5
Stolz der Leunden

Dor erwachte, als der Morgen graute. Die Sonne hatte es irgendwie in den Osten geschafft, wo das Festland lag, hatte sich abgetrocknet und schien wieder in alter Pracht. Dor fragte sich, welch gefährliche Strecke sie wohl gereist war. Vielleicht gab es ja einen Tunnel, durch den sie rollen konnte. Wenn es ihr einmal gelingen sollte, einen Weg herab zu finden, bei dem sie kein Bad im Meer zu nehmen brauchte, hätte sie es aber wirklich geschafft! Vielleicht sollte er ihr das irgendwann einmal vorschlagen. Schließlich ging die Sonne an manchen Morgen ja auch auf, ohne sich hinreichend abgetrocknet zu haben, um in vollem Glanz scheinen zu können. Offensichtlich waren manche Nächte schlimmer als andere. Doch er würde es ihr nicht gerade jetzt vorschlagen; er wollte nicht, daß die Sonne auf der Suche nach neuen Routen verschwand und Xanth womöglich gleich mehrere Tage hintereinander im Dunkeln zurückließ. Dor brauchte Licht, um die Zentaureninsel zu finden. Dafür reichte Juwels Mitternachtssonnenstein nun einmal nicht aus.

Die Zentaureninsel – sollte er König Trent dort finden? Nein, die Zentauren würden den König nicht gefangenhalten, und außerdem befand sich Trent ja auch in Mundania. Aber vielleicht gab es auf der Zentaureninsel etwas, das in einem Zusammenhang damit stand. Wenn er den nur herausbekäme!

Dor setzte sich auf. »Wo sind wir jetzt, Chet?« fragte er.

Er erhielt keine Antwort. Der Zentaur war ebenfalls eingeschlafen. Irene lehnte immer noch gegen ihn. Am Heck des Floßes schnarchten Krach und Grundy vor sich hin.

Alle hatten geschlafen! Niemand hatte den Kurs des Floßes bestimmt! Die Bullenflatterbinsen waren einfach losgeprescht, wohin es ihnen gerade gepaßt hatte – und das konnte so gut wie überall sein!

Das Floß trieb mitten auf dem Meer. Ringsum befanden sich endlose Wassermassen. Es war reines Glück gewesen, daß kein Seeungeheuer sie erspäht und im Schlaf vertilgt hatte! Und da kam auch schon eins!

Doch als das Ungeheuer hungrig Kurs auf das Gefährt nahm, stellte Dor fest, daß die Binsen derart schnell waren, daß die Seeschlange sie nicht würde einholen können. Sie waren in Sichtweite, weil sie so schnell dahinjagten. Da sie Richtung Süden fuhren, mußten sie bereits in der Nähe der Zentaureninsel sein.

Nein, das war nicht zwangsläufig der Fall. In Cheries Logik-Stunden war Dor besser gewesen als in Rechtschreibung. Er suchte immer nach Alternativen zum Offensichtlichen. Das Floß hätte auch die ganze Nacht Schlaufen fahren oder in Richtung Norden reisen können, um sich dann irgendwann zufällig gegen Sonnenaufgang dem Süden zuzuwenden. Sie konnten irgendwo sein, das ließ sich nicht bestimmen.

»Wo sind wir?« fragte Dor das nächstgelegene Wasser.

»Auf dem 83. Längen- und dem 26. Breitengrad oder auch umgekehrt«, sagte das Wasser. »Ich verwechsle ständig die Längen- mit den Breitenkreisen.«

»Das sagt mir überhaupt nichts!« fauchte Dor.

»Aber mir«, sagte Chet, der gerade aufwachte. »Wir befinden uns ein gutes Stück draußen auf offener See, aber auch ein gutes Stück in Richtung unseres Ziels. Gegen Abend müßten wir eigentlich da sein.«

»Aber angenommen, daß uns hier draußen ein Ungeheuer erwischt?« warf Irene ein, die ebenfalls wachgeworden war. »Ich wäre lieber in Landnähe.«

Chet zuckte mit den Achseln. »Wir können ja das Land ansteuern. In der Zwischenzeit kannst du uns ein paar Nahrungs- und Wasserpflanzen schnellzüchten, damit wir essen und trinken können.«

»Und eine Sonnenschirmpflanze, die uns vor der Sonne schützt«, fügte sie hinzu. »Und eine Sichtsperrhecke für… na, ihr wißt schon.«

Sie machte sich ans Werk. Schon bald darauf tranken sie das duftende Wasser einer Eimerpflanze und aßen brötchenähnliche Teigkugeln von Puffballsträuchern. Die neue Hecke schirmte den hinteren Teil des Floßes ab, wo die leergetrunkenen Eimer einem anderen Zweck dienten. Mehrere Sonnenschirme schützten sie vor den Sonnenstrahlen. Langsam wurde es richtig gemütlich.

Auf Chets Ziehen an der Nasenleine hin steuerte das Gefährt gen Osten, wo sich das ferne Festland befinden mußte.

Krach der Oger hielt die Nase schnüffelnd in den Wind und blickte sich im Kreis um. Dann zeigte er in eine Richtung. »Riech üblen Wurm von einem Sturm«, verkündete er.

O nein! Dor erspähte die finsteren Wolken, die über den südlichen Horizont auf sie zukamen. Krachs scharfe Ogersinne hatten den Sturm zwar als erste gewittert, aber nun war er für alle deutlich erkennbar.

»Wir sitzen in der Patsche«, meinte Grundy. »Ich werde sehen, was ich tun kann.«

»Was kannst du schon tun?« fragte Irene in vernichtendem Tonfall. »Willst du mit deiner dämlichen Winzhand wedeln und uns alle auf der Stelle in Sicherheit zaubern?«

Grundy ignorierte sie. Er sprach mit dem Meer und sagte kurz darauf: »Ich glaube, ich hab’s. Die Fische melden es einem eklektischen Aal.«

»Einem was?« fragte Irene. »Meinst du etwa eines von diesen Stromstoßwesen?«

»Einen eklektischen Aal, Dumpfbacke! Der sucht sich überall alles mögliche zusammen. Tut nie etwas Eigenständiges, setzt nur alle Stücke und Teile zusammen, die andere geschaffen haben.«

»Wie kann uns so ein Wesen denn helfen?«

»Du solltest lieber fragen, warum es uns helfen wird.«

»Na gut, Holzkopf. Warum?«

»Weil ich ihm die Hälfte deiner Samen versprochen habe.«

»Die Hälfte meiner Samen!« explodierte sie. »Das kannst du nicht machen!«

»Wenn ich es nicht mache, stampft uns der Sturm in Grund und Wasser.«

»Er hat recht, Irene«, warf Chet ein. »Wir stecken bis zum Hals in der Pfütze, um es bildlich auszudrücken.«

»Ich werde den verdammten Golem in eine Pfütze stecken, und zwar in eine Pfütze aus weißglühendem Nies-Pfeffer! Er hat kein Recht dazu, mein Eigentum anderen zu versprechen!«

»Na gut«, meinte Grundy. »Dann sag dem Aal nein. Verpaß ihm einen Schock.«

Eine schmale Nase durchstieß die immer bewegter werdende Wasseroberfläche. Ein kalter Windstoß zerzauste Irenes Haar und preßte ihr Kleid gegen ihren Körper, was sie äußerst hübsch anzusehen machte. Der Himmel verdunkelte sich.

»Er meint, bildlich gesprochen, daß du keine schlechte Figur hast«, meldete ihr Grundy mit einem hämischen Grinsen.

Dieses unpassende Kompliment brachte sie aus der Fassung. Es war nicht leicht, jemandem einen Korb zu geben, der eine solche Bemerkung gemacht hatte. »Hm, na ja, schon gut«, sagte sie schmollend. »Die Hälfte der Samen. Aber ich bestimme, welche Hälfte!«

»Na, dann schmeiß sie endlich ins Wasser, Blödianin!« sagte Grundy, der sich am Rand des schaukelnden Floßes festhielt.

»Aber dann werden sie doch keimen!«

»Darum geht’s ja gerade. Laß sie alle wachsen. Benutz deine Magie. Der eklektische Aal verlangt Vorauskasse.«

Irene warf ihm zwar einen rebellischen Blick zu, doch da platzte auch schon der erste Regentropfen auf ihrer Nase, und sie entschied sich dazu, einzuwilligen. »Das zahle ich deiner Bindfadenhaut noch heim, Golem!« murmelte sie. Sie schleuderte die Samen einzeln nacheinander ins wogende Wasser, indem sie sie beschwor: »Wachse, wie das Ego deines Golems! Wachse, wie Grundys Wasserkopf! Wachse, wie die Rache, die ich diesem Stinker noch schuldig bin…«

Im Wasser entwickelten sich höchst seltsame Dinge: Rosa Runkelrüben keimten und drehten auf der Stelle ab: Gelbtomaten, Schwarzkohl und blaue Beete. Schnappbohnen schnappten fröhlich um sich, und Artischocken verpaßten ihrer Umgebung artig Schocks. Dann kamen die Blumen an die Reihe: Weiße Blüten sprangen in dichten Sträußen an die Oberfläche und verzierten das Meer im unmittelbaren Umkreis des Floßes. Dann schwammen sie in großen Herden davon und stießen leise Bäääähäähääs aus.

»Was war das denn?« fragte Grundy.

»Schafgarbe, du Dösbartel«, fauchte Irene.

Feuerwerkblumen platzten mit rotem Sprühen, Tigerlilien fauchten, Maiglöckchen läuteten, und Blutende Herzen färbten das Wasser mit ihrem traurigen Lebenssaft. Iris-Blüten, die Irene von ihrer Mutter geschenkt bekommen hatte, blühten in hübschem Blau und Purpur. Glücksklee streckte sich glücklich gen Himmel, Schwindelien blühten auf und verschwanden auch schon, bevor man ihnen auch nur befehlen konnte, sich davonzumachen. Immergrüns zwinkerten ihnen aus grünen Augen zu; Krokusse öffneten ihre Krokodilmäuler, um ihnen falsche Küßchen zuzuwerfen.

Das Schauspiel endete mit dem Aufblühen goldener Kringel – Ringelblumen. »So, das ist die Hälfte. Nimm’s oder laß es bleiben«, sagte Irene.

»Der Aal nimmt es«, meldete Grundy. »Jetzt wird uns der eklektische Aal auf seine Weise durch den Sturm an die Küste führen.«

»Wird auch Zeit«, meinte Chet. »Alles festhalten, wir haben eine schwere Überfahrt vor uns.«

Der Aal zappelte voran. Das Gefährt folgte ihm. Mit feuchter Wildheit schlug der Sturm zu. »Was hast du gegen uns?« fragte Dor, während der Wind an seinem Leib riß.

»Nichts Persönliches«, wehte der zurück. »Meine Aufgabe ist es, die Meere von Treibgut zu säubern. Kann schließlich nicht alles die Wasseroberfläche verstopfen lassen, nicht wahr?«

Der Regen prasselte immer heftiger auf sie herab. Im Nu waren sie völlig durchnäßt. »Wasser schöpfen! Wasser schöpfen!« erscholl Chets Stimme dünn im Wind.

Dor griff nach seinem Eimer und begann, Wasser auszuschöpfen. Auf der anderen Seite tat Krach der Oger dasselbe. Mit kolossalen Anstrengungen gelang es ihnen, ein wenig schneller als der Regenguß zu sein.

»Runter mit euch!« schrie Grundy und übertönte den Sturm. »Laßt sie nicht überrollen.«

»Sie rollt doch gar nicht«, erwiderte Irene. »Ein Floß kann gar nicht…«

Da senkte sich das Floß entsetzlich schräg und schickte sich an, sich herumzuwälzen. Irene warf sich in die Mittenvertiefung, zusammen mit Dor und Krach. Das Floß senkte sich übelkeitserregend nach rechts, dann wieder nach links und schleuderte Irene erst gegen Dor, dann Dor gegen sie. Sie war wunderbar weich.

»Was tust du da?« schrie Dor, weil ihm trotz des weichen Aufpralls die Puste ausging.

»Ich giere«, erwiderte das Floß.

»Sieht mir mehr nach Rollen und Schlingern aus«, brummte Chet vom Heck herüber.

Irene landete wieder neben Dor, Hüfte an Hüfte und Nase gegen Nase. »Liebster, wir müssen damit aufhören, uns auf diese Weise zu treffen«, keuchte sie und versuchte ein Lächeln.

Unter anderen Umständen hätte Dor diese Treffen durchaus zu schätzen gewußt. Irene war an den richtigen Stellen gepolstert, so daß der Aufprall stets angenehm weich ausfiel. Doch im Augenblick fürchtete er um ihr Leben und um sein eigenes. Inzwischen machte sie den Eindruck, als würde sie seekrank.

Das Gefährt senkte sich nach vorn, als rutsche es einen Wasserfall hinab. Dor drehte sich der Magen um.

»Und was machst du jetzt?« keuchte er mühsam.

»Ich stampfe«, erwiderte das Floß.

»Wir sind aus dem Wasser!« rief Chet. Obwohl er auf dem Boden des Floßes lag, ragte sein Kopf weiter empor als die Köpfe der anderen. »Unter uns ist irgend etwas! Deshalb schlingern wir auch so!«

»Das ist der Behemoth«, sagte Grundy.

»Der was?« fragte Dor.

»Der Behemoth. Ein wogendes Riesengeschöpf, das herumtreibt und nichts tut. Der eklektische Aal hat uns zu ihm geführt, damit er uns den Sturm überstehen hilft.«

Irene riß sich von Dor los, und gemeinsam krochen sie vorsichtig die Schräge empor, um einen Blick über den Rand des Floßes zu werfen. Der Sturm tobte weiterhin, doch nun traf er nur den glänzenden, blasigen Rücken des gewaltigen Tiers. Das Floß schien in keiner besonders sicheren Lage zu sein, da es ständig hin und her rutschte, doch die riesigen Massen des Ungeheuers schützten sie vor dem wogenden Meer.

»Aber ich dachte immer, daß Behemoths Süßwasserwesen wären«, sagte Dor. »Mein Vater ist einmal unter dem Ogersee einem begegnet, hat er mir erzählt.«

»Natürlich hat er das. Ich war schließlich dabei«, meinte Grundy hochnäsig. »Behemoths sind immer gerade dort, wo man auf sie trifft. Sie sind zu groß, um sich darüber Sorgen zu machen, um was für ein Wasser es sich handelt.«

»Hat der Aal dieses Wesen zufällig ausfindig gemacht und uns zu ihm geführt?« fragte Chet, der ebenfalls leicht seekrank aussah.

»Das ist die eklektische Methode«, stimmte Grundy ihm zu. »Alles zu gebrauchen, was gerade nützlich und griffbereit ist.«

»Och, ihr habt geschummelt!« heulte der Sturm. »Ich krieg die Badewanne nicht unter!« Ein wirbelndes Auge richtete sich auf Dor. »Das ist schon das zweite Mal, daß du mir entkommen bist, Menschen-Ding. Aber wir sehen uns noch!« Wütend blies er in westlicher Richtung davon.

Das war also derselbe Sturm gewesen, dem er am Schloß des Guten Magiers Humfrey begegnet war! Der kam aber wirklich in der Gegend herum!

Als der Behemoth merkte, daß seine angenehme Dusche aufgehört hatte, stieß er eine staubige Gaswolke aus und verschwand wieder in den Tiefen. Es hatte keinen Zweck für ihn, weiterhin an der Oberfläche zu bleiben, wenn der Sturm nicht mehr mitspielen mochte. Das Floß trieb wieder in der ruhigen See.

Nun, da er nicht mehr in der Gefahr des Ertrinkens schwebte, bedauerte Dor beinahe das Nachlassen des Sturms. Irene ließ sich wesentlich angenehmer umarmen als die Binsen des Floßes. Doch er wußte, daß es närrisch war, sich mehr für das zu interessieren, was er nicht haben konnte, als mit dem zufrieden zu sein, was er bereits besaß.

Am Horizont erspähten sie ein weiteres Ungeheuer. »Mach Fahrt!« schrie Irene beunruhigt. »Noch sind wir nicht völlig aus der Unwetterzone!«

»Folgt dem Aal!« mahnte Grundy.

»Aber der Aal schwimmt doch genau auf das Ungeheuer zu!« protestierte Chet.

»Dann muß das wohl der richtige Weg sein.« Doch selbst Grundy wirkte skeptisch.

Sie jagten auf das Ungeheuer zu. Nun stellte sich heraus, daß es außerordentlich lang und flach war, wie eine plattgewalzte Seeschlange. »Was ist das?« fragte Dor staunend.

»Ein Bandfisch, du Knalltüte«, antwortete Grundy.

»Wie kann der uns denn helfen?« Denn der Sturm hatte länger gedauert, als es den Anschein gehabt hatte; die Sonne befand sich bereits am Zenit, und die Küste war immer noch fern.

»Ich weiß nur, daß der Aal sich dazu verpflichtet hat, uns bis zum Nachtanbruch an Land zu bringen«, erwiderte Grundy.

Sie fuhren immer weiter auf das Monster zu, doch sie wurden merklich langsamer: Die Kräfte der Bullenflatterbinsen ließen nach. Dor merkte, daß bereits einiges Material, aus dem das Boot bestand, tot war; deshalb hatte er mit ihm ja auch sprechen können. Schon bald würden die Binsen bewegungslos werden und sie mitten auf hoher See ihrem Schicksal überlassen. Sie besaßen kein Paddel, das hatten sie zusammen mit ihrem ersten Boot verloren.

Der Bandfisch senkte seinen unglaublich platten Kopf, als sich das Floß ihm näherte. Dann senkte er sich unter die Wasseroberfläche und rutschte unter das Gefährt. Einen Augenblick später trat er hinter ihnen wieder hervor und hob das Floß mit seinem Hals hoch aus dem Wasser.

»Neiiin!« schrie Irene, als sie in die Luft emporgestemmt wurden. Entsetzt schlang sie die Arme um Dor. Wieder wünschte er sich, daß dies doch unter anderen Umständen geschehen wäre, als er nicht selbst derart entsetzt war.

Doch der Körper des Bandfischs war leicht konkav gewölbt, so daß das Floß in der Mitte blieb und nicht hinabstürzte. Als der Kopf sich in furchterregende Höhe emporgeschoben hatte, begann das Floß, den glatten feuchten Leib hinabzurutschen. Entsetzt sahen sie zu, wie sich das Gefährt nach vorn senkte und immer schneller den Hals des Wesens hinabjagte. Irene stieß einen weiteren Schrei aus und klammerte sich an Dor, während ihre Körper jedes Eigengewicht zu verlieren schienen.

Sie jagten hinab. Doch der Bandfisch bäumte sich immer wieder auf, so daß stets ein neuer Hügel entstand, bevor sie das Wasser berührten. Auf diese Weise jagten sie mit schwindelerregender Geschwindigkeit das Geschöpf hinunter, ohne dabei jemals das Wasser zu berühren.

»Wir reisen ja landwärts!« sagte Dor ehrfürchtig. »Das Ungeheuer befördert uns in die richtige Richtung!«

»Damit vergnügt er sich«, erklärte Grundy. »Der Bandfisch schaufelt Gegenstände auf seinen Rücken und läßt sie seinen Körper entlangrutschen. Der Aal hat ihn einfach in Anspruch genommen, weil er gerade da war und uns nützen konnte.«

Als sie feststellte, daß sie schließlich doch nicht in Gefahr waren, gewann Irene ihre Selbstsicherheit zurück. »Laß mich gefälligst los!« fauchte sie Dor an, als sei er es gewesen, der mit dem Grapschen angefangen hatte.

Der Bandfisch schien unendlich lang zu sein, denn das Floß glitt und glitt immer weiter. Da merkte Dor, daß der Kopf des Ungeheuers unter Wasser seinem Schwanz gefolgt war; das Wesen verpaßte ihnen also einen zweiten Durchgang. Die Küste kam immer näher.

Schließlich waren sie am Ziel. Der Bandfisch war des Spiels überdrüssig geworden und warf sie mit einem riesigen Platscher ab. Die Binsen schafften es mit letzter Mühe an den Strand, dann gaben sie ihren Geist auf, und das Floß begann abzusacken.

Die Sonne befand sich schon dicht über dem westlichen Horizont und raste weiter, um ihnen den letzten Rest des Tages abzuschneiden, bevor sie Weiterreisen konnte. Bald würde die goldene Kugel wieder im Wasser erlöschen. »Wir sollten von jetzt ab zu Fuß gehen, meine ich«, bemerkte Chet. »Heute schaffen wir es sowieso nicht mehr bis zur Zentaureninsel.«

»Wir können uns ihr aber nähern«, meinte Dor. »Für den Augenblick habe ich sowieso die Nase voll von Wasserfahrzeugen.« Die anderen stimmten ihm zu.

Als erstes machten sie eine Pause, um Nahrung zu suchen. Sie fanden reife Wildfruchtkuchen und eine Wasserkastanie, die trinkbares Wasser spendete, so daß Irene ihren geschrumpften Samenvorrat nicht anzugreifen brauchte. Sie fand sogar neue, weitere Samen.

Plötzlich sprang etwas hinter einem Baum hervor und jagte auf Dor zu. Ohne nachzudenken riß er sein magisches Schwert heraus – und das Wesen blieb abrupt stehen, wirbelte herum und jagte davon. Es schien nur aus Haaren und Zorn zu bestehen.

»Was war das denn?« fragte Dor zitternd.

»Das ist ein Springinsfeld«, sagte der nächstgelegene Stein.

»Was ist denn ein Springinsfeld?« fragte Irene.

»Dir brauche ich nicht zu antworten«, entgegnete der Stein. »Da beißt du bei mir auf Granit.«

»Antworte ihr!« befahl Dor.

»Ooooch. Na gut. Es ist genau das, was ihr gesehen habt.«

»Diese Antwort ist uns keine besondere Hilfe«, bemerkte Irene.

»Du selbst auch nicht, Puppe«, sagte der Stein. »Ich habe schon scheckige Schlangen gesehen, die einen besseren Teint hatten als du.«

Von der Meeresreise zerzaust und arg mitgenommen wie sie war, befand sich Irene nicht gerade auf dem Höhepunkt ihrer Schönheit. Doch nun war ihre Eitelkeit provoziert worden. »Ich kann dich vom Unkraut ersticken lassen, Mineral!«

»Ach ja, Grünschnabel? Versuch’s doch mal!«

»Unkraut – wachse!« befahl sie und zeigte auf den Stein. Sofort begann das Unkraut um ihn herum zu sprießen.

»Das beste Unkraut wo gibt!« rief das Unkraut. Erstaunt musterte Dor es näher, denn sein Talent erstreckte sich nicht auf Lebewesen. Da bemerkte er, daß etwas Sand, der an der Pflanze klebte, gesprochen hatte.

»Nicht zu fassen!« sagte der Stein. »Sie versucht’s tatsächlich!«

Der Stein war inzwischen von dem Grünzeug fast völlig bedeckt. »Schon gut, schon gut, Puppe! Aber wisch erst mal diese Schrottgewächse aus meinem Gesicht!«

»Hört auf zu wachsen!« befahl Irene dem Unkraut, das mit einem frustrierten Rascheln aufhörte. Sie trat es in den Boden.

»Hübsche Beine hast du aber«, bemerkte der Stein. »Und das ist noch nicht mal alles.«

Irene, die über dem Stein gestanden hatte, machte einen Satz zur Seite. »Du sollst lediglich nur meine Frage beantworten.«

»Die Dinger springen einfach hervor, erschrecken die Leute und hauen ab«, sagte der Stein. »Sie sind harmlos. Sie sind vor gar nicht allzu langer Zeit aus Mundania herübergekommen, als die Mundanier aufgehört haben, an sie zu glauben. Sie haben gar nicht den Mumm, irgend etwas Böses zu tun.«

»Danke«, sagte Irene, zufrieden mit ihrem Sieg über den frechen Stein.

»Ich glaube, das Gras muß noch ein bißchen runtergetrampelt werden«, schlug der Stein ihr vor.

»Nicht solange ich einen Rock anhabe.«

»Ooooccch…«

Sie beendeten ihr Mahl und machten sich auf den Weg nach Süden. Der Tag war zwar schon fast zu Ende, aber sie mußten eine vernünftige Lagerstelle für die Nacht suchen. Dor befragte weitere Steine, um sicherzugehen, daß nichts Gefährliches in der Gegend lauerte; doch diese Insel schien einigermaßen sicher zu sein. Vielleicht hatte sich das Blatt ja gewendet, so daß sie ihr Ziel möglicherweise ohne weitere Mißgeschicke erreichen würden.

Doch als die Abenddämmerung einbrach, gelangten sie an die Südküste der Insel. Ein schmaler Kanal trennte sie von der nächstgelegenen Insel in der Kette.

»Vielleicht bleiben wir über Nacht besser hier«, sagte Dor. »Diese Insel scheint sicher zu sein, und wir wissen nicht, was uns auf der nächsten erwartet.«

»Außerdem bin ich müde«, warf Irene ein.

Sie ließen sich zur Nacht nieder, geschützt von einem Palisadenzaun aus Spargelspitzen, die Irene eigens dafür wachsen ließ. Der Springinsfeld griff das Staket unentwegt an und lief immer wieder davon, ohne Schaden anzurichten.

Chet und Krach, die am größten waren, legten sich an den Außenrand des kleinen Geheges. Grundy brauchte kaum Platz, so daß er nicht wirklich zählte. Dor und Irene waren in der Mitte zusammengepfercht. Doch nun hatte sie Platz und Zeit genug, sich hinzulegen, ohne ihn zu berühren. Na ja.

»Weißt du, dieser Stein hat durchaus recht«, meinte Dor. »Du hast wirklich hübsche Beine. Und das ist noch längst nicht alles.«

»Schlaf jetzt«, sagte sie, keineswegs unerfreut.

 

Am nächsten Morgen trieb ein großer, rundlicher Gegenstand im Kanal. Dor gefiel das nicht. Sie mußten an ihm vorbeischwimmen, um die Nachbarinsel zu erreichen. »Ist das ein Tier oder eine Pflanze?« fragte er.

»Keine Pflanze«, erwiderte Irene. Sie hatte ein Gespür für so etwas, da es in Beziehung zu ihrer Magie stand.

»Ich werde mit ihm sprechen«, sagte Grundy. Er gab eine komplizierte Reihe von Pfiffen und beinahe unhörbaren Grunzern von sich. Ein großer Teil seiner Kommunikation war für andere undurchschaubar, weil manche Tiere und die meisten Pflanzen nichtmenschliche Organe verwendeten. Kurz darauf erklärte er: »Es ist eine Seenessel, ein pflanzenähnliches Tier. Dieser Kanal ist ihr Revier, und sie wird jeden zu Tode stechen, der dort eindringt.«

»Wie schnell kann sie denn schwimmen?« fragte Irene.

»Schnell genug«, meinte Grundy. »Sie sieht zwar nicht nach viel aus, aber sie kann was. Wir könnten uns in zwei Gruppen aufteilen, dann erwischt sie vielleicht nur die Hafte von uns.«

»Vielleicht überläßt du das Denken lieber Leuten, die dafür besser ausgerüstet sind«, meinte Chet.

»Wir müssen sie entweder von dort wegschaffen oder sie neutralisieren«, sagte Dor. »Ich werde versuchen, sie mit meinem Talent wegzulocken.«

»In der Zwischenzeit werde ich mal lieber meine Schockblume wachsen lassen«, sagte Irene.

»Danke für dein uneingeschränktes Vertrauen.« Doch Dor konnte es ihr nicht wirklich verübeln; er hatte zwar schon öfter Ungeheuer mit seinem Talent austricksen können, doch so etwas hing immer vom Wesen und der Intelligenz des jeweiligen Monsters ab. Bei dem Wasserdrachen hatte er es gar nicht erst versucht, weil er gewußt hatte, daß es zwecklos gewesen wäre. Diese Seenessel war eine weitgehend unbekannte Größe. Auf jeden Fall sah sie alles andere als schlau aus.

Er konzentrierte sich auf das Wasser in unmittelbarer Nähe der Nessel. »Kannst du imitieren?« fragte er es. Unbelebte Dinge meinten oft, daß sie ein solches Talent besaßen, und je weniger sie davon aufwiesen, um so eitler waren sie deswegen. Vor Jahren hatte er einmal Wasser dazu bewegt, seine eigene Stimme nachzuahmen, womit er einem Tritonen eine neckische kleine Herumjagerei beschert hatte.

»Nein«, sagte das Wasser.

Oho. »Na ja, dann sprich mir einfach nach: ›Seenessel, du bist ein großer Blubberklumpen.‹«

»Hä?« fragte das Wasser.

Es hatte ja so kommen müssen, daß er eines Tages einem dummen Gewässer über den Weg laufen würde! Manches Wasser besaß einen perlenden, sprudelnden Witz; andere Gewässer wiederum lagen bloß rum wie tote Pfützen. »Blubberklumpen!« wiederholte er.

»Du aber auch!« erwiderte das Wasser.

»Sag das jetzt zu der Seenessel.«

»Du aber auch!« sagte das Wasser zu der Seenessel.

Dors Begleiter lächelten. Irenes Pflanze wuchs prächtig.

»Nein!« fauchte Dor, dessen Geduldsfaden riß. »Blubberklumpen!«

»Nein Blubberklumpen!« fauchte das Wasser.

Die Stacheln der Seenesseln zappelten. »Sie sagt ›Danke‹«, meldete Grundy.

Es war hoffnungslos. Übelgelaunt gab Dor es auf.

»Die Pflanze ist bald soweit«, sagte Irene. »Sie ist ein bißchen wie die Gorgone; sie kann dich nicht lähmen, solange du sie nicht anblickst. Deshalb bauen wir uns wohl alle am besten mit dem Rücken zu ihr auf – und bloß nicht nach hinten spicken! Es gibt kein Zurück mehr – sobald eine solche Pflanze reif ist, kann ich sie nicht mehr aufhalten.«

Sie stellten sich in einer Reihe auf. Dor hörte das Rascheln der schnell wachsenden Blätter hinter seinem Rücken. Das war wirklich ein heikles Unterfangen!

»Sie blüht schon«, sagte Grundy. »Sie spürt bereits die eigene Kraft. O weh, das ist aber ein schlimmes Exemplar!«

»Natürlich ist es ein schlimmes Exemplar«, meinte Irene. »Ich habe schließlich den besten Samen ausgesucht. So, jetzt watet in den Kanal hinein. Die Blume wird zuschlagen, bevor wir die Seenessel erreicht haben, und wir müssen ihre Aufmerksamkeit in ihre Richtung lenken.«

Sie wateten ins Wasser. Dor fiel ein, wie beengend seine Kleidung im Wasser sein würde. Er wollte nichts Hinderliches anhaben, während er an der Nessel vorbeischwamm. Er begann damit, sich auszuziehen. Irene, die offenbar denselben Gedanken gehabt hatte, zog eilig ihren Rock und ihre Bluse aus.

»Dor hat recht«, bemerkte Grundy. Er saß auf Chets Rücken. »Du hast wirklich hübsche Beine. Und das ist noch längst nicht alles.«

»Wenn dein Blick zu weit abschweifen sollte«, sagte Irene ruhig, »könnte es sein, daß er sich der Schockblume nähert.«

Grundys Kopf ruckte wieder vor. Aber Dor war sicher, daß Irene grimmig grinste. Manchmal glich sie verblüffend ihrer Mutter.

»He, die Blume bricht los!« rief Grundy. »Ich merke es an dem, was sie sagt. Was für eine Hitze das Ding ausstrahlt!«

Tatsächlich, auch Dor spürte eine Art Hitze auf seinem nackten Rücken. Die Kraft der Blume kam schon zur Geltung.

Doch die Seenessel wirkte unbeeindruckt. Sie zappelte auf sie zu. Ihre Kopfpartie besaß ringsum Kiemenlamellen wie ein Fliegenpilz.

»Die Nessel sagt, sie wird uns derart fies pieken, daß wir – oooh, das ist aber obszön!« sagte Grundy. »Mal sehen, ob ich das vernünftig übersetzt bekomme…«

»Weitergehen!« befahl Irene. »Die Blume droht!«

»Jetzt singt die Blume ihr Schlachtlied«, meldete Grundy und fing an zu singen. »Ich bin die Zockblume, bin die SCHOCKblume!«

Beim Wort »Schock« gab es einen Strahlenstoß, der ihnen Blasen auf den Rücken brannte. Dor und die anderen stürzten sich ins Wasser, um sich abzukühlen.

Die Seenessel, die mit dem Gesicht zur Blume schwamm, versteifte sich. Ihre Oberfläche wurde glasig, und ihr Wogen versteinerten. Die Antennen verblaßten und wurden brüchig: Sie war gelähmt worden.

Sie schwammen an der Nessel vorbei. Das Ungeheuer reagierte nicht. Dor sah, wie sich seine mit Stechtentakeln bewehrten Massen tief ins Wasser erstreckten. Das Ding hätte sie wirklich alle erledigen können.

In einer Reihe schwammen sie fort: Chet mit Grundy an der Spitze, dann Dor, Krach und schließlich Irene. Er wußte, daß sie recht gut schwimmen konnte; sie hielt sich hinten, damit die anderen ihre Nacktheit nicht begutachten konnten. Eigentlich war sie deswegen gar nicht so prüde; es war nur, daß sich ihr Sinn für Anstand gleichzeitig mit ihrem Körper immer mehr entwickelte; ebensowohl auch ihr Instinkt dafür, das, was sie an Werten besaß, rar zu machen, damit es auch wertvoll blieb. Es funktionierte hervorragend: Dor war inzwischen wesentlich neugieriger, was ihren Körper anging, als er es gewesen wäre, wenn er ihn jederzeit unbekleidet hätte sehen können. Doch er wagte es nicht, zurückzublicken; die lähmende Strahlung der Schockblume hämmerte immer noch gegen seinen Hinterkopf.

Sie kamen in seichtes Gewässer und stampften an Land. »Immer weitergehen, bis wir vor der Blume geschützt sind«, rief Irene. »Bloß nicht zurückblicken, egal was passiert!«

Dor bedurfte ihrer Warnung nicht. Er spürte, wie die Lähmungshitze seinen Rücken hinabfuhr, seine Hinterbacken bestrich und schließlich auch seine Waden, während er nach und nach aus dem Wasser kam. Was für ein Ungeheuer Irene da losgelassen hatte! Aber es hatte seine Aufgabe erfüllt, während sein eigenes Talent versagt hatte; es hatte sie alle sicher an der Seenessel vorbei durch den Kanal gebracht.

Sie fanden eine Gruppe purpurgrüner Sträucher, und es gelang ihnen, sich zwischen sie und die Schockblume zu manövrieren. Jetzt konnte Dor seine Kleider wieder anlegen; er hatte sie dadurch trocken gehalten, daß er sie zwischen den Zähnen hielt, während er das magische Schwert an seinen nackten Körper geschnallt hatte.

»Du hast auch hübsche Beine«, sagte Irene hinter ihm, was ihn einen Satz machen ließ. »Und das ist noch längst nicht alles.«

Dor merkte, wie er errötete. Na ja, das war wohl zu erwarten gewesen. Irene war bereits angezogen; Mädchen konnten ihre Kleidung äußerst schnell wechseln, wenn sie wollten.

Sie schritten weiter in Richtung Süden, doch es dauerte noch eine ganze Weile, bevor Dor sich traute, zurückzublicken. Diese Schockblume…

Chet blieb stehen. »Was ist denn das?« fragte er.

Sie erblickten ein flaches Holzschild, das im Boden stak. Darauf stand in säuberlichen Druckbuchstaben: FÜR DIE LEUNDEN GIBT ES KEIN GESETZ.

Es war zwar offensichtlich, daß keiner von ihnen diese Botschaft verstand, aber es wollte sich auch keiner an Spekulationen über ihre Bedeutung wagen. Schließlich fragte Dor das Schild: »Droht uns hier in der Nähe irgendeine Gefahr?«

»Nein«, erwiderte das Schild.

Sie gingen weiter, und jeder hing seinen eigenen Gedanken nach. Sie hatten die Insel nackt betreten; ob es da wohl einen Zusammenhang gab? Doch das Schild war ja schon viel früher aufgestellt worden. Vielleicht ein Schreibfehler? fragte sich Dor. Doch da seine eigene Rechtschreibung so miserabel war, zögerte er, voreilig einen derartigen Schluß zu ziehen.

Nun gelangten sie an ein dicht bewachsenes Marschgebiet. Die Bäume waren recht klein, wuchsen aber dicht beieinander. Dor und Irene konnten sich zwar zwischen ihnen hindurchquetschen, doch Krach konnte es nicht, und für Chet war es sowieso völlig unmöglich.

»Juchhe, juchhe, ich mach ’n See!« sagte Krach und ließ seine Bratpfannenfäuste spielen. Wenn er die Bäume ausriß, würde tatsächlich nichts übrigbleiben als ein mehr oder weniger freies Schlammgewässer.

»Nein, wir wollen erst einmal sehen, ob es hier irgendwo vielleicht doch einen Durchgang gibt«, wiegelte Dor ab. »König Trent hat es aus irgendeinem Grund nie geschätzt, wenn wilde Gebiete willkürlich zerstört wurden. Und wenn wir zuviel Lärm machen, könnte das alle möglichen Ungeheuer anlocken, was immer hier hausen mag.«

Sie umrundeten das Dickicht und standen schon bald vor einem weiteren Schild: DIE LEUNDEN KENNEN KEINE GRENZEN. Daneben war ein sauberer, trockener Pfad durch den Wald, der etwas erhöht über dem Sumpf dalag.

»Irgendwelche Gefahren hier?« fragte Dor.

»Nicht viele«, meinte das Schild.

Sie benutzten den Pfad. Als sie ins Dickicht vorstießen, hörten sie Rascheln in den Bäumen und Schmatzen im unter ihnen liegenden Sumpf. »Was ist das für ein Geräusch?« fragte Dor, erhielt jedoch keine Antwort. Dieser Wald war so dicht, daß es nichts Unbelebtes darin gab; das Wasser war von grünen Gewächsen überwachsen, und der Pfad selbst bestand aus lebenden Wurzeln.

»Ich versuch’s mal«, meinte Grundy. Er sagte etwas in Baumsprache und meldete einen Augenblick später: »Es sind Faulzahnratten und Fadwürmer; nichts Bedrohliches, solange wir ihnen nicht den Rücken zukehren.«

Das Scharren und Schmatzen wurde immer lauter. »Aber die sind doch überall um uns!« protestierte Irene. »Wie können wir es da vermeiden, ihnen den Rücken zuzukehren?«

»Wir können uns nach allen Richtungen absichern«, sagte Chet. »Ich gehe voran; Grundy kann mit dem Gesicht nach hinten gewandt auf mir reiten; die anderen bewachen die Flanken.«

Das taten sie auch, wobei Krach die linke, Dor und Irene die rechte Flanke sicherten. »Aber seht bloß zu, daß wir hier bald rauskommen!« sagte Irene.

»Ich frage mich, was diese Leunden wohl für eine Stellung haben, denn dies scheint ihr Pfad zu sein«, bemerkte Dor.

Wie als Antwort auf seine Frage kamen sie an ein weiteres Schild: DIE LEUNDEN SIND DIE KÖNIGE DES DSCHUNGELS. Offenbar wagten es weder Faulzahnratten noch Fadwürmer, die Leunden zu belästigen.

»Das macht mich immer neugieriger«, sagte Irene. »Jagen sie, fressen sie, spielen sie mit ihren Artgenossen? Was sind das für Wesen?«

Dor fragte sich auch so einiges, zögerte jedoch, es offen auszusprechen. Was, wenn es doch ein Schreibfehler war? Wenn das »U« zuviel war? Wie würden die dann wohl jagen, essen und spielen?

Sie eilten weiter und kamen schließlich aus dem Dickicht ins Freie – um auf ein weiteres Schild zu stoßen. DIE LEUNDEN WERDEN BEI DEN LÄMMERN LIEGEN.

»Was sind denn Lämmer?« fragte Irene.

»Mundanische Wesen«, erwiderte Chet. »Es heißt, sie seien harmlos, weich und kuschelig, aber dumm.«

»Ja, so was mögen die Leunden bestimmt«, brummte Irene finster.

Noch immer sagte niemand etwas über seine Vermutungen. Sie schritten weiter bis zur Südspitze dieser langen Insel. Die gesamte Küste Xanths, erklärte Chet, war durch Blockaderiffs geschützt, die sich zu Inselketten entwickelt hatten. Diese Route war so gut und sicher, wie sie es sich ohne Boot nur hätten wünschen können. Auf der Insel konnte es nicht viele große Raubtiere geben, da ihr Jagdrevier zu klein gewesen wäre, und die Meereswesen konnten nicht ganz bis ins Innere der Insel vorstoßen. Doch kein Teil Xanths war völlig sicher. Alle warteten sie darauf, diese Insel der Leunden zu verlassen.

Als sie den Strand erreichten, trafen sie auf ein weiteres Schild: STOLZ DER LEUNDEN. Hinter ihnen erscholl ein Gebrüll, hinten im Dickicht. Irgend etwas kam da auf sie zu – und wer hätte da wohl gezweifelt, was das sein konnte?

»Wollen wir den Stolz der Leunden kennenlernen?« fragte Chet rein rhetorisch.

»Aber wollen wir da durchschwimmen?« konterte Grundy.

Vor ihnen war eine Flotte Tigerhaie im Wasser erschienen. Jeder von ihnen besaß eine Segelflosse und einen Tigerkopf. Sie drängten sich so nahe ans Ufer, wie es nur ging, und hießen sie mit hungrigem Knurren willkommen.

»Schätze, wir haben wieder mal die Wahl zwischen Drachen und Dünen«, brummte Grundy.

»Die Tigerhaie kann ich aufhalten«, sagte Irene. »Ich habe einen Krakentang dabei.«

»Und ich habe noch immer den Hypnokürbis, der sollte die Leunden eigentlich aufhalten können«, meinte Chet. »Vorausgesetzt, es handelt sich um einen Schreibfehler. Es gibt ein mundanisches Ungeheuer, das so aussieht wie das Vorderteil eines Tigerhais, es heißt Leu oder…«

»Ich mich freu – ich prügle Leu!« sagte Krach.

»Das können viele sein«, meinte Chet.

»Wir müssen von hier weg!« rief Grundy. »Oje, als ich noch ein echter Golem war, habe ich mir nie Sorgen um meine Haut gemacht!«

»Vielleicht warst du damals ja auch nicht so unausstehlich«, entgegnete Irene. »Außerdem hattest du auch gar keine Haut!«

Doch vor ihnen lag nur der Strand – und die Tigerhaie folgten ihnen im Wasser. »Auf diesem Weg entgehen wir weder der einen noch der anderen Bedrohung«, sagte Irene schließlich. »Ich setze jetzt meinen Kraken.« Sie warf einen Samen ins Wasser. »Wachse, Tang!«

Chet streckte den Hypnokürbis vor, den er durch alle bisherigen Fährnisse gerettet hatte. Mit einer Hand bedeckte er das Guckloch. »Ich werde das Ding doch lieber dem ersten Leunden vorhalten.«

Krach trat neben ihn. »Nummer zwei und drei – hau ich dann zu Brei«, sagte er mit geballten Riesenfäusten.

»Du bist doch der Magier«, sagte Grundy zu Dor. »Unternimm doch irgend etwas!«

Dor versuchte es blindlings. »Irgend etwas – gibt es hier einen Ausweg?«

»Dachte schon, du würdest mich nie fragen«, sagte der Sand zu seinen Füßen. »Natürlich gibt es einen Ausweg.«

»Kennst du einen Weg?« fragte Dor erleichtert.

»Nein.«

»Um Himmels willen, das ist ja nicht zu fassen!« schrie Irene. »Was für ein Idiot!«

»Du wärst auch ganz schön blöde, wenn man dein Gehirn zu Staub zermahlen hätte«, erwiderte der Sand pikiert.

»Den da habe ich gemeint!« sagte sie und zeigte auf Dor. »Kaum zu glauben, daß man so was Magier schimpft! Alles, was der kann, ist, mit nutzlosem Krempel wie dir den Bauchredner spielen!«

»Da gibst du’s ihm aber!« freute sich der Sand. »Da schleuderst du ihm aber wirklich Sand in die Augen!«

»Warum hast du behauptet, daß es einen Ausweg gibt, wenn du ihn nicht kennst?« verlangte Dor zu wissen.

»Weil mein Nachbar der Knochen einen kennt.«

Dor entdeckte den Knochen und befragte ihn. »Was ist das für ein Ausweg?«

»Der Tunnel, du Blödmann«, sagte der Knochen.

Der Lärm der stolzen Leunden wurde immer lauter. Die Tigerhaie bleckten die Zähne, als der wachsende Kraken sie zu bedrohen begann. »Wo ist dieser Tunnel?« fragte Dor.

»Direkt hinter dir, am Ufer«, sagte der Knochen. »Ich habe ihn versiegelt, bin drei Schritte gegangen und den Leunden zum Opfer gefallen.«

»Ich kann ihn nicht erkennen«, sagte Dor.

»Natürlich nicht, die Flut spült ja auch Sand darüber. Ich bin der einzige, der den Tunnel noch ausfindig machen kann.«

Dor hob den Knochen auf. Er sah aus wie der Oberschenkelknochen eines Menschen. »Mach den Tunnel für mich ausfindig.«

»Genau da vorne, wo das Wasser am Strand leckt. Kratz den Sand weg.« Der Knochen hielt sich leicht schräg und wies ihm die Stelle.

Dor kratzte und entdeckte einen Felsblock. »Damit ist er versiegelt?« fragte er.

»Ja«, erwiderte der Knochen. »Ich hatte meinen Piratenschatz auf der Nachbarinsel vergraben und einen Tunnel hierher gegraben, damit niemand was davon merkt. Aber die Leunden…«

»He, Krach!« rief Dor. »Wir haben hier einen Felsblock, den du mal wegräumen kannst.«

»Oh, das würde ich aber nicht tun«, warnte der Knochen. »Der ist ganz vorsichtig aufgelegt, einbruchsicher. Der Tunnel wird einstürzen.«

»Hm, wie kommen wir dann rein?«

»Ihr müßt den Balken mit einem Lufthaken ganz vorsichtig herausheben, ohne daß er sich zwischen den Tunnelwänden einklemmt.«

»Wir haben aber keinen Lufthaken!« rief Dor wütend.

»Natürlich nicht, das war ja auch schließlich mein Talent, als ich noch lebte. Niemand außer mir konnte den Balken sicher heben. Ich hatte an alles gedacht, nur nicht an die Leunden.«

Während der Knochen sprach, kroch der Kraken, der die Tigerhaie inzwischen vertrieben hatte, genüßlich auf den Strand zu. Bald würde er für sie eine weitaus größere Gefahr darstellen als die Tigerhaie.

»Machst du Fortschritte?« fragte Chet. »Ich will dich ja nicht drängen, aber ich schätze, daß wir noch knapp dreißig Sekunden haben, bevor die Leunden, was immer das nun für Wesen sein mögen, aus dem Dschungel hervorstürzen werden.«

»Chet!« rief Dor. »Mach diesen Balken zu einem Kiesel, aber es darf sich nichts verklemmen!«

Der Zentaur berührte den Balken, der sofort zusammenschrumpfte. Kurz darauf war er so klein wie ein Kieselstein und fiel in das Loch hinunter. Der Tunneldurchgang war offen.

»Spring rein!« rief Dor.

Irene wirkte erschrocken. »Wer, ich?«

»Nicht schlecht geraten«, meinte Grundy. »Willst du lieber herumstehen und die Leunden an deine Beine lassen.«

Irene sprang hinab. »He, das ist aber ein schöner Tunnel!« rief sie von unten herauf, und ihre Stimme klang hohl, durch das Echo. »Ich will nur schnell was wachsen lassen, damit es heller wird…«

»Jetzt kommst du«, sagte Dor zu Chet. »Versuch den Tunnel nicht zum Beben zu bringen, er ist nicht befestigt.« Chet sprang mit erstaunlichem Feingefühl hinab, Grundy auf dem Rücken.

»So, Krach«, sagte Dor.

»Geh? Nee!« sagte der Oger und stellte sich mit dem Gesicht zu der drohenden Gefahr aus dem Binnenland auf. »Ich mich freu auf den Leu!« Und er donnerte eine Faust in die Fläche seiner anderen Riesenpranke.

Krach wollte das Ende sichern. Das war wahrscheinlich sogar das beste, sonst würden die Leunden sie noch durch den Tunnel verfolgen. »Stell dich direkt neben die Öffnung«, sagte Dor. »Wenn du fertig bist, spring rein und komm nach. Laß dir nicht zuviel Zeit damit. Bald ist der Krake hier, der dürfte die Leunden wohl aufhalten, schätze ich. Rauf dich nicht mit dem Kraken, der muß hier Wache halten, nachdem du nachgekommen bist.«

Der Oger nickte. Das Gebrüll der Leunden wurde immer lauter. Dor sprang in das Loch hinab.

Er fand sich in einem mannshohen Gang, der unter dem Kanal nach Süden führte. Das Licht, das durch die Öffnung eindrang, wurde schnell matter, doch Irene hatte klugerweise Sternblumen im Gang gepflanzt, deren winziges Glimmen den Weg markierte. Dor hielt inne, um seinen Mitternachtssonnenstein auszuwickeln; dessen Strahl war eine große Hilfe.

Während Dor weiterschritt, hörte er draußen die stolzen Leunden nahen. Krach stieß ein erstauntes Grunzen aus. Dann hörte man, wie etwas gegen etwas anderes prallte. »Was ist los?« rief Dor besorgt.

»Der Oger hat gerade einen der niedlichen Leunden dem Kraken zum Fraß vorgeworfen«, antwortete der Kiesel am Tunneleingang. »Jetzt kämpft er gerade mit ihrem Anführer, Sir Leunden Steak. Das ist ein zäher Bursche!«

»Krach, komm nach!« rief Dor. »Strapazier dein Glück nicht!«

Die Stimme des Ogers klang gedämpft. »… ck!« war das einzige, was Dor verstehen konnte.

»Aua! Du benutzt aber Ausdrücke!« rief der Kiesel. »Dir sollte man das Maul mit Seifensteinlauge auswaschen!«

Kurz darauf kam Krach in den Tunnel gepoltert. Er mußte den Kopf einziehen, um nicht an der Decke anzustoßen. Über seiner haarigen Schulter hing ein Stück Krakentang. Offensichtlich hatte er die Leunden so lange abgewehrt, bis der Krake das Revier übernommen hatte. »Gehauen aufs Rudel – ein herrlicher Strudel!« erklärte er, und sein Mund verzerrte sich zu einem Lächeln, das einem qualmenden Blitzeinschlag in einen Baum glich. Wer glaubte, daß Oger keinen Sinn für Humor hatten, lag offenbar völlig falsch; Krach konnte ebenso herzlich lachen wie jeder andere, vorausgesetzt, der Witz war entsprechend simpel.

»Wie sahen die Leunden denn aus?« fragte Dor, von einer geradezu morbiden Neugier gepackt.

Krach hielt nachdenklich inne, dann gab er eine seiner seltenen nichtrhythmischen Äußerungen von sich: »Ho ho ho ho ho!« dröhnte er – und da begann der gebrechliche Gang um sie herum einzubrechen. Steine lösten sich aus der Decke, und durch die Wände sickerte Feuchtigkeit.

Dor und der Oger flohen. Jetzt war Dors Neugier merklich geschwunden – er wollte nur noch lebend aus dem Tunnel gelangen. Immerhin befanden sie sich unter dem Meer, und die Wassermassen konnten sie zerquetschen, wenn der Gang vollends einstürzen sollte. Auch ein einzelnes Leck würde den Tunnel überfluten. Nicht einmal ein Oger konnte ein ganzes Meer aufhalten.

Sie stießen zu den anderen vor. Hinter ihnen war kein Krachen zu hören; der Tunnel war nicht eingestürzt. Noch nicht.

»Dieser Ort macht mich nervös«, sagte Irene.

»Es gibt nur einen Weg – vorwärts«, entgegnete Chet. »Und zwar schnell.«

Der Gang schien nicht aufhören zu wollen, doch immerhin führte er nach Süden. Es mußte den Piraten eine Menge Arbeit gekostet haben, den Tunnel auszuheben, selbst mit der Hilfe seines Lufthakens. Welch eine Ironie, daß er danach an den Leunden gescheitert war! Sie eilten vorwärts in die Tiefe und wurden immer nervöser, je tiefer sie kamen. Zu allem Überfluß wurde der Boden des Gangs immer klammer und schließlich sogar schlammig. Ein dünnes Wasserrinnsal tropfte hinein – und schon bald war es deutlich, daß das Wasser immer höher stieg.

Hatte das Lachen des Ogers etwa doch einen Riß in der Tunnelwand erzeugt? Dann waren sie geliefert. Dor wagte es nicht, diese Möglichkeit überhaupt auszusprechen.

»Die Flut!« sagte Chet. »Die Flut kommt – und überspült den Eingang. Der Gang füllt sich mit Wasser.«

»Ach so! Gut«, sagte Dor erleichtert.

Vier Augenpaare richteten sich auf ihn.

»Äh, ich hatte schon befürchtet, daß der Gang am Einstürzen wäre«, ergänzte Dor lahm. »Die Flut… na ja, das ist ja nicht ganz so schlimm.«

»In dem Sinne, daß ein langsamer Tod besser ist als ein schneller«, meinte der Zentaur.

Der dachte darüber nach. Aus seiner vagen Furcht wurde galoppierendes Entsetzen. Wie konnten sie dieser Gefahr entgehen? »Wie lang ist der Tunnel noch?« fragte Dor.

»Ihr habt die Hälfte hinter euch gebracht«, erwiderte der Gang. »Aber ihr werdet noch eure liebe Müh und Not mit der Einsturzstelle haben.«

»Einsturzstelle!« quiekte Irene. In Augenblicken der Krise neigte sie zur Hysterie.

»Klar doch«, meinte der Tunnel. »Da gibt’s keinen Ausweg.«

Einen Augenblick später, das Wasser stieg ihnen bereits bis an die Knöchel, standen sie davor – ein Geröllhaufen versperrte den Durchgang.

»Ich mach kaputt diesen Schutt«, sagte Krach hilfsbereit.

»Äh, warte mal«, dämpfte Dor seinen Eifer. »Wir wollen schließlich nicht, daß der ganze Ozean auf einmal über uns zusammenbricht. Wenn Chet vielleicht die Geröllstücke in Kiesel verwandelt, während Krach die Decke abstützt…«

»Nützt nicht«, warf Chet ein. »Falsche Statik. Wir brauchen einen Rundbogen.«

»Ich stütze ab, wir hauen ab«, bot Krach sich erneut an. Er begann, einen Bogen aus herumliegenden Geröll zu bauen. Doch dabei rollten weitere Steine mit Geplatsche ins Wasser.

»Vielleicht kann ich den Haufen stabilisieren«, sagte Irene. Sie suchte einen Samen und ließ ihn ins Wasser fallen. »Wachse!«

Die Pflanze versuchte es, aber es gab nicht genügend Licht. Dor ließ seinen Sonnenstein auf sie scheinen, da begann die Pflanze zu gedeihen. Mehr brauchte sie nicht; Juwels Geschenk begann sich als nützlich zu erweisen!

Schon bald nahm eine reich beblätterte Klette Form und Gestalt an. Wurzeln gruben sich in den Sand, Schlingarme packten die Steine, und grüne Blätter bedeckten die Wand des Tunnels. Nun konnte Krach nicht mehr so leicht die für den Bogen erforderlichen Steine herausreißen, ohne die Pflanze zu verletzen.

»Ich glaube, wir schaffen es auch ohne Bogen«, meinte Chet. »Die Pflanze hat das Geröll befestigt.« Er berührte einen großen Steinbrocken, machte ihn zu einem kleinen Kiesel und berührte immer weitere. Bald darauf war der Gang bis zum Ende wieder frei.

Doch die Verzögerung hatte ihren Preis gefordert: Nun reichte ihnen das Wasser bereits bis zu den Knien. Planschend stapften sie vorwärts.

Zum Glück hatten sie sich bereits an der tiefsten Stelle befunden. Als sie den vor ihnen liegenden Anhang hinaufmarschierten, ließ die Wassertiefe nach. Doch sie wußten, daß dies nur eine vorübergehende Erleichterung war; es würde nicht mehr lange dauern, bis der ganze Gang überflutet war.

Da erreichten sie das Ende des Ganges – nun standen sie in einer Kammer, in der ein einfacher Holztisch stand, auf dem Gegenstände lagen, welche mit einem Tuch bedeckt waren.

Zögernd stellten sie sich einen Augenblick um den Tisch. »Ich weiß nicht, welcher Schatz uns jetzt noch helfen kann«, sagte Dor und riß das Tuch herunter.

Da lag der Schatz des Piraten vor ihnen: ein Haufen mundanischer Goldmünzen – es mußten mundanische sein, da man in Xanth keine Münzen prägte –, ein Bottich voller Diamanten und ein winziger versiegelter Krug.

»Schade«, sagte Irene. »Nichts Nützliches. Und das ist das Ende des Tunnels. Wahrscheinlich hat der Pirat ihn beim Graben hinter sich zugeschüttet, damit es nur einen Zugang gibt. Ich muß eine große Rohrschachtpflanze pflanzen, in der Hoffnung, daß sie eine kräftige Röhre an die Oberfläche stößt, und daß es über uns kein Wasser gibt. Die Rohrschachtpflanze ist nicht wasserdicht. Wenn das scheitern sollte, kann Krach versuchen, ein Loch in die Decke zu schlagen, und Chet kann die herabstürzenden Balken verkleinern. So kommen wir vielleicht gerade noch mit dem Leben davon.«

Dor war erleichtert. Wenigstens bekam Irene keinen hysterischen Anfall. Wenn Not am Mann war, hatte sie offenbar doch das erforderliche Rückgrat.

Grundy stand auf dem Tisch und kämpfte mit dem Deckel des Krugs. »Wenn Gold wertvoll ist und Edelsteine wertvoll sind, dann ist das hier vielleicht das Wertvollste von allem.«

Doch als der Deckel entfernt war, stellte sich heraus, daß der Krug lediglich eine Salbe enthielt.

»Ist das dein Schatz?« fragte Dor den Knochen.

»O ja, der wertvollste aller Schätze«, versicherte ihm der Knochen.

»In welcher Hinsicht?«

»Na ja, das weiß ich eigentlich auch nicht. Aber der Bursche, von dem ich mir das Zeug geholt habe, hat buchstäblich bis zum letzten Blutstropfen gekämpft, um die Salbe zu behalten. Er hat mich mit Gold bestochen, die Diamanten verschenkt und sich geweigert, sich von der Salbe zu trennen. Er ist gestorben, ohne mir zu verraten, wozu sie dient. Ich habe versucht, sie auf Wunden und Verbrennungen zu streichen, aber da hat sie nichts bewirkt. Wenn ich gewußt hätte, wozu sie dient, hätte ich damit vielleicht die Leunden vernichten können.«

Dor stellte fest, daß er nur wenig Sympathie mit dem Piraten hatte, der genauso gestorben war, wie er gelebt hatte – ruhmlos. Doch die Salbe faszinierte ihn immer mehr, und zwar nicht nur, weil er bereits knietief im Wasser stand. »Salbe, was hast du für Eigenschaften?« fragte er.

»Ich bin eine magische Salbe, mit der man auf Rauch und Dampf gehen kann«, erwiderte sie stolz. »Man braucht mich nur auf die Fuß- oder Stiefelsohlen zu schmieren, dann kann man jeden Pfad auf dem Himmel entlangschreiten, den man sehen kann. Natürlich hält die Wirkung nur einen Tag pro Aufstrich an, ich werde nämlich abgeschlurft, müßt ihr wissen. Bei mehrmaliger Anwendung allerdings…«

»Danke«, unterbrach Dor sie. »Das ist wirklich eine sehr gute Magie. Aber kannst du uns auch helfen, aus diesem Tunnel zu entkommen?«

»Nein, ich sorge dafür, daß Nebel fest aussieht, nicht dafür, daß Felsgestein neblig wird. Dafür braucht ihr eine andere Salbe.«

»Wenn ich das gewußt hätte«, sagte der Knochen trübe, »dann wäre ich den Leunden entkommen. Wenn ich doch nur…«

»Geschieht dir ganz recht, du Teufel von einem Piraten!« sagte sie Salbe. »Du hast genau das bekommen, was du verdient hast. Ich hoffe, du hast deine Lektion geleundt!«

»Hör mal, Fettpott…«, erwiderte der Knochen.

»Genug«, sagte Dor. »Wenn keiner von euch einen Vorschlag machen kann, wie wir hier rauskommen, dann seid still.«

»Das macht mich mißtrauisch«, sagte Chet. »Der Pirat hat diesen Schatz geraubt, hat ihn aber nicht mehr genießen können. Frag mal, ob da ein Fluch mit im Spiel ist.«

»Ist das der Fall, Salbe?« fragte Dor, den dieser Einfall überraschte.

»Klar doch«, gab sie zu Antwort. »Habe ich das nicht erwähnt?«

»Hast du nicht«, sagte Dor. Wieviel Unheil hatte Chets Wachsamkeit wohl von ihnen abgewendet? »Was ist das für ein Fluch?«

»Wer mich benutzt, wird noch vor dem nächsten Vollmond irgend etwas ganz Schlimmes tun«, erklärte die Salbe voller Stolz. »Der Pirat hat das auch getan.«

»Aber ich habe dich doch nie benutzt!« protestierte der Knochen. »Ich wußte ja nicht mal, wozu du gut bist!«

»Du hast mich auf deine Wunden gestrichen. Das war zwar ein Mißbrauch – aber er zählte. Diese Wunden hätten auf Wolken spazierengehen können. Dann hast du deinen Kameraden umgebracht und den ganzen Schatz an dich gerissen.«

»Das war wirklich eine abscheuliche Tat!« stimmte Irene der Salbe zu. »Du hast dein Schicksal verdient!«

Der Knochen widersprach nicht.

»Huch!« sagte Chet. Er beugte sich hinab und riß sich etwas von seinem Vorderbein, das sich direkt unterhalb der steigenden Wasserlinie befand. Es war ein Tentakel des Kraken.

»Das habe ich befürchtet«, sagte Irene. »Dieser Tang entzieht sich meiner Kontrolle. Der wird nicht aufhören zu wachsen, auch wenn ich es ihm befehle.«

Dor zückte sein Schwert. »Ich werde die weiteren Tentakel abhauen«, sagte er. »Hier, am Ende des Tunnels, können sie nicht allzu dick daherkommen. Fang mit deiner Rohrschachtpflanze an, Irene.«

Sie blickte in ihren Samenbeutel. »Oh! Oh! Der Samen muß irgendwo unterwegs herausgefallen sein. Er ist nicht mehr da!«

Sie hatten eine stürmische Seereise auf dem Floß hinter sich; der Samen konnte irgendwo unterwegs herausgefallen sein. »Chet und Krach«, sagte Dor ohne jedes Zögern, »versucht, uns einen Weg nach draußen frei zu machen, wenn ihr könnt. Irene, wenn du noch eine Befestigungspflanze haben solltest…«

Sie überprüfte den Beutel. »Die habe ich noch.«

Sie machten sich ans Werk. Dor stellte sich dem finsteren Tunnel entgegen, und während ihm das Wasser bis an die Hüften stieg, stach er mit seinem Schwert in das dunkle Naß und leuchtete mit seinem Sonnenstein hierhin und dorthin. Das Getöse des arbeitenden Ogers wurde immer lauter. »Wasser, sag mir, wenn ein Tentakel kommt!« befahl Dor. Doch der Lärm, den Krach beim Zertrümmern machte, war so laut, daß er die Warnungen des Wassers nicht hören konnte. Ein Tentakel schlang sich um seinen Knöchel und riß ihn von den Beinen. Keuchend spuckte er Wasser, während ein weiterer Tentakel seinen Schwertarm packte. Der Kraken hatte ihn – und er konnte nicht einmal um Hilfe rufen!

»Was ist denn da los?« fragte Grundy. »Willst du schwimmen gehen, während wir uns hier abrackern?« Dann begriff der Golem, daß Dor in Schwierigkeiten war. »He, warum sagst du denn keinen Ton? Merkst du etwa nicht, daß der Kraken dich erwischt hat?«

Der Kraken hatte ihn wirklich erwischt! Die Tentakeln zerrten ihn bereits in den Tunnel hinein, und er war schon halb ertrunken.

»Hm, irgend jemand muß da wohl eingreifen«, sagte Grundy in einem Tonfall, als würde ihn irgendeine Kleinigkeit ärgern. »Hier, Kraken – magst du einen Keks?« Er hielt ihm eine Goldmünze entgegen, die fast so viel zu wiegen schien wie er selbst.

Ein Tentakel grapschte nach der Münze, doch kurz darauf merkte der Kraken, daß sie nicht eßbar war und ließ sie wieder fallen.

Grundy packte eine Handvoll Diamanten. »Versuch’s doch mal mit diesen Steinbonbons«, schlug er vor. Die Tentakel schlangen sich um die Steine – und verletzten sich an ihren scharfen Kanten. Eiter tropfte ins Wasser, als die Tentakel schmerzerfüllt umherpeitschten.

»Das ist man eine Idee!« sagte Grundy. Er schwamm zu Dor hinüber und schnitt mit einem weiteren Diamanten in die Tentakel hinein. Sie ließen ihn los, obwohl der Golem sie nur angekratzt hatte; keuchend stellte Dor sich wieder auf die Beine, bis zur Hüfte im sich verfärbenden Wasser.

»Ich muß den anderen helfen gehen«, meinte Grundy. »Wenn du noch mal in Schwierigkeiten gerätst, mußt du schreien.«

Dor fischte im Wasser nach seinem magischen Schwert und dem leuchtenden Sonnenstein. Er war mehr als nur zerzaust und wütend. Was für ein erbärmlicher Held er doch war! Ein Wesen, das kaum größer war als seine Handspanne, hatte ihn retten müssen!

Doch die anderen kamen besser voran. Inzwischen hatte sich an der Decke ein Loch gebildet, durch das das Tageslicht hereinströmte. »Komm, Dor!« rief Grundy. »Laß uns endlich von hier verschwinden.«

Dor stopfte Münzen und Diamanten in eine Tasche und den Salbenkrug in die andere. Krach und Chet waren bereits dabei, hinauszusteigen, da sie beim Graben ohnehin schon immer höher geklettert waren. Der Zentaur war besonders geschickt bei dieser Art des Kletterns, weil er sechs Gliedmaßen besaß, von denen er stets vier oder fünf gegen die Wände des Schachts gestemmt hielt, während er mit den anderen nach neuem Halt suchte. Grundy hatte auch keine Probleme: Er war so leicht, daß er mühelos emporklettern konnte. Nun waren nur noch Dor und Irene übrig.

»Los, beeil dich, Transuse!« rief sie. »Ich kann schließlich nicht ewig warten!«

»Geh schon mal vor«, rief er ihr zu. »Ich verstaue gerade den Schatz.«

»Kommt nicht in Frage! Du willst bloß unter meinen Rock schielen!«

»Das wäre dann eben mein Lohn«, meinte er. »Ich will nämlich nicht, daß dieses Loch über dir zusammenbricht.«

Tatsächlich stürzten immer mehr von Chet gelöste Steine und Felsbrocken herab. Trotz Irenes Bemühungen, die Wand des Schachts mit einer Pflanze zu verfestigen, wirkte das Ganze äußerst wacklig.

»Das hat was für sich«, meinte sie nervös. Dann machte sie sich an den Aufstieg, während Dor den Schatz verstaute.

Die Krakententakel, die sich von den Angriffen des Schwerts und des Diamanten etwas erholt hatten, tasteten sich wieder vor. Das Wasser reichte Dor inzwischen bis zur Brust, so daß der Tang freien Spielraum hatte. »Da ist einer!« sagte das Wasser, und Dor stach in die schlammigen Fluten hinein. Ein Rucken an seinem Schwert zeigte ihm, daß er etwas aufgespießt hatte, das nun hastig zurückwich. Für ein derartig blutrünstiges Wesen war der Kraken reichlich empfindlich gegenüber Pieksern!

»Da ist noch einer!« rief das Wasser, dem das Spiel Spaß zu machen begann. Wieder stieß Dor zu. Doch es war schwierig, großen Schaden anzurichten, trotz der magischen Geschicklichkeit, die das Schwert ihm verlieh, denn im Wasser konnte er nur schwach zuschlagen. Das Stechen tat den Tentakeln lediglich weh, ohne sie ernsthaft zu verletzen. Außerdem lernte der Tang bereits, den Hieben auszuweichen. Er war zwar nicht sonderlich intelligent, konnte unter ständigem Schmerz aber durchaus etwas dazulernen.

Schließlich machte Dor sich an den Aufstieg. Doch dazu mußte er das Schwert wegstecken, was den Tentakeln wiederum mehr Freiraum ließ. Außerdem war das Gold ziemlich schwer und belastete ihn. Als er sich eben aus dem Wasser stemmte, wurde er am rechten Knie von einem Tentakel gepackt und wieder in die Tiefe hinabgezerrt.

Dor rutschte aus und stürzte wieder ins Wasser. Jetzt schlangen sich drei weitere Tentakel um seine Beine und Hüften. Der Kraken hatte diesen Tunnel gründlicher durchzogen, als Dor es für möglich gehalten hatte! Der Tang mußte bereits ein enormes Monster geworden sein, da er hier ja nur einen Bruchteil seiner Aktivitäten ausspielte.

Dor biß die Zähne zusammen, denn er wußte, daß ihm diesmal niemand zu Hilfe kommen konnte, wenn er unter Wasser gezerrt wurde. Erneut zückte er sein Schwert. Er setzte die Klinge sorgfältig an einen Tentakel an und begann zu sägen. Die magisch geschärfte Klinge schnitt tief in das weiche Fleisch des Krakens und schnitt den Tentakel ab, der nicht zurückzucken konnte, weil er sich mehrfach um Dor geschlungen hatte. So war er zum Opfer seiner eigenen Gier geworden. Dor wiederholte dasselbe mit den anderen Fangarmen, bis er schließlich frei war – im milchigen, zähflüssigen Krakenblut stehend. Dann steckte er sein Schwert wieder in die Scheide und kletterte empor.

»He, Dor – wo bleibst du denn?« fragte Irene, die sich etwa auf halber Höhe des Schachts befand.

»Bin schon unterwegs«, antwortete er und blickte hinauf. Doch während er dies tat, lösten sich mehrere große Felsbrocken – vielleicht vom Schall seiner Stimme gelockert – und prasselten herab. Dor stand bis zur Brust im Wasser und legte die Arme schützend um seinen Kopf.

»Bist du in Ordnung?« rief sie.

»Hör auf zu schreien!« schrie er. »Das bringt den Schacht zum Einsturz!« Wieder mußte er mit den Armen seinen Kopf bedecken. Das war ja höllisch!

»Oh«, sagte sie leise und verstummte.

Inzwischen hatte ein weiterer Tentakel zugepackt. Der Tang wurde immer wagemutiger, allen Verlusten zum Trotz. Dor schnitt ihn ab und machte sich erneut an den Aufstieg. Doch nun waren seine Hände vom Ichor des Ungeheuers verschliert, was seinen Halt beeinträchtigte. Er versuchte, seine Hände abzuwaschen, doch das klebrig-schleimige Zeug war überall. Mit seiner zusätzlichen Last konnte er es nicht schaffen.

Dor stand da und wehrte die Tentakel ab, während Irene hinauskletterte. »Was soll ich tun?« fragte er frustriert.

»Die Münzen wegschmeißen, Dummkopf!« sagte die Wand.

»Aber vielleicht kann ich die noch brauchen!« protestierte Dor, Unwillens, seinen Schatz preiszugeben.

»Die Menschen sind ja solche Narren, wenn es um uns geht«, sagte eine Münze in seiner Tasche. »Dieser Tölpel wird unseretwegen noch in den Tod gehen – und dabei sind wir in Xanth überhaupt nichts wert.«

Das machte Dor nachdenklich. Warum belastete er sich nur mit diesem Kram? Mit Reichtum, der keinerlei Bedeutung hatte, mit einer magischen Salbe, auf der ein Fluch lag? Er wußte keine Antwort darauf – konnte den Schatz aber auch nicht fahrenlassen. So, wie der Kraken seine Tentakel dadurch verlor, daß er sie um seinen Körper geschlungen hielt, war auch er in Lebensgefahr, weil er sich an den Reichtum klammerte – und zwar auf genauso dumme Weise wie der Tang.

Da griff von oben ein Tentakel nach ihm. Dor wich ihm aus. Hatte der Tang einen zweiten Zugang gefunden? Er riß sein Schwert hoch; in der Luft konnte er es wesentlich besser führen. »Mich kriegst du nicht, du gierige Liane!« sagte er.

»He, paß bloß auf, was du sagst!« protestierte der Tentakel. »Ich bin ein Seil.«

Dor war erstaunt. »Ein Seil? Wofür denn?«

»Um dich hinaufzuziehen, Dummklöppel!« sagte es. »Was glaubst du wohl, wozu Rettungseile da sind?«

Ein Rettungsseil! »Bist du auch befestigt?«

»Natürlich bin ich befestigt!« sagte es zornig. »Meinst du etwa, ich verstünde nichts von meinem Handwerk? Wickel mich um deinen Körper, dann rette ich dich aus diesem üblen Loch.«

Dor tat, wie ihm geheißen, und schon bald stieg er samt seinem Schatz in die Höhe. »Och, du hast aber ein verteufeltes Glück!« maulte die Münze in seiner Tasche.

»Was kümmert dich das denn?«

»Reichtum vernichtet die Menschen. Das ist unsere Pflicht; den Menschen zu zerstören. Wir waren gerade dabei, dich zu vernichten, da bist du ohne eigene Leistung entkommen.«

»Na ja, immerhin nehme ich euch ja mit, also habt ihr sicherlich noch mal Gelegenheit dazu.«

»Das stimmt auch wieder«, meinte die Münze etwas fröhlicher.

Kurz darauf schwebte Dor aus dem Loch. Chet und Krach zogen das Seil hoch, während Grundy ihnen Anweisungen gab, damit er sich nicht irgendwo verkeilte.

»Was hast du bloß die ganze Zeit da unten gemacht?« fragte Irene. »Ich hab’ schon geglaubt, du würdest nie hochkommen!«

»Ich hatte etwas Ärger mit dem Kraken«, sagte Dor und wies auf ein Tentakelstück, das noch immer an seinem Bein hing.

Es war inzwischen später Nachmittag geworden. »Gibt es hier irgendwelche Gefahren?« fragte Dor den Boden.

»Einen Hort von Flügeldrachen an der Südküste dieser Insel«, erwiderte der Boden. »Aber die jagen nur tagsüber. Ist aber ein ganz schönes Nest, kann ich dir sagen!«

»Wenn wir hier im Norden lagern, sind wir also in Sicherheit?«

»Wird wohl so sein«, meinte der Boden mißmutig.

»Wenn die Flügeldrachen bei Tag auf die Jagd gehen, sollten wir uns heute nacht vielleicht lieber an ihnen vorbeischleichen«, warf Irene ein.

Krach lächelte. »Schleichen gehen, Hals umdrehen«, sagte er und deutete mit seinen Riesenpranken an, was er den unglückseligen Flügeldrachen antun würde. Der Oger wirkte größer und massiger als zu Beginn ihrer Reise, und Dor erkannte, daß dies wahrscheinlich wohl auch tatsächlich der Fall war. Junge Oger wuchsen äußerst schnell.

Doch Dor war zu müde für ein solches Unterfangen. »Ich muß mich ausruhen«, sagte er.

Irene war unerwartet mütterlich. »Natürlich mußt du das. Du hast den Rückzug gesichert und den Kraken abgehalten, während wir geflohen sind. Ich wette, du hättest es gar nicht geschafft, wenn Chet nicht das Lianenseil gefunden hätte.«

Dor wollte nicht gerne zugeben, daß das Gewicht des Goldes seinen Aufstieg erheblich behindert hatte. »Bin wohl einfach nur müde geworden«, sagte er.

»Der Narr hat ja darauf bestanden, uns Goldmünzen mitzuschleppen«, plapperte die Münze in seiner Tasche.

Irene furchte die Stirn. »Du hast die Münzen mitgebracht? Wir können sie doch gar nicht gebrauchen, und außerdem sind sie furchtbar schwer.«

Dor ließ sich auf den Boden plumpsen, und die Münzen schepperten. »Ich weiß.«

»Und was ist mit den Diamanten?«

»Die auch«, sagte er und klopfte gegen seine andere Tasche, obwohl er sich nicht mehr sicher war, in welcher er sie eigentlich verstaut hatte.

»Diamanten mag ich«, bemerkte sie. »Ich betrachte sie als Freunde.« Sie half ihm dabei, seine Jacke auszuziehen. Er hatte seine königlichen Gewänder für diese Reise abgelegt, aber seine Alltagskleidung schien dafür genausowenig geeignet zu sein. »Dor! Deine Arme sind ja ganz zerkratzt!«

»Das ist das Werk des Kraken«, warf Grundy nüchtern ein. »Er hat sich um ihn geschlungen und ihn ins Wasser gezerrt. Ich mußte ihn erst mit Diamanten anschnitzen, damit er Dor losließ.«

»Du hast mir gar nicht erzählt, daß es so schlimm ist!« rief sie ihm zu. »Kraken sind sehr gefährlich im Nahkampf.«

»Du warst ja damit beschäftigt, den Fluchtweg abzusichern«, erwiderte Dor. Die Schürfwunden an seinen Armen und Beinen begannen zu brennen.

»Zieh deine Sachen aus!« befahl sie und machte sich selbst ans Werk. »Grundy, geh etwas Heilelixier suchen. Wir haben vergessen, welches mitzunehmen, aber es gibt einige Pflanzen, die so was herstellen.«

Grundy verschwand im Wald. »Hat eine von euch Pflanzen etwas Heilsaft?« rief er.

Dor war zu matt, um Widerstand zu leisten. Irene riß an seiner Hose, dann hielt sie inne. »Oje, das hatte ich ja ganz vergessen«, sagte sie.

»Was?« fragte Dor, der sich unschlüssig war, wie peinlich berührt er jetzt eigentlich sein müßte.

»Ich bin wirklich froh, daß du das mitgebracht hast!« sagte sie. »He, Chet – schau dir das mal an!«

Der Zentaur kam zu ihnen herüber und betrachtete ihn. »Die Salbe!« sagte er. »Ja, die könnte ganz nützlich sein.«

Dor entspannte sich wieder. Einen Augenblick lang hatte er geglaubt – aber natürlich hatte sie die Salbe gemeint.

Kurz darauf hatte Irene ihn völlig ausgezogen. »Deine Haut ist ja überall zerschabt!« tadelte sie ihn. »Ein Wunder, daß du da unten nicht in Ohnmacht gefallen bist!«

»Ich glaube, das werde ich wohl jetzt tun«, meinte Dor und tat es.