11
Der gute Omen

»Jetzt sind wir zwar am Ziel«, sagte Dor schließlich und löste sich widerwillig aus Irenes Umarmung, »aber unsere Mission haben wir noch nicht zu Ende geführt. Ich glaube, daß König Trent und Königin Iris hierhergekommen sind. Ich meine, das hätte mir auch der Tisch erzählt, kurz bevor ich von König Oarys Droge bewußtlos wurde. Aber das könnte ich auch geträumt haben; die Erinnerung daran ist ziemlich unscharf. Haben wir sonst irgendwelche stichhaltigen Beweise?«

»Abgesehen von dem Mann, der die Sprache Xanths spricht?« fragte Grundy.

»Das heißt nichts«, warf Irene ein. »Das beweist lediglich, daß er Kontakt mit dem xanthischen Kundschafter hatte, aber nicht, daß König Trent tatsächlich hierhergekommen ist. Wir müssen sichergehen.«

»Mein Beweis ist ziemlich indirekter Art«, meinte Arnolde. »Es sieht so aus, als hätten die Stallknechte Schwierigkeiten gehabt, mich als ein intelligentes Lebewesen anzusehen, so daß sie sich in meiner Gegenwart etwas freier äußerten, als sie es sonst vielleicht getan hätten. Ich habe mich geweigert, mit ihnen auch nur ein Wort zu wechseln. Ich gebe zu, daß man dies für einen Anfall von Pikiertheit halten könnte…«

»Schick – Pik!« kicherte Krach.

»Und deshalb haben sie auch nicht gemerkt, daß die Magie, die Euch umgab, ihre Sprache für Euch verständlich machte«, ergänzte Dor erfreut. »Weil wir uns mit ihnen nur über einen Dolmetscher unterhalten konnten, haben sie natürlich von Euch das gleiche gedacht. Nimmt man hinzu, daß sie Euch für ein Tier hielten…«

»Ganz genau. Meine Pikiertheit könnte glückliche Folgen gehabt haben. Jedenfalls hörte ich auf diese Weise einige Dinge, die vielleicht nicht ganz für meine Ohren bestimmt waren.« Er lächelte. »In einem Fall war das ganz wortwörtlich so. Offenbar hat einer der Köche eine Liaison mit einem Küchenmädchen…« Er schnitt eine Grimasse. »Direkt neben meinem Stall! Es war recht lehrreich, es sind lustbetonte Leute. Nun, einmal war jedenfalls die Rede von einem gewissen fremden König, der, so scheint es, behauptet habe, er könne Magie vollführen.«

»König Trent!« rief Dor. »Dann hat mich mein Gedächtnis doch nicht getäuscht! Der Tisch hat also tatsächlich gesagt, daß König Trent hier war!«

»Ich glaube, wir haben es alle schon immer gewußt«, meinte Irene und erinnerte sich finster an die Falle, in die sie an diesem Tisch gelaufen waren.

»Der Dolmetscher wußte etwas über die Magie Xanths«, fuhr Dor fort, »aber natürlich konnte niemand hier in Mundania Magie ausüben, bevor wir Euch entdeckt haben, Arnolde. König Trent hat wahrscheinlich gesagt, daß er Magie in Xanth ausüben kann, und dieser Zusatz wurde beim Dolmetschen vermutlich vergessen.«

»Bestimmt«, pflichtete ihm der Zentaur bei. »Offenbar hatte König Oary mit Magie gerechnet, die seine Macht vergrößern würde, und da war er äußerst wütend, als diese Magie sich nicht offen zeigte. Deshalb hat er den fremden König gefangengenommen und eingesperrt, in der Hoffnung, ihn dazu zwingen zu können, für ihn seine Magie unter Beweis zu stellen oder ihm gar das Geheimnis seiner Macht preiszugeben.«

»Aber wo?« fragte Irene. »Wo ist mein Vater?«

»Ich bedaure, daß ich nicht mehr gehört habe als das, was ich Euch berichtet habe. Der fremde König wurde nicht beim Namen genannt. Ich glaube auch nicht, daß die Stallknechte wissen, wer er ist, oder daß sie an seine Fähigkeiten glauben oder auch nur wissen, wo man ihn gefangenhält. Sie klatschen einfach nur darüber. Krachs anfänglich gezeigte Magie und die Art und Weise, wie wir uns mit König Oary unterhalten konnten, hat die Gemüter in der Burg erheblich erregt, ja sogar das gesamte Königreich Onesti, was den Klatsch über ähnliche Fälle erklärt. Aber diese Erregung und das lebhafte Interesse haben bereits nachgelassen, da beides für die Mundanier im nachhinein als Illusion oder falsche Erinnerung erscheint, womit sie häufig Dinge wegrationalisieren, wenn sich ihnen keine praktikable Erklärung für unerklärliche Vorfälle anbietet.« Er lächelte grimmig. »Ich wage anzunehmen, daß nun eine neue Runde der Spekulation eingeleitet wurde, wenn man die Ereignisse der letzten Stunde bedenkt. Euer Greifer, Irene, war äußerst beeindruckend.«

»Das kann man wohl sagen!« meinte Grundy. »Der hat die Leute rechts und links nur so gepackt und den Stall auseinandergerissen. Aber als Arnolde wegging, ist er leider in sich zusammengesackt.«

»Magische Pflanzen können nun einmal nicht ohne Magie leben, du Doofkopp!« sagte Irene.

»Zum Glück«, warf Arnolde ein. »Gelegentlich hat er nach mir gegriffen, da bin ich ihm ausgewichen und habe ihn der Magie beraubt; schließlich hat er damit aufgehört. Nach einer Weile hat er davon abgesehen, mich zu belästigen.«

»Nicht mal ein Greifer ist völlig dumm!« sagte Irene lachend.

»Wenigstens wissen wir jetzt mehr«, warf Dor ein. »Wir können mit ziemlicher Sicherheit davon ausgehen, daß König Oary König Trent und Königin Iris eingesperrt hat und daß sie noch leben. Oarys Erlebnis mit uns muß ihn davon überzeugt haben, daß jeder, der aus Xanth kommt, tatsächlich, wie er ja auch anfangs schon glaubte, verborgene Magie mit sich trägt und diese vor ihm geheimhält. Wahrscheinlich wollte er uns mit Gewalt zwingen, ihm das Geheimnis der Magie zu erklären, damit er sie entweder auch betreiben oder uns andere zumindest dazu zwingen konnte, sie in seinem Dienste einzusetzten.«

»König Oary scheint mir ein ziemlich gerissenes Schlitzohr zu sein«, meinte Irene. »Übel, aber schlau.«

»Das meine ich auch«, stimmte Arnolde ihr zu. »Meiner Beobachtung zufolge regiert er dieses Königreich einigermaßen zufriedenstellend, ist aber dabei völlig skrupellos. Vielleicht bedarf es solcher Eigenschaften, um das wacklige Gleichgewicht der Unabhängigkeit von den großen Reichen, die das seinige umringen, aufrechtzuhalten.«

»Wir müssen immer noch feststellen, wo sich König Trent befindet«, wandte Dor ein. »Arnolde, habt ihr sonst noch irgend etwas gehört, das auch nur ein entfernter Hinweis sein könnte?«

»Da bin ich mir nicht sicher, Dor. Es wurde ein König Omen erwähnt, König Oarys Vorgänger, der verschwunden ist. Es sieht danach aus, als hätte ihn das einfache Volk geschätzt und es bedauert, ihn zu verlieren.«

»König war der?« fragte Dor. »Ich dachte, er sei minderjährig gewesen, so daß Oary die Regentschaft übernahm und Omen niemals König geworden ist?«

»Offenbar war er wohl doch König, und zwar etwa ein Jahr lang, bevor er plötzlich verschwand«, sagte der Zentaur. »Sie nannten ihn den guten Omen und glauben noch heute, daß das Königreich Onesti unter seiner Herrschaft gediehen wäre.«

»Das wäre es bestimmt.« Dor begriff, daß König Oary ein Interesse daran haben mußte, die Vorzüge König Omens herabzuwürdigen, um seine eigene Stellung zu sichern. Wenn das Königreich Onesti jetzt gut funktionierte, konnte dies durchaus zum überwiegenden Teil König Omens Verdienst gewesen sein. »Ein Handelsabkommen mit Xanth könnte beiden Königreichen Nutzen bringen. Vielleicht hat König Omen das in die Wege leiten wollen und wurde abgesetzt, bevor König Trent hier eintraf. König Oarys Gier hat ihn dieser Möglichkeit beraubt.«

»Die Bauern argwöhnen, daß König Omen beiseite geschafft wurde«, fuhr der Zentaur fort. »Manche glauben noch heute, daß er immer noch am Leben ist und von König Oary eingesperrt wurde, damit dieser die Macht an sich reißen konnte. Das kann natürlich reines Wunschdenken sein…«

»… könnte aber auch der Wahrheit entsprechen«, unterbrach ihn Irene. »Wenn König Oary uns getäuscht und eingesperrt und dasselbe mit meinen Eltern getan hat, warum sollte er da mit König Omen nicht ähnlich verfahren sein? Es paßt jedenfalls gut ins Bild.«

»Wir erlauben uns hier eine Menge Spekulationen«, warnte Arnolde. »Das könnte uns noch einige Enttäuschungen bescheren. Doch wenn ich den Faden einmal fortspinnen darf: Mir erscheint es einleuchtend, daß König Trent und König Omen, sofern sie beide Oarys Anschläge überlebt haben sollten, gemeinsam gefangengehalten werden dürften. Wir haben bereits festgestellt, daß der Kerker von Burg Onesti nicht sonderlich groß ist. Wenn es eine weitere Burg gibt, und wir dort den einen Gefangenen ausfindig machen…«

»… dann haben wir auch sofort die anderen!« beendete Irene seinen Gedankengang. »Und wenn wir sie beide retten, wird der gute Omen wieder König von Onesti, und alles ist wieder in Ordnung. Ich hätte gute Lust, diesen widerlichen König Oary beiseite zu schaffen!«

»Das war die Extrapolation meiner Hypothese«, stimmte Arnolde ihr zu. »Aber ich muß es aufs neue betonen: All dies ist in hohem Maße spekulativ.«

»Aber einen Versuch wert«, meinte Dor. »Dann wollen wir jetzt unsere Taktik planen. Wahrscheinlich weiß nur König Oary genau, wo König Trent und/ oder König Omen gefangengehalten werden, und der wird es wohl kaum verraten. Ich könnte zwar die Steine der Burg ausfragen, aber die Könige befinden sich wahrscheinlich überhaupt nicht hier, und über andere Gefängnisse werden die Steine auch nichts wissen. Wenn nicht einmal die Bauern am Ort davon wissen, dann weiß es wahrscheinlich niemand sonst. Also stellt sich die Frage, wie wir ihn dazu bringen, es uns zu verraten?«

»Er müßte eigentlich ein schlechtes Gewissen haben«, meinte Irene. »Vielleicht könnten wir das ausnutzen.«

»Darauf möchte ich mich lieber nicht verlassen«, widersprach Dor ihr. »Ich bin mal in einem anderen Abenteuer bösen Leuten und Wesen begegnet, und ich glaube kaum, daß denen ihr schlechtes Gewissen viel zu schaffen gemacht hat, denn sie waren überhaupt nicht der Meinung, etwas Böses getan zu haben. Kobolde und Harpyien…«

»Natürlich haben die kein Gewissen«, knurrte Irene. »Aber Oary ist ein Mensch.«

»Die Menschen können sogar die schlimmsten sein, besonders die Mundanier«, sagte Dor. »Viele von ihnen haben Xanth im Laufe der Jahrhunderte geplündert und gebrandschatzt, und König Oary könnte etwas Ähnliches im Schilde führen. Ich habe einfach kein großes Vertrauen darin, an sein Gewissen zu appellieren.«

»Ich verstehe Euren Einwand«, meldete sich Arnolde zu Wort. »Aber ich glaube, ›appellieren‹ ist nicht das richtige Wort in diesem Zusammenhang. Ein schlechtes Gewissen manifestiert sich typischerweise viel eher in der Wahrnehmung nächtlicher Erscheinungen…«

»Hier, so weit ab von Xanth, laufen aber nicht besonders viele Erscheinungen herum«, wandte Grundy ein.

»Wir könnten ihn so erschrecken, daß er sein Geheimnis preisgibt!« rief Irene.

»Heute nacht«, entschied Dor. »Wir müssen uns erst ausruhen und etwas essen – und uns vor Oarys Truppen versteckt halten.«

Sich vor den Truppen versteckt zu halten erwies sich als leicht. Die Gegner brauchten eine ganze Weile, bis sie sich von dem Ausbruch und dem Chaos, das Krach dabei angerichtet hatte, erholten und gesammelt hatten. Erst jetzt, nachdem Dor und seine Gruppe sich ausgiebig beratschlagt hatten, zeigte sich Bewegung auf der Burg. Irene ließ dornenbewehrte Schlingpflanzen wachsen, die schon in ihrem natürlichen Zustand recht lästig gewesen waren, nun aber zu einer echten Gefahr wurden. Als die Magie aus ihrer Umgebung verschwand, starben die Schlingpflanzen zwar, hinterließen aber immerhin ein stattliches Dornengestrüpp. Dies, zusammen mit dem Wissen der Mundanier, daß der Oger im Wald lauerte, ließ die Wachen dicht an der Burg bleiben, selbst dann, als sie vor die Mauern getreten waren. Sie waren nicht sonderlich begierig darauf, das Wesen zu treffen, das all die Löcher und Breschen in ihre massiven Mauern gehauen hatte.

Als die Nacht anbrach und sie gut ausgeruht waren, begann Dors Trupp mit dem Spiel. Grundy hatte die Burg ausgekundschaftet, so daß sie wußten, wo sich die königlichen Gemächer befanden. König Oary war verheiratet, schlief aber allein; seine Frau konnte ihn nicht ertragen. Er aß gut und trank reichlich, was ihm die richtige Bettschwere gab.

Sie hatten eine Plattform konstruiert, die Krach an die Außenmauer trug, welche dem königlichen Turm am nächsten lag; zufällig war dies auf der Waldseite. Arnolde stieg hinauf und brachte seinen magischen Durchgang nahe genug heran, daß der König davon bestrahlt wurde.

Irene hatte nützliche mundanische Samen gesucht und eine kleine Sammlung zusammengestellt. Nun pflanzte sie mehrere Efeusamen, die im Wirkungsbereich der Magie einige recht magische Eigenschaften entwickelten: Sie kletterten heftig die Mauer und die Plattform empor und fuhren mit ihren kleinen, ankergleichen Fasern in alles hinein, was ihnen Halt verlieh, so daß sie die Plattform schon nach kurzer Zeit fest an der Mauer verankert hatten. Arnolde mußte umhertänzeln, damit die Fasern sich nicht an seine Hufe klammerten, bis ihre Wachstumsperiode vorüber war. Die Pflanzen kletterten die Brüstung empor, die die Gemächer des Königs kennzeichnete, dann hielten sie inne, denn der magische Durchgang erstreckte sich weiter nach innen als in die Höhe.

Grundy kletterte an den stämmigen Schlingpflanzen zur Brüstung empor. Er krabbelte vor, bis er sich im Schutz einer schattigen Ecke befand, dann rief er mit leiser Stimme hinunter: »Ich kann zwar knapp hineinblicken, aber ich wage es nicht, nahe genug vorzutreten, um das ganze Zimmer erkennen zu können.«

»Sprich mit der Pflanze!« sagte Irene in ihrem Sei-bloß-nicht-blöd-Tonfall. Mit Dor sprach sie nicht mehr auf diese Weise, das war eine stumme Bestätigung der veränderten Lage, aber es war offensichtlich, daß sie sich ansonsten durchaus in Übung hielt.

»He, ja!« meinte der Golem. »Hier ist eine Schlinge, die hineinreicht.« Er hielt inne und sprach mit der Pflanze. »Sie sagt, Oary sei nicht allein. Er hat ein Flittchen bei sich im Bett.«

»Sieht ihm ähnlich«, knurrte Irene. »Männer wie der sind zu allem fähig.«

Dor fiel ein, daß dies der Grund dafür sein konnte, weshalb der Dolmetscher darauf beharrt hatte, Irene ständig als »Schlampe« und »Hure« zu bezeichnen. Das war eben genau die Sorte Frau, mit der König Oary sich normalerweise umgab. Doch Dor entschied sich, Irene nichts davon zu sagen; sie hatte bereits Gründe genug, Oary zu hassen.

Dor kletterte den Efeu empor und fand direkt unterhalb der Brüstung Halt. »Beschreib mir das Zimmer«, murmelte er Grundy zu. »Ich muß genau wissen, was drin steht und wo.«

Der Golem besprach sich mit der Pflanze. »Rechts ist das große Federbett, zwei von deinen Schritten von dieser Mauer entfernt. Dann eine Holzbank, die von der Brüstung direkt ins Zimmer ragt, sechs Schritte, auf der ihr Kleid liegt. Ein Holztisch zur Linken, ein Schritt – und da liegen dein Schwert und Arnoldes Zauberbeutel drauf.«

»Ha!« machte Dor leise. »Das Schwert brauche ich. Schade, daß es nicht zu der Sorte gehört, die selbsttätig kämpft, sonst könnte ich es sofort zu mir rufen.«

Der Golem fuhr fort, den Raum zu beschreiben, bis Dor sich alle Einzelheiten genau eingeprägt hatte. Nun konnte er sich das Zimmer bildlich vorstellen. »Ich hoffe nur, daß ich nicht plötzlich einen Gedankenblock bekomme«, rief er nach unten.

»Bloß nicht!« fauchte Irene. »Wenn du schon Mist bauen mußt, dann ein andermal. Muß ich erst nach oben kommen, um dir Stichworte zu geben?«

»Das wäre wohl eine Hilfe«, gestand Dor. »Weißt du, ich kann keine Gegenstände bestimmte Dinge sagen lassen. Sie antworten immer nur auf Fragen oder auf das, was ich ihnen sage. Meistens, jedenfalls. Und unbelebte Gegenstände sind nicht allzu schlau und manchmal ziemlich pervers. Deshalb kann es durchaus sein, daß ich die Sache tatsächlich verhunze.«

»Um Himmels willen!« Irene packte die Schlingpflanzen und machte sich an den Aufstieg. »Und schiel mir bloß nicht unter den Rock!« sagte sie zu Arnolde.

»Daran würde ich nicht einmal im Traum denken«, erwiderte der Zentaur freundlich. »Ich ziehe es vor, mir pferdische Gliedmaßen anzusehen, und außerdem habe ich nie Geschmack an rosa Höschen entwickeln können.«

»Es ist nicht rosa!« sagte sie.

»Nicht? Dann bin ich wohl farbenblind. Mal sehen…«

»Vergiß es!« Sie kletterte auf Dor zu, gab ihm einen hastigen Kuß, strich sich den Rock wieder glatt über die Beine und machte es sich bequem. Dor hatte sich schon Sorgen wegen der Belastbarkeit der Schlingpflanzen gemacht, doch dann war ihm klargeworden, daß Irene dies wohl besser beurteilen konnte als er.

»Na los, fang an«, flüsterte sie.

»Aber wenn ich so laut sprechen muß, daß die Gegenstände mich verstehen, wird mich König Oary doch auch hören!«

Sie seufzte. »Manchmal bist du wirklich reichlich blöde, mein Lieber! Du brauchst doch gar nicht laut mit ihnen zu reden, du richtest einfach nur deine Aufmerksamkeit auf sie. So funktioniert doch deine Magie. Und was König Oary angeht – wenn diese Mieze, die bei ihm ist, etwas von ihrem Geschäft versteht, wird er wohl kaum darauf achten, was draußen vor der Burg passiert.«

Sie hatte recht. Dor konzentrierte sich, doch er bekam immer noch nicht alles so recht zusammen. Er war es nur gewohnt, laut mit Gegenständen zu reden. »Ist es wirklich nicht rosa?« fragte er plötzlich wie aus heiterem Himmel.

»Was?«

»Deine… dein… du weißt schon.«

Sie lachte. »Mein Höschen? Willst du damit sagen, daß du nie hingeguckt hast?«

Verlegen gestand Dor, daß er es tatsächlich nicht getan hatte.

»Jetzt darfst du aber, wie du weißt.«

»Ja, aber als ich konnte, durfte ich nicht.«

Sie löste eine Hand vom Efeu und beugte sich vor, um ihm sanft in die Wange zu kneifen, ganz wie es auch die Gorgone getan hatte. »Du bist wirklich etwas Seltenes und Besonderes, Dor. Na gut, wenn du diese Sache hier richtig erledigst, zeig ich’s dir.«

»Wollt ihr nicht endlich anfangen?« brummte Grundy über ihren Köpfen.

»Aber sie sagt, erst nach dieser Sache«, wandte Dor ein.

»Genau die Sache meinte ich auch!« fauchte der Golem. »Sonst sage ich dir nämlich, welche Farbe ihr…«

»Ich mach’ dir einen Knoten in den Bauch.« drohte Irene, und der Golem verstummte.

Davon angespornt, konzentrierte sich Dor auf das magische Schwert, das auf dem Tisch des Königs lag. Stöhne, befahl er ihm geistig.

Gehorsam begann das Schwert zu stöhnen. Natürlich mußte es die Sache gleich übertreiben: »Stö-hö-hö-hö-hööööööön!« sang es in einer schauderhaften Tonlage.

»Die Hure ist gerade emporgeschossen«, meldete Grundy hämisch, als die Schlingpflanze ihm raschelnd die Nachricht übermittelt hatte. »Oh, das hätte sie lieber nicht tun sollen. Sie ist splitternackt, völlig nackt!«

»Erspar uns die Pornographie, du kleiner Voyeur!« schnappte Irene. »Wir wollen schließlich den König aufbringen.« Sie verpaßte Dor einen Knuff in die Seite. »Du weißt doch, was wir für einen Text entworfen haben: ›Laß mich frei, laß mich frei.‹«

Dor konzentrierte sich aufs neue. Schwert, ich habe da ein Spiel für dich. Wenn du richtig mitspielst, dann kannst du König Oary so erschrecken, daß ihm die Hosen am Leibe schlottern.

»He, großartige Idee!« rief das Schwert. »Nur, daß er gar keine mehr an hat. Mann, ist der fett!«

Nein, nicht, sprich nicht mit mir, sondern mit dem König! Stöhn noch mal und sag: »Laß mich frei, laß mich frei!« Es geht darum, daß du den Geist von König Omen spielen sollst, der zurückgekehrt ist, um ihn heimzusuchen. Kannst du das, oder bist du dafür zu blöd?

»Ich zeig’s dir!« rief das Schwert. Es stöhnte erneut, diesmal mit entsetzlich viel Gefühl. Es war ganz eindeutig ein Schmierenkomödiant.

»Da ist jemand!« kreischte die Hure.

»Kann gar nicht sein«, brummte der König. »Die Wachen halten jeden auf, der hier herein will. Die wissen genau, daß ich bei der Erledigung von Staatsgeschäften nicht gestört werden will.«

»Staatsgeschäfte!« zischte Irene empört.

»Laß mich frei, laß mich frei«, stöhnte das Schwert enthusiastisch.

»Und wer ist das dann?« wollte die Hure wissen und versteckte sich unter den Federn.

»Ich bin der Geiiiiiist vom guhuhuhuhten König Ooooooomen«, antwortete das Schwert. Dor brauchte ihm wohl doch keine Anweisungen mehr zu geben.

Die Hure stieß einen halberstickten Schrei aus und verschwand vollends unter den Federn, wie Grundy erfreut und hämisch meldete. Der König packte einen Teil vom Federbett, so daß die Hure wieder teilweise zum Vorschein kam – zu ihrem großen Entsetzen.

»Das kannst du gar nicht sein!« erwiderte König Oary irritiert und versuchte festzustellen, woher die Stimme kam. Die einzelne Kerze, die im Raum flackerte, warf viele zitternde Schatten an die Wand, wie die Pflanze meldete, so daß es ein schwieriges Unterfangen war.

»Ich komme aus dem Graaaaaaaab um dich heimzusuuuuuchen!« fuhr das Schwert fort, das sich für seine Rolle zu erwärmen begann.

»Unmöglich!« Doch Grundy berichtete, daß der König nervös aussah.

»Der ist zäh!« murmelte Irene. »Eigentlich sollte er völlig verstört sein. Statt dessen macht er sich bloß Sorgen. Die einzige, die wir verschrecken, ist die Hure, und die zählt nicht. Mädchen können wirklich dämliche Geschöpfe sein!« Dann dachte sie kurz nach. »Wenn sie wollen.«

Dor nickte, er war selbst besorgt. Wenn diese List nicht klappen sollte…

»Duuhuhuhuhu hast mich umgebracht!« sagte das Schwert.

»Hab’ ich nicht!« schrie Oary. »Ich habe dich nur eingesperrt, bis ich genau weiß, was ich mit dir machen soll. Ich habe dich niemals umgebracht.«

Nun kam das Gesicht der Hure wieder zum Vorschein und verdrängte den etwas runden Körperteil, der zuvor zu sehen gewesen war. »Du hast den guten Omen eingesperrt?« fragte sie erstaunt.

»Ich mußte es tun, sonst wäre ich nie auf den Thron gekommen«, sagte der König gedankenverloren. »Ich dachte, er würde als König versagen, aber das hat er nicht, und da blieb mir nichts anderes übrig.« Während er sprach, hievte er seinen Schweinebauch aus dem Bett, warf sich die Federdecke über und machte sich daran, sich an die Stimme anzuschleichen. »Aber getötet habe ich ihn nicht. Dazu bin ich viel zu vorsichtig. Das kann man nicht mehr so leicht rückgängig machen, falls irgend etwas schiefgehen sollte. Also kann das hier auch nicht sein Gespenst sein.«

»Wessen Gespenst ist es denn dann?« wollte die Hure wissen.

»Gar keins«, erwiderte der König. »Es ist niemand da.« Er nahm das Schwert auf. »Nur dieses Schwert, das ich dem xanthischen Prinzen abgenommen habe. Ich dachte, es wäre ein magisches Schwert, ist es aber nicht. Ich hab’s ausprobiert, aber es ist nichts Besonderes daran, nur daß es eine scharfe Klinge besitzt.«

»Das stimmt überhaupt nicht!« protestierte das Schwert. »Laß ab von mir, Schuft!«

Endlich verlor der König die Nerven und schleuderte es aus dem Fenster. »Das Ding spricht ja!« rief er.

»Na ja, so kann man seine Waffe natürlich auch wiederbekommen«, murmelte Dor.

»Versuch’s mal mit meinem Samenbeutel«, schlug Irene vor. »Mit echten magischen Pflanzen kann ich eine Menge machen.«

Grundy hatte den Beutel ausgemacht, den man achtlos in eine Ecke geschleudert hatte. Oary war zweifellos höchst enttäuscht gewesen, als er feststellen mußte, daß der Beutel keinen Schatz enthielt, obwohl ihm das Gold und die Diamanten, die Dor mit sich geführt hatte, eigentlich eine Menge Freude hätten bereiten müssen. Aber Gier kannte eben keine Grenzen! »So wirst du mich nicht los!« sagte der Samenbeutel, von Dor dazu angehalten. »Mein Geist wird dich ewig heimsuchen!«

»Ich sag’ dir doch, daß ich dich nicht umgebracht habe!« widersprach Oary und hielt nach der zweiten Stimme Ausschau, die ziemlich sämig klang. »Das erfindest du einfach.«

»Na ja, ich bin ja so gut wie tot«, meinte der Samenbeutel. »Allein hier eingesperrt zu sein – entsetzlich ist das.«

»Was willst du damit sagen – allein?« fragte Oary. »Der König von Xanth ist in der Nachbarzelle und daneben die xanthische Königin mit der spitzen Zunge. Die wollten wissen, was mit dir passiert ist und wollten nicht mit mir verhandeln. Na ja, jetzt wissen Sie’s wenigstens.«

Irenes freie Hand krallte sich in Dors Schulter. »Jetzt wissen wir’s genau!« flüsterte sie aufgeregt.

Dor war auch sehr zufrieden. Die sprechenden Gegenstände hatten König Oary zwar kaum erschreckt, aber immerhin hatten sie ihm ein Geständnis entlocken können.

Dor konzentrierte sich weiter. Aber du bist weit draußen im Nirgendwo, dachte er den Beutel an.

»Aber ich bin weit draußen im Nirgendwo«, wiederholte der Beutel pflichtschuldig. Dor bekam langsam mehr Übung und wurde immer besser. Noch nie hatte er sein Talent auf diese Weise eingesetzt; das war ein völlig neuer Aspekt.

»Nirgendwo?« Der König stürzte sich auf den Beutel und schüttelte ihn. »Ihr seid im Kerker von Ocna! In der zweitgrößten Burg des Königreichs! Mit viel Gesellschaft! Ich wäre stolz darauf, selbst in diesem Kerker einsitzen zu dürfen! Raus mit dir, du undankbares Biest!« Und er schleuderte ihn durch die Fensteröffnung.

»Was?« fragte die Hure. Offensichtlich hatte sie nur die letzten Worte verstanden.

»Raus mit dir, du undankbares Biest!« wiederholte der Tisch hilfsbereit. »Das hat er gesagt.«

»Also so etwas! Noch nie habe ich…«, begann die Hure und lief rot an vor Zorn.

»Erzähl mir bloß nicht, daß du niemals!« warf die Federdecke ein, die sie immer noch umklammerte. »Ich war doch dabei, also du…«

Die Hure verpaßte der Federdecke einen Hieb, der sie verstummen ließ, dann wickelte sie sie um sich und stakte hinaus. »Hilfe!« schrie die Decke. »Ich werde von einem Ungeheuer entführt!« Da hatte sie auch schon den Wirkungsbereich des magischen Durchgangs verlassen und sagte nichts mehr.

»Wachen!« bellte der König. »Durchsucht das Gelände! Meldet mir sofort alle auffälligen Vorkommnisse!«

Aus dem Gang ertönte ein schriller Schrei, dann war eine Ohrfeige zu hören. »Gelände hat er gesagt, nicht Geliebte!« schrie die Hure.

Nun war ein kehliges Lachen zu hören. »Aber etwas Auffälliges hätten wir schon zu berichten!«

»Das kennt er schon!« gab sie zurück. Dann verloren sich ihre Schritte in der Ferne.

Wächter stürzten ins Zimmer. Schnell überzeugten sie sich davon, daß sich außer dem König niemand im Turm aufhielt. Da erspähten sie den Efeu, der ins Fenster hineingewachsen war. Sie untersuchten ihn – während Dor und Irene hastig die Mauer hinabkletterten. Grundy sprang über ihnen in die Tiefe und landete auf dem Rücken des Zentauren. »Abflug!« schrie er.

Arnolde sprang seinerseits von der Plattform und landete schwer auf dem dunklen Boden, um schließlich mit donnernden Hufen davonzugaloppieren. Sein Sprung erschütterte die Plattform derart heftig, daß die Schlingpflanzen, die sie an der Wand verankerten, herausgerissen wurden und Irene den Halt verlor, während Dor mit rutschenden Händen an seinem Efeu hing.

Doch unten wartete Krach der Oger. Er fing Irene noch in der Luft ab und wirbelte sie herum, um den Aufprall abzumildern. Ihr Rock flatterte in die Höhe – und nun sah Dor endlich ihr Höschen. Es war grün. Dann setzte Krach sie sanft auf den Boden, während Dor, zitternd vor Erleichterung, hinabrutschte. »Ich bin froh, daß du hier bist!« keuchte Dor.

»Ich froh, daß Zentaur noch nahe war«, sagte Krach. »Jetzt ist er weg.«

»Da draußen ist jemand!« schrie König Oary von der Brüstung herab. »Ihm nach!« Doch die Wachen hatten kein Licht dabei und schienen davor zurückzuschrecken, einen magischen Gegner im Mondschein zu verfolgen.

»Du, Schwert«, sagte Krach und drückte es Dor in die Hand. »Du, Samen«, sagte er zu Irene und reichte ihr den Beutel, den er gerettet hatte.

»Danke, Krach«, sagte sie. »Und jetzt nichts wie weg von hier.«

Doch da öffnete sich ein kleines Tor in der Burgmauer, und die Soldaten stürzten mit Fackeln ins Freie. »Oary muß gemerkt haben, daß das unsere Magie war«, sagte Dor, während sie davonliefen.

Kurz darauf hatten sie den Zentauren eingeholt, der sofort stehengeblieben war, als er bemerkt hatte, was gespielt wurde. Dor spürte zwar keinen Unterschied als sie wieder in den magischen Durchgang eintraten, doch Krach hörte auf zu keuchen, und er gewann wieder seine alte Kraft zurück.

Hastig faßte Dor die Lage zusammen. »Wir sind zusammen; wir haben unsere magischen Gegenstände bei uns, mit Ausnahme von Arnoldes Zaubern, und wir wissen, daß König Trent, Königin Iris und König Omen leben und auf Burg Ocna gefangengehalten werden. Oarys Truppen sind uns auf der Spur. Wir sollten uns beeilen, die drei zu befreien, bevor uns die Soldaten eingeholt haben. Aber wir kennen den Weg nicht.«

»Jede Pflanze und jeder Stein hier muß den Weg nach Ocna kennen«, meinte Grundy. »Wir können sie unterwegs danach fragen.«

Die Wachen verteilten sich und machten sich daran, den Wald zu durchkämmen. Was immer König Oary an Tugenden fehlen mochte, auf jeden Fall verschaffte er sich Respekt und Gehorsam, wenn er ihn wirklich brauchte. Dors Gruppe mußte zurückweichen. Doch dabei gab es zwei Probleme: Erstens war der Waldabschnitt, in dem sie sich befanden, viel zu klein, um lange darin unbemerkt zu bleiben, und zweitens trieb man sie in die falsche Richtung. Denn es stellte sich heraus, daß Ocna einen halben Tagesmarsch nordwestlich von Onesti lag, während der Wald sich im Südosten befand. Sie bewegten sich statt dessen auf die Dorfsiedlung zu, in der die Bauern lebten, die die Burg versorgten. Im Laufe der Jahrhunderte würde dieses Dorf sich zur Stadt Onesti ausdehnen, deren Einzeichnung in der Karte ihnen den Hinweis gegeben hatte, wo König Trent zu suchen war. Da wollten sie sich nicht einmischen!

»Wir müssen einen Weg finden«, sagte Irene. »Wenn wir querfeldein marschieren, schaffen wir es heute nacht niemals bis Ocna. Aber die Pfade und Wege werden mit Sicherheit von Truppen bewacht.«

»Vielleicht gibt es ja einen magischen Samen dagegen«, meinte Grundy in fragendem Ton.

»Vielleicht«, erwiderte Irene. »Ein zweiter Greifer wäre schon ganz gut – nur daß ich keinen mehr habe. Ich habe zwar einen Kirschsamen…«

»Einen, aus dem Kirschbomben wachsen? Das wäre doch gut.«

»Nein«, widersprach Arnolde.

»Was ist denn los, Pferdeschwanz?« fragte der Golem gehässig. »Willst du dir deinen Rumpf lieber von Pfeilen verzieren lassen, als deine Feinde mit Kirschen zu bewerfen?«

»Wenn man einmal alle ethischen und ästhetischen Überlegungen beiseite schiebt – etwas, was ich nicht gutheißen kann –, so bleiben doch noch einige praktische Einwände«, erwiderte der Zentaur in seinem belehrenden Tonfall. »Zunächst einmal wollen wir keinen direkten Kampf. Wir wollen diesen Leuten entgehen, sofern es möglich ist, und sie mit einer fruchtlosen Suche aufhalten, während wir unangefochten nach Ocna marschieren. Wenn wir gegen sie kämpfen, werden unsere Kräfte auf unabsehbare Zeit gebunden, bis sie uns mit ihrer schieren Übermacht doch noch besiegen.«

»Das ist wahr«, pflichtete Dor ihm bei. Zentauren waren wirklich scharfsinnige Denker.

»Zweitens müssen wir in Bewegung bleiben, wenn wir Ocna noch vor Tagesanbruch erreichen wollen. Ein halber Tagesmarsch für ortskundige Wanderer bei Tageslicht – das bedeutet die doppelte Zeit für uns bei Nacht. Ein Kirschbaum kann nicht reisen, er muß im Boden wurzeln. Und da er magischer Natur ist…«

»Müssen wir in seiner Nähe bleiben«, beendete Irene seinen Satz. »Sobald wir ihn hinter uns lassen, wird er sterben. Magie nützt uns nur etwas vom magischen Durchgang heraus.«

»Allerdings«, fuhr der Zentaur nach einer kurzen Denkpause fort, »müßte es möglich sein, einen Samen keimen zu lassen, der sie ablenkt, selbst wenn die Pflanze tot ist. Besonders dann, wenn sie tot ist.«

»Kirschbomben funktionieren also nicht«, sagte Grundy.

»Die gibt es in Mundania nicht. Außerhalb des Durchgangs würden sie gar nicht explodieren.«

»Das weiß ich nicht«, meinte Irene. »Wenn sie erst einmal reif, und zwar detonationsreif, sind, müßten sie meiner Meinung nach eigentlich überall explodieren können. Jedenfalls wäre ich bereit, es auszuprobieren.«

»Möglich«, sagte der Zentaur. »Ich dachte jedoch eher an Auferstehungsfarn, der seine Wirkung auch nach seinem eigenen Tod nicht verlieren dürfte.«

»Davon habe ich welchen mit«, sagte Irene, »aber ich verstehe noch nicht, wie der die Soldaten aufhalten soll.«

»Primitive neigen dazu, abergläubisch zu sein«, erklärte der Zentaur. »Besonders Mundanier, soweit ich das verstehe, die vorgeben, nicht an Gespenster zu glauben.«

»Das ist doch lächerlich!« protestierte Dor. »Nur ein Narr würde nicht an Gespenster glauben! Einige meiner besten Freunde sind…«

»Ich glaube keineswegs, daß alle Mundanier Narren sind«, sagte Arnolde auf seine vorsichtige abwägende Art. »Aber diese hier sind vielleicht welche. Wenn die auf den Auferstehungsfarn treffen…«

»Für jemanden, der so was nicht kennt, könnte das ganz schön beeindruckend sein«, pflichtete Irene ihm bei.

»Und die Mundanier kennen ihn ganz bestimmt nicht. Ich gebe zu, daß das etwas von einer abscheulichen Tat an sich hat, aber unsere Lage ist ja auch recht verzweifelt.«

»Abscheuliche Tat«, wiederholte Dor. »Seid Ihr sicher, daß der Gegenzauber, den wir zusammen mit der Salbe aktiviert haben, auch gewirkt hat?«

Der Zentaur lächelte. »Und ob ich mir sicher bin! Wir müssen zwar keine solche Tat begehen, aber wir können es tun, wenn wir wollen.«

Irene holte einen Samen aus ihrem Beutel. »Ich kann ihn zwar wachsen lassen, aber Ihr müßt ihn anleiten. Eine falsche Anweisung, und er ist hin.«

»Diese Primitiven haben mit Sicherheit Verwandte verloren«, sagte der Zentaur. »Sie werden auch unterdrückte Triebe haben. Alles, was wir tun müssen, ist, Pseudo-Identitäten aufzubauen.«

»Ich habe noch nie mit einem Auferstehungsfarn getratscht«, murrte Grundy. »Was ist denn daran so Besonderes? Und was hat das mit verstorbenen Verwandten zu tun?«

»Suchen wir eine geeignete Stelle auf dem Weg«, sagte Arnolde. »Wir wollen die Mundanier einerseits aufhalten, andererseits wollen wir auf leichtem Weg nach Ocna gelangen. Sie werden uns verfolgen, wenn sie die Täuschung durchschaut haben.«

»Richtig«, sagte Irene. »Ich brauche Zeit, um den Farn so weit zu bringen, daß er uns alle mit einschließen kann.«

»In was einschließen?« wollte der Golem wissen.

»Auferstehungsfarn hat die Eigenschaft…«, begann der Zentaur.

Doch da wurde er von Krach unterbrochen. »Wir hier!« rief er. Oger besaßen eine ausgezeichnete Nachtsicht.

Tatsächlich hatten sie einen Weg gefunden, der von den Füßen der Bauern und den Hufen der Pferde flachgetrampelt worden war.

»Gehst du nach Ocna?« fragte Dor den Weg.

»Nein, ich zeige lediglich den Weg dahin«, lautete die Antwort.

»Welcher Weg ist es?«

»Der da«, sagte ein Teil des Wegs auf ihrer Westseite. »Aber ihr werdet Schwierigkeiten haben, bei Nacht zu reisen.«

»Wieso?«

»Weil irgend etwas mit mir nicht stimmt. Ich fühle mich so taub, an allen Stellen, nur hier nicht. Vielleicht hat mich ja ein schlimmer Sturm ausgewaschen.«

»Könnte der Pfad sich seiner selbst jenseits des magischen Wirkungsfelds bewußt sein?« fragte Irene.

»Ich weiß es nicht«, antwortete Dor. »Ich glaube nicht – aber andererseits weiß er, daß er nach Ocna führt, also besitzt er wohl doch etwas Bewußtsein. Ich bin es nicht gewohnt, mit Gegenständen zu verkehren, die sowohl magisch als auch nichtmagisch sind. Ich kenne auch nicht alle Gesetzmäßigkeiten.«

»Ich glaube, es dürfte einigermaßen sicher sein, davon auszugehen, daß der Pfad nur innerhalb des Durchgangs belebt ist«, meinte Arnolde. »Jedenfalls ist dieser Ort für unsere Zwecke sicherlich genausogut geeignet wie jeder andere. Die Soldaten werden diesen Weg bestimmt benutzen und absuchen. Es ist besser, sich ihnen auf unsere Weise entgegenzustellen, als eine solche Begegnung dem Zufall zu überlassen. Beginnen wir also mit unseren Vorbereitungen.«

»Also gut«, sagte Irene. »Der Farn wächst zwar im Dunkeln weiter, um seine Magie auslösen zu können, braucht er aber Licht. Die Soldaten werden Fackeln dabeihaben, also wird das schon klappen.«

»Ich habe den Sonnenstein«, erinnerte Dor sie. »Der kann den Farn notfalls aktivieren. Oder wir könnten ein paar Bäume fällen, um das Mondlicht hereinzulassen.«

»Gut, gut.« Sie pflanzte mehrere Samen ein. »Wachst!«

»Aber was tut der Farn denn nun?« fragte Grundy in jammerndem Tonfall.

»Nun, er steht in Beziehung zu der Psychologie des nichtwissenden Beobachters«, erklärte Arnolde. »Jeder, der seine Eigenschaften begreift, durchschaut auch bald seine Illusion. Deshalb wird er auch, glaube ich, bei den Mundaniern effektiver sein als bei Einwohnern Xanths. Auf diese Weise sollte es uns eigentlich gelingen, sie zu täuschen und ihre Verfolgungsjagd ohne Gewalttätigkeit zunichte zu machen, was einen erheblichen Vorteil darstellt. Wir brauchen lediglich auf ihre Suggestionen zu reagieren und unsere eigenen Präsuppositionen dabei heraushalten.«

»Was für Positionen?« fragte der frustrierte Golem, der kein Wort verstanden hatte.

Nun ergriff Dor das Wort. »Weißt du, Auferstehungsfarn läßt Figuren wie…«

»Leise sein«, flüsterte Krach donnernd. »Kommt Feind herein.« Auch das Gehör des Ogers war ausgezeichnet.

Abwartend blieben sie neben dem wachsenden Farn stehen. Kurz darauf erblickten sie drei Soldaten Onestis, die mit flackernden Fackeln durch den Wald kamen. Das Feuer warf zwischen den Bäumen monströse Schatten. Sie hielten nach allen Seiten Ausschau nach ihrer Beute.

Da erblickten die Soldaten Dors Gruppe. Sie blieben stehen und starrten sie an, gerade noch im Wirkungsfeld des magischen Durchgangs. »Großvater!« schrie einer von ihnen entsetzt und starrte dabei Krach an.

Der Oger wußte, was zu tun war. Er brüllte los und machte eine drohende Gebärde mit seiner Bratpfannenfaust. Der Soldat ließ die Fackel fahren und stürzte entsetzt davon.

Ein weiterer Soldat musterte Irene. »Du lebst ja!« keuchte er. »Dann hat dich das Fieber doch noch verschont!«

Irene schüttelte traurig den Kopf. »Nein, Freund, ich bin gestorben.«

»Aber ich kann dich doch sehen!« rief der Mann gleichzeitig voller Qual und Hoffnung. »Ich kann dich sogar hören. Jetzt können wir endlich heiraten…«

»Ich bin tot, Geliebter«, widersprach sie mit dumpfer Festigkeit. »Ich bin nur zurückgekehrt, um dich davor zu warnen, den falschen König zu unterstützen.«

»Aber du hast dich doch nie für Politik interessiert«, wandte der Soldat verwirrt ein. »Du hast nicht einmal meinen Beruf sonderlich geschätzt…«

»Das tue ich auch immer noch nicht«, sagte Irene. »Aber wenigstens hast du damals für den guten König Omen gearbeitet. Der Tod hat mir Zeit zum Nachdenken beschert. Jetzt arbeitest du für den Verräter. Ich werde niemals mehr Respekt für dich hegen können, nicht einmal im Grab, wenn du dem bösen König dienst, der den guten König Omen in den Tod schicken will.«

»Ich werde König Oary sofort entsagen!« schrie der Soldat eifrig. »Ich kann ihn sowieso nicht leiden. Ich dachte, König Omen wäre tot.«

»Er lebt«, sagte Irene. »Er befindet sich im Kerker von Burg Ocna.«

»Das werde ich allen erzählen! Aber du mußt zu mir zurückkehren.«

»Das kann ich nicht, Geliebter«, antwortete sie. »Ich bin nur für diesen einen Augenblick auferstanden, nur um dir sagen zu können, warum ich nicht in Frieden ruhen kann. Ich bin tot; König Omen lebt. Geh und hilf den Lebenden.« Sie schritt hinter den Zentauren und verschwand damit aus dem Gesichtsfeld des Soldaten.

»Sehr schön«, flüsterte Arnolde.

»Ich komme mir ziemlich schmutzig vor«, murmelte sie.

Der dritte Mann richtete seinen Blick auf Grundy. »Mein kleiner Sohn – von den Khazaren zurückgekehrt!« rief er. »Ich wußte doch, daß sie dich nicht lange festhalten würden!«

Der Golem hatte inzwischen begriffen, worum es ging: Der Auferstehungsfarn ließ die Erinnerungen seiner Betrachter wieder wach werden. »Nur mein Geist ist entkommen«, sagte er. »Ich mußte dich warnen. Die Khazaren kommen! Sie werden Onesti belagern, die Männer umbringen, die Frauen vergewaltigen und die Kinder in die Gefangenschaft entführen, wie sie es auch mit mir getan haben. Warne den König! Sammelt alle Truppen in der Burg! Versperrt die Zugangswege! Laßt es nicht zu, daß noch weitere Familien auseinandergerissen werden. Laßt mein Opfer nicht umsonst gewesen sein! Kämpft bis zum letzten…«

Dor stieß den Golem mit dem Fuß an. »Übertreib’s nicht«, murmelte er. »Mundanier sind zwar unwissend, aber dumm sind sie deswegen noch lange nicht.«

»Gehen wir«, flüsterte Irene. »Das dürfte sie eine Weile aufhalten.«

Vorsichtig machten sie sich davon. Die beiden Soldaten blieben beim Farn stehen, in Gedanken versunken. Bevor er um die nächste Kurve schritt, warf Dor einen Blick zurück – und sah eine riesige hübsche Spinne von der Art, die lieber umherjagen, als Netze zu spinnen. Das Muster auf ihrem Körper glich einem grünlichen Gesicht, und sie besaß acht Augen von unterschiedlicher Größe.

»Hüpfer!« rief er – und riß sich wieder zusammen. Hüpfer war schon vor Jahren an Altersschwäche gestorben. Er war Dors engster Freund gewesen, als sie beide scheinbar die gleiche Größe gehabt und im historischen Wandteppich von Schloß Roogna manches Abenteuer erlebt hatten, doch sie lebten in getrennten Welten. Die Nachkommen der Spinne lebten weiterhin im Wandteppich, und Dor konnte sich mit ihnen unterhalten, wenn er für einen Dolmetscher sorgte, doch es war nicht dasselbe wie früher. Sie wirkten eher wie Hochstapler, die die Stelle seines wunderbaren Freundes einnehmen wollten. Jetzt sah er Hüpfer persönlich.

Doch das war natürlich nur ein Trugbild, nicht sein wirklicher Freund. Als Dor sich diese Tatsache ins Gedächtnis rief, verwandelte sich das Bild wieder in den Soldaten. Wie sehr wünschte sich Dor, daß es doch hätte wahr sein können! Obwohl diese neuerliche Trennung nur eine Illusion war, war sie dennoch äußerst schmerzlich.

»Also läßt der Farn teure Erinnerungen wieder auferstehen«, sagte Grundy schließlich, während sie sich in Sicherheit brachten. »Wer ihn ansieht, nimmt das wahr, was ihn am tiefsten berührt. Den Schwindel müßte man doch wirklich durchschauen können!«

»Ach, was verstehst du denn schon davon!« fragte Irene gereizt. »Es ist schrecklich, jemandem so etwas anzutun, selbst einem Mundanier.«

»Hast du auch zurückgeblickt?« fragte Dor.

»Ich habe meinen Vater gesehen. Ich weiß zwar, daß er nicht tot ist, aber gesehen habe ich ihn doch.« Ihre Stimme klang erstickt. »Was für eine Qual es wäre, wenn das alles sein sollte, was ich jemals wieder von ihm sehen könnte!«

»Wir werden ihn bald finden«, beruhigte Dor sie. Auch das mochte er an ihr – ihr menschliches Bangen und ihre Treue gegenüber ihrem Vater, der in Dors Leben stets eine große Gestalt gewesen war.

Sie lächelte ihn im Mondlicht dankbar an. Dor verstand ihre Stimmung; die Vision seines lange verstorbenen Freundes hatte auch ihn aufgewühlt. Wieviel schlimmer mußte es erst für die Mundanier sein, die nichts davon wußten, wie sich das Ganze abgespielt hatte! Es war tatsächlich eine abscheuliche Tat, die sie da vollbracht hatten; vielleicht wäre es besser gewesen, wenn sie sich den Mundaniern mit der Gewalttätigkeit des Ogers und des Schwerts gestellt hätten.

Doch schon bald hörten sie erneut den Lärm ihrer Verfolger. Der Auferstehungsfarn war abgestorben oder hatte zumindest seine Magie verloren und würde keine weiteren Visionen mehr bewirken. Die Berichte der drei Soldaten würden zwar viele beunruhigen, aber es gab bestimmt noch viele andere, die dem Befehl, Dors Gruppe festzunehmen, gehorchen würden.

Sie verließen den Pfad und versteckten sich im Gebüsch – und die Soldaten preschten an ihnen vorüber. Sie konnten einen Gesprächsfetzen aufschnappen: »… Khazaren kommen…« Offenbar hatte die Behauptung des Golems ihre Wirkung nicht verfehlt!

»Ich glaube, die haben uns vergessen«, sagte Irene, als sie wieder den Pfad betraten. »Die Auferstehung hat ihre Gedanken in andere Richtungen gelenkt. Jetzt suchen sie nicht einmal mehr nach uns. Vielleicht können wir nun Ocna doch noch in Sicherheit erreichen.«

»Strategisch gesehen war das ein geschickter Zug«, sagte Dor. »Vielleicht ein schmutziger, und ich möchte das auch nicht noch einmal machen müssen, aber wirkungsvoll.«

»Zuerst müssen wir einmal an Burg Onesti vorbei«, erinnerte Arnolde sie.

Sie folgten den Weisungen des Weges und umgingen die Burg mit Hilfe eines Holz- und Jagdwegs, den die Bauern benutzten.

Dieser Pfad führte in Schlangenlinien die klippenähnliche Westseite des Berges hinab, auf dem die Burg stand, und schlängelte sich durch Felder, Wald und Gebirge. Mehrere Soldatentrupps kamen an ihnen vorbei, doch sie gingen ihnen mühelos und unbemerkt aus dem Weg. Offensichtlich nahmen diese Leute die Bedrohung durch die Khazaren sehr ernst!

Dann wurde der Weg immer beschwerlicher. Sie befanden sich in einer gebirgigen Gegend und mußten einen hohen Paß überqueren, der zwischen den beiden Redouten hindurchführte. Dor und die anderen hatten sich von ihrem beschwerlichen Aufstieg nach Onesti noch nicht völlig erholt, und nun machten sich ihre steifen Muskeln bemerkbar. Doch der Pfad versicherte ihnen, daß es keine bessere Strecke gäbe. Vielleicht war das ja auch nur seine Eitelkeit – aber eine echte Alternative hatten sie nun einmal nicht. Also schleppten sie sich mühsam weiter, bis sie gegen Mitternacht schließlich die Paßhöhe erreichten, eine schmale Spur, die zwischen zerklüfteten Gesteinsmassen hindurchführte.

Der Paß wurde von einer ausgesuchten Einheit Soldaten bewacht, die sie nicht umgehen konnten, und sie wußten genau, daß die Soldaten sie nicht unangefochten vorbeiziehen lassen würden.

»Was jetzt?« fragte Irene, die viel zu müde war, um richtig zornig zu werden.

»Vielleicht kann ich sie ablenken«, meinte Dor. »Wenn es mir gelingt, könnt ihr über den Paß huschen.«

Sie arbeiteten sich so weit an die Soldaten heran, wie es ihnen ohne entdeckt zu werden möglich war. Arnolde richtete seinen Durchgang auf die gewünschte Stelle aus, und Dor konzentrierte sich darauf, die Gegenstände zum Sprechen zu bringen.

»Seid ihr bereit, Khazaren?« rief ein hervorragender Fels.

»Fertig!« riefen einige weitere Felsen im Chor.

»Schleicht euch ganz nahe an, bevor ihr eure Pfeile abfeuert«, rief der erste Fels. »Wir wollen sie alle mit der ersten Salve erledigen.«

»Laß ein paar für unseren Riesenstein übrig«, rief die obere linke Seite des Abhangs. »Von hier aus treffen wir sie garantiert.«

Die Soldaten wurden erst nervös, dann verließen sie abrupt ihre Stellung und spähten beunruhigt zu den zerklüfteten Felsen empor. Es schien zwar völlig unmöglich, daß man einen riesigen Wurfstein dort oben hintransportiert hatte, aber die Stimme hatte sich durchaus überzeugend angehört. Mit gezückten Schwertern stürmten sie auf die Felsen zu. »Bewegung!« rief Dor.

Arnolde und Grundy preschten auf den Paß. Krach und Irene zögerten noch. »Bewegt euch!« bellte Dor. »Rennt über den Paß, bevor die Magie nachläßt!«

»Aber was ist mir dir?« fragte Irene.

Dor konzentrierte sich. »Zurück, Männer!« rief der hervorragende Fels. »Sie haben uns bemerkt!« Von den Felsen ertönten scharrende Geräusche.

»Ohne dich gehe ich nicht!« sagte Irene.

»Ich muß sie doch ablenken, bis ihr sicher durch den Paß seid!« rief Dor entsetzt.

»Du kannst aber nicht weitermachen, wenn der magische Durchgang erst einmal…«

Da verstummten die Stimmen.

»… außer Reichweite ist«, beendete sie etwas lahm ihren Satz.

Die Soldaten, von dem plötzlichen Verschwinden ihrer Gegner völlig verwirrt, begannen kehrtzumachen. Gleich würden sie die beiden entdecken, denn das Mondlicht war zu hell, als daß man sich ohne Schutz hätte wirkungsvoll verbergen können.

»Ich habe eine Ananas wachsen lassen, während wir gewartet haben«, sagte Irene. »Mir ist zwar nicht wohl bei dem Gedanken, sie gegen Menschen einzusetzen, nicht einmal gegen Mundanier, aber…«

»Wie soll denn eine magische Ananas außerhalb des Durchgangs funktionieren?« fragte er und erkannte im gleichen Augenblick, daß das ein törichter Einwand war; andererseits fürchtete er, entdeckt zu werden, sobald sie sich von der Stelle bewegten.

Sie sah niedergeschlagen aus. »Ausnahmsweise hast du wohl mal recht! Wenn Kirschbomben schon eine unsichere Sache sind, dann sind es Ananas auch.«

Krach stand zwischen den Felsen. »Lauft!« rief er.

Doch nun kamen auch schon die Soldaten näher. Dor wußte, daß sie es nicht mehr rechtzeitig schaffen konnten. Er zog sein Schwert. Ohne seine Magie fühlte es sich schwer und grobschlächtig an, aber es war die beste Waffe, die er zur Verfügung hatte. Natürlich würde er überwältigt werden, aber wenigstens würde er kämpfend untergehen. Es war nicht das Ende, das er für sich gewählt hätte, wenn es eine vernünftige Alternative gegeben hätte, aber es war immer noch besser als nichts.

»Lauf zu Krach!« sagte er. »Ich halte sie auf.«

»Komm mit!« beharrte sie. »Ich liebe dich!«

»Ausgerechnet jetzt muß sie mir das sagen«, knurrte er und musterte die nahenden Soldaten.

Irene warf mit der Ananas nach ihnen. »Vielleicht jagt sie ihnen ja wenigstens Angst ein.«

»Kann sie gar nicht. Sie wissen doch gar nicht, was…«

Die Ananas explodierte und verspritzte ihren gelblichen Saft nach allen Richtungen.

»Sie ist ja doch detoniert!« rief Dor verwundert.

»Kommt endlich!« rief Arnolde und erschien hinter dem Oger. Plötzlich leuchtete Dor alles ein: Der Zentaur war zurückgekehrt, nachdem sie ihm nicht gefolgt waren. Das wiederum hatte die Magie in ihrer Umgebung gerade noch rechtzeitig zurückgebracht.

Sie rannten zum Abhang. Die Mundanier rieben sich die vom Saft verklebten und geblendeten Augen, und so kamen Dor und die anderen ohne Schwierigkeiten voran.

»Ihr wart so sehr damit beschäftigt, die Helden zu spielen, daß ihr darüber fast den Verstand verloren habt«, tadelte Arnolde. »Ihr hättet mir lediglich zu folgen brauchen, als die Mundanier euch den Rücken zukehrten. Dann hätten sie niemals erfahren, daß wir hier hindurchwollten.«

»Verstand war noch nie meine starke Seite«, gab Dor zu.

»Das stimmt allerdings«, pflichtete Irene ihm bei. »Dieser Saft wird sie nicht ewig aufhalten. Wir müssen möglichst schnell möglichst weit weg.«

Das taten sie auch. Durch die Aufregung war ihre Erschöpfung wie weggeblasen. Nun führte der Pfad bergab, was das Vorankommen etwas erleichterte. Doch im Dunkeln war es bei dieser Geschwindigkeit äußerst gefährlich; denn die zerklüfteten Felsen und die Bäume warfen ihre Schatten auf den Weg, der ohne Warnung plötzlich Kurven und Bögen schlug. Schon bald waren die Soldaten ihnen auf der Fährte.

Doch Dor benutzte sein Talent, um sich von dem Pfad selbst vor Gefahren warnen zu lassen, so daß sie wenigstens etwas schneller vorankamen, als es Ortskundigen unter normalen Umständen möglich gewesen wäre. Doch er wußte, daß sie nicht mehr lange auf dem Pfad bleiben durften: denn die Soldaten waren mit dem Weg vertraut und besaßen Fackeln, so daß sie sie schon bald einholen würden. Sie mußten vom Pfad weg und sich verstecken – und das würde diesmal möglicherweise nicht genügen, denn es gab kaum Raum, um sich zu verstecken, und die Soldaten würden auf der Hut sein.

Da kam die Katastrophe. »Die Brücke ist weg!« warnte der Pfad.

»Welche Brücke?« fragte Dor keuchend.

»Die Holzbrücke über den Abgrund, du Nase!«

»Was ist mit ihr passiert?«

»Die Soldaten von Onesti haben sie zerstört, als sie hörten, daß die Khazaren kommen.«

Also hatten sie sich durch ihre List selbst in diese mißliche Lage gebracht! »Können wir den Abgrund auf einem anderen Weg überqueren?«

»Schaut ihn euch doch selbst an. Hier ist er.«

Hastig blieben sie stehen. Vor ihnen gähnte ein Abgrund im Finstern – eine Felsspalte, fast vier Mannslängen breit, die von der Steilwand hinunter in das tiefe Tal führte, das vom nächtlichen Nebel verhüllt war. Nun beleuchtete das Mondlicht die Szene, als sei es eifrig darauf erpicht, ihnen die Größe ihrer Gefahr genau vor Augen zu führen.

»Ein junger, kräftiger Zentaur könnte da hinüberspringen«, meinte Arnolde. »Für mich ist das völlig unmöglich.«

»Wenn wir das Seil hätten…«, sagte Irene. Doch das Seil befand sich natürlich im Besitz von Chet, wo immer der gerade sein mochte.

Es schien so gut wie unmöglich, statt dessen die Felswand zu erklimmen, und sie wußten auch nicht, was die Nebelschwaden unter ihnen verbergen mochten. Die Brücke war die einzige praktikable Möglichkeit gewesen den Abgrund zu überqueren, und es waren nur noch Bruchstücke von ihr übrig. Hier war nun ein gewaltiges natürliches Hindernis entstanden – sicherlich war dies einer der Gründe, weshalb es den Khazaren nicht gelungen war, dieses winzige Königreich zu erobern. Jede Brücke, die der Feind errichten mochte, konnte jederzeit wieder zerhackt oder abgebrannt werden.

Doch nun näherten sich bereits die Fackeln der Verfolger. Sie steckten in der Zwickmühle: Hinter ihnen konnte eine Handvoll Männer den Paß mühelos halten und ihnen den Rückzug abschneiden. Der Abhang an dieser Stelle war äußerst steil und bot ihnen kaum einen Schutz. Wenn die Soldaten ihnen nicht den Garaus machten, würde es die Natur schon tun.

»Die Salbe!« sagte Irene. »Seht ihr den Nebel da? Wir müssen die Salbe benutzen!«

»Aber der Fluch – wir haben den Gegenzauber verloren!« protestierte Dor. »Dann müssen wir wieder irgendeine abscheuliche Tat begehen!«

»Wenn wir uns nicht schnell verziehen, werden die Soldaten uns eine abscheuliche Tat antun!« bemerkte sie.

Dor musterte sie, wie sie mit seiner offenen Jacke bekleidet vor ihm im Mondlicht stand und sich mit ihren wohlgeformten Beinen gegen den Berg stemmte. Er stellte sich vor, wie die Soldaten ihr eine abscheuliche Tat antaten, wie sie es bereits im Kerker versucht hatten. »Wir benutzen die Salbe«, entschied er.

Sie kletterten ein Stück den Abhang hinab, um in Reichweite des Nebels zu gelangen. Sie mußten sich an Bäumen und Wurzeln festhalten, um nicht in die Tiefe zu stürzen.

Dor griff in seine Tasche, um die Salbe hervorzuholen – und entdeckte den Zehner, den er im neuzeitlichen Mundania von Ichabod erhalten hatte. Er hatte ihn schon ganz vergessen; irgendwie mußte er in eine Ausbuchtung seiner Tasche gerutscht sein. Natürlich war er jetzt völlig nutzlos. Er durchwühlte seine Tasche weiter und entdeckte den Salbentopf.

Hastig bestrichen sie ihre Füße mit der Salbe. Langsam neigte sich ihr Vorrat seinem Ende zu: Das dürfte wohl die letzte Gelegenheit für sie sein, die Salbe zu benutzen. Vorsichtig schritten sie schließlich auf die Nebelschwaden zu.

»Haltet euch nahe an Arnolde«, warnte Dor, »und bleibt in der Reihe. Jeder, der aus dem magischen Feld tritt, wird in die Tiefe stürzen.«

Jetzt kamen die Soldaten am Felsvorsprung an. Als sie ihre Opfer dort nicht entdeckten, wurden sie wütend. Doch fast im selben Augenblick erspähten sie auch schon die Flüchtlinge. »Cnvm adknv!« rief einer von ihnen. »Sgdx’qd nm sgd bkntc.« Da machte er einen Satz.

Einen Augenblick starrten die Soldaten sie an. »Sgdx geht doch gar nicht!« protestierte einer, als er vom magischen Feld erfaßt wurde.

Doch ihr Anführer hatte eine Antwort parat. »Das sind Zauberer! Spione der Khazaren! Schießt sie ab!«

Wie betäubt legten die Soldaten ihre Pfeile ein. »Lauft!« rief Dor. »Aber bleibt in Arnoldes Nähe!«

»Diesmal bilde ich den Schluß«, beschloß Arnolde. »Um sicherzugehen. Geht los!«

Das leuchtete ein. Der magische Durchgang erstreckte sich weiter nach vorne als nach hinten, und auf diese Weise konnte Arnolde seinen Körper so stellen, daß er sie alle in seinem Wirkungskreis hatte. Dor, Irene und Krach stürmten vorwärts, als die erste Pfeilsalve auf sie zuschoß. Grundy ritt auf dem Zentauren, so war er davor sicher, daß man aus Versehen auf ihn trat. Sie überquerten den nebeligen Abgrund und kamen im dichten Nebel auf der gegenüberliegenden Seite an.

»Aaaahh!« schrie Arnolde plötzlich.

Dor blieb stehen, um zurückzublicken. Ein Pfeil stak in Arnoldes Rumpf, und der Zentaur versuchte verzweifelt, sich auf drei Beinen weiterzubewegen.

Krach führte die Gruppe an. Er packte einen Ast, der durch die Schwaden auf ihn zuragte und schleuderte ihn über den Abgrund auf die Soldaten. Sein Zielvermögen war sehr gut; die Soldaten schrien auf und warfen sich flach zu Boden, als der schwere Ast sie traf. Einer von ihnen wäre dabei beinahe in die Tiefe gestürzt.

Dann stürmte Krach durch die Wolken zurück, bückte sich, packte den Zentaur an einem Vorder- und einem Hinterbein und nahm ihn mit einem Ruck auf die Schultern. »Oh!« sagte Arnolde, der trotz seiner Schmerzen noch staunen konnte.

Doch im magischen Feld gab es nichts, was es der Kraft des Ogers hätte gleichtun können. Krach trug Arnolde zum gegenüberliegenden Hang und setzte ihn behutsam an einer Stelle ab, an der sich der Boden aus den Schwaden erhob. Diese Stelle war außer Sichtweite der Soldaten; nun würde es keine weiteren Salven mehr geben.

»Aber der Pfeil!« sagte der Zentaur tapfer. »Wir müssen ihn herausholen!«

Krach packte den Pfeil und ruckte daran. Arnolde schrie ein weiteres Mal auf – doch da war der Pfeil schon aus der Wunde gelöst. Er war nicht allzu tief eingedrungen, sonst wäre die Spitze abgebrochen.

»Ja, so war es richtig«, sagte der Zentaur – und fiel in Ohnmacht.

Irene war bereits damit beschäftigt, einen Samen keimen zu lassen. Sie hatten zwar ihr Heilelixier verloren, das sich in Arnoldes Zauberbeutel befunden hatte, doch manche Pflanzen besaßen ebenfalls heilende Eigenschaften. Sie ließ eine Balsampflanze wachsen und bestrich die Wunden mit ihrem Sekret. »Das heilt die Wunde zwar nicht sofort und ganz«, sagte sie, »aber wenigstens lindert es den Schmerz und läßt den Heilungsvorgang einsetzen. Damit sollte er jedenfalls gehen können.«

Krach schritt nervös auf und ab. »Denk an Chet – Wunde nicht nett.«

Dor begriff, was den Oger bekümmerte. »Wir wissen nicht mit Sicherheit, daß jede mundanische Wunde sich so infizieren muß wie bei Chet. Da hat Chet wahrscheinlich einfach nur Pech gehabt. Außerdem wurde er von einem Flügeldrachen gebissen, während Arnolde von einem Pfeil getroffen wurde. Das ist etwas anderes – glaube ich.« Dennoch machte es Dor Sorge, daß nun schon der zweite Zentaur verwundet worden war. Ob das vielleicht Teil des Fluchs der Salbe war? Die Zentauren mußten doppelt soviel Salbe benutzen wie die anderen, da sie vier Hufe bestreichen mußten, vielleicht machte sie das ja anfälliger für den Fluch.

Bald darauf kam Arnolde wieder zu sich und bestätigte, daß der Schmerz der Wunde erheblich nachgelassen hatte, was aus verschiedenen Gründen eine Erleichterung für alle war. Dennoch entschied Dor, daß sie den Rest der Nacht ruhen sollten. Schließlich konnten sie Burg Ocna ohnehin nicht mehr heimlich angehen, und es war wichtiger, daß ihr Freund sich erholte. Immerhin war das magische Feld des Zentauren in Mundania für sie lebenswichtig.