädel eine leichte Delle. Lord schob den Bügel des kaputten Schlosses heraus, klappte den Deckel langsam hoch und leuchtete mit der Taschenlampe ins Innere.

Als Erstes sah er etwas Goldenes schimmern.

Lord holte einen Goldbarren heraus, der die Größe einer Tafel Schokolade hatte. Die dreißig Jahre unter der Erde hatten seinem Glanz keinen Abbruch getan. Oben war eine Zahl eingeprägt und die Initialen N und R, zwischen denen ein doppelköpfiger Adler zu sehen war. Das Siegel Nikolaus’ II. Lord hatte es oft genug auf Fotos gesehen. Der Goldbarren war schwer, er wog gewiss zweieinhalb Kilo. Wenn er den Goldpreis richtig im Kopf hatte, dürfte der Barren derzeit um die dreißigtausend Dollar wert sein.

»Der stammt aus der Schatzkammer des Zaren.«

»Woher weißt du das?«

»Ich weiß es.«

Auf dem Boden des Kästchens lag ein kleiner, halb zerfallener Stoffbeutel. Er befühlte ihn und kam zu dem Schluss, dass er aus Samt gewesen sein musste. Im schwachen Schein der Taschenlampe wirkte er dunkelblau oder vielleicht auch violett. Er drückte etwas fester. Im Inneren des Beutels fühlte er zwei Gegenstände: etwas Hartes und dann noch etwas Kleineres. Er reichte Akilina die Taschenlampe und streifte den halb zerfallenen Stoff mit beiden Händen zurück.

Zum Vorschein kam eine Goldplatte mit eingraviertem Text und ein Messingschlüssel. Auf dem Schlüssel stand: C. M. B. 716. Der Text auf der Goldplatte war in kyrillischen Buchstaben geschrieben. Lord las ihn laut vor:

 

Der Goldbarren ist für Sie bestimmt. Möglicherweise brauchen Sie Geld, und Ihr Zar war sich seiner Pflicht bewusst. Auch diese Goldplatte sollten Sie einschmelzen und zu Geld machen. Verwenden Sie den Schlüssel für das nächste Portal. Sie sollten inzwischen wissen, wo es sich befindet. Andernfalls endet Ihr Weg hier, und so soll es sein. Danach kann nur noch die Höllenglocke den Weg weisen. Dem Raben und dem Adler viel Glück und Gottes Segen. Jedem unbefugten Dieb aber sei der Teufel ewiger Gefährte.

 

»Wir wissen doch gar nicht, wo sich das nächste Portal befindet«, sagte Akilina.

»Vielleicht doch.«

Sie sah ihn erstaunt an.

Noch immer hörte er die Worte, die Wassili Maks vor seinem Tod geschrien hatte.

Russenberg. Nichts anderes also als Russian Hill.

In Gedanken ging er all das durch, was er im Laufe der Jahre gelesen hatte. Während des russischen Bürgerkriegs von 1918 bis 1920 waren die Truppen der Weißen Armee von Amerikanern, Briten und Japanern mit großen Summen unterstützt worden. Man schätzte die roten Bolschewiken als große Gefahr ein, und so wurden Gold, Munition und andere Güter über die Grenzstadt Wladiwostok an der Pazifikküste nach Russland eingeschleust. Maks hatte ihnen erzählt, dass die beiden Romanowkinder auf der Flucht vor der Roten Armee weit in den Osten gebracht worden waren. Bis nach Wladiwostok. Tausende russischer Flüchtlinge hatten denselben Weg eingeschlagen, manche auf der Flucht vor den Sowjets, manche in der Hoffnung auf einen Neuanfang, andere wiederum einfach aus Abenteuerlust. Die amerikanische Westküste wurde nicht nur zum Magneten für Flüchtlinge, sondern auch zum Zentrum der Finanzhilfen für die bedrängte Weiße Armee, die schließlich von Lenin und den Roten geschlagen wurde.

Noch immer hatte Lord Wassili Maks’ Schrei in den Ohren.

North Beach lag im Osten, Nob Hill im Süden. Schöne alte Häuser, Cafés und ausgefallene Geschäfte überall auf dem Hügel. Ein Szeneviertel in einer schicken Stadt. Doch Anfang des neunzehnten Jahrhunderts hatte man dort eine Gruppe russischer Pelzhändler bestattet. Damals hatten nur die Stämme der Miwok und Ohlone die felsige Küste und die Bergkette dahinter besiedelt; bis Weiße hier die Bevölkerungsmehrheit stellten, sollten noch Jahrzehnte vergehen. Der Legende von den Gräbern verdankte der Berg seinen Namen.

Russian Hill.

San Francisco, Kalifornien.

Amerika.

Dorthin also hatte man die beiden Romanows gebracht.

Er teilte seine Überlegungen Akilina mit. »Das erscheint mir absolut plausibel. Die Vereinigten Staaten sind groß. Kein Problem, dort zwei Halbwüchsige untertauchen zu lassen und ihre Identität geheim zu halten. Die Amerikaner wussten wenig über die russische Zarenfamilie, sie scherten sich einen Dreck um sie. Wenn Jussupow so schlau war, wie es allmählich den Anschein hat, hätte er gewiss auf diese Karte gesetzt.« Lord nahm den Schlüssel in die Hand und betrachtete die eingravierten Zeichen. C. M. B. 716. »Also, ich halte das hier für den Schlüssel eines Bankschließfachs in San Francisco. Wir müssen dort einfach nur herausfinden, um welches es sich handelt, und dann hoffen, dass es noch immer existiert.«

»Ist das denn möglich?«

Lord zuckte die Schultern. »In San Francisco gibt es ein altes Bankenviertel. Dort stehen die Chancen nicht schlecht. Selbst wenn die Bank nicht mehr existieren sollte, kann sie das Schließfach einem Nachfolgeinstitut übergeben haben. Das ist eine gängige Praxis.« Er hielt inne. »Wassili hatte angekündigt, dass er nach unserer Rückkehr vom Friedhof noch eine Information für uns hat. Ich wette, San Francisco ist der nächste Abschnitt unserer Reise.«

»Er sagte aber auch, er wisse nicht, wohin die Kinder gebracht worden seien.«

»Wir können nicht ausschließen, dass er nicht die Wahrheit sagte. Einfach ein weiteres Hinhaltemanöver, bis wir das Kästchen gefunden hatten. Jetzt besteht unsere Aufgabe darin, die Höllenglocke zu finden, was auch immer das sein mag.« Er nahm den Goldbarren in die Hand. »Damit können wir leider nichts anfangen. Den kriegen wir nie durch den Zoll. Heutzutage dürfte es nicht allzu viele Menschen geben, die russisches Zarengold mit sich herumtragen. Ich denke, du hast Recht, Akilina. Professor Paschkows Behauptungen stimmen. Jeder russische Bauer hätte etwas derart Kostbares schon längst eingeschmolzen, wenn es ihm in seiner ursprünglichen Form nicht noch wertvoller gewesen wäre. Kolja Maks hat seine Aufgabe offensichtlich ernst genommen. Wie auch Wassili und Josif. Beide sind dafür gestorben.«

Er starrte durch die Windschutzscheibe in die Dunkelheit. Eine plötzliche Woge der Entschlossenheit erfasste ihn. »Weißt du, wo wir uns befinden?«

Sie nickte. »Nahe der ukrainischen Grenze, fast schon außerhalb Russlands. Diese Schnellstraße führt nach Kiew.«

»Wie weit?«

»Vierhundert Kilometer. Allerhöchstens.«

Er erinnerte sich an die Papiere des Außenministeriums, die er vor seinem Aufbruch nach Moskau gelesen hatte und in denen über die fehlenden Grenzkontrollen zwischen Russland und der Ukraine berichtet wurde. Es hatte sich einfach als zu teuer erwiesen, alle Grenzstellen mit Zöllnern zu besetzen, und da in der Ukraine so viele Russen lebten, betrachtete man diese Ausgaben als überflüssig.

Er warf einen Blick durchs Rückfenster. Hinter ihnen lag die Begegnung mit Hängelid, Cro-Magnon und Felix Oleg gerade eine Stunde zurück. Vor ihnen war die Bahn frei.

»Fahren wir. Ich denke, wir können in Kiew einen Flug bekommen.«