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Die Politik von Onesti

Sie reisten nicht nach Hause zurück, sondern begaben sich lediglich zum Nordwestzipfel Xanths, wo der Isthmus das Land mit Mundania verband. Als sie wieder auf magischem Gebiet waren, füllte Irene ihren Samenbeutel auf. Krach schlug einen Geleetonnenbaum um, verschlang das Gelee und verformte den Stamm zu einem brauchbaren Boot. Arnolde beobachtete das Gebiet und stieß in periodischen Abständen nach Mundania vor, um festzustellen, ob es sich verändert hatte. Dor begleitete ihn und befragte den Sand. Anhand der Beschreibungen von Leuten, die der Sand kurz zuvor gesehen hatte, konnten sie ungefähre Rückschlüsse auf Orte und Zeitepochen Mundanias ziehen.

Der Wandel war unaufhörlich: Wenn man aus Xanth nach Mundania vorstieß, blieb das dortige Zeitgefüge konstant; folgte einem jedoch eine andere Person, so konnte es geschehen, daß diese in eine ganz andere Epoche eintrat. Es war, wie wenn man ein Boot verpaßte und statt dessen das nächste nahm, erklärte Arnolde. Der Reisende, der das erste Boot genommen hatte, konnte zwar zurückkehren, doch wer an Land stand, konnte kein Boot mehr erwischen, das bereits abgelegt hatte. König Trent hatte, so glaubten sie, einen Ort namens »Europa« in einer Zeitepoche namens »Mittelalter« aufgesucht. Dors Gruppe hingegen hatte einen Ort namens »Amerika« in einer Epoche namens »Neuzeit« besucht. Die Verschiebung der Orte und Zeiten schien willkürlich abzulaufen; vielleicht folgte sie auch einem Muster, das sie lediglich nicht verstanden. Sie mußten einfach nur den Punkt orten, den sie aufzusuchen wünschten, und mußten durch dieses »Fenster« springen, bevor es sich wieder veränderte. Arnolde schloß aus ihren Beobachtungen, daß jedes Fenster zwischen fünf Minuten bis zu einer Stunde stabil blieb. Er meinte auch, daß es möglich sei, diese Spanne zu verlängern, indem jemand an der Grenze stehenblieb; offenbar konnten sich die Fenster nicht schließen, solange sie in Gebrauch waren. Vielleicht war das ja wie die Drehtür in Mundania, deren Drehbewegung vorübergehend von einer Person gestoppt werden konnte – bis der nächste sie brauchte.

Am dritten Tag wurde es immer langweiliger. Irenes Samensammlung war wieder komplett, und sie wurde unruhig. Krach hatte sein Boot fertiggestellt und mit Vorräten ausgerüstet. Grundy hatte sich ein Nest am Bug gebaut, von dem aus er den Tratsch vorüberziehender Meerestiere belauschen konnte. Arnolde und Dor schritten den Strand ab. »Was hast du in letzter Zeit gesehen?« fragte Dor routinemäßig denselben und doch veränderten Sand.

»Einen Mann in einem Raumanzug«, erwiderte der Sand. »Er hatte kleine Antennen, die aus seinem Kopf herauswuchsen, wie eine Ameise, und er konnte sich mit seinen Freunden unterhalten, ohne ein einziges Geräusch von sich zu geben.«

Das hörte sich nicht so an, als handele es sich um jemanden, den Dor suchte. Wahrscheinlich hatte irgendein böser Magier den Mann verzaubert, vielleicht bei dem Versuch, eine neue Mischform hervorzubringen. Sie drehten sich um und kehrten nach Xanth zurück. Das war nun ganz gewiß nicht das gesuchte Fenster.

Die Farbe des Meeres veränderte sich häufig. Beim ersten Besuch war es rötlich gewesen, wie auch bei ihrer Rückkehr, da sie ja in derselben Zeitperiode Mundanias geblieben waren. Danach war es jedoch blau, gelb, grün und weiß geworden. Nun war es orange und verwandelte sich in Purpur. Als es vollends purpurn war, schritten sie wieder Richtung Westen.

»Was hast du in letzter Zeit gesehen?« fragte Dor erneut.

»Ein schwimmendes Höhlenmädchen«, berichtete der Sand. »Sie war zwar ziemlich fett, aber sie hatte vielleicht…«

Wieder schritten sie gen Osten. Beide waren sie recht niedergeschlagen. »Ich wünschte, es gäbe eine direktere Methode«, sagte Arnolde. »Ich habe versucht, das Muster der Verschiebungen zu analysieren, aber ich konnte keine Gesetzmäßigkeit feststellen, vielleicht auch nur, weil ich nicht genügend Daten zur Verfügung habe.«

»Ich weiß ja, daß das nicht gerade ein tolles Leben ist, in das wir Euch da hineingezogen haben«, meinte Dor. »Ich wünschte, es hätte irgendeinen anderen Weg gegeben…«

»Im Gegenteil, es ist ein höchst faszinierendes Leben und ein herausforderndes Rätsel dazu«, widersprach der Zentaur. »Das ist ähnlich wie die Rätsel der Archäologie, wo man genausoviel Geduld und Glück benötigt. Wir müssen einfach mehr Daten sammeln, ob es nun einen Tag dauert oder ein Jahr.«

»Ein Jahr?« rief Dor entsetzt.

»Bestimmt wird es nicht so lange dauern«, beruhigte Arnolde ihn. Es war offensichtlich, daß er mehr Geduld hatte als Dor.

Als sie wieder nach Xanth zurückkehrten, wurde das Meer schwarz. »Schwarz!« rief Dor. »Könnte das…«

»Möglich«, meinte Arnolde und zügelte sichtlich seine Erregung mit der Vorsicht des Erfahrenen. »Wir sollten wohl die anderen alarmieren.«

»Grundy, hol Krach und Irene zum Boot!« rief Dor. »Es könnte sein, daß wir es gleich geschafft haben.«

»Ist wohl eher mal wieder ein falscher Alarm«, murrte der Golem. Aber er hastete davon, um die anderen zu holen.

Als sie wieder an den üblichen Ort schritten, den sie stets befragten, bemerkte Dor einen hohen alten Baum mit großen Blättern, der zuvor nicht dagewesen war. Das war zweifellos eine andere Örtlichkeit, doch das mußte nicht viel heißen, da sich auch die Gegend zusammen mit der Zeit ständig veränderte, oft sogar sehr radikal: manchmal gab es zerklüftete Gebirgsketten, manchmal aber auch ödes Flachland. Das einzig Gemeinsame war die Küstenlinie, wobei sich das Meer im Süden, das Land hingegen im Norden befand. Arnolde wunderte sich ständig darüber, doch Dor beachtete es kaum. »Was hast du in letzter Zeit gesehen?« fragte er den Sand.

»Nicht viel, seit der König und seine Alte vorbeigekommen sind«, erwiderte der Sand.

»Ach so.« Dor drehte sich um, und wollte schon wieder ins magische Gebiet zurückkehren.

Der Zentaur blieb stehen. »Hat er nicht gesagt…«

Da dämmerte es Dor. Die Erregung durchfuhr ihn wie ein Schauer. »König Trent und Königin Iris?«

»Ich glaube schon. Sie sind nicht mehr die jüngsten.«

»Ich glaube, wir haben endlich unser Fenster!« sagte Arnolde. »Geht zurück und benachrichtigt die anderen. Ich halte in der Zwischenzeit die Eingangstür offen.«

Dor rannte mit klopfendem Herzen zurück. War das wirklich wahr? »Wir haben es!« rief er. »Kommt jetzt, schnell!«

Sie sprangen ins Boot. Krach stieß es mit einer Stange kraftvoll nach vorn. Doch da ließ er plötzlich nach. Dor stellte fest, daß sich der Oger zwar immer noch anstrengte, aber kaum etwas damit ausrichtete.

»Ach so, wir haben die Magie Xanths hinter uns gelassen und sind noch nicht in Arnoldes magischem Feld«, sagte er. »Kommt, wir müssen alle mit anpacken.«

Dor und Irene beugten sich seitlich aus dem Boot und begannen verzweifelt, mit bloßen Händen zu paddeln.

Langsam bewegten sie sich auf gleiche Höhe mit dem Zentauren. »Alle Mann an Bord!« rief Dor fröhlich.

Arnolde trabte durch das seichte Wasser und kletterte mühsam ins Boot, das dabei arg zu schwanken begann. Salzwasser drang ein. Das Gefährt war zwar stabil gebaut, wie alles, was die Oger herstellten, aber es roch noch immer nach Limonengelee, vor allem an den feuchten Stellen.

Der Zentaur stand in der Bootsmitte, das Gesicht zum Bug gewandt. Irene saß vorne, ihr grünes Haar wehte im Wind. Es war für kurze Zeit verblaßt, als sie sich zwischen den beiden Magiezonen befunden hatten; vielleicht hatte dies Dor auch auf das eigentliche Problem aufmerksam gemacht. Das war die einfachste Möglichkeit, sich vom Zustand ihrer Umgebung zu überzeugen.

Dor ließ sich im Heck nieder, und Krach stieß sie mit kräftigen Stößen vom Ufer ab. Jetzt, da sie sich wieder im magischen Feld befanden, besaß der Oger wieder seine alte Kraft, war das Boot belebt. Die schwarzen Wogen schwappten rasch vorüber.

»Ich wünschte, ich hätte gewußt, daß das alles ist, was wir zu tun brauchen, um König Trent ausfindig zu machen«, sagte Dor. »Dann hätten wir uns die Reise ins neuzeitliche Mundania ersparen können.«

»Auf keinen Fall!« widersprach Arnolde und ließ seinen Schweif wedeln. »Wir hätten zwar dieses Fenster entdecken können, das stimmt; aber jeder Fenstereingang führt in eine völlig andere mundanische Welt. Wir hätte die Fährte schon bald wieder verloren, hätten uns verirrt und wären nicht mehr dazu in der Lage gewesen, irgend jemanden zu retten. So wissen wir immerhin, daß wir nach Onesti wollen, und wir wissen auch, wo das liegt. Das erleichtert unsere Aufgabe erheblich.« Der Zentaur hielt inne. »Abgesehen davon bin ich äußerst froh, Ichabod kennengelernt zu haben.«

Also hatte ihre erste Reise doch einen Sinn gehabt. »Was für Leute siehst du hier in der Regel?« fragte Dor das Wasser.

»Hartgesottene Burschen mit bauschigen Kleidern und Schwertern und Bogen«, gab das Wasser zur Antwort. »Allerdings halten sie sich nicht allzu häufig auf dem Wasser auf; nicht wie die Griechen damals.«

»Das sind vermutlich die Bulgaren«, folgerte Arnolde. »Ichabod zufolge mußten die in den letzten paar Jahrzehnten hier vorbeigezogen sein.«

»Wer sind denn die Bulgaren?« fragte Irene. Jetzt, da sie die eigentliche Spur ihres Vaters verfolgten, interessierte sie sich wesentlich mehr für Einzelheiten.

»Das ist ziemlich kompliziert. Ichabod hat mir zwar einige Einzelheiten genannt, aber es ist durchaus möglich, daß ich noch längst nicht alles darüber weiß.«

»Wenn das die Leute sind, die mein Vater getroffen hat, und wenn auch wir auf sie treffen werden, dann will ich auch alles über sie wissen.« Ihr Gesicht trug einen entschiedenen Ausdruck.

Das Boot schoß schnell voran, denn die Kraft des Ogers war gewaltig. Die Küstenlinie erstreckte sich mit ihren Buchten immer weiter vor ihnen. »Wir haben eine mehrtägige Reise vor uns«, sagte der Zentaur. »Zweifellos wird uns diese Zeit gelegentlich als etwas lang erscheinen.« Er holte pädagogisch viel Luft und begann mit seiner historischen Abhandlung, während der Oger desinteressiert eine Grimasse zog und Grundy sich in seinem Nest schlafen legte. Dor und Irene jedoch lauschten ihm aufmerksam.

Im Prinzip sah es so aus: Drei Jahrhunderte zuvor hatte es in dieser Region ein großes mundanisches Reich gegeben, das, wie Dor es verstand, Rohm geheißen hatte, vielleicht weil es so weiträumig gewesen war. Doch nach langer Zeit verfiel dieses Reich schließlich und wurde immer schwächer. Da war aus dem östlichen Binnenland ein vormals ruhiger Stamm, die Hunnen, eingefallen und hatte einige andere Stämme vor sich hergetrieben. Vielleicht war »Hunnen« ja die Abkürzung für »Hungrige«, wegen ihres Machthungers. Diese Stämme hatten das Röhmische Reich überfallen und zum großen Teil zerstört. Doch als der Hungrige Häuptling, Attaboy, an Verdauungsschwierigkeiten gestorben war, wurden sie besiegt und teilweise wieder zurückgedrängt, an die Küste dieses Schwarzen Meeres, dessen Farbe trefflich ihre damalige Stimmung widerspiegelte. Eine Weile lang kämpften sie ein bißchen gegeneinander, wie es Leute zu tun pflegten, die unter schwarzer Laune litten; dann vereinigten sie sich wieder und nannten sich Bulgaren, kurz: Bullen. Doch die Bullen wurden von einem anderen wilden Stamm der Türken – die nichts mit Türen zu tun hatten –, nämlich den Khazaren, aus ihrem neuen Land verjagt. Einige der Bullen flohen gen Norden und manche gen Westen – und das hier war das Gebiet, das die westlichen Bullen besiedelt hatten, hier am Westrand des Schwarzen Meers. Weiter kamen sie nicht, denn dort gab es einen weiteren wilden Stamm, die Avaren. Die Avaren besaßen ein riesiges Reich im östlichen Europa, das aber gerade im Untergang begriffen war, vor allem wegen der Angriffe durch die Khazaren. Im Augenblick, cirka AD 650 mundianischer Zeitrechnung – die Zahl bezog sich auf irgendeine mundanische Religion, der keine dieser Parteien angehörte –, herrschte in dieser Region ein unruhiges Gleichgewicht zwischen den drei Mächten, also den Avaren, Bulgaren und Khazaren, wobei die Khazaren dominierten.

Irgendwie war das für Dor viel zu kompliziert. All diese fremdartigen Stämme und Ereignisse und Zahlen – die Feinheiten Mundanias waren ja viel komplizierter als die schlichten magischen Ereignisse Xanths! Es war wesentlich leichter, sich mit Greifen und Drachen auseinanderzusetzen als mit Avaren und Khazaren; immerhin waren die Drachen wenigstens vernünftige Wesen.

»Aber was hat all das mit meinem Vater zu tun?« wollte Irene wissen. »Mit welchem dieser Stämme wollte er denn nun Handel treiben?«

»Mit keinem von diesen dreien«, erwiderte Arnolde. »Das ist alles nur der Hintergrund, vor dem sich das Ganze abspielt. Es wäre viel zu gefährlich für uns, mit solchen Wilden zu verhandeln. Wir glauben jedoch, daß es da ein kleines Königreich geben könnte, vielleicht ein Überbleibsel der Gothik oder irgendein anderes, älteres Volk von Urbewohneren, die sich im Karpatengebirge eine Quasi-Unabhängigkeit bewahrt haben und eine eigene Sprache und Kultur besitzen. Sie leben im Grenzland zwischen den Avaren, Bulgaren und Khazaren und sind im gewissen Umfang geschützt, weil keines der drei Reiche dort etwas unternehmen kann, ohne die beiden anderen zu provozieren; und außerdem schützt sie auch das unzugängliche, rauhe Terrain. Daher also auch der A-, B- und C-Komplex, auf den König Trent angespielt hat. Das war ein höchst wertvoller Hinweis für uns. Diese abgeschnittene Region ist das Königreich Onesti.

Es liegt mitten in den Bergen, ist schwierig zu erobern und besitzt auch nur wenig, wonach andere trachten könnten, was wohl zum Teil seine Unabhängigkeit mitbegründet. Aber es ist durchaus an friedlichem, gewinnbringendem Handel interessiert, und Ichabods Hinweise deuten an, daß es einen Handelsweg kannte, der später in Vergessenheit geriet, und der es dem Königreich erlaubte; ein Jahrhundert lang zu gedeihen, obwohl seine normalen Kanäle anscheinend blockiert waren. Das könnte der Handelsweg sein, den König Trent erschließen wollte.«

»Ja, das leuchtet ein«, stimmte Irene ihm zu. »Aber was ist, wenn einer dieser Stämme meinen Vater gefangengenommen hat und er deshalb nicht zurückkehren konnte?«

»Wir werden ihn schon aufspüren«, versicherte der Zentaur ihr. »Wir besitzen einen großen Vorteil, der König Trent abging – nämlich die Magie. Wir brauchen uns nur nach Onesti zu begeben und die Leute, Pflanzen und Gegenstände dort ausfragen. Mit Sicherheit ist dort etwas über ihn bekannt.«

Irene schwieg. Dor teilte ihre Sorgen. Jetzt, da sie so kurz davorstanden, König Trent ausfindig zu machen, stellte sich die Frage, ob sie ihn auch noch am Leben finden würden. Was, wenn er bereits tot sein sollte?

»Werden wir gegen diese ganzen As, Bs und Ks kämpfen müssen?« fragte Grundy plötzlich. Offenbar hatte er doch nicht ganz geschlafen.

»Das bezweifle ich«, meinte Arnolde. »Regelrechte Kriegszustände sind eigentlich seltener, als man bei Betrachtung der Geschichte annehmen könnte. Den überwiegenden Teil der Zeit verläuft das Land in ganz normalen Bahnen: Die Fischer fischen, die Schmiede hämmern Eisen, die Bauern bestellen ihre Äcker, die Frauen gebären Kinder. Sonst würde auch ständig Mangel herrschen. Aber ich habe für alle Fälle einen Freundschaftszauber mitgenommen.« Er klopfte gegen seinen Zauberbeutel.

Der Oger stieß sie unermüdlich weiter. Nach und nach machte die Küste einen Bogen nach Süden, dem sie auch folgten. Als die Nacht anbrach, gingen sie kurze Zeit an Land, um ein Feuer zu machen und ihr Abendessen zu kochen. Danach kehrten sie über Nacht auf das Boot zurück, um sich nicht den Gefahren mundanischer Dunkelheit aussetzen zu müssen. Grundy stellte fest, daß es im Schwarzen Meer nur wenige Fische und keinerlei Ungeheuer gab: das Meer war völlig sicher, solange kein Sturm herrschte.

Jetzt setzte Arnolde einen seiner kostbaren Zauber ein. Er öffnete eine Windkapsel und richtete sie sorgfältig aus. Der Wind blies gen Südwesten und füllte das kleine, gedrungene Segel, das sie zu diesem Zweck gesetzt hatten. Nun konnte der Oger sich ausruhen, während das Boot seinem Ziel zutrieb und sie sich beim Steuern abwechselten. Grundy fragte die Fische und die Wassertiere nach dem Kurs, und Dor tat das gleiche mit dem Wasser, während Irene eine Kompaßpflanze wachsen ließ, die auf den großen Fluß zeigte, dessen Mündung ihr Ziel war.

Das erinnerte Dor an seinen magischen Kompaß. Er holte ihn in der Hoffnung hervor, daß er auf König Trent zeigen würde. Doch er zeigte direkt auf Arnolde, und als dieser ihn in die Hand nahm, zeigte er nur auf Dor. In dieser Situation war er nutzlos.

Das Schlafen auf dem Wasser war zwar nicht sonderlich bequem, aber immerhin möglich. Dor lag auf dem Rücken und starrte hellwach zu den Sternen empor; plötzlich verschoben sich die Sterne, und er erkannte, daß er doch geschlafen hatte; jetzt war er wirklich hellwach. Wieder verschoben sich die Konstellationen. Dann war er wieder hellwach – bis Grundy ihn weckte, damit er ihn am Steuer ablöste. Anscheinend hatte er die ganze Zeit geträumt, daß er hellwach sei. Das war äußerst unangenehm; fast wären ihm Nachtmahre lieber gewesen.

Am Morgen stießen sie in das monströse Flußdelta hinein – eine Reihe von Sandbänken, Kanälen und Inseln, zwischen denen die langsame Strömung dahertrieb. Nun mußte Krach die beiden großen Ruder hervorholen, die er hergestellt hatte, um damit gegen die Strömung anzurudern. Dennoch kam das Boot immer noch recht schnell vom Fleck. Irene ließ Gebäckpflanzen wachsen und fütterte den Oger mit den Gebäckblüten, damit er nicht Hunger leiden mußte. Krach verschlang sie, ohne einmal beim Rundern innezuhalten. Dor war beinahe neidisch auf den Oger und dessen schiere Lust am Essen und Arbeiten.

Nein, das stimmte gar nicht. Er war vielmehr eifersüchtig wegen der Aufmerksamkeit, die Irene Krach zuteil werden ließ, obwohl Dor sich nicht als Eigentum irgendeines Mädchens betrachtet wissen wollte, und schon gar nicht dieses Mädchens, wurde er doch immer böse, wenn Irene jemand anderem ihre Aufmerksamkeit widmete. Er wußte, daß das unvernünftig war; Krach brauchte sehr viel Nahrung, um derart hart arbeiten zu können. Das war es schließlich auch, was der Oger zu ihrer Reise beisteuerte – seine gewaltigen Kräfte. Und doch wurmte es Dor; er wünschte, daß er es wäre, der riesige Muskeln und eine unermüdliche Kondition hätte und von Irene die Pasteten und Törtchen gleich haufenweise in den Mund geschoben bekäme.

Einmal war er wirklich groß gewesen, erinnerte er sich; zumindest hatte er sich den Körper eines mächtigen Barbaren ausgeliehen – vielleicht war es ein Avare, Bulgare oder Khazare gewesen – und feststellen müssen, daß reine Kraft allein auch nicht alle Probleme lösen konnte und einen auch nicht automatisch glücklich machte. Doch im Augenblick lagen seine selbstsüchtigen Gefühle im Widerstreit mit seiner Vernunft.

»Manchmal wünschte ich, ich wäre ein Oger«, brummte Grundy. Plötzlich fühlte sich Dor erheblich wohler.

 

Den ganzen Tag ruderten sie flußaufwärts, wobei sie in immer schmalere Kanäle hineinfuhren. Sie entdeckten einige Fischer, aber erstens sahen die nicht wie As, Bs oder Ks aus, und zweitens schauten sie sich den großen, kräftigen Oger an und ließen ihr Boot lieber in Frieden ziehen. Arnolde hatte recht gehabt: Normalerweise war es in Mundania ziemlich langweilig, nirgendwo waren plündernde Armeen in Sicht. In diesem Punkt glich Mundania dem Land Xanth.

Als sie ein gutes Stück stromaufwärts gekommen waren, gingen sie an Land und schlugen ihr Nachtlager auf. Dor befahl dem Sand, Alarm zu schlagen, falls sich irgend etwas nähern sollte, das um einiges größer war als Ameisen, dann legten sie sich unter einem weiteren Regenschirmbaum zur Ruhe, den Irene hatte wachsen lassen. Das war auch gut so, denn in der Nacht regnete es.

Am dritten Tag schossen sie einen schnellen Zustrom empor, der ins Karpatengebirge hinaufführte. Gelegentlich mußten sie landen, und Krach packte das Boot, balancierte es auf seinem Schädel, richtete es mit seinen panzerfaustbewehrten Bratpfannenhänden aus und stampfte durch die Wasserfälle.

»Wenn du immer noch nicht deine volle Kraft hast«, bemerkte Dor, »dann kannst du jedenfalls nicht mehr sehr weit davon entfernt sein.«

»Hmph«, pflichtete Krach ihm bei. Ausnahmsweise hatte er einmal nicht die Zeit, einen Reim zu schmieden. Oger waren die kräftigsten Lebewesen Xanths, so groß oder klein sie auch sein mochten – aber manche Ungeheuer waren wesentlich größer, andere wiederum intelligenter, deshalb waren die Oger auch nicht die Herren des Urwalds. Krach und seine Eltern waren die einzigen Oger, die Dor persönlich kennengelernt hatte, wenn man von seinem Abenteuer in Xanths Vergangenheit absah, wo er Egor dem Zombieoger begegnet war; heutzutage waren sie nicht mehr so häufig zu finden, was vielleicht nicht das Schlechteste war; denn wenn Oger so weitverbreitet wären wie Drachen, wer würde ihnen dann noch widerstehen können?

Am Nachmittag des dritten Tages erreichten sie endlich das Königreich Onesti, oder zumindest seine Hauptfestung, Burg Onesti. Dor wunderte sich darüber, daß König Trent und Königin Iris, die ja keinerlei Magie zur Verfügung hatten, die Strecke in der gleichen kurzen Zeit zurückgelegt haben sollten. Vielleicht hatten sie die Schwierigkeit der Reise ja unterschätzt. Nun, das würden sie ja bald erfahren.

Dor versuchte, die Steine und das Wasser des Flusses zu befragen, doch das Wasser war keine zwei Augenblicke dasselbe und konnte sich an nichts erinnern, während die Steine behaupteten, daß im vergangenen Monat niemand hier entlanggekommen sei. Offenbar hatte der König eine andere Strecke gewählt, vermutlich eine unbeschwerlichere. Vielleicht hatte der König von Onesti ihm auch eine Eskorte entgegengeschickt, und sie waren zu Pferd einen Reitweg emporgeritten. Ja, das war das Wahrscheinlichste.

Vor der imposanten Burg blieben sie stehen. Riesige Steine bildeten gewaltige Mauern, die zum Vordereingang führten. Es gab keinen Burggraben, denn es handelte sich um eine Bergfestung. »Und was tun wir jetzt?« fragte Irene nervös. »Klopfen wir einfach ans Tor, oder was?«

»Dein Vater hat mir gesagt, daß Ehrlichkeit die beste Politik sei«, erwiderte Dor und überspielte seine eigene Unsicherheit. »Ich nehme an, daß er mir damit nicht nur ein Rätsel aufgeben wollte, um zu zeigen, wo er ist. Wir können uns der Burg in aller Offenheit nähern. Wir können ihnen sagen, daß wir aus Xanth sind und König Trent suchen. Vielleicht haben sie ja mit dem, was passiert ist, gar nichts zu tun – falls überhaupt irgend etwas passiert ist. Aber wir wollen nicht so weit gehen, ihnen von unserer Magie zu erzählen, für alle Fälle.«

»Für alle Fälle«, stimmte sie mit gepreßter Stimme zu.

Sie marschierte auf den Vordereingang zu. Das schien ohnehin der einzige Zugang zum Gebäude zu sein. Die Mauer führte an der Südseite durch den Wald, um auf raffinierte Weise mit den klippenähnlichen Hängen des Berges im Westen zu verschmelzen; sie selbst befanden sich an der Ostseite, wo der Zugang lediglich steil war. »Kein Wunder, daß niemand dieses kleine Königreich erobern konnte«, murmelte Irene.

»Dem stimme ich zu«, bemerkte Arnolde. »Man bekäme keine Belagerungsmaschine nahe genug heran, und ein Katapult müßte von unten im Tal aus abgefeuert werden. Vielleicht könnte man die Burg ja doch irgendwie einnehmen, aber. es sieht nicht so aus, als wäre das die Sache wert.«

Dor klopfte ans Tor. Sie warteten. Er klopfte ein zweites Mal. Immer noch keine Antwort. Dann tippte Krach mit einem Finger gegen das Tor, worauf es zu beben begann.

Nun öffnete sich knarrend eine Luke in der Mitte des Tors. Hinter Gitterstäben erschien ein Gesicht. »Wer seid ihr?« fragte der Wächter.

»Ich bin Dor von Xanth. Ich bin gekommen, um König Trent von Xanth zu suchen, der sich, wie ich glaube, hier befindet.«

»Wen?«

»König Trent, Dumpfbacke!« fauchte einer der Gitterstäbe.

Der Kopf des Wächters zuckte erschreckt zurück. »Was?«

»Hast du Tomaten auf den Ohren?« fragte der Gitterstab.

»Hört auf damit!« murmelte Dor den Stäben zu. Das war das Letzte, was er wollte – daß sein magisches Talent vorzeitig offenbart wurde! Dann, schneller und lauter: »Wir wünschen, König Trent zu sehen.«

»Wartet«, sagte der Wächter. Knallend schloß sich die Luke.

Doch Krach, der von seiner harten Arbeit der letzten beiden Tage ermüdet war, war sehr gereizt. »Nicht warten – starten!« knurrte er, und bevor Dor begriff, was er vorhatte, hatte der Oger bereits eine seiner Vorschlaghammerfäuste gegen das Tor gedonnert. Das schwere Holz zerbarst splitternd, und Krach steckte den Arm durch die Spalte, packte das Tor von innen und gab ihm einen kräftigen Ruck. Das ganze Tor löste sich krachend aus seinen Scharnieren. Dann griff er die Gitterstäbe mit der Linken und hob das Tor über den Kopf, während die anderen sich hastig duckten.

»Jetzt schau dir bloß mal an, was du angerichtet hast, du stumpfsinniger Grobian!« rief Arnolde. Doch alles in allem schien der Zentaur keineswegs völlig unzufrieden zu sein. Auch er war müde und reizbar von der Reise, und der Empfang auf Burg Onesti war nicht sonderlich höflich gewesen.

Der Wächter stand drinnen in der Toröffnung und starrte den Oger an, der mit einem Riesenschwung das Tor den Berghang hinabschleuderte. »Bringt uns zu Eurem Anführer«, sagte Dor gelassen, als handele es sich um eine Routineangelegenheit. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als das Beste aus der Situation zu machen, und Haltung zahlte sich immer aus. »Wir möchten nicht, daß unser Freund womöglich noch die Geduld verliert.«

Wie vor den Kopf geschlagen drehte sich der Wächter um und führte sie ins Innere der Burg. Von dem Getöse angezogen, kamen weitere Wächter mit gezogenen Schwertern herbeigeeilt. Krach blickte sie nur kurz an, und sie wichen hastig wieder zurück und steckten ihre Schwerter wieder in die Scheiden.

Kurz darauf befanden sie sich im Hauptfestsaal, wo der König von Onesti Hof hielt. Der König saß am Kopfende eines gewaltigen Holztisches, der über und über mit Puddingen bedeckt war. Als Dor näher kam, erhob er sich zornig, und sein riesiger Bauch hing schwer über der Tischplatte. »Hcdlzmc sn jmnv sgd ldzmhmf ne sghr hmsqrhnm…«, fragte er, und sein feistes Gesicht bekam eine imposante rote Farbe.

Da wurde er von Arnoldes magischem Feld erfaßt und war mit einem Mal zu verstehen. »… bevor ich euch alle in den Kerker werfen lasse!«

»Hallo«, sagte Dor. »Ich bin Dor, zeitweise König von Xanth, solange König Trent auf Reisen ist.« Natürlich war der Zombiemeister im Augenblick der eigentliche König auf Zeit, während Dor selbst auf Reisen war, doch das wäre jetzt viel zu kompliziert zu erklären gewesen. »Ich glaube, er ist auf Handelsmission hierhergekommen, es kann noch keinen Monat her sein, und er ist immer noch nicht zurückgekehrt. Deshalb bin ich gekommen, um nach ihm zu suchen. Also, was ist geschehen?«

Der König verzerrte das Gesicht. Plötzlich begriff Dor, daß seine Vorgehensweise völlig falsch gewesen war, daß König Trent gar nicht hierhergekommen war und daß die Leute von Onesti nichts über ihn wußten. Alles war ein einziger Irrtum.

»Ich bin König Oary von Onesti«, erwiderte der König voller Zorn, »und ich habe Euren König Trent nie gesehen. Verschwindet aus meinem Königreich!«

Die Verzweiflung drohte Dor zu überwältigen – doch da hörte er, wie Arnolde hinter ihm murmelte: »Ich glaube, diese Person frönt der Realitätsverschleierung.«

»Und außerdem lügt er wie gedruckt«, murrte Irene.

»Schleimer, Leimer«, meinte Krach kryptisch. Sanft legte er eine Hand auf den Bankettisch. Die Puddingschüsseln hüpften und bebten nervös.

König Oary musterte den Oger. Sein rötliches Gesicht wurde blaß. Sein rechtschaffener Zorn verwandelte sich in etwas, das schuldbewußter Schläue glich. »Vielleicht habe ich aber Nachricht von ihm erhalten«, sagte er weitaus weniger kämpferisch. »Setzt Euch an meine Tafel, dann werde ich meine Vasallen befragen lassen.«

Das gefiel Dor nicht. König Oary hatte keinen guten Ersteindruck auf ihn gemacht, und er verspürte keinerlei Lust, mit diesem Mann zu speisen. Aber die Puddinge sahen gut aus, und er wollte, daß Oary ihnen behilflich war. Zögernd nickte er.

Die Diener brachten weitere Stühle für Dor, Irene und Krach herbei. Grundy, der zu klein war, um auf einem Stuhl zu sitzen, hockte sich statt dessen auf die Tischkante. Arnolde blieb stehen. Man brachte noch mehr Puddinge herein sowie Flaschen mit Getränken.

Der Pudding war dick, mit eingelegten Früchten, und schmeckte erstaunlich gut. Dor merkte, daß er zusehends durstiger wurde, denn der Pudding war stark gewürzt, also trank er – und stellte fest, daß das Getränk wie eine Kreuzung zwischen süßem Bier und scharfem Wein von Bierfaß- und Weinfaßbäumen schmeckte. Er hatte gar nicht gewußt, daß solche Bäume auch in Mundania wuchsen; bestimmt wuchsen sie nicht so gut wie in Xanth. Aber das Zeug war recht gut und stieg sofort zu Kopf, wenn man sich erst einmal daran gewöhnt hatte.

Die anderen aßen ebenso zufrieden. Auf ihrer Flußfahrt hatte sie einen ordentlichen Appetit entwickelt und keine Pause mehr gemacht, um eine eigene Mahlzeit wachsen zu lassen, bevor sie sich der Burg genähert hatten. Besonders Krach vertilgte die Puddinge und Getränke in einem Tempo, das die Burgbediensteten mit offenen Mündern staunend zusehen ließ.

Doch das Getränk war stärker, als sie es gewohnt waren. Schon bald merkte Dor, wie seine Gedanken fröhliche Kreise schlugen. Grundy vollführte einen kleinen Tanz auf der Tischplatte, etwas, was er von mundanischen Einwanderern in Xanth aufgepickt hatte. Er nannte ihn den »Tanz des betrunkenen Matrosen«, und er sah auch wirklich ziemlich betrunken aus. König Oary gefiel es, und er klatschte in die fetten Hände.

Arnolde und Irene aßen etwas zurückhaltender, doch die Körpermassen des Zentauren verlangten nach großen Nahrungsmengen, und er kam gut voran. Irene, so schien es, liebte Puddinge, und zierte sich nicht allzulange.

»Zmc vgn Ihfgs xnt ad, ezhy czlrdk?« fragte König Oary Irene freundlich.

Hoppla – sie aßen ja am anderen Ende der Tafel, und der König war außerhalb des magischen Feldes. Doch Arnolde hatte das Problem sofort erkannt und beugte sich vor, so daß der König sich wieder im Einflußbereich seiner Magie befand.

Auch Irene hatte gemerkt, was los war. »Habt Ihr mit mir gesprochen, Euer Majestät?« fragte sie schüchtern. Dor mußte zugeben, daß sie sich recht maidenhaft benehmen konnte, wenn sie nur wollte.

»Selbstverständlich. Was für andere schöne Damselln gäbe es denn in diesem Saal?«

Sie errötete etwas und blickte um sich, wie um nach anderen Mädchen Ausschau zu halten. Sie wurde immer geübter. »Vielen Dank, Majestät.«

»Von welcher Linie stammt Ihr ab?«

»Oh, ich bin König Trents Tochter.«

Der König nickte weise. »Ich bin sicher, daß Ihr hübscher seid als Eure Mutter.«

Hatte das etwas Bestimmtes zu bedeuten? Dor aß weiter und hörte zu, in der Hoffnung, daß Irene diesem fetten Monarchen vielleicht einige nützliche Informationen entlocken konnte. Irgendwas hier war sehr seltsam, aber er wußte nicht, wie er sich verhalten sollte, ohne weitere Informationen zur Verfügung zu haben.

»Habt Ihr Nachricht von meinen Eltern?« fragte Irene und war so klug, den König dabei gewinnend anzulächeln. Einmal mehr mußte Dor seine unvernünftige Eifersucht unterdrücken. »Ich mache mir ja solche Sorgen um sie.« Und sie zog eine allerliebste Schnute. Dor hatte das noch nie bei ihr beobachtet. Es mußte neu sein.

»Meine Gefolgsleute sind gerade dabei, das Neueste über sie auszuspionieren«, versicherte ihr der König. »Schon bald müßten wir alle Nachrichten erhalten, die es in diesem Fall gibt.«

Arnolde warf Dor mit flüchtigem Stirnrunzeln einen Blick zu. Er traute Oary immer noch nicht.

»Erzählt mir von Onesti«, bat Irene fröhlich. »Es scheint ja solch ein hübsches Königreich zu sein!«

»O ja, das ist es auch«, meinte der König und richtete dabei seinen Blick auf das, was von ihren Beinen zu sehen war. »Zwei prächtige Burgen und mehrere Dörfer, sowie einige äußerst nette Berge. Seit Jahrhunderten haben wir die Wilden abgewehrt. Vor zweitausend Jahren war dies das Kernland der Streitaxtmenschen, der Cimmerer. Dann kamen die Skythen auf ihren Pferden und trieben die nichtberittenen Cimmerer nach Süden ab. Man hatte vorher in diesem Land keine Pferde gekannt, und so erschienen sie uns wie Ungeheuer aus einem Fabelland.«

Der König hielt inne, um einen weiteren Pudding zu vertilgen. Ungeheuer aus einem Fabelland – konnte das eine Anspielung auf Xanth sein? Vielleicht, so überlegte Dor, hatten ja einige der Nachtmähren einen Ausgang entdeckt und waren mundanisch geworden, die Vorfahren der heutigen Tagpferde möglicherweise. Das war eine reizvolle Spekulation.

»Aber hier in den Bergen«, nahm der König wieder das Wort auf und wischte sich etwas Pudding aus dem Schnurrbart, »blieb das alte Reich bestehen. Viele Jahrhunderte später haben die Sarmatier die Skythen vertrieben, aber diese Festung haben sie nicht einnehmen können.« Er rülpste zufrieden. »Dann kamen die Goten – doch immer noch verteidigten wir die Grenze. Schließlich kamen die schrecklich zivilisierten Römer aus dem Süden und die Hunnen aus dem Osten…«

»Ach ja, die Hunnen«, meinte Irene als wisse sie Bescheid.

»Doch Onesti überlebte auch das, in seinen hohen Bergen, wenn uns auch ringsum die Barbaren bedrängten«, schloß der König. »Natürlich mußten wir gelegentlich Tribut zahlen, das war ein notwendiges Übel. Unser Handel ist allerdings recht eingeengt. Wenn wir mit den Barbaren zuviel Handel betrieben, würde es mit Sicherheit Ärger geben. Und doch müssen wir Handel betreiben, wenn wir überleben wollen.«

»Mein Vater ist gekommen, um Handelsbeziehungen mit Euch aufzunehmen«, warf Irene ein.

»Vielleicht wurde er ja von den schrecklichen Khazaren oder ihren magyarischen Vasallen abgefangen«, meinte König Oary. »Ich habe gelegentlich mit ihnen zu tun gehabt. Es sind wilde, gerissene Schurken, die ständig hinter Beute her sind. Zufällig spreche ich ihre Sprache, also kann ich das wirklich beurteilen.«

Dor entschied, daß er wohl seine eigenen Nachforschungen durchführen mußte, indem er die Gegenstände der näheren Umgebung ausfragte. Doch das konnte er nicht jetzt tun, während der König zusah. Er war überzeugt davon, daß der König irgend etwas verbarg.

»Seid Ihr schon lange König von Onesti?« fragte Irene in unschuldigem Tonfall.

»Noch nicht sehr lange«, gestand Oary. »Mein Neffe Omen sollte König werden, aber der war noch nicht volljährig, also wurde ich Regent, als mein Bruder gestorben ist. Dann ist Omen auf die Jagd gegangen und nicht wieder zurückgekehrt. Wir befürchten, daß er sich wohl zu weit fortgewagt hat und von den Khazaren oder Magyaren überfallen wurde. Also bin ich solange König, bis wir Omen offiziell für tot erklären können. Natürlich besteht keine Hoffnung, daß er überlebt hat, aber der alte Rat ist in solchen Dingen recht langsam.«

Also war König Oary tatsächlich nur der Vertreter des richtigen Königs – genau wie es Dor in Xanth war. Doch dieser König war eifrig darauf erpicht, die Krone zu behalten. Hatten da wohl außer den Khazaren noch andere ihre schmutzigen Finger im Spiel?

Dor merkte plötzlich, daß sein Kopf auf der Tischplatte lag und einem Pudding den Platz streitig machte. Er mußte wirklich ziemlich müde gewesen sein! »Was ist los?« murmelte er.

»Du bist betäubt worden, du Knalltüte, das ist los!« flüsterte ihm der Tisch ins Ohr. »In diesem Gesöff ist mehr drin als nur Fusel.«

Dor war schockiert, aber irgendwie blieb sein Kopf liegen. »Betäubt? Warum denn?«

»Weil der falsche König dich nicht mag, darum. Er läßt seine Feinde immer betäuben. So ist er König Omen losgeworden und auch diesen magischen Pseudokönig.«

Magischer Pseudokönig! Es war zwar etwas merkwürdig, mit auf dem Tisch ruhenden Kopf zu flüstern, aber immerhin war es einigermaßen unauffällig. Dors Nase steckte fast unter dem Pudding. »War das König Trent?«

»So hat er sich genannt, ja. Aber Magie konnte er nicht. Er hat das Getränk getrunken, ganz vertrauensvoll, wie sie alle sind, diese Narren, und dann ist er eingeschlafen, genau wie du. Ihr seid alle solche Einfaltspinsel!«

»Krach! Grundy!« schrie Dor so laut wie er nur konnte, den Kopf noch immer auf die Tischplatte geheftet. »Wir sind verraten worden! Mit Drogen betäubt! Brecht aus!«

Doch nun kamen mehrere Wachen in den Saal gestürmt. »Schafft diese Kadaver fort!« befahl König Oary. »Werft sie in den Kerker. Dem Mädchen tut nichts! Die ist zu schön, um sie zu vergeuden. Stellt den komischen Gaul in den Stall.«

Krach, der zwar gewaltige Mengen des vergifteten Getränks hinuntergestürzt hatte, besaß immerhin noch Kraft genug um aufzustehen und sich zu wehren. Dor hörte den Lärm, lag aber mit dem Gesicht in die falsche Richtung. Grundy stürzte vor, schrie auf und wich zurück. »Gib’s ihnen, Oger!« brüllte er und tanzte auf der Tischplatte. »Zerfetz sie!«

Doch plötzlich wurde es still. »He, nun gib doch nicht auf!« rief Grundy. »Was ist denn los mit dir?«

Dor wußte, was geschehen war: Der Oger hatte offensichtlich den magischen Durchgang verlassen und seine übernatürlichen Kräfte eingebüßt. Jetzt forderten die Flaschen mit dem vergifteten Getränk auch von ihm ihren Tribut, wie von jedem normalen Wesen. »Ich schlaf ganz brav«, sagte Krach und gab mit diesem Reim seine letzte magische Kraft auf.

Dor wußte, daß der Kampf verloren war. »Verschwinde, Grundy!« sagte er mit letzter Anstrengung. »Bevor du auch noch wegschläfst! Laß dich nicht erwischen.« Dann verlor er das Bewußtsein.