12
Mitternachtssonne

Gegen Mittag – sie waren inzwischen sehr erschöpft aber voller Hoffnung – erreichten sie Burg Ocna. Diese war zwar nicht ganz so imposant wie Burg Onesti, aber immer noch stattlich genug. Die Außenmauer war viel zu hoch, als daß sie sie hätten erklimmen können. »Ich hau zu Klumpen wie weiche Lumpen«, bot sich Krach voller Zuversicht an.

»Nein«, sagte Dor, »das würde die ganze Burg alarmieren und uns einen Pfeilhagel nach dem anderen bescheren.« Er musterte Arnolde, dem es gut zu gehen schien; er zeigte keinerlei Anzeichen einer Infektion. Aber von Pfeilen hatten sie vorerst genug! »Wir warten bis Nachtanbruch und gehen dann äußerst leise vor. Sie werden zwar mit unserem Angriff rechnen, wissen aber nicht, wie er erfolgen soll. Wenn es uns gelingt, König Trent in Reichweite des magischen Durchgangs zu manövrieren, kann er die Sache von innen her aufrollen.«

»Aber wir wissen doch gar nicht, wo er sich in der Burg befindet!« warf Irene besorgt ein.

»Das ist meine Aufgabe«, sagte Grundy. »Ich schleiche mich rein und seh mich um und erstatte euch bis Nachtanbruch Meldung. Dann erledigen wir das Ganze ohne allzu großen Ärger.«

Das leuchtete ein. Die anderen ließen sich nieder, um etwas zu essen und sich auszuruhen, während der Golem sich ins Innere der Burg schlich. Arnolde, den seine Wunde vielleicht mehr ermüdete, als er sich anmerken ließ, schlief schon bald darauf ein. Krach döste immer sofort weg, wenn es körperlich für ihn nichts zu tun gab. Wieder waren Dor und Irene wach und allein.

Dor fiel ein, daß sich das Problem noch nicht unbedingt dadurch lösen ließ, daß sie den magischen Durchgang so plazierten, daß sich König Trent in seinem Wirkungsbereich befand. König Trent konnte seine Kerkermeister zwar in Käfer verwandeln – doch die Zellentür würde dann immer noch verriegelt bleiben. Königin Iris konnte die Illusion eines nahenden Greifs herbeizaubern – doch auch das würde noch keine Schlösser öffnen. Sie mußten die Sache noch genauer durchdenken.

Sie lagen, versteckt im Schatten einer der uralten Eichen, am Hang, und die Welt wirkte trügerisch friedlich. »Glaubst du wirklich, daß es funktionieren wird?« fragte Irene nervös. »Je näher der Zeitpunkt rückt, um so mehr fürchte ich, daß etwas Schreckliches passieren könnte.«

Dor kam zu dem Schluß, daß er es sich nicht leisten konnte, ihr zuzustimmen. »Wir haben uns bis hier durchgekämpft«, erwiderte er. »Das kann nicht alles umsonst gewesen sein.«

»Wir hatten aber auch keinerlei Erfolgsomen…« Sie hielt inne. »Oder vielleicht doch? Omen – König Omen… ob das was damit zu tun haben könnte?«

»Bei der Magie ist alles möglich. Und wir haben die Magie nun einmal in dieses Königreich hineingetragen.«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich schwanke ständig hin und her zwischen Hoffnung und Zweifel. Du dagegen gehst immer weiter, ohne jede Ungewißheit, und meistens schaffst du es ja auch. Zusammen sind wir, glaube ich, eine ganz gute Mannschaft.«

Ohne jede Ungewißheit? Er bestand praktisch nur aus Ungewißheit! Doch andererseits wollte er das bißchen Zuversicht, nach dem Irene heischte, nicht zunichte machen. »Wir müssen einfach Erfolg haben. Sonst würde ich schließlich König. Das würde dir auch nicht gerade zusagen.«

Sie rollte sich neben ihn und verstreute dabei Laub und Grashalme um sich. Dann packte sie ihn an den Ohren und küßte ihn. »Ich würde mich damit abfinden, Dor.«

Er blickte sie verblüfft an. Sie war zerzaust und wunderschön. Sie war immer die treibende Kraft in ihrer Beziehung gewesen, zunächst beim Zanken und in letzter Zeit in Sachen Romantik. Wollte er das wirklich so haben?

Er packte sie seinerseits, drückte sie zu Boden und küßte sie heftig, fast brutal. Erst versteifte sie sich vor Schreck, doch dann schmolz sie hingebungsvoll dahin, erwiderte seinen Kuß und seine Umarmung und wurde zu etwas höchst Außergewöhnlichem, Erregendem.

Es wäre ein leichtes gewesen, weiterzugehen. Doch in Dors Kopf klingelte eine warnende Alarmglocke. Im Verlauf seiner zahlreichen Abenteuer hatte er den Wert des richtigen Zeitpunkts kennengelernt, und der Augenblick war einwandfrei nicht gegeben. »Zuerst aber befreien wir deinen Vater«, murmelte er ihr ins Ohr.

Das ließ sie zusammenzucken. »Ja, ja, natürlich. Nett, daß du mich daran erinnerst.«

Dor vermutete, daß er wohl verspielt hatte, doch wie üblich blieb ihm auch diesmal nichts anderes übrig, als unbeirrt fortzufahren. »Jetzt können wir schlafen, damit wir heute nacht ausgeruht sind.«

»Was immer du meinst«, sagte sie. Doch sie ließ ihn nicht fahren. »Liebster.«

Dor überlegte und kam zu der Entscheidung, daß er bequem genug lag. Eine grüne Strähne von Irenes Haar lag auf seinem Gesicht und duftete angenehm nach Mädchen. Sie atmete leise gegen seinen Körper. Er wußte, daß er sich nichts Besseres wünschen konnte, um sich auszuruhen.

Doch sie schien auf etwas zu warten. Endlich fiel es ihm ein. »Liebste«, sagte er.

Sie nickte und schloß die Augen. Ja, langsam lernte er dazu! Bewegungslos lag er da und schlief schließlich ein.

 

»Na, wenn das nicht gemütlich ist!« bemerkte Grundy.

Dor und Irene fuhren erschreckt aus dem Schlaf. »Wir haben nur zusammen geschlafen«, sagte sie.

»Und das gebt ihr auch noch zu!« rief der Golem.

»Immerhin sind wir verlobt, wie du weißt. Wir können tun, was wir wollen.«

Dor merkte, daß sie den Golem nur aufzog, deshalb hielt er sich lieber zurück. Was kümmerte es sie schließlich, was andere Leute dachten? Was zwischen ihm und dem Mädchen, das er liebte, geschah, war allein ihre Sache.

»Das muß ich deinem Vater melden«, sagte Grundy pikiert.

Plötzlich kam es Dor zu Bewußtsein. Das war ja die Tochter des Königs.

»Das werde ich ihm schon selbst erzählen, du Zwirnknäuel!« fauchte Irene. »Hast du ihn gefunden?«

»Vielleicht sollte ich das einem so bösen Mädchen lieber nicht verraten.«

»Vielleicht sollte ich auch eine Fliegenfalle wachsen lassen, an die ich dich dann verfüttern kann!« konterte Irene.

Das schüchterte den Golem ein. »Ich habe sie alle drei gefunden. In drei getrennten Zellen, genau wie bei euch. Königin Iris, König Trent und König Omen.«

Irene setzte sich abrupt auf und löste sich aus Dors Umarmung. »Geht es ihnen gut?«

Grundy zog eine Grimasse. »Den Männern schon. Die haben schon früher Entbehrungen kennengelernt. Die Königin ist allerdings gar nicht zufrieden mit ihrer Lage.«

»Das war wohl auch kaum zu erwarten. Aber geht es ihnen auch körperlich gut? Man hat sie doch nicht etwa hungern lassen oder so?«

»Na ja, was das anging waren sie ein bißchen einsilbig«, berichtete der Golem. »Aber die Königin scheint an Gewicht verloren zu haben. Na ja, sie wurde sowieso langsam fett, insofern ist das nicht so schlimm. Und ich habe auch eine Brotkruste gesehen, die sie hat liegenlassen. Sie war verschimmelt. Auch Fliegen gibt es da drinnen ziemlich viele, wahrscheinlich auch einen Haufen Maden.«

Irene wurde wütend. »Die haben kein Recht, Leute königlichen Geblüts so zu behandeln!«

»Ich habe noch etwas aufgeschnappt«, fuhr Grundy fort. »Der Wächter, der ihnen ihr Essen bringen soll – na ja, sieht so aus als ob er zuerst alles auffuttert, was er mag, um ihnen dann bloß die Reste zu überlassen. Manchmal spuckt er auch drauf oder reibt Schmutz hinein, nur um sie zu ärgern. Sie müssen das Zeug ja so oder so essen, wenn sie nicht verhungern wollen. Er spricht nicht mit ihnen, sondern zeigt ihnen seine Verachtung einfach nur durch Taten.«

»Von dieser Technik habe ich schon einmal gehört«, sagte Arnolde. »Das ist das Prinzip der Erniedrigung. Wenn man den Stolz eines Menschen erst einmal gebrochen hat, kann man mit ihm machen, was man will. Der Stolz ist das Rückgrat der Durchhaltemoral. Wahrscheinlich versucht König Oary den König Omen dazu zu zwingen, eine Abdankungsurkunde zu unterzeichnen, damit er für alle Fälle etwas in der Hand hat, was seine Thronbesteigung nachträglich rechtfertigt.«

»Warum läßt er denn dann die anderen am Leben?« fragte Dor, entsetzt sowohl von der Methode als auch von der ganzen Denkweise. Die Politik der Mundanier war wirklich ein äußerst schmutziges Geschäft.

»Nun, wir haben ja gesehen, auf welche Weise er vorgeht. Wenn er die drei beisammen läßt, so daß sie sich miteinander anfreunden, kann er die anderen als Druckmittel gegen König Omen einsetzen. Erinnert Ihr Euch noch daran, wie er Irene foltern wollte, um Euch zum Sprechen zu bewegen?«

»Wird er etwa auch meine Eltern foltern?« fragte Irene entsetzt.

»Es mißfällt mir zwar, es aussprechen zu müssen, aber die Möglichkeit besteht immerhin.«

Irene verfiel in zorniges Schweigen. Dor beschloß, sich jetzt dem Problem der Gefangenenbefreiung zuzuwenden. »Ich hatte gehofft, daß König Trent seine magische Kraft benutzen könnte, um auszubrechen, aber ich sehe noch nicht, wie das Verwandeln von Leuten Zellentüren sprengen soll. Wenn wir nur irgendeine Möglichkeit fänden…«

»Das ist ein Kinderspiel«, meinte Arnolde. »Der König kann die Königin in eine Maus verwandeln. Die läuft durch eine Ritze hinaus in den Gang, dann verwandelt er sie zurück, und sie öffnet die Zellen von außen. Sollten Wächter anwesend sein, kann er die Königin auch in ein tödliches Ungeheuer verwandeln, das sie beseitigt.«

Wirklich äußerst einfach! Warum hatte Dor nur nicht daran gedacht?

Wie es für ihr Geschlecht so typisch war, wechselte Irene sofort ihre Stimmung und wurde praktisch. »Wer befindet sich in der Zelle, die der Außenmauer am nächsten ist?«

»Die Königin?« Grundy furchte die Stirn. »Ich glaube, daß sie die einzige ist, die wir mit unserem magischen Feld erreichen. Die Mauern dort sind ziemlich dick.«

»Also kann mein Vater wahrscheinlich niemanden verwandeln«, folgerte Irene.

O weh! Dor überlegte fieberhaft, um zu einer anderen Lösung zu finden. »Die Königin besitzt eine machtvolle Magie. Es müßte eigentlich möglich sein, daß sie alle mit Hilfe der Illusionsmagie befreit. Sie kann die Wachen dazu bringen, daß sie leere Zellen sehen, so daß sie die Türen öffnen, um nachzusehen. Dann kann sie ein Monster erzeugen, das sie davonjagt.«

»Da gibt es einige Probleme«, warf Arnolde ein. »Der Durchgang ist, wie Ihr wißt, ziemlich schmal. Die Illusion hat außerhalb seiner Reichweite keinen Bestand. Da sich zwei Zellen außerhalb des magischen Feldes befinden…«

»… hat die Königin mit ihren Illusionen nur einen sehr begrenzten Spielraum«, beendete Dor den Satz. »Darüber müssen wir sie vorher aufklären. Wenn sie etwas Zeit hat, um sich vorzubereiten, müßte sie es eigentlich schaffen.«

»Bin schon unterwegs«, sagte Grundy. »Was würdet ihr nur alle ohne mich machen!«

»Wir können auf keinen verzichten«, erwiderte Dor. »Das haben wir bereits feststellen können. Wenn wir voneinander getrennt werden sollten, sitzen wir wirklich in der Tinte.«

 

Bei Nachtanbruch schlichen sie sich an die Burg heran und versuchten, sich möglichst nahe an der Stelle aufzustellen, die der Golem ihnen beschrieben hatte. Wieder gab es keinen Graben, nur ein Glacis, so daß sie eine Art Steinhügel emporklettern mußten, der zum Fuß der Mauer führte. Dor konnte sich lebhaft vorstellen, wie stark die Mauer sein mußte, wenn man ihre massive Basis mit berücksichtigte.

Burg Ocna befand sich im Alarmzustand; man erwartete den Angriff der Khazaren, und auf den Zinnen und Mauern flackerten Fackeln. Doch Dors Gruppe nahm nicht den herkömmlichen Weg und konnte unbemerkt vordringen. Leute, die in Burgen leben, neigten dazu, sich von den Ereignissen der Außenwelt zu isolieren und zu vergessen, wie wichtig ihre unmittelbare äußere Umgebung sein konnte. Dor überlegte, daß dies auch für das ganze Land Xanth gelten mochte; nur wenige seiner Bewohner wußten irgend etwas über Mundania oder waren daran interessiert, etwas darüber zu erfahren. Der Handel zwischen den beiden Reichen, der bisher den Launen des Zufalls ausgeliefert gewesen war, mußte auf jeden Fall in Schwung gebracht werden, und sei es auch nur um eines mehr kosmopolitischen Bewußtseins willen. König Oary war offenbar, zum Nachteil seines Reiches, am Handel nicht sonderlich interessiert; er betrachtete die Besucher aus Xanth als Bedrohung seines Throns. Was schließlich auch stimmte – immerhin war er ja ein Thronräuber.

»Wir können leider nicht alles genau im voraus planen«, sagte Dor bei einer letzten Lagebesprechung. »Ich hoffe, daß es der Königin gelingt, eine Illusion zu erzeugen, die die Wachen dazu bewegt, sie freizulassen, damit sie danach die anderen befreien kann.«

»Es dürfte ihr Spaß machen, so zu tun, als wolle sie einen der Wächter verführen«, meinte Irene. »Sie wird sich als hübscheste Maid in ganz Mundania ausgeben, und wenn der Mann sich dem Trugbild näherte, verwandelt sie sich in einen Drachen und erschrickt ihn zu Tode. Geschieht ihm dann auch recht.«

Dor lachte leise. »Ich glaube, ich weiß, wie so etwas funktioniert.«

In gespieltem Zorn wirbelte sie zu ihm herum. »Du hast doch noch nicht mal die ersten Anfänge davon mitbekommen!« Aber es gelang ihr nicht, ihren mürrischen Gesichtsausdruck beizubehalten. Statt dessen verpaßte sie ihm einen Kuß.

»Die Dame scheint eine faire Warnung ausgesprochen zu haben«, bemerkte Arnolde. »Ihr werdet den Drachen erst dann zu Gesicht bekommen, wenn Ihr im sicheren Hafen der Ehe seid.«

»Das weiß er schon«, meinte Irene selbstzufrieden. »Aber Männer lernen eben nie dazu. Jeder meint, er wäre ganz anders als die anderen und ihm könnte so etwas nie passieren.«

Arnolde stellte sich vor der Mauer auf und lenkte den magischen Durchgang Stückweise immer weiter herum, bis er ins Innere der Burg reichte. »Grundy muß Meldung erstatten, wenn wir die Königin im Feld haben«, sagte er.

»Wenn irgend etwas schiefgehen sollte, kann Krach in Aktion treten, während ich ein paar Pflanzen wachsen lasse, die die Gegner in Verwirrung stürzen«, erwiderte Irene.

Sie warteten, während der Zentaur sein magisches Feld durch die Burg strahlen ließ, ohne daß etwas geschah. »Ich fürchte, wir sind wohl doch außer Reichweite«, meinte er schließlich.

Krach legte eines seiner Blumenkohlohren gegen die Mauer. »Weiter runter wird’s schon bunter.«

»Natürlich!« sagte Dor. »Sie befinden sich doch im Kellergewölbe! Unter der Erde. Zielt tiefer.«

Unter Anstrengungen beugte Arnolde seine Vorderbeine und legte seinen Körper mit weiterhin ausgestreckten Hinterbeinen schräg nach unten. Wieder schlug er einen Bogen. Wegen seiner Verwundung war dies recht schwierig für ihn. Krach trat auf ihn zu, hob ihn auf und setzte ihn in einem neuen Winkel ab, was ihm das Manövrieren erleichterte.

»Aber wenn sie zu tief im Burginneren sind, um von dem Feld erfaßt zu werden…«, murmelte Irene angespannt.

»Grundy wird es uns schon melden«, sagte Dor und versuchte, sie daran zu hindern, wieder hysterisch zu werden. Er wußte genau, daß dies die schwierigste Zeit für sie war – der Zeitpunkt, an dem sich alles entscheiden mußte. »Wir können die Königin durchaus schon erreicht haben, aber bis der Golem es uns melden kann, vergeht wieder eine gewisse Zeit.«

»Das ist denkbar«, erwiderte sie und lehnte sich in seine Armbeuge. Er drehte sich zu ihr um, um sie zu küssen und stellte fest, daß ihre Lippen begierig die seinen suchten. Nachdem sie ihm erst ihre Liebeserklärung gemacht hatte, machte sie auch keinerlei Hehl mehr aus ihren Gefühlen. Dor erkannte, daß die ganze Angelegenheit für ihn persönlich auf jeden Fall einen Gewinn darstellte, auch wenn ihre Mission scheitern oder sie alle sogar hier in Mundania umkommen sollten. Er hatte die Liebe entdeckt, und ihr Universum war mit all seinen Weiten und Fallen und Möglichkeiten weitaus größer und umfassender als ganz Mundania. Er dehnte den Kuß möglichst lange aus.

»So benimmst du dich also, wenn keine Anstandsdame dabei ist!« sagte eine Frauenstimme in einem scharfen Tonfall.

Dor und Irene lösten sich erschreckt aus ihrer Umarmung. Neben ihnen stand die Königin. »Mutter!« rief Irene, halb erleichtert, halb entsetzt.

»Schamlose Umarmungen, noch dazu in aller Öffentlichkeit!« fuhr Königin Iris stirnrunzelnd fort. Sie hatte sich schon immer gern als Sittenwächterin anderer Leute aufgespielt. »Das muß sofort gemeldet werden…«

Die Königin verschwand. Arnolde, der sich so gut er konnte herumgedreht hatte, um ihr Bild erkennen zu können, hatte den magischen Durchgang dadurch von der Zelle der Königin fortgeschwenkt und ihre Magie unterbrochen, und nun konnte sie ihr Ebenbild nicht mehr projizieren.

»Verzeihung«, sagte der Zentaur und drehte sich wieder um.

Königin Iris erschien aufs neue. Doch bevor sie etwas sagen konnte, ergriff Irene das Wort. »Das ist noch gar nichts, Mutter. Heute nachmittag haben Dor und ich zusammen geschlafen.«

»Du schamloses Luder!« rief Iris entsetzt.

Dor biß sich auf die Zunge. Er hatte Königin Iris noch nie gemocht, und er hätte sich keine bessere Methode denken können, sie zu ärgern.

Der Zentaur versuchte sie zu beruhigen. »Euer Majestät, wir haben alle zusammen geschlafen. Es…«

»Auch Ihr?« fragte Iris und ließ einen vernichtenden Blick in die Runde schweifen. »Der Oger etwa auch?«

»Wir sind eine eingeschworene Gruppe«, meinte Irene. »Ich liebe sie eben alle.«

Das ging zu weit. »Ihr mißversteht uns«, sagte Dor. »Wir haben nur…«

Irene trat ihm auf den Fuß und schnitt ihm das Wort ab. Sie wollte ihre Mutter weiter ärgern. Doch Königin Iris, die keineswegs dumm war, roch den Braten. »Natürlich haben sie dir lediglich unter den Rock geschielt. Wie oft habe ich dich davor gewarnt? Du hast aber auch überhaupt keinen Sinn für…«

»Wir ein wenig holen König?« wollte Krach wissen.

»Den König!« rief Iris. »Aber natürlich! Ihr müßt hineinmarschieren und uns alle befreien.«

»Aber der Lärm…«, protestierte Dor. »Wenn wir die Soldaten alarmieren…«

»Ihr vergeßt meine Macht«, belehrte ihn die Königin. »Ich kann eurer Gruppe die Illusion der Nichtanwesenheit verleihen. Niemand wird euch hören oder sehen, egal, was ihr tut.«

Wirklich eine einfache Lösung! Schon die bloßen Illusionskünste der Königin genügten, ums sie alle zu retten. »Brich die Mauer auf, Krach«, rief Dor. »Wir können König Trent allein befreien!«

Mit einem zufriedenen Grunzen machte der Oger einen Schritt auf die Wand zu. Da verschwand er plötzlich, und nach ihm der Zentaur. Dor merkte plötzlich, wie er ein Nichts umarmt hielt. Er konnte Irene weder sehen noch fühlen, und hören tat er auch nichts – doch dort, wo sie sein mußte, war ein Widerstand zu spüren. Er drücke versuchsweise dagegen.

Irgend etwas schob ihn zurück. Es war wie die Kraft der Masseträgheit, etwa wie wenn er ganz schnell um eine Ecke lief, eine Kraft, die keinerlei Ursprung zu haben schien. Irene war tatsächlich da! Dieser Zauber war anders als jener, den der Zentaur eingesetzt hatte. Er machte die Leute innerhalb seines Wirkungsbereiches ebenso unsichtbar für die Außenwelt wie für einander. Er hoffte nur, daß dies nicht zu Komplikationen führen würde.

In der Mauer erschien ein Loch. Lautlos wurden Steine herausgerissen. Der Oger war an der Arbeit.

Dor hielt seinen Arm weiterhin um das Nichts an seiner Seite, und es folgte seinen Bewegungen. Neugierig geworden, wie weit die Illusion der Nichtigkeit reichte, schob er die Hand vor. Manche Teile des Nichts waren nachgiebiger als andere. Da stolperte er plötzlich – ein wesentlich unnachgiebigerer Teil hatte ihm einen Schubs verpaßt. Dann half ihm etwas, sein Gleichgewicht wiederzufinden. Offenbar tat es dem Nichts leid. Er legte dem Arm um es herum und drückte es an sich, um es zu küssen, doch es fühlte sich nicht richtig an. Er kam zu dem Schluß, daß er wohl gerade ihren Hinterkopf küßte. Er packte ein Stück Nichts und zog freundlich daran.

Da erschien Irene wieder – lachend. »Oh, das zahle ich dir aber heim!« Da erkannte sie, daß auch sie ihn im Mondlicht erkennen konnte. Sie legte die Jacke erneut um ihren Oberkörper – sie war während ihrer unsichtbaren Begegnung herabgerutscht – und zog ihn an sich. »Wir verlieren noch den Anschl…« Da verschwand sie wieder und war nicht mehr zu hören.

Sie waren wieder in das Wirkungsfeld des Zentauren getreten. Dor hielt ihre Nichts-Hand fest und folgte den anderen Nichtsen durch das Loch in der Mauer.

Einen Augenblick lang wurden sie alle wieder sichtbar. Arnolde stand vor ihnen und schickte sich gerade an, sich an einem Geröllhaufen vorbeizumanövrieren. Krach hatte zwar einen Durchbruch zum Kellergeschoß freigemacht, doch ihr Weg war alles andere als eben. Als der Zentaur bemerkte, daß sich sein Durchgang von der Königin fortbewegt hatte, korrigierte er hastig seinen Irrtum, und alle verschwanden wieder.

Da erschien Burgpersonal und starrte die Geröllhaufen an, für die es keinerlei Ursachen zu geben schien. Einer der Männer trat in den Gang – und verschwand. Das sorgte für neue Aufregung. Bislang schienen die Mundanier diese merkwürdigen Ereignisse noch nicht in Verbindung mit einer Invasion zu bringen.

Der Oger hieb einen Tunnel, der sich schrittweise immer länger hinzog. Schon bald waren sie zur Zelle der Königin vorgestoßen, dann zu der von König Trent und schließlich bis zu König Omen. Da wurden sie alle wieder sichtbar, und ein leises Lächeln erschien – eine Gabe der Königin. Dor war sich unschlüssig, ab welchem Punkt Illusionen zur Wirklichkeit wurden, denn Licht war schließlich Licht, wie immer man es auch erzeugen mochte. Andererseits hatte er gelernt, sich wegen solcher Feinheiten nicht allzusehr den Kopf zu zerbrechen.

Irene sprang vor und warf sich in König Trents Arme. »Ach, Pappi!« schluchzte sie unter Freudentränen.

Da mußte Dor seinen schlimmsten Eifersuchtsanfall von allen erfahren. Das war natürlich völlig aberwitzig – warum sollte sie schließlich ihren Vater nicht lieben? Er blickte sich um – und erspähte Königin Iris, die ihren Gatten und ihre Tochter mit einem ähnlichen Gefühl zu mustern schien. Auch sie war eifersüchtig – und unfähig, es auszudrücken.

Zum ersten Mal in seinem Leben empfand Dor so etwas wie Sympathie für die Königin. Immerhin hatten sie dieses Laster gemeinsam.

Der König ließ Irene los und blickte sich um. Plötzlich erschien es Dor geradezu wie ein Zwang. Erklärungen abzugeben. »Äh, wir sind gekommen, um Euch zu befreien, König Trent. Das hier ist Arnolde der Zentaur – er ist es, der den magischen Durchgang aufrecht hält… das ist sein Talent, äh… und das hier ist Krach der Oger, das ist Irene…«

Selbst in Lumpen war König Trent noch jeder Zoll ein König. »Die letztere kenne ich bereits, glaube ich«, erwiderte er in feierlichem Ton.

»Äh, ja, natürlich«, pflichtete Dor ihm völlig verwirrt bei. Er wußte, daß er wieder kurz davorstand, Mist zu bauen. »Ich… äh…«

»Weißt du, was er getan hat, Vater?« fragte Irene und zeigte auf Dor.

»Hab’ ich nicht!« rief Dor entsetzt. Die Königin zu ärgern war eine Sache, den König zu ärgern dagegen eine völlig andere.

»Na ja, jedenfalls sind Dor und ich…« Doch Irene brach ab, als sie den dritten Gefangenen erblickte.

Es war ein geradezu unglaublich gutaussehender junger Mann, der jede Menge Charisma ausstrahlte, obwohl auch er in zerfetzte Lumpen gekleidet war. »König Omen«, sagte König Trent, feierlich wie immer. »Meine Tochter Irene.«

Zum ersten Mal sah Dor, wie Irene geradezu mädchenhaft verwirrt schien. König Omen trat einen Schritt vor, nahm ihre schlaffe Hand und führte sie an seine Lippen. »Entzückend«, murmelte er.

Irene kicherte. Dor bekam einen weiteren Eifersuchtsanfall. Offenbar war das Mädchen, das noch vor kurzem von Dor völlig eingenommen gewesen war, nun von dem schmucken mundanischen König ebenso völlig hingerissen. Schließlich war sie ja fünfzehn Jahre alt; Beständigkeit war nicht ihre Stärke. Dennoch schmerzte es, so plötzlich vergessen worden zu sein.

Dor wandte den Blick ab – und traf den von Königin Iris. Wieder blitzte ein kurzer Blick des Verständnisses zwischen den beiden auf.

»Doch nun haben wir noch Geschäftliches zu erledigen«, sagte König Trent. »Mein Freund, König Omen, muß wieder seinen rechtmäßigen Thron einnehmen. Um diesen zu stützen, müssen wir die loyalen Einwohner Onestis von den unloyalen trennen.«

Dor zwang sich dazu, sich auf dieses Problem zu konzentrieren. »Wie kann irgend jemand auf dieser Burg königstreu sein? Immerhin haben sie doch ihren König in diesem Kerker gefangengehalten.«

»Keineswegs«, erwiderte König Omen mit klangvoller Stimme. »Nur wenige wußten von mir. Wir wurden in Fesseln und mit verhüllten Häuptern hierhergebracht, und der einzige, der unsere Gesichter gesehen hat, ist der stumme Eunuch, der Oary dem Thronräuber absolut ergeben ist. Zweifellos hat man dem Burgpersonal eingeredet, daß wir khazarische Kriegsgefangene wären.«

»Also wußte nur der Stumme, wer Ihr seid?« Dor erinnerte sich plötzlich an Grundys Schilderungen des Wächters. Doch manchmal liebte der Golem Übertreibungen. »Wenigstens hat er Euch Nahrung gebracht.«

»Nahrung!« rief die Königin. »Dieser Schlangenfraß! Irene, laß einen Pastetenbaum für uns wachsen! Seit das hier passiert ist, haben wir keine einzige anständige Mahlzeit mehr bekommen.«

Irene riß ihren Blick gerade lange genug von König Omen, um einen Samen hervorzuholen. Schnell wuchs daraus in der Illusion des Tageslichts ein Baum hervor, dessen große runde Knospen die verschiedensten Obstpasteten hervorbrachten.

König Omen war erstaunt. »Das ist ja Magie!« rief er. »Was für eine Fähigkeit!«

Irene errötete. »Das ist mein Talent. Jeder in Xanth betreibt Magie.«

»Aber ich dachte, daß hier in der wirklichen Welt keine Magie möglich sei. Wieso dann plötzlich jetzt?«

Offenbar hatte Dors Vorstellung des Zentauren nicht ausgereicht, zumindest nicht für jemanden, dem die Magie völlig fremd war. »Das ist das Talent des Zentauren«, erklärte er. »Er bringt die Magie in einem Durchgang mit, einem Feld, innerhalb dessen jedermanns Talent funktioniert. So konnten wir überhaupt hier hereinkommen.«

König Omen wandte sich König Trent zu, während sie in ihre Pasteten bissen. »Mein Herr, ich muß Euch um Verzeihung dafür bitten, daß ich ständig an Euren Fähigkeiten gezweifelt habe. Ich habe nie an Magie geglaubt, allen reichlichen Überlieferungen und Erzählungen unserer abergläubischen Bauern zum Trotz. Nun habe ich Beweise dafür zu sehen bekommen. Eure wunderschöne Frau und wunderschöne Tochter besitzen wunderbare Talente.«

Irene errötete vor Hingerissenheit.

»König Omen ist wirklich ein netter junger Mann«, bemerkte Königin Iris, an niemand Bestimmten gewandt.

Dor fühlte sich plötzlich sehr einsam. Die Gunst der Königin war nicht leicht zu gewinnen; sie hatte äußerst strikte und selbstsüchtige Vorstellungen von Anstand, die sich zum überwiegenden Teil auf ihre Tochter bezogen. Königin Iris war offensichtlich zu dem Schluß gekommen, daß König Omen eine gute Partie für Irene wäre. Natürlich blieb die endgültige Entscheidung König Trent überlassen; wenn der sich für König Omen entscheiden sollte, war Dor verloren. Doch bisher hatte König Trent stets Dor unterstützt.

Plötzlich platzte ein riesiger Glatzkopf herein. Als er die Besucher im Kerker erblickte, traten seine runden Augen vor Erstaunen fast aus ihren Höhlen. Dann zückte er sein Schwert und stürzte auf König Omen zu.

Irene schrie auf, als der Mann an ihrem Vater vorbeistürmte. Da verwandelte sich der Mundanier plötzlich in eine purpurne Kröte, und sein Schwert fiel klappernd zu Boden. König Trent hatte ihn verwandelt.

»Wer war das?« fragte Dor. Seine Erregung ebbte nur langsam ab.

»Der stumme Eunuch, unser Wärter«, sagte König Omen und hob das Schwert auf. »Wir bringen ihm keinerlei Liebe entgegen.« Er musterte die Kröte nachdenklich. Sie war mit grünen Warzen übersät. »Ja, Eure Magie ist beeindruckend! Wird er in diesem Zustand bleiben?«

»Bis ich ihn wieder verwandle«, sagte König Trent. »Oder bis er den Bereich der Magie verläßt. Dann wird er wohl, so will ich glauben, langsam wieder zu seinem ursprünglichen Zustand zurückfinden, aber das kann Monate dauern und ist äußerst schmerzhaft und umständlich. Es sei denn, jemand hält ihn für ein Ungeheuer und tötet ihn, bevor der Umkehrvorgang beendet ist.«

»Eine gerechte Strafe«, meinte König Omen. »Er soll gleich damit beginnen.« Er trieb die Kröte mit der Schwertspitze aus dem Bereich des magischen Feldes.

»So, nun wollen wir unsere Lage begutachten«, sagte König Trent. »Wir haben zwar einen wichtigen Durchbruch dadurch erzielt, daß wir unsere Magie zurückgewonnen haben. Aber bald werden die ausgesuchten Privattruppen des Thronräubers uns hier belagern. Es sind alles avarische Söldner, und wir besitzen keinen Zauber gegen Pfeilhagel. Wir sind zwar überzeugt davon, daß das gemeine Volk sich frohen Sinnes um König Omen scharen wird, sobald es erfährt, daß er noch lebt. Doch der größte Teil der Leute lebt außerhalb der Burgmauern, und wir laufen Gefahr, ausgelöscht zu werden, bevor sich diese Nachricht hinreichend verbreitet hat. Also müssen wir unser taktisches Vorgehen sorgfältig planen.«

»Ich muß Euch mitteilen, daß die mit meiner Person verknüpfte Magie nur einen relativ schmalen Durchgang umfaßt«, warf Arnolde ein. »Er reicht etwa fünfzehn Schritt weit nach vorne und etwa die Hälfte nach hinten, zu beiden Seiten ist er jedoch nur zwei Schritt breit. Folglich wird die Illusion der Königin auf diesen Bereich beschränkt bleiben, und jeder, der sich außerhalb des Feldes befindet, ist dagegen immun.«

»Aber innerhalb des Durchgangs läßt sich eine ganze Menge bewerkstelligen«, sagte Dor. »Als Irene und ich etwas zurückblieben und den Anschluß verloren, sind wir wieder erschienen – aber ihr anderen wart unsichtbar für uns. Obwohl wir uns außerhalb befanden, waren wir keineswegs immun, was die Illusion betraf. Also kann uns die Königin davor schützen, von den Mundaniern wahrgenommen zu werden. Das ist doch ein gewaltiger Vorteil.«

»Das stimmt«, meinte der Zentaur. »Aber nun, da die Mundanier um unsere Magie wissen, können wir sie nicht daran hindern, in unsere Richtung Pfeile abzufeuern, und zwar nach dem Sättigungsprinzip, das uns über kurz oder lang dezimieren dürfte.« Er rieb sich mit schmerzverzerrtem Gesicht seine Flanke. Die Heilung war zwar schon fortgeschritten, doch noch immer hatte er einen etwas steifen Gang.

»Natürlich brauchen wir Deckung«, stimmte König Trent ihm zu. »Es gibt jetzt genug Geröll, um uns vor Pfeilen zu schützen. Aber wir können es uns nicht leisten, hier eingesperrt zu verweilen. Das Problem besteht also darin, wie die gegnerischen Kräfte vernichtet werden können.«

»Vielleicht können wir sie hier hereinlocken und sie aus dem Hinterhalt überfallen«, schlug König Omen vor. »Wir haben inzwischen zwei Schwerter, und die Kraft des Ogers beeindruckt mich sehr.«

»Hat keinen Zweck«, meinte Grundy. Er war inzwischen wieder aufgetaucht und hatte sich ebenfalls eine kleine Pastete gepflückt, an der er nun knabberte. »Der Kommandant der Avarer ist ein zäher, erfahrener Eisenfresser, der genau weiß, daß ihr alle Magie besitzt. Er läßt gerade einen Kessel Öl heiß stellen. Bald wird er das Zeug die Kellertreppe hinunterschütten lassen. Dann werden alle hier unten, ob sie nun Magie besitzen oder nicht, in Öl gebraten.«

»Es ist unmöglich, dieses ganze Gewölbe mit Öl zu überfluten«, warf Königin Iris ein. »Das würde doch überall davonsickern.«

»Ja, aber zuerst wird es den ganzen Boden bedecken«, meinte Grundy. »Dann bekommen alle heiße Füße.«

Dor blickte nervös auf seine Sandalen. Die Vorstellung, durch eine Pfütze kochenden Öls waten zu müssen, behagte ihm ganz und gar nicht.

Trent dachte nach. »Und draußen liegen sie im Hinterhalt und lauern uns auf?«

»Klar«, sagte Grundy. »Ihr glaubt doch wohl nicht, daß sie euch einfach hier herumsitzen und Pasteten verputzen lassen, weil sie euch so gerne haben, oder?«

»Vater, du kannst uns doch alle in Vögel verwandeln«, schlug Irene vor. »Dann können wir unbemerkt davonfliegen.«

»Das wirft zwei Probleme auf, meine Tochter«, meinte König Trent. »Zum ersten würdet ihr Schwierigkeiten haben, wenn ihr außerhalb des magischen Durchgangs fliegen müßt. Ich weiß nicht genau, wie gut ihr dann fliegen würdet, aber vermutlich nicht allzu gut, und zurückverwandeln könnt ihr euch auch nicht, weil die Magie verschwunden sein würde. Und zweitens kann ich mich nicht selbst verwandeln.«

»Ach so, das hatte ich ganz vergessen.« Sie wirkte niedergeschlagen, da die Rettung ihres Vaters ja stets ihr oberstes Ziel gewesen war.

»Wir müssen Euch sicher hier herausbringen, Majestät«, sagte Dor. »Das Land Xanth braucht Euch.«

»Ich habe auch durchaus vor, heil zurückzukehren«, erwiderte König Trent lächelnd. »Im Augenblick überlege ich nur, wie wir das bewerkstelligen können. Wenn ich mich ihnen mit intakter Magie weit genug nähern kann, komme ich mit den Avarern schon zurecht. Das bedeutet aber, daß ich bei dem Magier Arnolde bleiben muß.«

»Und bei mir«, sagte Königin Iris. »Damit ihr unsichtbar bleibt. Und bei dem Oger, der die Türen aufsprengen muß.«

»Und bei mir«, sagte Irene loyal.

»Dich will ich in Sicherheit gebracht wissen«, erwiderte ihr Vater.

Da hörten sie ein blubberndes Geräusch. »Das Öl!« rief Grundy. »Wir müssen uns sputen!«

Krach setzte sich in Bewegung und begann damit, einen neuen Tunnel auszuheben.

Wieder wurden sie unsichtbar, doch diesmal behielt Dor ein geistiges Bild von ihrer jeweiligen Position: König Trent, Arnolde und die Königin standen neben dem Oger, bereit, ihm in seinen neugeschaufelten Tunnel zu folgen, um dem heißen Öl zu entgehen. Irene und der Golem befanden sich jedoch auf der gegenüberliegenden Seite des Gewölbes, und zwischen ihnen und dem Oger begann bereits das erste Öl hinabzuströmen. Sie würden gleich in der Falle sein – und wenn sich der Zentaur bewegte, verloren sie ihren magischen Unsichtbarkeitsschutz, selbst wenn es ihnen gelingen sollte, den Ölfluten zu entgehen.

Dor rannte hinüber, um einen großen Stein aufzuheben. Er schleuderte ihn in das siedende Öl, und ließ ihm weitere. Brocken folgen, um damit einen Damm zu errichten. Doch das genügte nicht; er war sich nicht sicher, daß Irene es schaffen würde.

Da flogen die Steine plötzlich doppelt so schnell wie bei ihm. Irgend jemand war ihm plötzlich behilflich. Dor konnte nicht sehen, wer es war, konnte auch nicht mit ihm sprechen; er machte einfach weiter, um das heiße Öl abzudämmen. Schon bald bildete es zögernd eine Lake. Dor füllte die Ritzen des Damms mit Sand auf, und der Weg war wieder frei. Die Ölgefahr war gebannt, und Irene konnte in Sicherheit auf die andere Seite kommen.

Da stürzte ein Trupp von Wachen mit gezückten Schwertern die Treppen herab. Sie trugen schwere Stiefel, offensichtlich als Schutz gegen das Öl, von dem sie hofften, es würde ihre Opfer ablenken. Theoretisch wäre es eine gelungene Doppelfalle geworden. Sie wußten ja nicht, daß ihre Opfer bereits verschwunden waren.

Doch es bestand immer noch die Gefahr, daß die Avarer den neugegrabenen Tunnel mit ihren Pfeilen beschießen und damit erheblichen Schaden anrichten konnten. Dor machte einen Satz vor den Tunneleingang und hoffte inständig, daß die anderen inzwischen in Sicherheit waren. Vielleicht konnte ein unsichtbarer Wächter die Gegner lange genug in Schach halten.

Da erblickte er seine eigenen Arme. Der magische Durchgang ließ ihn hilflos zurück!

Im Licht der Fackel erblickten ihn die Soldaten und stürmten auf ihn zu.

Da blitzte ein weiteres Schwert neben ihm auf. König Omen! Der war es also gewesen, der ihm beim Eindämmen des siedenden Öls geholfen hatte!

Sie wechselten kein Wort miteinander; beide wußten sie, was zu tun war: Sie mußten diesen Eingang so lange halten, bis König Trent in Aktion treten konnte.

Der Tunnel des Ogers war zu schmal, als daß sie nebeneinander hätten stehen können, während das Gewölbe wiederum zu breit war. Die Soldaten konnten sich außer Schwertreichweite an den Mauern aufstellen und ihnen mit ihren Pfeilen zusetzen, den Tunnel in seiner Länge abdeckend. Also sprangen Dor und Omen in das Gewölbe hinaus und stellten sich Rücken an Rücken neben den welkenden Pastetenbaum, so daß sie mit ihren Schwertern das gesamte Gewölbe in Schach hielten. Dor hoffte nur, daß König Omen seine Waffe zu führen wußte.

Die Avarer waren alles andere als Feiglinge und stürzten kampfeslustig auf sie zu. Sie gehörten zu einem wilden türkischen Nomadenstamm, wie Arnolde zu erzählen gewußt hatte, der mit seiner sich in jüngster Zeit ausbreitenden Seßhaftigkeit unzufrieden war, und diese Söldner waren die wildesten von allen. Ihre Schwerter waren sehr lang, besaßen nur eine Schneide, waren dafür aber gekrümmt und eigneten sich vorzüglich für kraftvolle Schwunghiebe, ganz im Gegensatz zu Dors zweischneidigem geradem Schwert. Doch hier im etwas beengten Gewölbe waren die Verteidiger im Vorteil. Omen schlug große Bögen mit seinem Krummsäbel, während Dor zustieß und einem Avarer erst eine Hand abhauen mußte, bevor die Soldaten ihn respektieren lernten. Dors Schwert war jetzt nicht mehr magisch, und er mußte alles selbst erledigen. Doch er hatte die Grundzüge des Schwertkampfes gelernt, und das kam ihm jetzt zugute.

Zahlreiche Fledermäuse schossen aus dem Tunnel hervor und flatterten über die Köpfe der Avarer hinweg, die sie weitgehend ignorierten. Einer der Fledermäuse schien diese Mißachtung nicht zu gefallen, und sie blieb vor dem Gesicht eines der Avarer schweben, bis der mit dem Schwert nach ihr hieb. Die Fledermaus gab es auf und schwebte aus dem Gewölbe.

Doch der Schwertkampf war eine ermüdende Angelegenheit, und Dor war nicht in Kondition dafür. Schon bald fühlte sich sein Arm schwer wie Blei an. Auch Omen hatte während seiner langen Gefangenschaft an Kraft verloren. Als die Avarer das bemerkten, verstärkten sie ihre Anstrengungen. Sie wußten ganz genau, daß der Sieg nur noch eine Frage der Zeit war.

Einer von ihnen stürzte sich mit tödlich erhobenem Säbel auf Dor. Dor versuchte, einen Ausfallschritt zu machen und zu parieren, doch da rutschte er auf Blut oder Öl aus und verlor den Halt. Die Klinge fuhr ihm in die Hüfte. Dor stürzte hilflos zu Boden. »Omen!« rief er. »Flieht in den Tunnel! Ich kann Euch nicht mehr den Rücken decken!«

»Xnt zqd gtqs!« rief Omen wirbelnd.

Die Avarer wollten ihren Vorteil ausnutzen und stürzten vor. Omens Klinge schlug blitzschnell einen weiteren Bogen, der sie einen Augenblick lang zurückweichen ließ, während Dor gegen seinen Schmerz ankämpfte und nach seinem Schwert tastete. Doch seine suchenden Finger fanden nur etwas Matschiges: eine verdorbene Schokoladenpastete von dem abgestorbenen Pastetenbaum.

Zwei Avarer sprangen vor. Einer setzte König Omen zu, während der andere sich duckte, um einen Hieb gegen seine Beine zu führen. Dor packte die Pastete und schleuderte sie dem Avarer ins Gesicht. Es war ein perfekter Wurf: Der Mann sank auf die Knie und griff nach seinen schlammverschmierten Augen, während der Gestank faulender Schokolade das Gewölbe durchzog.

König Omen nutzte seinen neugewonnenen Vorteil, um dem anderen Avarer den Garaus zu machen. Doch schon griff ein weiterer an, und diesmal hatte Dor keine Pastete mehr zur Verfügung. Omen zerhackte den Gegner mit einem kühnen Hieb, dann beugte er sich vor, um Dor zu packen und in den Tunnel zu zerren.

»Das ist doch Wahnsinn!« rief Dor. Trotz der Gefahr bemerkte er, daß auch Omen verwundet worden war: von seiner linken Schulter troff helles Blut, das sich mit Dors eigenem vermengte. »Rettet Euch selbst!«

Da holten die Avarer zum entscheidenden Schlag aus. Da sie wußten, daß sie es nun nur mit zwei unbewaffneten und verwundeten Männern zu tun hatten, ließen sie sich Zeit beim Plazieren ihrer Säbelhiebe. Selbst wenn Omen sich tatsächlich bis zum Tunnel würde schleppen können, würde es ihn erwischen. Er war ein Narr gewesen zu versuchen, Dor zu retten – doch Dor mußte feststellen, daß ihm der Mann eigentlich recht gut zu gefallen begann.

Da schoß ein Drache aus dem Tunnel hervor und bereitete seine Schwingen aus, als er das Gewölbe erreichte. Er schnaubte feurig und blieb mit glitzernden Krallen beutegierig in der Luft schweben. Entsetzt wichen die Avarer zurück. Einer von ihnen hieb verzweifelt auf das Ungeheuer ein – und die Klinge durchschnitt den Flügel des Untiers, ohne jeden Schaden anzurichten.

Natürlich war es nur eine Illusion! Die Magie war wieder da, und nun kämpfte die Königin auf ihre eigene, höchst spektakuläre Weise. Doch sobald die Avarer erkannten, daß der Drache keine wirkliche Substanz besaß…

Es funktionierte genau andersherum. Als der Avarer feststellte, daß er den Drachen nicht einmal berühren konnte, floh er schreiend aus dem Kellergewölbe. Eine geistige Gefahr erschien ihm wohl wesentlich schlimmer als eine körperliche.

König Omen starrte den Drachen nicht minder erstaunt an. »Wo kommt der denn her?« fragte er. »Ich glaube nicht an Drachen.«

Dor lächelte. »Das ist eine Illusion«, erklärte er. Nun, da sie sich wieder im Umfeld der Magie befanden, konnten sie einander auch wieder verstehen. »Königin Iris ist da eine richtige Künstlerin. Sie kann vollkommen glaubwürdige Trugbilder hervorbringen, komplett mit Gerüchen und Geräuschen, und manchmal lassen sie sich sogar richtig anfassen. So gut hat das noch niemand in der ganzen Geschichte Xanths gekonnt.«

Der Drache wirbelte herum und musterte sie. »Oh, danke schön, Dor«, sagte er und löste sich in wäßrige Farbwolken auf, die hinter den fliehenden Avarern herzogen.

Nun erschien Irene wieder, während die Avarer machten, daß die davonkamen.

»Oh, du bist ja verwundet!« rief sie. Dor war sich nicht sicher, ob sie ihn oder Omen meinte.

»König Omen hat mein Leben gerettet«, sagte er.

»Ihr wart der einzige, der so klug war, das Öl abzudämmen, um das Mädchen zu retten«, erwiderte Omen. »Konnte ich da anders, als Euch nun meinerseits zu Hilfe zu eilen?«

»Danke«, sagte Dor, dem dieser kühne junge König immer besser zu gefallen begann. Er mochte zwar ein Rivale sein, aber ein guter Mann war er auf jeden Fall.

Sie gaben einander die Hand. Dor wußte nicht, ob das eine mundanische Sitte war, aber König Trent hatte Omen offensichtlich die Gepflogenheiten Xanths erläutert. »Nun hat sich unser Blut vermengt. Wir sind Blutsbrüder«, sagte Omen feierlich.

Irene und Iris waren damit beschäftigt, irgendein Stück Stoff in Streifen zu reißen, um Bandagen zu machen. Irene war als erste bei Omen und überließ Dor ihrer Mutter. »Ich glaube, ich habe Euch unterschätzt, Dor«, murmelte die Königin während sie sich geübt an seine Wunde machte, sie reinigte und verband, nachdem sie sie mit Heilpflanzenextrakt bestrichen hatte. »Aber Euren Vater habe ich ja auch schon unterschätzt.«

»Meinen Vater?« fragte Dor verwirrt.

»Das ist lange her, noch bevor ich König Trent kennenlernte«, sagte sie. »Geht Euch nichts mehr an. Aber als es drauf ankam, hat er wirklich Rückgrat gezeigt.«

Dor wußte ihr Kompliment zu schätzen, bedauerte jedoch, daß sie ihre Meinung zu spät geändert hatte. Irene hatte sich bereits auf König Omen eingeschossen. Er versuchte, nicht zu ihr hinüberzublicken, doch es gelang ihm nicht.

Die Königin bemerkte es. »Ihr liebt sie«, sagte sie. »Das habt Ihr vorher nicht getan, aber jetzt ist es so. Das ist schön.«

Wollte sie ihn etwa ärgern? »Aber Ihr seid doch für König Omen«, sagte Dor, dessen Gefühle miteinander im heftigen Widerstreit lagen.

»Nein. Omen ist zwar ein prächtiger junger Mann aber nicht das Richtige für Irene, und sie ist auch nichts für ihn. Ich unterstütze Euer Werben, Dor. Das habe ich schon immer getan.«

»Aber Ihr habt doch gesagt…«

Sie lächelte traurig. »Meine Tochter hat in ihrem ganzen Leben noch nie getan, was ich von ihr wollte. Manchmal muß man raffinierter vorgehen.«

Dor starrte sie an. Er versuchte etwas zu sagen, aber seine Gedanken überschlugen sich förmlich, und er fand keine Worte. Statt dessen beugte er sich vor und küßte sie auf die Wange.

»Und jetzt auf mit Euch, auf die Beine!« sagte die Königin und war ihm dabei behilflich. Dor stellte fest, daß er ohne. große Mühe aufrecht stehen konnte, obwohl ihm leicht schwindelig war. Die Wunde war wohl nicht ganz so schlimm, wie sie auf den ersten Blick ausgesehen hatte, und schon jetzt begann sie auf magische Weise zu heilen.

König Trent trat zu ihnen. »Ihr habt gute Arbeit geleistet, Männer. Dank eurer Ablenkung konnte ich mich an den größten Teil der avarischen Truppen anschleichen. Ich habe sie in Fledermäuse verwandelt.«

Daher also die Fledermäuse! Eine von ihnen hatte versucht, die anderen Avarer zu warnen, doch ohne Erfolg.

»Aber die Avarer sind nicht unsere einzigen Gegner«, warf Omen ein. »Wir müssen auch die anderen Kollaborateure unschädlich machen, um eventuelle Attentäter auszuschalten.«

»Dabei kann uns die Magie dienen«, sagte König Trent. »Iris und Dor werden dafür sorgen.«

»Wir?« fragte Dor überrascht.

»Natürlich«, sagte die Königin. »Könnt Ihr gehen?«

»Ich weiß nicht«, erwiderte Dor. Seine Einstellung zu Irenes Mutter war soeben gründlich durcheinandergebracht worden, und es würde wohl noch eine Zeit dauern, bis er zu einer neuen gefunden hatte. Er machte einen Gehversuch, und sie ergriff seinen Arm, um ihn zu stützen. Fast wünschte er sich, daß Irene ihn stützen würde.

Die Avarer hatten inzwischen bemerkt, daß der Drache ihnen nicht aus dem Kellergewölbe gefolgt war. Sie wußten noch nicht, daß ihre Kameraden ausgelöscht worden waren, und nun stürzten sie wieder herbei.

»Sie kommen langsam hinter die Illusion«, meinte Grundy. »Wir sollten zusehen, daß wir hier wegkommen.«

Das stimmte. Die Avarer blieben gerade außerhalb der Reichweite des magischen Feldes stehen und legten bereits Pfeile in ihre Bogen ein. Sie hatten eine Methode entdeckt, mit der der Magie beizukommen war.

Da trat Krach in Aktion. Er riß einen Steinklotz aus dem Fundament und schleuderte ihn den Avarern entgegen. Seine gewaltige Kraft besaß er nur innerhalb des Durchgangs, doch der Steinklotz war außerhalb dieser Zone ebenso wirkungsvoll wie die Pfeile es innerhalb davon waren.

Die Gruppe zog sich in den Tunnel zurück. Dor hinkte. Vor und hinter ihnen flogen Drachen, eine wilde Ehreneskorte.

Schließlich stießen sie zum großen Saal der Burg Ocna vor. Dort befanden sich einige Mitglieder des Burgpersonals, ängstlich an eine Wand gepreßt. Die Avarer hatten sich verteilt und standen bereits im Saal. Das Burgpersonal fürchtete sich vor den Avarern und wußte noch nicht, daß König Omen am Leben war. Also stand die Burg noch immer unter König Oarys Herrschaft, obwohl König Omen wieder frei war.

»Der Oger und ich werden König Omen bewachen«, sagte König Trent. »Irene, du läßt einen Kirschbaum wachsen; du wirst mit dem Golem unsere Artillerie-Verteidigung übernehmen. Magier Zentaur, wenn Ihr so gut sein würdet, Euch mitten in den Saal zu stellen und euch auf mein Zeichen in schneller Abfolge mehrmals um Euch selbst zu drehen. Iris und Dor, eure Kräfte reichen weiter als meine; ihr werdet die lauernden Avarer übernehmen.«

»Seht Ihr, wie mein Mann denkt!« murmelte Königin Iris. »Er ist ein brillanter Stratege.«

»Aber die Avarer befinden sich doch außerhalb des magischen Durchgangs!« protestierte Dor. »Und sie wissen von Euren Illusionen. Auf ihre Art sind sie ziemlich schlau. Wir können sie nicht mehr lange an der Nase herumführen!«

»Das brauchen wir auch gar nicht«, erwiderte Iris. »Ihr braucht den Steinen im magischen Feld lediglich aufzutragen, jeden sich nahenden Avarer zu melden, den Rest übernehmen wir dann.«

»Fertig, Irene?« fragte Trent.

Irenes Baum war schnell gewachsen und trug bereits zahlreiche sattrote, reifende Kirschen. »Fertig, Vater«, sagte sie grimmig.

Dor war froh, daß König Trent ein guter Taktiker war, denn er selbst konnte sich nur sehr ungenau vorstellen, was jetzt geschehen sollte. Wenn Arnolde sich um seine eigene Achse drehte, würde das zwar einige Avarer ins magische Feld bringen, aber die meisten würden doch außerhalb des Durchgangs bleiben. Wie konnten sie die unschädlich machen, bevor sie ihnen mit Pfeil und Bogen zusetzten?

»Jetzt wird es heikel«, sagte König Trent. »Oger, seid bereit. König Omen, Ihr seid an der Reihe.«

König Omen bestieg ein Podest, das mitten im Saal stand. Er war bleich vom Blutverlust, und sein linker Arm hatte eine unnatürliche Haltung, doch noch immer strahlte er eine königliche Würde aus. Irene pflückte mehrere reife Kirschen und reichte einige davon Grundy, der neben einem ganzen Haufen Kirschen stand. Krach hob einen massiven Holzpfosten auf seine Schulter.

Als Trent das Signal gab, begann Arnolde sich im Kreis zu drehen. Dor konzentrierte sich und befahl den Steinen im Saal, jeden in ihrer Nähe versteckten Avarer zu melden. Königin Iris erzeugte eine Illusion von außergewöhnlicher Pracht: Das Podest wurde zu einem Piedestal aus massivem Gold, und König Omen trug plötzlich prächtige königliche Gewänder, während ein Lichtschimmer seinen Leib umhüllte.

»Hört mich an, Bedienstete der Burg Ocna und treue Bürger des Königreiches Onesti!« rief der König mit klangvoller Stimme, die im Saal widerhallte. »Ich bin König Omen, euer rechtmäßiger Monarch, der von dem Usurpator Oary verraten und in den Kerker geworfen wurde. Nun haben meine Freunde aus dem magischen Land Xanth mich befreit, und ich rufe euch hiermit dazu auf, Oary den Dienst aufzukündigen und statt dessen wieder mir in Treue und Rechtschaffenheit zu dienen.«

»Mknn jko!« rief der avarische Anführer in seiner Muttersprache. »Ujqqv jko fqyp!«

Ein Pfeil schoß auf König Omen zu. Krach schlug ihn mit seinem Holz aus der Luft. »Aua!« beschwerte sich der Pfeil. Dors Talent war mal wieder viel zu wirkungsvoll. »Ich habe doch nur meine Pflicht getan!«

Arnoldes Bewegung folgend, erfaßte das magische Feld das gegenüberliegende, entfernteste Ende des Saals. »Ha, da ist ein Avarer!« rief ein Stein, als die Magie ihn erfaßte. »Der hat den Pfeil abgeschossen!«

»Halt’s Maul, du unsichtbare Petze!« bellte der Avarer und schlug nach dem vermuteten Verräter.

Da schoß ein Flügeldrache auf den Avarer zu und spie Feuer. »Und du auch, falsches Ungeheuer!« rief der Mann. Er zückte sein Schwert und hieb auf den Drachen ein.

Irene warf eine Kirsche. Sie traf unmittelbar vor dem Avarer auf den Boden und explodierte. Der Mann wurde gegen die Wand geschleudert, wo er betäubt und von rotem Kirschsaft durchtränkt liegenblieb.

Arnolde hatte innegehalten, mit dem Gesicht zum Geschehen. Nun setzte er sich wieder ihn Bewegung. Ein weiterer Steinblock rief: »Hier ist einer, hinter mir!« Der Drache, der innerhalb des magischen Feldes schwebte, stieß eine tiefrote satte Stichflamme aus. Diesmal kalkulierte Irene ihren Wurf so genau, daß die Kirschbombe im selben Augenblick explodierte, in dem die Flammen scheinbar ihr Opfer erfaßte. Das ließ den Drachen als echt erscheinen, begriff Dor.

»Alle Mann – feuert eure cftqyu!« rief der Avarer-Anführer, als das magische Feld ihn streifte. »Vjg oqpuvgtu ctg lwuv knnwukqpu!« Doch seine Männer zögerten, da inzwischen bereits zwei ihrer Kammeraden von etwas getroffen worden waren, was alles andere als eine reine Illusion zu sein schien. Die Kirschbomben explodierten tatsächlich auch außerhalb des magischen Feldes; vielleicht gab es in Mundania ja doch derartige Dinge.

Arnolde drehte sich weiterhin um seine Achse, und die Steine verrieten einen Avarer nach dem anderen. Die Kirschbomben brachten den Avarern einen Respekt bei, den sie König Omen versagt hatten. Der Schläger des Ogers ließ ihre Pfeile wirkungslos abprallen, und die Illusionen der Königin verwirrten sie noch mehr. Denn nun wurde aus dem Flugdrachen plötzlich ein gepanzerter Riese mit blitzendem Schwert, der wiederum zu einer vorspringenden Sphinx wurde, die sich ihrerseits in einen Schwarm grüner Wespen verwandelte. Donnerschläge umspielten das Podest, die Illusion des Geräuschs, von König Omens Rede unterbrochen. Schon bald waren alle verbliebenen Avarer entweder unschädlich gemacht oder völlig verängstigt worden.

»Jetzt, da die Truppen des Feindes geschlagen sind«, sagte König Omen und wurde mit Hilfe der Illusion beinahe unmerklich größer, »brauchen die treuen Bürger des Königreichs Onesti nichts zu befürchten. Tretet also vor mich und erneuert euren Treueschwur.« Sternenbanner umgaben ihn.

Zögernd traten die Domestiken der Burg vor. »Sie fürchten sich vor den Scheinbildern«, bemerkte Grundy.

Die Königin nickte. Abrupt verschwanden die Monster, und der Saal war plötzlich von pastellfarbenem Licht und sanfter Musik erfüllt – zumindest im Bereich des sich drehenden Durchgangs. Davon ermutigt, kamen die Leute immer näher.

»Seid Ihr es wirklich, Euer Majestät Gutes Omen?« fragte ein alter Burgverwalter. »Wir glaubten, ihr wäret tot, und als dann die Ungeheuer kamen…«

»Halt!« rief eine barsche Stimme vom Gewölbe aus, das dem Haupteingang der Burg am nächsten lag.

Alles drehte sich um. Da stand König Oary, gerade noch innerhalb des magischen Feldes. Dor begriff, daß der Mann auf einer anderen Strecke nach Burg Ocna geritten sein mußte und den Pfad mit der zerstörten Brücke gemieden hatte. Oary hatte sich gedacht, welches Ziel Dors Gruppe ansteuerte, hatte erkannt, daß ihn dies in Schwierigkeiten bringen würde und war herbeigeeilt, um die Situation sofort selbst in die Hand zu nehmen, bevor sie seiner Kontrolle entgleiten konnte. Oary war gerissen und mutig.

»Da ist ja der Thronräuber!« rief König Omen. »Nehmt ihn gefangen!«

Doch hinter Oary befand sich ein weiteres Kontingent avarischer Söldner, die er von der anderen Burg mitgebracht haben mußte. Die gewöhnlichen Diener konnten sich ihm nicht nähern. Er stand gerade noch am Rande des magischen Durchgangs, so daß seine Worte zu verstehen waren. Oary hatte die Grenze des magischen Feldes festgestellt und konnte es nun jederzeit wieder verlassen.

»Narren!« schrie Oary, und seine Stimme hallte durch den Saal. »Ihr werdet von einer Illusion an der Nase herumgeführt! Schart euch um mich und vernichtet diese fremden Eindringlinge!«

»Fremde Eindringlinge!« rief König Omen zornig. Die Sterne, die ihn umstrahlten, explodierten, und prachtvolle Zornesmusik erscholl im Hintergrund. »Ihr, die Ihr mich mit Gift betäuben und in den Kerker habt werfen lassen, um meine Krone an Euch zu reißen – Ihr wagt es, mich derart zu bezeichnen?«

Die Burgbewohner blickten zögernd von einem zum anderen, unentschlossen, wem ihre Treue nun wirklich zustand. Jeder der Könige wirkte imposant: Oary hatte sich die Zeit genommen, seine königlichen Gewänder anzulegen, samt Krone und Schwert, was sogar seinem fetten Körper noch Eleganz verlieh. König Omen wurde durch die Magie der Königin Iris ebensosehr in Prunk und Pracht gehüllt. Es war offensichtlich schwierig für das gemeine Volk, sich aufgrund dieser Äußerlichkeiten zwischen den beiden zu entscheiden.

»Ich bezeichne Euch als gar nichts«, donnerte Oary mit einer Überzeugungskraft, wie sie nur ein völliges Schlitzohr aufbringen konnte. »Ihr existiert ja nicht einmal. Ihr seid unter den Händen Eurer khazarischen Attentäter gestorben…«

Die Sterne um Omen wurde immer gleißender und begannen zu zischen und zu krachen, daß es sich anhörte, als wollte das ganze Firmament auseinanderbrechen. Das Getöse übertönte Oarys Worte.

»Nein, laßt den Schuft ausreden!« sagte König Omen. »Es war stets Sitte bei uns, daß jeder seinen Fall vortragen darf.«

»Er wird Euch vernichten«, warnte ihn Königin Iris. »Ich traue ihm nicht. Gebt ihm keine Gelegenheit dazu!«

»Das liegt in Omens Entscheidung«, warf König Trent sanft ein.

Damit hörte die Illusion auch schon auf. Niemals stellte sich Königin Iris gegen den Willen König Trents – zumindest nicht in der Öffentlichkeit. Nun war nur noch der mundanische Hof zu sehen, still und schäbig, dessen verängstigt zusammengekauerte Diener den Avarerhaufen anstarrten.

»Ihr seid nichts als eine Illusion«, fuhr Oary kühn fort, indem er die Gelegenheit beim Schopf packte. »Wir haben doch gesehen, wie die Fremden Ungeheuer und Stimmen aus dem Nichts entstehen lassen können; wer kann da noch Zweifel hegen, daß sie auch das Bild unseres teuren, geschätzten früheren Königs erzeugen können?«

Königin Iris sah schmerzlich berührt aus. »Ein Meisterzug!« flüsterte sie. »Ich wußte doch, daß wir diesen Basilisken nicht zu Worte kommen lassen durften!«

Tatsächlich begannen die Bediensteten auch schon zu schwanken. Sie starrten König Omen an, als wollten sie das Trugbild mit aller Gewalt durchschauen. Nun wandte sich Königin Iris’ Fähigkeit Illusionen zu erschaffen gegen König Omen selbst. Wer konnte auch schon die Wirklichkeit vom Trugbild unterscheiden?

»Wenn König Omen auf irgendeine geheimnisvolle Weise von den Toten zurückkehren sollte, wäre ich der erste, ihn wieder willkommen zu heißen«, fuhr König Oary fort. »Doch wehe uns, wenn wir uns einem Trugbild ausliefern sollten!«

Die bloße Frechheit Oarys wirkte auf König Omen wie ein Schlag ins Gesicht. Der Usurpator hatte zweifellos in ihrem Wortstreit einen wichtigen Pluspunkt errungen.

»Vernichtet den Betrüger!« rief Oary, die Gunst der Stunde nutzend. Die Leute schritten auf König Omen zu.

Nun fand Omen wieder Worte. »Wie sollte man denn eine Illusion vernichten?« fragte er. »Wenn ich nur aus Luft bestünde, würde ich Eure Anstrengungen doch nur verlachen.«

Erneut verwirrt, hielten die Leute wieder inne. Doch schon sprang Oary wieder rhethorisch in die Bresche. »Natürlich ist da ein Mann! Er sieht bloß aus wie König Omen! Es ist ein Betrüger, der geschickt wurde, um einen Aufstand gegen euren rechtmäßigen König anzuzetteln. Damit der Oger an meiner Stelle regieren kann.«

Die Leute erschauerten. Von einem Oger wollten sie nicht regiert werden.

»Betrüger?« rief König Omen. »Dor, leiht mir Euer Schwert!« Denn im Getümmel war es Dor gelungen, sein Schwert wieder an sich zu nehmen, während König Omen das seine verloren hatte.

»Damit wird nichts erreicht«, sagte König Trent. »Der bessere Schwertkämpfer ist noch nicht unbedingt auch der rechtmäßige König.«

»Oh, doch, das ist er!« rief Omen. »Nur die Könige Onestis werden im Schwertkampf hervorragend ausgebildet. Kein Bauerntölpel, der sich für einen König ausgäbe, könnte Oary das Wasser reichen. Aber ich bin ein besserer Schwertkämpfer als der Thronräuber, also kann ich damit auch beweisen, daß ich kein Betrüger bin.«

»Keineswegs!« protestierte Oary. »Wir wissen doch alle, daß dieses Schwert, daß Euch Euer Gefolgsmann gegeben hat, verzaubert ist. Niemand kann dagegen ankämpfen, denn damit wird jeder Stümper zu einem Meisterfechter.«

Der Mann hatte aber ziemlich schnell dazugelernt! Dor hätte nie gedacht, daß König Oary beim Debattieren derart wendig sein könnte. Sein Gehirn bestand offensichtlich nicht aus Pudding.

Omen blickte erschreckt das Schwert an. »Dor hat aber damit keinerlei besondere Fähigkeiten gezeigt«, sagte er und würdigte damit unbewußt Dors Kampfkünste herab.

»Es stimmt dennoch«, sagte König Trent. »Dor befand sich außerhalb des magischen Durchgangs, als er es benutzte.«

»Das ist richtig«, gab Dor zögernd zu. »Innerhalb des Durchgangs kann man mit diesem Schwert jeden schlagen. Außerdem könnte Königin Iris mit ihrer Illusionskunst König Trent so aussehen lassen wie Euch, König Omen – und er ist wahrscheinlich ein besserer Schwertkämpfer als Ihr es seid.« Sofort durchfuhr ihn die Frage, ob er das nur gesagt hatte, weil ihn Omens Herabwürdigung seiner eigenen Kampfkunst ärgerte. Andererseits war König Trent der beste Schwertkämpfer Xanths, also war er durchaus im Recht, so etwas zu sagen.

»Ihr Narren!« warf Königin Iris ein. »Da habt ihr den Sieg schon fast in der Tasche – und müßt ihn wegen solcher Lappalien wieder verspielen!«

»Das ist eine Frage der Ehrlichkeit«, meinte Dor. »ONESTI.«

König Omen lachte. Innerhalb des magischen Feldes konnte er den xanthischen Kalauer verstehen. »Ja, ich verstehe. Nun gut, dann kämpfe ich außerhalb des magischen Durchgangs mit Oary.«

»Wo Eure Wunde Euch schwächen wird und Ihr mit einem geraden Schwert kämpfen müßt, obwohl Ihr doch nur Krummsäbel gewohnt sein«, meinte Königin Iris. »Und wenn das nicht genügen sollte, werden die Avarer Euch einen Pfeil in den Rücken schießen. Seid wenigstens nicht närrischer als nötig. Oary versucht doch nur, Euch in eine Lage zu manövrieren, in der seine Heimtücke zum Zuge kommen kann. Ich kann Euch sagen, die Sorte kenne ich!«

Dor schwieg. Die Königin kannte die Sorte, weil sie selbst dazugehörte. Das ließ sie in solchen Angelegenheiten zur guten Ratgeberin werden.

»Aber wie soll ich denn sonst meine Identität unter Beweis stellen?« fragte König Omen in einem etwas jammernden Tonfall.

»Die Burgbediensteten sollen herbeikommen, Euch anfassen und mit Euch reden«, schlug König Trent vor. »Viele von ihnen kennen Euch doch bestimmt sehr gut. Die können entscheiden, ob Ihr ein Betrüger seid oder nicht.«

Oary wollte protestieren, doch der Vorschlag erschien dem gesamten Personal viel zu einleuchtend, als daß der Usurpator sich hätte durchsetzen können. König Trents Taktik hatte die seine zunichte gemacht. Nun erschienen nichtavarische Wachen und griffen nach ihren Waffen. Sie waren den Avarern an Zahl überlegen. Anscheinend hatte sich die Nachricht von dieser Gegenüberstellung schnell herumgesprochen, und nun eilten die wirklichen Getreuen Onestis herbei.

Da er keine Möglichkeit mehr sah, die Sache zu verhindern, willigte Oary mißmutig ein. »Ich werde mich selbst in die Schlange einreihen«, verkündete er. »Schließlich sollte ich König Omen ja wohl als erster wieder willkommen heißen, wenn er tatsächlich zurückgekehrt sein sollte. Immerhin habe ich ja an seiner Stelle den Thron von Onesti bestiegen.«

Königin Iris zog eine finstere Grimasse, doch König Trent bedeutete ihr zu schweigen. Das Ganze wirkte langsam wie ein Spiel voller Züge, Gegenzüge und einengender Regeln. Oary hatte sich König Trents Zug nun angeschlossen und mußte von ihm geduldet werden, bis er selbst einen Durchbruch versuchte. Dor beobachtete den Vorgang genau; wenn er selbst einmal endgültig König sein sollte, könnte ihm diese Erfahrung zugute kommen.

»Kommt, König«, sagte König Trent und nahm Omen beim Arm. »Legen wir alle unsere Waffen beiseite, um eine Empfangsreihe zu bilden.« Sanft nahm er das magische Schwert entgegen, und reichte es an Königin Iris weiter, die es sorgfältig auf den Boden legte.

Nun mußte auch Oary mitspielen und alle Waffen ablegen. Seine Avarer grollten zwar, hielten sich aber zurück. Krach, der Oger, stellte sich in ihrer Nähe auf, seinen Holzpfahl kampfbereit in den Händen. Das ermunterte sie etwas, friedlich zu bleiben.

Eine Reihe wurde gebildet, und das Burgpersonal kam eifrig näher, um König Omen genauer zu betrachten. Als erster kam ein alter Mann, der sich nur langsam vorwärts bewegen konnte, von den anderen jedoch aus Ehrfurcht vor seinem Alter vorgelassen worden war.

»Hallo. Borywog!« sagte König Omen und ergriff den zerbrechlichen Arm des Alten. »Erinnert Ihr Euch noch, wie ich Euch als Kind gequält habe, Euch und meinen Lehrer? Ich war noch schlimmer als mein Vater! Ihr dachtet, ich würde es nie lernen, richtig zu schreiben! Wißt Ihr noch, wie ich den Namen unseres Königreichs HONESTY geschrieben habe?«

»Mein Gebieter, mein Gebieter!« rief der alte Mann und fiel auf die Knie. »Niemals habe ich diese furchtbare Sache auch nur einer Menschenseele erzählt! Das müßt Ihr sein, Majestät!«

Nun kamen die anderen an die Reihe. König Omen kannte sie alle, und die Beweise für seine Identität begannen sich zu häufen. König Trent stand hinter ihm und lächelte gütig.

Plötzlich zog einer der Männer in der Reihe einen Dolch und stürzte auf Omen zu. Doch bevor der Verräter sein Opfer erreicht hatte, verwandelte er sich plötzlich in eine große braune Ratte, die voller Entsetzen hastig davonhuschte. Eine Burgkatze sprang ihr freudig nach. »Ich habe versprochen, den Leibwächter zu spielen«, sagte König Trent milde. »In derlei Dingen besitze ich eine gewisse Erfahrung.«

Dann stand Oary vor ihnen. »Aber das ist ja tatsächlich Omen!« rief er in geheucheltem Erstaunen. »Avarer, steckt die Waffen weg! Unser rechtmäßiger König ist von den Toten wiederauferstanden. Welch ein Wunder!«

König Omen, der mit einem neuen Verrat rechnete, starrte ihn mit aufgesperrtem Mund an. Wieder schaltete König Trent sich ein. »Wirklich nett, es auch von Euch bestätigt zu bekommen, König Oary. Wir wußten ja immer, daß es Euch stets nur um das Wohl des Königreichs Onesti zu tun war. Es ist wohl besser, wenn wir die Sache nach Möglichkeit unter Wahrung des freundschaftlichen Scheins regeln. Dor, warum begleitet Ihr König Oary nicht an einen abgeschiedenen Ort und besprecht mit ihm die Einzelheiten?«

Jetzt war Dor an der Reihe zu staunen. Stumm stand er da und rührte sich nicht von der Stelle. Da erschien Grundy und zupfte ihn am Bein. »Führ ihn in ein Vorzimmer«, flüsterte der Golem. »Ich hole die anderen.«

Dor nahm sich zusammen. »Aber selbstverständlich!« sagte er mit gespielter Gelassenheit. »König Oary, sollen wir uns in eines der Vorzimmer zurückziehen, um ein Gespräch unter vier Augen zu führen?«

»Mit dem größten Vergnügen«, sagte Oary, die Seele des Wohlwollens in Person. Anscheinend waren ihm die Regeln dieses Spiels vertrauter als Dor.

Gefaßt schritten sie in das Vorzimmer, während König Omen fortfuhr, alte Bekannte zu begrüßen und die Avarer, inmitten der Menge völlig isoliert, unruhig zappelten.

Ohne Oarys Kommando waren sie völlig hilflos; sie beherrschten ja nicht einmal die Landessprache.

Dors Verstand arbeitete fieberhaft. Warum hatte Oary Omen willkommen geheißen, nachdem er ihn doch zuerst hatte beseitigen lassen wollen? Warum gab er vor, nicht gewußt zu haben, wo sich Omen befunden hatte? Und warum spielte König Trent, der ja selbst unter Oarys Verrat und Grausamkeit gelitten hatte, das Spiel mit? Und warum hatte König Trent schließlich die Angelegenheit Dor übertragen, obwohl der die Situation überhaupt nicht durchschaute und schon gar nicht fähig war, sie zu meistern?

Irene, Krach und Arnolde folgten ihnen in das Vorzimmer. Oary wirkte sehr gefaßt. »Können wir offen reden?« fragte der Mundanier.

»Aber immer!« erwiderte Irene und zog ihre Jacke enger. »Ich finde, daß du stinkst!«

»Versteht Ihr, was hier los ist?« fragte Oary unbeeindruckt.

»Nein«, sagte Dor. »Ich weiß nicht, warum König Trent Euch nicht in einen Wurm verwandelt und zertreten hat.«

»König Trent ist ein erfahrener Monarch«, sagte Oary. »Er befaßt sich mit Realitäten und nicht mit Emotionen. Ihm ist die gewinnversprechendste Verbindung lieber als eine primitive Rache. Das hier ist die Wirklichkeit: Ich habe einen Trupp Avarer dabei, der eine Menge Ärger machen könnte. In meiner Burg befinden sich noch weitaus mehr. Es würde eines kleinen Bürgerkriegs bedürfen, um die Söldner auszuschalten; denn ihre Hauptleute sind mir ergeben – und das würde das Königreich Onesti ausgerechnet zu einer Zeit schwächen, da die khazarische Bedrohung ständig wächst. Es wäre weitaus wünschenswerter, diesen Ärger zu vermeiden und das Königreich stark zu belassen. Deshalb muß König Omen danach streben, sich mit mir zu arrangieren – zum Wohle Onestis.«

»Warum kann er Euch denn nicht einfach…«, fing Irene an, brach jedoch wieder ab.

»Ihr seid unfähig, es auszusprechen«, sagte Oary. »Das ist ein Symptom Eurer Schwäche, das Ihr beseitigen müßt, wenn Ihr eine ebenso kompetente Königin abgeben wollte wie es Eure Mutter ist. Warum er mich nicht einfach umbringen und die Sache auf sich beruhen lassen kann? Weil es jemand wie Euch an den Nerven fehlt, das zu tun, was notwendig ist.«

»Ach ja?« fragte Grundy. »Und warum habt Ihr dann König Omen nicht umgebracht?«

Oary seufzte. »Das hätte ich wohl tun sollen, nehme ich an. Ja, das hätte ich wirklich. Aber ich mochte den jungen Narren. Niemand ist vollkommen.«

»Aber gerade eben habt Ihr doch versucht, ihn umbringen zu lassen«, wandte Dor ein.

»Das war eine Verzweiflungstat«, gab Oary zurück. »Ich kann nicht einmal behaupten, daß es mir wirklich leid täte, daß sie gescheitert ist. Es war schon zu spät, es hätte gleich zu Anfang geschehen müssen, bevor Omen Gelegenheit hatte, seine Identität unter Beweis zu stellen. Dann hätte ich das Spiel gewonnen. Aber das ist nun einmal auch ein Zeichen meiner eigenen Schwäche. Ich wollte einfach nicht entschieden genug die Krone behalten.«

Dor betrachtete die Sache mit gemischten Gefühlen. Er wußte, daß Oary ein skrupelloser Schuft war, doch die Offenheit und Klugheit des Mannes und die Ehrlichkeit, mit der er seine zivilisierte Schwäche eingestand, machten es schwer, ihn völlig zu verabscheuen. »Und nun müssen wir sehen, was wir mit Euch machen sollen«, sagte Dor. »Allerdings sehe ich nicht, wie wir Euch vertrauen könnten.«

»Natürlich könnt Ihr mir nicht trauen«, meinte Oary. »Wenn es nach mir ging, wärt Ihr schon längst wieder in Eurem Kerker, und Euer Pferdemensch würde als Zirkusattraktion durch das avarische Reich tingeln.«

»He!« sagte Arnolde.

»Wenn wir ihn nicht umbringen, ihm aber auch nicht trauen können, was sollen wir dann mit ihm anfangen?« fragte Dor die anderen.

»Ihn in dieselbe Zelle werfen, in der er König Omen gefangengehalten hat«, meinte Irene. »Damit er sich von einem sadistischen Eunuchen Speisen bringen lassen kann.«

»Krach hat die Zellen zerstört«, erinnerte Grundy sie. »Außerdem sind die sowieso nicht sicher. Einer seiner heimlichen Gefolgsleute könnte ihn befreien.«

»Aber wir müssen König Omen doch eine Lösung präsentieren!« sagte Dor. »Ich weiß zwar nicht, warum diese Aufgabe ausgerechnet mir angetragen wurde…«

»Weil Ihr einmal König von Xanth sein werdet«, erklärte Oary. »Ihr müßt lernen, harte Entscheidungen zu fällen, ob sie nun richtig oder falsch sein mögen. Wenn ich vor meiner Machtergreifung mehr Erfahrung besessen hätte, wäre mir das hier erspart geblieben. Hätte Omen sie besessen, hätte er nie seinen Thron verloren. Man muß eben durch die Tat lernen. Euer König Trent ist wirklich eine kompetente Persönlichkeit. Es war mein Pech, daß ich ihn unterschätzt habe, weil mir sein Gerede über Magie als Produkt eines kranken Hirns erschien. In der Regel glauben lediglich ungebildete Bauern an Zauberei. Bis Ihr König werdet, werdet Ihr gelernt haben, wie Ihr dieses Amt auszuüben habt.«

Das klang auf brutale Weise einleuchtend. »Ich wünschte, ich könnte Euch doch trauen«, sagte Dor. »Ihr würdet einen ausgezeichneten Lehrer in Staatsangelegenheiten abgeben.«

»Das hier ist bereits Euer praktischer Unterricht«, konterte Oary.

»Historisch betrachtet kommen zwei Lösungsmöglichkeiten in Betracht«, meinte Arnolde. »Die eine ist die Verstümmelung, bei der man den Verbrecher entweder seines Augenlichts beraubt oder ihm seine Extremitäten abschneidet, damit er keinen weiteren Schaden…«

»Nein!« sagte Dor, und Irene stimmte ihm zu. »Wir sind schließlich keine Barbaren.«

»Profis seid Ihr aber auch nicht«, warf Oary ein. »Noch immer schreckt Ihr vor brauchbaren Methoden zurück.«

»Die zweite ist die Verbannung«, fuhr der Zentaur fort. »Früher wurden Leute Eurer Art, die kein magisches Talent besaßen, aus Xanth verbannt, so wie Leute meiner Art mit magischen Talenten ebenfalls verbannt werden. Das ist recht wirkungsvoll.«

»Aber dann könnte er eine Armee aufstellen und zurückkehren«, protestierte Dor. »König Trent hat dasselbe getan, damals, als er noch im Exil leben mußte…«

»Ja, aber er hat Xanth nicht erobert. Die Lage änderte sich, und er wurde zurückgebeten. Vielleicht hat sich in Onesti in zwanzig Jahren die Lage ja ebenfalls so weit geändert, daß man Oarys wieder bedarf. Außerdem gibt es da durchaus Vorsichtsmaßnahmen. Eine ausgesuchte, streng begrenzte Verbannung müßte die Möglichkeit des Verrats ausschließen und ihn gleichzeitig von örtlichen Querelen fernhalten. Es wäre natürlich ratsam, es nicht als Verbannung zu bezeichnen. Das würde nämlich den Eindruck vermitteln, daß an der Machtübertragung irgend etwas nicht ganz rechtens ist, anstatt den Eindruck zu verstärken, daß ein vorübergehend verschollener König mit offenen Armen wieder aufgenommen wurde. Man könnte ihn als Botschafter oder Gesandten in ein strategisch wichtiges Gebiet schicken…«

»Zu den Khazaren!« rief Grundy.

»He, da will ich aber nicht hin!« protestierte Oary. »Das sind ziemlich grobe Leute! Da muß ich ja ständig alle Register ziehen, nur um am Leben zu bleiben.«

»Ganz genau«, meinte der Zentaur. »In deren Gesellschaft wäre Oary so etwas wie eine Zirkusattraktion, man würde ihn zwar dulden, aber kaum ernst nehmen. Seine schwierige Aufgabe würde darin bestehen, den Kontakt zu diesem Reich aufrechtzuhalten und die Beziehungen zu verbessern, und natürlich Onesti rechtzeitig zu warnen, falls eine Invasion drohen sollte. Wenn er das eine Zeitlang, die lang genug sein müßte, zur allseitigen Zufriedenheit bewältigt, könnte man ihn schließlich wieder begnadigen und ihm gestatten, sich in Onesti zur Ruhe zu setzen. Wenn nicht…«

»Aber die Khazaren werden Onesti sowieso eines Tages erobern«, sagte Oary. »Wie soll ich es da verhindern, daß…«

»Ich meine mich zu erinnern, daß die nordischen Magyaren in dieser Epoche nominell zum khazarischen Reich gehören«, sagte Arnolde. »Trotzdem haben sie sich eine eigenständige Kultur bewahrt. Man könnte Oary an den Hof der Magyaren entsenden…«

»Wo er wahrscheinlich einen Aufstand gegen die Khazaren anzetteln wird!« sagte Dor. »Nur damit sich das Augenmerk nicht auf Onesti konzentriert. Dazu würden beständige Schläue und Wachsamkeit gehören…«

»Was für eine abscheuliche Tat!« rief Irene schadenfroh.

Überrascht blickten sie sich an. »Eine abscheuliche Tat…«, wiederholte Dor.

»Dazu waren wir verflucht«, sagte Irene. »Bevor der Mond voll ist – und das ist er schon fast. Gehen wir und erzählen wir den anderen, wie Botschafter Oary zu den Magyaren reisen wird.«

»Aber nur, weil es den Interessen des Königreichs, das ich so sehr liebe, dient, und um die meines guten Freundes und wiedergewonnen Lehnsherrn König Omen zu fördern«, sagte Oary philosophisch. »Es hätte schlimmer kommen können. Ich hatte erwartet, daß Ihr mich durchpeitschen und danach nackt als Bettler durch die Dörfer ziehen lassen würdet.«

»Oder daß wir Euch an den Oger verfüttert hätten«, meinte Grundy. »Aber wir sind nun einmal etwas dümmlich, und Ihr seid zu intelligent, als daß wir es uns leisten könnten, Eure Gaben zu vergeuden.«

Sie marschierten wieder aus dem Zimmer. »Oary hat großmütig eingewilligt, als Euer Gesandter an den Hof der Magyaren im khazarischen Reich zu gehen«, berichtete Dor König Omen, der inzwischen die letzten seiner Freunde empfangen hatte. »Er will nur das Beste für das Königreich Onesti.«

»Ausgezeichnet«, erwiderte König Omen, der in der Zwischenzeit offenbar eingeweiht worden war. »Und wer wird Xanth als Gesandter in Onesti vertreten?«

»Arnolde Zentaur«, entschied König Trent, ohne zu zögern. »Wir erkennen zwar sehr wohl, daß seine erzwungene Abwesenheit von seinem Zuhause auf der Zentaureninsel für ihn ein großes persönliches Opfer darstellt, aber es ist nicht zu übersehen, daß wir hier ein gewisses Quantum an Magie benötigen, und er ist auch außerordentlich gut für diese Aufgabe qualifiziert. Er kann besonders begabte Bürger Xanths begleiten, wie etwa meine Tochter, wenn Handelsmissionen erforderlich werden.«

Arnolde nickte, und Dor erkannte, wie sehr König Trent dem Zentauren das Leben damit erleichtert hatte. Für Arnolde gab es auf der Zentaureninsel ohnehin keine große Zukunft mehr; so bekam die Angelegenheit einen ganz anderen und wesentlich günstigeren Anstrich. Außerdem würde Arnolde nicht seine ganze Zeit hier verbringen müssen; er würde auch seinen Freund Ichabod in der anderen Epoche Mundanias besuchen und sogar nach Herzenslust forschen können. Das Regieren war wirklich eine große Kunst, und König Trent stellte sie voll und ganz unter Beweis.

»Ach ja, Eure Tochter«, sagte König Omen. »Ihr habt mir ja während der langen Tage unserer Gefangenschaft von ihr erzählt, doch das hielt ich für die liebevollen Übertreibungen eines Vaters. Jetzt meine ich, daß es angemessen wäre, wenn das Bündnis zwischen unseren beiden Königreichen auch durch eine symbolische Verbindung bekräftigt würde.«

Dors Herz setzte einen Schlag aus. König Omen war aber alles andere als zurückhaltend! Er schritt kühn auf alles zu, was er haben wollte – wie es einem König auch zukam. Dor bezweifelte, daß er selbst jemals so werden würde. Die Ironie an der Sache war vor allem, daß er König Omen hier nicht entgegentreten konnte; er mochte den Mann und verdankte ihm sein Leben, und Irene mochte ihn auch und war von der ganzen Vorstellung vermutlich entzückt. Außerdem leuchtete eine solche Verbindung durchaus ein, sowohl politisch als auch persönlich. Wenn es auch seine Vorteile haben mochte, Thronanwärter zu sein, so gab es dabei aber auch erhebliche Nachteile. Dor mußte sich allem fügen, was das Beste war. Aber es ging ihm gehörig gegen den Strich.

König Trent wandte sich an Irene. »Wie siehst du das? Du verstehst doch wohl, was das bedeutet?«

»O ja, das verstehe ich«, sagte Irene und errötete verlockend. »Es leuchtet durchaus ein. Und ich fühle mich auch sehr geschmeichelt. Aber es gibt da noch zwei oder drei kleine Haken. Ich bin noch sehr jung…«

»Das wird die Zeit schon beheben«, meinte König Omen. Es war offensichtlich, daß ihn ihre Jugend nicht eben abstieß, genausowenig wie die Jugend der Hure König Oary abgestoßen hatte. »Tatsächlich ist, daß die Frauen hier in Onesti so schnell altern, daß es das Beste ist, sie so früh wie möglich zu packen, während sie noch anziehend sind.«

Irene hielt inne, als denke sie diesen Gedanken zu Ende. In Xanth blieben die Frauen mit Hilfe kleinerer magischer Tricks sehr lange anziehend. »Und dann würde es mir auch sehr schwerfallen, mich an ein Leben ohne Magie zu gewöhnen…«, fuhr sie nach einer kurzen Pause fort.

»Eine Königin bedarf keiner Magie!« sagte König Omen eindringlich. »Sie hat schließlich Macht. Sie herrscht über das gesamte Küchenpersonal.«

Wieder machte Irene eine Pause. »So viel Macht!« murmelte sie. Es war offensichtlich, daß die Gesellschaft Onestis von Männern beherrscht wurde, während die Geschlechter in Xanth einigermaßen gleichberechtigt waren, wenn man von der einzigen Regel absah, daß eine Frau nicht König werden konnte.

Dor stellte sich vor, wie er den Rest seines Lebens in Mundania leben müßte, ohne seine eigene Magie einsetzen oder an der Magie anderer teilhaben zu können. Die Vorstellung stieß ihn ab. Er bezweifelte aber auch, daß Irene das allzulange würde aushalten können.

»Und schließlich liebe ich einen anderen«, schloß Irene.

»Aber die Liebe des Mädchens hat doch überhaupt nichts damit zu tun!« protestierte König Omen. »Das hier ist schließlich eine Staatsangelegenheit.« Und er ließ seinen Blick über ihre Beine schweifen.

König Trent überlegte. »In Xanth werden derlei Dinge zwar etwas anders gehandhabt, aber internationale Beziehungen verlangen natürlich nach Kompromissen. Wenn Ihr meine Tochter wirklich haben wollt…«

»Vater!« sagte Irene warnend.

»Nun bring deinen Vater nicht in Verlegenheit!« sagte Königin Iris. Irene reagierte mit einem rebellischen Stirnrunzeln, das sie jedoch schnell wieder verbarg. Es war das alte Syndrom: Wenn ihre Mutter sie zu etwas zwingen wollte, tat Irene unter Garantie das genaue Gegenteil davon. Dors heimliche Verbündete hatte wieder zugeschlagen! Gesegnet sei die Königin!

König Trent ließ seinen Blick über alle Beteiligten schweifen, als letztes zur Königin, die unmerklich nickte. »Allerdings ist es ja wohl so, daß in manchen Kulturen der, wie soll ich es ausdrücken, unschuldige Zustand…«

»Jungfräulichkeit«, sagte Irene deutlich.

»Aber wir haben doch gar nicht…«, fing Dor an, bis sie ihm schließlich auf die Zehen stampfte.

König Omen bemerkte die Bewegung. »Ach so, ich wußte ja nicht, daß Ihr es seid, den sie liebt, Blutsbruder! Ihr seid unter größten Risiken hierhergekommen, um mir dabei zu helfen, meinen Thron wiederzuerlangen. Da kann ich natürlich nicht…«

»Und doch wäre eine Verbindung höchst angebracht«, meinte König Trent nachdenklich.

»Vater!« wiederholte Irene in scharfem Ton. Königin Iris lächelte ihre Tochter etwas gehässig an. Es war seltsam, dachte Dor, wie ihm genau jene Verhaltensweise der Königin, die ihn in der Vergangenheit immer gestört hatten, plötzlich Freude bereiteten. Jetzt würde Irene niemals bei König Omen bleiben.

»Allerdings gibt es da diesen Punkt der Unschuld«, sagte König Omen. »Eine Königin muß über alle Zweifel erhaben sein…«

»Besitzt Ihr zufällig eine Schwester, König Omen?« fragte König Trent. Dor erkannte den Tonfall: Trent wußte die Antwort auf diese Frage bereits. »Vielleicht könnte Dor ja…«

»Was?« kreischte Irene.

»Nein, keine Schwester«, sagte Omen, der offensichtlich etwas vergrätzt war.

»Schade. Vielleicht eine symbolische Geste«, sagte König Trent. »Wenn Prinz Dor vielleicht König Omen etwas von Wert gibt oder ihm solches bereits gegeben haben sollte…«

»Ja«, meinte Irene.

»Eine Schande!« sagte Königin Iris und blitzte Dor an, wobei ein leises, kaum merkliches Zucken ihre Lippen umspielte.

»Aber…«, fing Dor an, der kein falsches Geständnis ablegen mochte.

»Dann könnte irgendeine Art von Gegenleistung genügen«, entschied König Trent. »Wir könnten es ja ein Geschenk nennen, um den Schein zu wahren…«

»Der Mitternachtssonnenstein!« rief Dor. Schließlich war es jetzt ja auch ungefähr Mitternacht. Ohne abzuwarten, bis König Trent die Angelegenheit noch weiterführte, holte Dor ihn aus der Tasche. »König Omen, als Zeichen der Freundschaft zwischen dem Königreich Xanth und dem Königreich Onesti und als Anerkennung der kühnen Tat, mit der Ihr mein Leben gerettet habt, möchte ich mir die Freiheit herausnehmen, Euch diesen seltensten aller Edelsteine zu überreichen. Bedenkt bitte, daß er in Gegenwart von Magie aufleuchtet – jedoch seinen Glanz verliert, sobald es an Magie fehlt. Auf diese Weise werdet Ihr es immer wissen, wenn es in Eurer Umgebung Magie gibt.« Er reichte König Omen den Stein, der damit aus dem magischen Feld trat und dann wieder zu ihnen hereinkam, fasziniert vom Aufleuchten und Verblassen des Steins.

»O ja«, sagte König Omen. »Diesen Stein werde ich in meine Krone fassen lassen, als kostbarsten aller meiner Schätze.«

Doch jetzt war Irene wütend. »Ich lasse mich nicht für einen Stein kaufen!« rief sie.

»Aber…« Hilflos trat Dor auf sie zu. Jetzt, da er glaubte, alles sei wieder zurechtgerückt, fielen die Teile schon wieder auseinander.

»Rühr mich nicht an, du Sklavenhändler!« fauchte sie und wich zurück.

»Ich glaube, ich kann zufrieden sein«, murmelte König Omen lächelnd.

Dor wollte nicht hinter ihr herjagen. Das wäre höchst unwürdig und der Situation alles andere als angemessen gewesen. Außerdem konnte er nicht schnell gehen, denn seine frische Wunde behinderte ihn. Und doch befand er sich in gewissem Sinne auf einer Bühne: Er konnte es nicht zulassen, daß sie ihn jetzt verließ.

Da fiel ihm der Zehner ein. Jetzt hatte er doch eine Verwendung dafür! Er fummelte ihn mühsam aus der Tasche und warf ihn ihr vor die Füße.

Irene blieb abrupt stehen und wirbelte ihre Arme wie Windmühlenflügel umher. »Was…«, fragte sie.

Da fing Dor sie auf und nahm sie in seine Arme.

»Der Zehner!« rief sie. »Du hast mich mit einem Zehner zum Stehen gebracht! Das ist geschummelt!«

Dor küßte sie – und stellte fest, daß sie erstaunlich entgegenkommend war.

Doch noch während er sie küßte fiel ihm auf, daß Arnolde in die entgegengesetzte Richtung blickte. Irene hatte sich außerhalb des magischen Durchgangs befunden, als der Zehner sie gebremst hatte. »Aber…«, begann er, und seine Knie wurden weich.

Sie biß ihn sanft ins Ohr. »Hat die Gorgone den Magier Humfrey etwa aufgegeben?«

Dor lachte, ein wenig nervös. »Nie.«

»Und wieder wurde im Licht des Mitternachtssonnensteins eine abscheuliche Tat vollbracht«, kommentierte Grundy. Dor mußte Irene entzückend festhalten, damit sie dem Golem keinen Tritt verpassen konnte.

 

ENDE