8
Das Mundanische Geheimnis

Noch in derselben Nacht lenkten sie die beiden Flöße zurück zur Zentaureninsel. Dabei entdeckten sie, daß Arnoldes magiefördernder Einfluß sich am stärksten nach vorne erstreckte, vielleicht fünfzehn Schritte weit und etwa die Hälfte nach hinten. Am schwächsten war seine Magie an den Seiten, wo sie kaum hervortrat. So war sein magisches Wirkungsfeld eine Art Tunnel oder Durchgang, der stets vor dem Zentauren lag.

Als sie wieder ins magische Hauptfeld Xanths eingedrungen waren, war von Arnoldes Talent nichts mehr zu merken. Da spielte es keine Rolle, in welche Richtung er blickte. Andererseits war es auch nicht so recht möglich, die Intensität der Magie in seiner unmittelbaren Nähe genau zu messen.

Grundy schlich sich zu Chet hinein, um ihn zu wecken und ihm die Lage zu erklären, während Arnolde in seinen alten Schmökern herumstöberte, um die schnellste Route nach Mundania ausfindig zu machen. Er berichtete, daß der kürzeste Weg der Tunnel sei, den die Sonne bei ihrer Rückkehr aus dem Ozean benutzte und in dem sie sich unterwegs auch abtrocknete und wieder auflud. Tagsüber, während die Sonne ihn nicht benutzte, war er frei; sie konnten ihn einfach entlanggehen.

»Aber das würde uns doch gen Westen führen!« protestierte Irene. »Mein Vater hat Xanth aber in nördlicher Richtung verlassen.«

Dem mußte Dor beipflichten. »Die übliche Strecke nach Mundania führt durch den Nordwestisthmus. Dort müssen wir hin, um vielleicht seine Spur aufzunehmen. Den Sonnentunnel können wir nicht benutzen. Aber bis zum Isthmus ist es eine weite Reise, und ich glaube nicht, daß wir noch einmal die Küste entlangreisen sollten. Wenn wir Pech haben, kommen wir vielleicht nie am Ziel an. Gibt es keine besseren Vorschläge?«

»Nun, für morgen sind kurze Regenschauer angezeigt«, sagte Arnolde. »Da müßte es auch einen Regenbogen geben. Im Archiv gibt es einen Zauber, mit dessen Hilfe man auf einem Regenbogen schreiten kann. Es geht sehr schnell, denn Regenbögen halten nicht lange an. Außerdem ist da allerdings noch ein Risiko.«

»Geschwindigkeit ist genau das, was wir brauchen«, sagte Dor, der sich an seine Traumvisionen erinnerte, die von einer gewissen Dringlichkeit geprägt gewesen waren. »Ich glaube, daß König Trent in Schwierigkeiten steckt und möglichst bald gerettet werden sollte. Vielleicht nicht unbedingt sofort oder morgen, aber ich glaube kaum, daß wir es uns leisten können, einen Monat zu warten.«

»Außerdem gibt es da das Problem, den Regenbogen zu erklimmen«, meinte Arnolde. Jetzt, da er den widerlichen Gedanken an seine eigene Magie akzeptiert hatte, stellte sich sein Verstand recht willig auf die Lage ein. Vielleicht lag es ja daran, daß er es gewohnt war, mit Informationen umzugehen und sie zu ordnen. »Die Magie eines Regenbogens besteht ja unter anderem darin, daß er von allen Beobachtern aus gleich fern zu sein scheint, wobei seine beiden Enden in gleicher Entfernung von ihnen im Norden und Süden den Boden berühren, egal, wo sie auch stehen mögen. Wir müssen seine Steigung erklimmen, um dann auf der anderen Seite schnell hinunterzurutschen, bevor er verblaßt.«

»Die Salbe!« sagte Grundy. »Wir können eine Rauchsäule zu einer Wolke emporsteigen lassen, um von dort aus zur Spitze des Regenbogens emporzulaufen, sofern wir früh genug anfangen, bevor sich der Regenbogen gebildet hat.«

»Ihr versteht mich nicht«, wandte der Zentaur ein. »Wenn wir die Wolke besteigen, wird er uns immer noch genausoweit entfernt erscheinen wie vorher. Einen Regenbogen einzufangen ist eines der schwierigsten Unterfangen überhaupt.«

»Das sehe ich ein«, murmelte Dor. »Wie können wir einen einfangen, wenn er ständig zurückweicht?«

»Erstick den Blick«, schlug Krach vor und bedeckte seine riesigen Augäpfel mit seinen behandschuhten Fäusten.

»Natürlich, das Ungeheuer hat recht!« sagte Arnolde, ohne Krach, den er wohl für anstößig hielt, anzublicken. »Das ist die offensichtliche Lösung!«

Für Dor war sie alles andere als offensichtlich. »Wie können wir denn zum Regenbogen gelangen, wenn wir unsere Augen bedecken?«

»Wenn man ihn nicht ansieht, kann er einem wohl kaum weit entfernt erscheinen«, meinte Arnolde.

»Ja, aber…«

»Ich verstehe«, sagte Grundy. »Wir stellen fest, wo er ist, schließen die Augen und gehen auf ihn zu. Dann kann er nicht zurückweichen, weil wir ihn gar nicht sehen. Sehr einfach.«

»Aber irgend jemand muß ihn trotzdem ansehen, sonst ist er überhaupt nicht da«, warf Irede ein. »Oder?«

»Chet kann ihn anblicken«, sagte Grundy. »Der kommt ja sowieso nicht mit.«

Dor traute diesem Plan nicht ganz, doch die anderen schienen damit einverstanden zu sein. »Dann legen wir uns heute nacht am besten schlafen und warten ab, was morgen geschieht«, sagte er und hoffte, daß dies alles auch wirklich einen Sinn ergeben würde.

 

Sie schliefen lange, doch das war nicht weiter schlimm, weil die kurzen Regenschauer erst am späten Vormittag zu erwarten waren. Arnolde informierte die Ältesten pflichtschuldig über seine Lage; wie erwartet, ermunterten sie ihn dazu, die Insel für immer zu verlassen, sobald es nur ging, ohne direkt auf den Grund dafür einzugehen, aus dem er plötzlich seine Stellung in ihrer Gemeinschaft verloren hatte. Magier waren hier unerwünscht; in seiner Gegenwart hätten sich alle unwohl gefühlt. Sie würden bekanntgeben, daß Arnolde sich aus gesundheitlichen Gründen von seinem Beruf zurückgezogen hätte, damit sein guter Ruf nicht geschädigt wurde, und sie würden auch einen neuen Archivar bestallen und einarbeiten. Niemand würde von seiner Schmach erfahren. Um seine baldige Abreise zu erleichtern, rüsteten sie ihn mit einer nützlichen Sammlung von Zaubern und Gegenzaubern für die Reise aus und wünschten ihm alles Gute.

»Diese Heuchler!« rief Irene. »Fünfzig Jahre lang hat Arnolde ihnen treu gedient, und plötzlich, nur weil…«

»Ich hab’ dir doch gleich gesagt, daß du die Feinheiten der Zentaurengesellschaft nicht verstehen würdest«, meinte Chet, obwohl auch er sich in seiner Haut nicht so recht wohl zu fühlen schien.

Trotzig sagte Irene nichts mehr. Dor gefiel sie wegen ihrer Gefühle jedoch noch besser. Es war wirklich Zeit, die Zentaureninsel zu verlassen, und dies nicht nur wegen ihrer Mission.

Die Kurzregenschauerwolken ballten sich am Himmel zusammen und schickten sich an, zu regnen. Dor stellte einen Räuchertopf auf, und es gelang ihm, eine Rauchsäule im schrägen Winkel emporsteigen zu lassen und die Wolke zu schneiden. Sie bestrichen sich Hände und Füße mit der Salbe, aktivierten die Gegenzauber, die Arnolde an sie verteilte, und marschierten die Säule empor. Arnolde machte sich erstaunlich gut für sein Alter; offenbar hatten seine archäologischen Feldstudien ihn in Reiseform gehalten.

Einen Augenblick hielten sie inne, um Chet anzublicken, der unten am Strand stand und auf den Regenbogen wartete. Dor erstickte fast an seinen Tränen und konnte nur winken. »Hoffentlich sehen wir uns mal wieder, Vetter!« rief Arnolde. Chet war nicht mit ihm verwandt; Arnolde spielte vielmehr auf ihr gemeinsames magisches Talent an. »Und vielleicht kann ich auch deinen Vater mal kennenlernen.« Chet lächelte.

Als sie die Wolkenbank erreicht hatten, legten sie Augenbinden an. »Wolken«, sagte Dor, »sagt uns, wie wir am besten zur Spitze des Regenbogens gelangen. Laßt keinen von uns zu nahe an euren Rand treten.«

»Welcher Regenbogen?« fragte die nächstgelegene Wolke.

»Der Regenbogen, der gerade im Begriff ist, sich zu bilden. Den mein Freund Chet vom Boden aus sehen wird.«

»Ach so, der Regenbogen. Der ist noch nicht da. Er hat noch etwas an der Ostküste Xanths zu erledigen.«

»Na gut, dann führt uns auf ihn, wenn er hier ist.«

»Warum macht ihr nicht die Augen auf und schaut ihn euch selbst an?« fragte die gerissene Wolke. Unbelebte Dinge waren oft recht pervers, und die vielen Windungen und Falten der Wolken machten sie schlauer, als es der Durchschnitt war.

»Führt uns einfach hin«, erwiderte Dor.

»Oooooch!« Aber die Wolke mußte gehorchen.

Hinter ihnen erscholl, unten auf dem Boden, ein lautes »Hopp!«

»Das ist das Popcorn, das ich Chet gegeben habe«, sagte Irene. »Ich habe ihm gesagt, er soll es aktivieren, wenn er den Regenbogen sieht. Jetzt ist der Regenbogen fixiert solange er ihn anblickt, und wir nicht; wir müssen schon nahe dran sein.«

»Sind wir das?« fragte Dor die Wolke.

»Ja, ja«, murrte die Wolke. »Direkt vor euch, obwohl er nie sehr direkt ist, haha. Das ist kumulativer Humor!«

»Regenbogen!« rief Dor. »Sing uns etwas, wenn du mich hören kannst!«

Als Antwort ertönte der Regenbogen: »Tra-la-la-di-ri-la!« Es klang sehr hübsch und bunt.

Sie eilten auf ihn zu. Als sie ihn erklommen hatten, entfernten sie ihre Augenbinden. Nun konnte der Regenbogen sie nicht mehr mit seiner trügerischen Magie hereinlegen.

Der Regenbogen war genauso hübsch, wie er sich angehört hatte. Rote, gelbe, blaue und grüne Bänder erstreckten sich der Länge nach vor ihnen, und dazwischen, wo Beobachter vom Boden aus sie nicht erkennen konnten, lagen die geheimsten Schätze des Spektrums: Bänder aus Polkatupfern, Plaid- und Tartanmustern. Manche der inneren Bänder waren durchschimmernd, andere leuchteten in Farben, die sich der Mensch kaum vorstellen konnte: Fortissimo, Charme, Phon und Drall. Man konnte sich mühelos inmitten all dieser Wunder verlieren, und Irene schien ebendies tun zu wollen, doch der Regenbogen würde nicht lange an diesem Ort bleiben. Offenbar hatten Regenbögen einen vollen Terminplan, und dieser hier sollte in einer halben Stunde irgendwo in Mundania erscheinen.

Arnolde holte seinen Regenbogenreisezauber hervor, der in einem Papierumschlag versiegelt war. Er riß den Umschlag auf – und schon begannen sie, in die Tiefe hinabzurutschen.

Ihr Tempo war phänomenal. Sie sausten an den Wolken vorbei, hinab in die kaum beregnete Region in der Tiefe, und jagten unaufhaltsam auf das Meer im Norden zu.

Unter ihnen lag das Land Xanth, eine langgezogene Halbinsel, deren Küstengewässer von schmalen Inseln durchzogen wurden. Durch die Mitte des Landes zog sich die zerklüftete Spalte, die den nördlichen vom südlichen Teil trennte. Auf Karten war sie nie zu sehen, weil sich keiner an sie erinnern konnte, aber das hier war ja auch keine Landkarte: Es war die Wirklichkeit, von einem Regenbogen herab betrachtet. Es gab eine Reihe von Seen, wie etwa den Ogersee im Süden, doch die Dor bekannten menschlichen Siedlungen waren nicht zu sehen. Der Mensch hatte auf Xanth physisch einfach keinen allzugroßen Eindruck gemacht.

»Prima Klima!« rief Krach fröhlich.

»Huuuuch! Mein Rock!« quiekte Irene, als die boshaften Böen der ganzen Welt ihre Beine bloßlegten. Dor fragte sich, warum sie eigentlich darauf bestand, Röcke zu tragen, wo dies doch offenbar so unpraktisch war. Hosen hätten das Problem ein für alle Mal gelöst. Dann überlegte er, daß sie dieses Problem ja vielleicht gar nicht wirklich lösen wollte. Sie wußte sehr gut, daß ihre Beine Prachtstücke eines an sich schon prächtigen Körpers waren, und so war sie vielleicht gar nicht wirklich abgeneigt, die Welt dies wissen zu lassen. Wenn sie ständig gegen alle unfreiwilligen Zurschaustellungen protestierte, konnte ihr schließlich niemand vorwerfen, daß sie mit ihren Reizen prahlte. Das System war wirklich nicht schlecht.

Dor, Grundy und Arnolde, die der Gewalt weniger fröhlich begegneten als der Oger und auch weniger schamhaft (?) waren als Irene, hielten sich beim Hinabrutschen an dem Regenbogen fest und starrten immer beunruhigter in die Tiefe. Wie sollten sie unten nur abbremsen? Die Abfahrt näherte sich mit bedrohlicher Schnelligkeit ihrem Ende. Die Nordküste Xanths unter ihnen wurde immer größer, und die Windungen der Strände waren immer deutlicher zu erkennen. Das Meer schien hier merkwürdig rötlich gefärbt zu sein; Dor hoffte nur, daß dies nicht vom vergossenen Blut früherer Regenbogenfahrer herrührte. Aber natürlich nicht! Wie konnte er nur so etwas denken?

Da kehrte sich der Reisezauber um, und ihr Tempo verlangsamte sich zusehends, bis sie schließlich sanft ins rötliche Wasser am Ende des Regenbogens plumpsten und auf die Küste zuschwammen. Die Färbung rührte nicht von Blut her; jetzt, aus der Nähe betrachtet, war das Rot nur schwach und durchschimmernd.

Nun, da er es nicht mehr aus der Luft sehen konnte, erinnerte sich Dor an weitere Einzelheiten Xanths. Es verlief von Norden nach Süden, und sein schmalster Landstrich war dort, wo sich das Dorf seines Großvaters, des Ältesten Roland, befand, an der Westseite der nördlichen Mitte.

Oben an der Spitze machte Xanth eine Westkrümmung und wurde durch den Isthmus mit Mundania verbunden, der ihr Ziel war – und irgendwie schien das Mundania jenseits dieses Isthmus riesig zu sein, viel größer als Xanth. Dor kam zu dem Schluß, daß dieser Eindruck sicherlich falsch war. Mundania war bestimmt allenfalls so groß wie Xanth oder sogar noch etwas kleiner. Wie konnte ein derart unwichtiges Gebiet größer sein, vor allem, wenn es keine Magie besaß?

Nun erreichten sie seichtes Gewässer und wateten durch dunkelrotes Wasser an Land. Die rote Farbe machte ihm Sorgen, da sie sich am Wasserrand intensivierte; wie konnte das normalerweise blaue Wasser hier im mundanischen Gebiet eine andere Farbe annehmen? Welche Magie konnte es beeinflussen, da es hier doch keinerlei Magie mehr gab?

»Vielleicht hat der Regenbogen abgefärbt«, meinte Irene.

Hm, vielleicht. Natürlich befanden sie sich durch Arnoldes Begleitung jetzt im magischen Feld des Zentauren, so daß alles hier nicht mehr wirklich mundanisch war. Doch das rötliche Wasser erstreckte sich weit über das Magiefeld hinaus und schien eines der hiesigen Landschaftsmerkmale zu sein.

Sie versammelten sich auf dem Strand, von rotem Wasser triefend. Grundy und Krach machte das nichts aus, doch Dor fühlte sich nicht wohl dabei, und Irenes Bluse und Rock klebten völlig durchnäßt an ihrem Körper. »In diesem Aufzug lauf ich nicht herum, und ausziehen werde ich mich auch nicht!« verkündete sie. Sie griff in ihren Samenbeutel, den sie auf der Zentaureninsel wieder aufgefüllt hatte, und holte einen purpurnen Samen hervor. Der Beutel war offenbar wasserdicht, denn der Samen war völlig trocken. »Wachse!« Befahl sie und ließ ihn auf den Sand fallen.

Das Ding keimte und wurde zu einer Trockenblume. Kleine purpurne Blüten begannen zu knospen und gaben warme, trockene Luft ab. Diese Pflanze benutzte die Sonnenwärme, um Gegenstände in ihrer Umgebung damit zu trocknen. Schon bald war ihre Kleidung wieder trocken. Selbst Krach und Grundy wußten dies zu schätzen, da sie die Spezialjacken trugen, die ihnen von den Zentauren geschenkt worden waren. Krach schüttelte auch seine Panzerfäuste aus und trocknete sie, während Irene ihren Pelz mit der Silberbordüre ausbreitete.

»Wissen wir überhaupt, in welche Richtung wir müssen?« fragte Irene schließlich.

»Ist König Trent hier vorbeigekommen?« fragte Dor die Landschaft.

»Wann?« fragte der Strandsand.

»Im letzten Monat.«

»Nicht daß ich wüßte.«

Sie schritten weiter gen Norden, und Dor versuchte es aufs neue. Wieder erhielt er eine abschlägige Antwort.

Den ganzen Tag über zogen sie weiter. Bis zum Abend hatten sie den Isthmus abgeschritten – ohne Erfolg. Das Land hatte den König nicht gesehen.

»Vielleicht hat die Königin ja eine Unsichtbarkeitsillusion erzeugt«, schlug Grundy vor.

»Hier in Mundania konnte die doch nicht funktionieren, Blödian!« knurrte Irene. Sie war immer noch böse auf den Golem, weil sie durch ihn die Hälfte ihres Samenvorrats an den eklektischen Aal verloren hatte. In Kleinigkeiten konnte sie sehr nachtragend sein.

»Ich bin nicht hinreichend über König Trents Exkursion informiert«, sagte Arnolde. »Vielleicht hat er Xanth auf einem anderen Weg verlassen.«

»Aber ich weiß genau, daß er diese Route genommen hat!« wandte Irene ein.

»Du wußtest doch nicht einmal, daß er Xanth verlassen hatte«, erinnerte Grundy sie. »Du hast geglaubt, daß er Urlaub in Xanth macht.«

Achselzuckend wischte sie diesen Einwand beiseite. »Aber das ist der einzige Weg, der aus Xanth herausführt!« Ihre Stimme drohte wieder, ins Hysterische umzukippen.

»Es sei denn, er ist übers Meer gereist«, meinte Dor.

»Ja, das wäre möglich«, stimmte sie ihm sofort zu. »Aber dann muß er irgendwo an Land gegangen sein. Meine Mutter wird seekrank, wenn sie zu lange auf einem Schiff bleibt. Wir brauchen bloß den Strand entlangzugehen und die Steine und Pflanzen befragen.«

»Und nach mundanischen Monstern Ausschau halten«, stichelte Grundy. »Damit sie dir nicht unter den Rock schielen…«

»Ich bezweifle, daß nichtmagische Wesen uns allzu großes Kopfzerbrechen bereiten dürften«, meinte Arnolde in seinem typischen Gelehrtentonfall.

»Der Huftreter – was weiß denn der?« wollte Krach wissen.

»Jedenfalls mehr als du, du dämlicher Tölpel«, gab der Zentaur wütend zurück. »Ich habe mich in letzter Zeit etwas mit Mundania beschäftigt, habe Einwanderer befragt und feststellen können, daß, den meisten Berichten zufolge, mundanische Pflanzen und Tiere vergleichsweise zurückhaltend und scheu sind. Natürlich bleibt immer ein gewisser Spielraum für Irrtümer wie bei allen Dingen.«

Dor bemerkte, daß der Oger verärgert war, weil er offenbar der Meinung war, daß Arnolde Chets Platz einnehmen wollte oder sollte. Dor beschloß, die Sache vorerst auf sich beruhen zu lassen.

Sie schritten den Strand entlang. Tatsächlich – nichts machte Anstalten, sie anzugreifen. Die Bäume waren merkwürdige Dinger mit ovalen Blättern, braunen, unbeweglichen Rinden und ohne Tentakel. Kleine Vögel schwirrten zwischen den Ästen umher, und graue Tiere huschten über den Boden.

Arnolde hatte ein Werk über Naturgeschichte mitgebracht und blätterte eifrig darin. »Eine Eiche!« rief er. »Wahrscheinlich die Urform der Silbereiche, der Hammereiche, der Truthahneiche und des Eichelbaums!«

»Aber die trägt doch weder Silber noch Hämmer, noch Eicheln!« protestierte Grundy.

»Und auch keine Truthähne«, ergänzte Irene.

»Doch, durchaus, in rudimentärer Form«, entgegnete der Zentaur. »Seht mal, wie mache der Blätter einen silbrigen Schimmer aufweisen, während andere die Form primitiver Gegenstände haben. Und wenn die entsprechende Jahreszeit kommt, trägt er vermutlich auch Eicheln. Das Fehlen der Magie verhindert zwar, daß sich alles richtig ausprägen kann, aber wenn man einen geübten Blick hat…«

»Vielleicht«, meinte der Golem achselzuckend. Mehr wollte er über Eichen wohl gar nicht erst erfahren.

Dor befragte weiterhin die unbelebten Gegenstände am Strand und auch das Meerwasser, doch ohne Erfolg. Alle bestritten, König Trent oder Königin Iris gesehen zu haben.

»Das ist doch einfach lächerlich!« wütete Irene. »Ich weiß doch, daß er hier entlanggekommen ist.«

Arnolde strich sich nachdenklich über das Kinn. »Es scheint tatsächlich eine signifikante Diskontinuität vorzuliegen.«

»Da stimmt was nicht«, pflichtete Grundy ihm bei.

Als die Sonne unterging, schlugen sie ihr Lager am Strand auf. Anstatt Wachposten einzuteilen, wollten sie sich auf ihre Magie verlassen. Dor befahl dem Sand in ihrer Nähe, zu schreien, wenn irgend etwas Gefährliches oder Widerliches sich nähern sollte, und der Sand versprach zu gehorchen. Irene setzte einen Deckenbusch, auf dem sie schlafen konnten, und ließ außerdem noch eine Würgekirschenhecke als zusätzlichen Schutz wachsen. Sie schlachteten Beefsteaktomaten und rösteten sie an einem Flammenbaum und tranken den Saft von Wein- und Regen-Lilien.

»Junge Dame, Euer Talent trägt wirklich Wesentliches zu unserer Bequemlichkeit bei«, sagte Arnolde. Als sie das Kompliment hörte, errötete sie.

»Ach, das sagt er doch bloß, weil sie hübsch ist«, grollte Grundy. Das ließ Irene vor Freude nur noch mehr erröten. Dor war zwar nicht erfreut, wußte aber nicht, weshalb. Anderer Leute Reaktionen konnte er immer leichter ausmachen als seine eigenen.

»Vor allem, wenn ihr der Rock übers Knie hochgerutscht ist«, fuhr der Golem fort. Irene zog hastig den Rocksaum herunter, und ihr Erröten wirkte plötzlich wesentlich weniger anziehend.

»Eine solche Reise bietet wenig genug Entschädigungen«, meinte Arnolde. »Wenn ich die freie Wahl hätte, würde ich sofort meine eigene Magie abschaffen und voll rehabilitiert zu meiner Pfründe im Museum zurückkehren.«

Das war das Grundproblem des Zentauren, erkannte Dor. Er trug ihnen immer noch ihre abscheuliche Tat nach, die ihn aus seiner zufriedenen Existenz gerissen und zum Ausgestoßenen gemacht hatte. Dor konnte es ihm kaum verübeln. Arnoldes Einverständnis, gemeinsam mit ihnen nach Mundania zu reisen, um König Trent zu retten, bedeutete nicht, daß er mit seinem Los zufrieden gewesen wäre; er versuchte lediglich, aus einer für ihn schrecklichen Lage das Beste zu machen.

»Ein großer Schubs – dann ist er schwupps!« bot sich Krach an.

»Aber wir brauchen seine Magie«, versuchte Irene zu vermitteln, »genau wie deine Kraft, Krach.« Und sie legte die Hand auf den gewaltigen Arm des Ogers, was ihn beruhigte. Auch das gefiel Dor nicht, obwohl er ihren Beweggrund durchaus verstehen konnte. Der Gruppenfrieden mußte auf jeden Fall bewahrt bleiben.

Sie legten sich zur Ruhe – und der Sand schlug Alarm. Die Monster, vor denen er sie warnte, stellten sich als Sandflöhe heraus, kleine Insekten, die so winzig waren, daß man sie kaum erkennen konnte. Arnolde holte einen Ungezieferabwehrzauber aus seiner Sammlung, und das Problem war gelöst. Wieder legten sie sich zur Ruhe, und diesmal schliefen sie auch ein.

 

Am nächsten Morgen setzten sie ihren Marsch fort. Doch während der Tag verstrich, wurde ihr Scheitern immer offensichtlicher. »Irgend etwas stimmt hier nicht, das ist sicher«, bemerkte Arnolde. »Soweit wir wissen, ist König Trent hier in der Nähe vorbeigekommen – und doch bestreiten die Gegenstände das. Vielleicht ist es nicht allzu voreilig, wenn man daraus bestimmte Konjekturen deduziert.«

Krach runzelte die Stirn und versuchte herauszufinden, ob das wohl eine neue, raffinierte Beleidigung sein konnte.

»Sag schon, was dir auf den Nägeln brennt, Pferdeschwanz«, sagte Grundy auf seine gewohnt diplomatische Weise.

»Wir haben einen gesicherten Erkenntnisstand darüber, daß es der Königin unmöglich gewesen sein muß, die lokalen Gegenstände mit ihrer Macht zu täuschen«, erwiderte Arnolde in schulmeisterlichem Ton.

»Nicht ohne Magie«, pflichtete Dor ihm bei. »Soweit wir wissen, waren die beiden in dieser Gegend ganz einfache mundanische Leute.«

»Könnte es sein, daß es ihnen nicht gelungen ist, an Land zu kommen?«

»Nein!« rief Irene empört.

»Ich habe das Meer befragt«, erwiderte Dor. »Es sagt, daß sich nichts Derartiges auf ihm befindet.«

Irene entspannte sich etwas.

»Könnte es sein, daß sie eine gänzlich andere Route genommen haben? Vielleicht sind sie von der Ostküste Xanths gen Norden gesegelt, um dort an einem anderen mundanischen Küstenabschnitt an Land zu gehen.«

»Das kann nicht sein«, warf Irene entschieden ein. »Ihre ganze Planung zielte darauf ab, hier herauszukommen. Man hatte eine günstige Handelsmöglichkeit erkundet, und sie folgten der Karte, die der Entdecker benutzt hat. Ich habe die Karte selbst gesehen, und die Strecke führt hier vorbei.«

»Aber wenn du doch gar nicht wußtest…«, fing Dor an.

»Damals wußte ich lediglich nicht, daß sie diese Route entlangreisen wollten«, entgegnete sie. »Aber die Karte, die der Kundschafter mitgebracht hat, und auf der der Reiseweg eingezeichnet war, die habe ich gesehen. Ich weiß erst jetzt, was sie bedeutet hat. Mehr habe ich nicht gesehen, aber ich bin mir absolut sicher, daß sie diesen Weg entlanggekommen sind.«

Dor hatte keine Lust, weitere Einwände vorzubringen. Es war auch das Praktischste: Er hatte den anderen alles gesagt, was er über König Trents Reiseziel wußte, und diese Route widersprach seiner Information keineswegs.

»Könnte es sein, daß man sie abgefangen hat, bevor sie Xanth verließen?« fuhr Arnolde fort. »Wegelagerer, vielleicht?«

»Mein Vater hätte jeden Wegelagerer in eine Kröte verwandelt«, erwiderte sie hitzig. »Außerdem hätte sie die Illusion meiner Mutter innerhalb Xanths unkennbar gemacht.«

»Dann haben wir offenbar das Wahrscheinliche erfolgreich eliminiert«, dozierte Arnolde. »Folglich sind wir nun dazu verpflichtet, das Unwahrscheinliche in Augenschein zu nehmen.«

»Was meint Ihr damit?« wollte Irene wissen.

»Wie ich bereits sagte, habe ich eine etwas unwahrscheinliche Schlußfolgerung im Auge, und es besteht durchaus die Möglichkeit, daß lediglich ein Irrtum vorliegt…«

»Nun spuck’s schon aus, Braunpelz!« sagte Grundy.

»Mein geschätztes großmäuliges Konstrukt, ein Zentaur pflegt nicht auszuspeien. Und meine Farbe ist kein simples, gewöhnliches Braun, sondern Appaloosa.«

Irene merkte allmählich, welche Macht sie über den Zentaur im besonderen und über männliche Wesen im allgemeinen ausüben konnte. »Bitte, Arnolde«, bat sie herzzerreißend. »Es ist mir doch sooo wichtig, alles zu erfahren, was mir helfen könnte, meinen armen verschollenen Vater wiederzufinden…«

»Aber natürlich, liebes Kind«, willigte Arnolde sofort ein und warf sich in eine onkelhafte Pose. »Es ist einfach nur folgendes: Vielleicht ist König Trent ja gar nicht zu dem Zeitpunkt hier vorbeigekommen, an den wir denken.«

»Aber es muß doch während des letzten Monats gewesen sein«, meinte sie.

»Nicht notwendigerweise. Das ist ja gerade der außergewöhnliche Aspekt meiner Hypothese. Er könnte auch vor einem Jahrhundert hier vorbeigekommen sein.«

Jetzt starrten Dor, Irene und Grundy den Zentauren an, um festzustellen, ob er wohl Witze machte. Krach, der Gedankenspielen wenig abgewinnen konnte, beschäftigte sich damit, ab und zu eine Handvoll Sand aufzunehmen und so lange zusammenzudrücken, bis die Mineralien miteinander verschmolzen. Offenbar erlaubten es seine Panzerfäuste ihm, seine Kraft auf eine Weise anzuwenden, wie sie ihm früher niemals möglich gewesen wäre, da selbst das Fleisch eines Ogers immer noch eine Spur weicher war als Stein. Langsam entstand so eine mittlere Sandburg.

»Hast du letzte Nacht vielleicht zufällig mit dem Kopf unter Wasser geschlafen?« wollte der Golem wissen.

»Ich habe, was ich wohl vorhin bereits hinreichend klarifiziert habe, das Phänomen Mundania auf die eine oder andere Weise erforscht«, erwiderte Arnolde. »Ich muß gestehen, daß ich nur Bruchteile dessen weiß, was man darüber wissen könnte, und ich muß auch ständig auf der Hut vor Irrtümern und Fehlern sein, aber einige Konklusionen erscheinen mir als immer glaubwürdiger. Im Verlauf der Geschichte sind diverse Anomalien in den Beziehungen zwischen dem einen Kontinuum und dem anderen zutage getreten. Da ist zunächst das linguistische Problem: Es sieht so aus, als gäbe es in Mundania mehrere Sprachen, und doch werden sie in Xanth alle gleichermaßen intelligibel. Ich bin mir nicht sicher, ob Ihr die Signifikanz dieser…«

Irene wurde langsam ungeduldig. Sie stampfte mit ihrem kleinen Fuß auf den Boden. »Wie kann er hier vor einem Jahrhundert vorbeigekommen sein, wenn er damals doch noch gar nicht geboren war?«

»Das ist eben die Diskontinuität, von der ich sprach. Die Zeit scheint höchst unterschiedlich zu verlaufen; es kann sein, daß es da keine konstante Relation gibt. Es gibt Indizien dafür, daß mehrere der Wellen menschlicher Eroberungen aus weit voneinander verschiedenen, ja in manchen Fällen sogar anachronistischen Subkulturen Mundanias entsprungen sind. Das bedeutet, die letzte Menschenwelle könnte aus einer Periode Mundanias stammen, die vor der der vorhergehenden Welle lag.«

»Einen Moment mal!« rief Dor. »Ich habe das Xanth von vor achthundert Jahren besucht, und ich schätze, das war wohl tatsächlich eine Art Zeitreise, aber das war auch ein Sonderfall. Da es in Mundania keine Magie gibt, könnten die Menschen dort auch keine Zeitumkehrungen kennen, nicht wahr? Oder herrschen dort verschiedene Zeiten?«

»Nein, ich glaube schon, daß ihr Zeitrahmen innerhalb ihrer Welt durchaus konsistent ist. Aber wenn die temporale Sequenz in inverser Relation zur unsrigen stünde…«

»Ich will bloß wissen, wo mein Vater ist!« fauchte Irene.

»Er könnte sich in Mundanias Vergangenheit befinden – oder in seiner Zukunft«, sagte der Zentaur. »Wir wissen nichts darüber, welche Gesetze das Überschreiten der Magiegrenze beherrschen, aber der Prozeß scheint von Xanth aus steuerbar zu sein. Das bedeutet, daß wir wohl bestimmen können, in welches Zeitalter Mundanias wir reisen wollen, doch ansonsten ist der Zugang zu Xanth von Mundania aus völlig willkürlich, in manchen Fällen vielleicht sogar unmöglich. Das ist eine äußerst interessante Schnittstelle. Es ist beinahe so, als wäre Xanth ein Boot, das auf einem Fluß treibt; die Passagiere können zwar aussteigen, wann immer sie wollen, indem sie sich nämlich einfach ihren Hafen aussuchen oder, um genauer zu sein, ihre Zielzeit, während die Eingeborenen am Flußufer nur das Fahrzeug nehmen können, das zufällig in ihrer Reichweite vorbeitreibt. Zugegeben, diese Analogie ist nicht ganz adäquat, da sie bestimmte…«

»Dann kann der König also irgendwann in Mundania sein?« fragte Irene zweifelnd.

»Eine bemerkenswert knappe und präzise Zusammenfassung«, gab Arnolde zu.

»Aber mir hat er gesagt ›Mittelalter‹«, warf Dor ein.

»Das grenzt die Möglichkeiten ein«, meinte der Zentaur. »Aber selbst dann umfaßt es noch eine gewaltige Zeitspanne, und wenn er sich eher bildlich ausgedrückt haben sollte…«

»Wie können wir ihn da jemals finden?« wollte Irene wissen.

»Das wird problematisch. Natürlich möchte ich nicht versäumen, darauf hinzuweisen, daß dies alles reine Theorie ist, die sich durch nichts belegen läßt. Ich hätte sie normalerweise überhaupt nicht zur Diskussion gestellt, indes…«

»… indes ist sie die einzige, die paßt«, beendete Irene seinen Satz. »Angenommen, die Theorie stimmt. Was dann?«

»Nun, ich glaube, wir könnten uns die Sache sehr vereinfachen, wenn wir in Mundania irgendwelche wissenschaftlichen Forschungseinrichtungen ausfindig machen könnten. Irgendeine Institution, wo es detaillierte Aufzeichnungen gibt, Archive vielleicht…«

»Und Ihr seid ja ein Archivar!« rief Dor.

»Eben. Damit könnte ich feststellen, in welcher Epoche Mundanias wir uns befinden. Da König Dor sagt, daß König Trent von einer mittelalterlichen Epoche gesprochen hat, hätten wir damit immerhin schon einen Bezugsrahmen.«

»Und wenn wir im falschen mundanischen Jahrhundert sind?« fragte Irene. »Was tun wir dann?«

»Dann müßten wir nach Xanth zurückkehren und erneut eine Expedition starten, diesmal ins richtige Jahrhundert. Wie ich bereits erwähnte, scheint es von Xanth aus möglich zu sein, den Zeitort in Mundania zu bestimmen, so daß wir dort hineingelangen und bleiben könnten, bis wir nach Xanth zurückkehren. Allerdings wäre ein solches Vorgehen mit einigen Ungewißheiten und potentiellen Komplikationen verknüpft.«

»Das glaube ich auch«, meinte Dor. »Wenn wir uns verrechnen, treffen wir möglicherweise noch vor ihm dort ein.«

»Oh, das möchte ich bezweifeln, außer auf der makroskopischen Ebene natürlich.«

»Auf der was?«

»Ich glaube, daß die Zeiten unter gewissen Umständen quasi-synchron verlaufen. Das bedeutet, daß wir innerhalb einer bestimmten Epoche nur in eine in Mundania partiell existente Epoche eintreten können. Folglich…«

»Folglich können wir unser Ziel zwar um ein ganzes Jahrhundert verfehlen, nicht aber um einen Tag«, führte Grundy Arnoldes Gedankengang zu Ende.

»Ja, so in etwa, Golem. Die jeweiligen Kanäle scheinen fixiert zu sein…«

»Dann suchen wir das Jahrhundert, und zwar sofort!« sagte Irene, die jetzt schon etwas heiterer wirkte. »Danach brauchen wir nur noch den Ort.«

»Mit Hilfe einer systematischen Nachforschung müßte die entsprechende geographische Lage leicht zu lokalisieren sein.«

»Dann suchen wir endlich Eure Archive«, sagte sie.

»Leider wissen wir nichts über diese Periode«, erinnerte Arnolde sie. »Es ist kaum wahrscheinlich, daß wir per Zufall auf eine geeignete Institution stoßen.«

»Da kann ich was machen«, meinte Dor. »Die wäre doch bestimmt dort, wo es viele Leute gibt, nicht wahr?«

»Korrekt, König Dor.«

»Äh, es ist wohl besser, wenn Ihr mich hier nicht König nennt. Erstens bin ich ja eigentlich gar nicht wirklich einer, und die Leute hier könnten das sehr merkwürdig finden.« Dann fragte er den Sand: »Wohin geht’s zu den meisten Leuten?«

»Woher soll ich das wissen?« fragte der Sand zurück.

»Du weißt doch, aus welcher Richtung die meisten kommen, und wohin die meisten gehen.«

»Ach so. Meistens gehen sie nach Norden.«

»Also dann – auf nach Norden!«

Sie marschierten gen Norden und kamen nach einer Weile an einen mundanischen Pfad, der zu einem Weg wurde, welcher wiederum später in eine Art gepflasterte Straße überging. In Xanth gab es derlei Straßen nicht, und Dor mußte sie genau befragen, um zu begreifen, was es mit ihr auf sich hatte. Offenbar erleichterte sie das Reisen von Fahrzeugen, die aus Metall und Gummi bestanden und sich mit irgendwelcher Magie fortbewegten, oder was immer es auch sein mochte, was die Mundanier einsetzten, um solche Wunder zu vollbringen. Man nannte diese Gefährte »Wagen«, und sie bewegten sich sehr schnell von der Stelle.

»So etwas Ähnliches habe ich unter der Erde einmal gesehen«, sagte Grundy. »Die Dämonen fuhren in solchen Dingern herum.«

Bald darauf erblickten sie einen Wagen. Das Ding zischte wie ein rasender Drache an ihnen vorbei und spuckte dünnen Rauch aus seinem Hinterteil.

»Seid Ihr sicher, daß es in Mundania keine Magie gibt?« fragte Grundy. »Nicht einmal die Dämonen hatten Feueratmer.«

»Sicher bin ich mir ganz und gar nicht«, gab Arnolde zu. »Vielleicht nennen sie ihre Magie einfach nur anders oder benutzen sie auf andere Weise. Ich bezweifle, daß sie bei uns funktionieren würde. Vielleicht glauben wir nur deshalb, daß es in Mundania keine Magie gibt – weil sie nicht für unsere Zwecke anwendbar ist.«

»Ich will nichts mit solchen Wagen zu tun haben«, sagte Irene. »Ein Drache, der sein Feuer und seinen Dampf aus seinem Hinterteil entweichen läßt, ist entweder verrückt, oder er hat enorme Verdauungsstörungen. Wie soll er denn da kämpfen? Suchen wir unsere Archive und machen wir, daß wir wieder wegkommen.«

Die anderen stimmten ihr zu. Dieser Aspekt Mundanias war wirklich ein Zeichen für eine verkehrte Welt. Sie mieden die Schnellstraße und hielten sich lieber an die parallel dazu verlaufenden Wege. Dor befragte immer wieder den Boden, und gegen Nachteinbruch näherten sie sich schließlich einer Stadt. Es war eine seltsame Siedlung, mit einander kreuzenden Wegen, die große Plätze freiließen, und Gebäuden, die alle in Reihen nebeneinanderstanden und mit ihren Fronten zu den Wegrändern zeigten, so daß kaum noch Platz für Wald blieb. Manche von ihnen waren so hoch, daß es an Wunder grenzte, daß sie nicht vom Wind umgeworfen wurden.

Sie lagerten am Stadtrand im Schutz eines großen Schirmbaums, den Irene für sie wachsen ließ, und dessen Schirm sich fast bis zum Boden senkte, so daß sie darunter verborgen blieben. Das war sicherlich auch besser so, denn sie hatten keine Vorstellung davon, wie die Mundanier reagieren würden, wenn sie einen Oger, einen Golem und einen Zentauren erblickten.

»Weiter können wir als Gruppe kaum gehen«, sagte Dor. »Hier gibt es viele Leute und nur wenige Bäume. Wir können nicht mehr unbemerkt reisen. Ich glaube, es wäre besser, wenn Irene und ich losgehen und ein Museum suchten…«

»Eine Bibliothek«, berichtigte ihn Arnolde. »Ich könnte mich zwar ewig und drei Tage in einem mundanischen Museum aufhalten, und würde jeden Augenblick davon auch genießen, aber in einer Bibliothek ist die gesuchte Information sicherlich leichter zugänglich.«

»Also eine Bibliothek.« Dor wußte, was das war, denn König Trent besaß viele Bücher in seinem Bibliothekszimmer auf Schloß Roogna.

»Aber das ist rein akademisch, wobei der Kalauer keineswegs beabsichtigt war«, fuhr der Zentaur fort. »Ohne mich könnt Ihr dort nicht hin.«

»Ich weiß ja, daß ich meine Magie verlieren werde«, erwiderte Dor. »Aber ich muß ja auch nichts Besonderes tun, nichts Magisches jedenfalls. Sobald ich die Bibliothek für Euch ausfindig gemacht habe…«

»Ihr könnt nicht einmal sicher sein, daß Ihr die Sprache der Mundanier sprechen könnt«, sagte Arnolde knapp. »Innerhalb des magischen Umfelds könnt Ihr das. Außerhalb ist es problematisch.«

»Ich bin mir keineswegs sicher, daß wir in unserer Gruppe immer dieselbe Sprache sprechen«, meinte Irene lächelnd. »Worte wie ›Umfeld‹ und ›problematisch‹…«

»Ich kann ihre Sprache sprechen«, warf Grundy ein. »Das ist mein Talent, das Übersetzen.«

»Ein magisches Talent«, erwiderte Arnolde trocken.

»Ach je! Klar, das funktioniert natürlich auch nur innerhalb des Feldes.«

»Aber Ihr könnt doch nicht einfach in die Stadt hineinspazieren!« protestierte Dor. »Ich bin sicher, daß sie nicht an Zentauren gewöhnt sind.«

»Wenn ich die Bibliothek benutzen soll, muß ich sowieso in die Stadt«, wandte Arnolde ein. »Zum Glück habe ich mit einem derartigen Problem gerechnet und habe mir ein paar hilfreiche Zauber aus unseren Vorräten mitgenommen. Die waren mir auch schon bei Feldstudien in Xanth recht nützlich.« Er durchsuchte seinen Beutel, ähnlich wie Irene es mit ihrem zu tun pflegte. »Ich habe diverse Zauber für Unsichtbarkeit, Unhörbarkeit, Unberührbarkeit und so weiter dabei. Der Golem und ich könnten die Stadt unbemerkt betreten.«

»Und was ist mit dem Oger?« fragte Dor. »Der kann sich ja wohl kaum unauffällig unter die Bevölkerung mischen.«

Arnolde zog eine Grimasse. »Der wohl auch, nehme ich an«, meinte er angewidert. »Allerdings eignet diesem Vorgehen ein inhärentes Problem…«

»Ich werde Euch auch nicht sehen können«, schloß Dor.

»Exakt. Einige von uns müssen offen sichtbar bleiben, denn diese Zauber machen es ziemlich umständlich, mit Büchern umzugehen. Unsere Finger würden einfach durch die Seiten fahren. Mein magisches Strahlungsfeld sollte natürlich unverletzt bleiben, und wir könnten bei Euch bleiben. Aber Ihr müßtet alle Nachforschungen ohne unsere Hilfe durchführen.«

»Das schafft Dor nie«, meinte Irene.

»Da hat sie recht«, pflichtete Dor ihr bei. »Ich bin einfach nicht zum Gelehrten geboren. Da würde ich bestimmt nichts als Fehler begehen.«

»Erlaubt mir, nachzudenken«, sagte Arnolde. Er schloß die Augen und strich sich nachdenklich über das Kinn.

»Vielleicht gibt es eine Alternative«, sagte der Zentaur schließlich. »Ihr könntet Euch von einem mundanischen Gelehrten helfen lassen, vielleicht von einem Archivar. Ihr könntet ihn mit einer der Goldmünzen bezahlen, die Ihr gehortet habt, oder vielleicht auch mit einem der Diamanten. Ich glaube, daß beide überall in Mundania als wertvoll angesehen werden dürften.«

»Hm, schon möglich«, erwiderte Dor skeptisch.

»Ich sag’s Euch, der baut auch mit Hilfe noch Mist«, wandte Irene ein. Sie schien ihre früheren Komplimente über Dors gelungenes Vorgehen völlig vergessen zu haben. Das war auch eine von ihren Eigenarten – ihr selektives Gedächtnis. »Ihr müßt die Nachforschungen durchführen, Arnolde.«

»Ich kann ihm nur, wenn man es so ausdrücken soll, über die Schulter blicken«, sagte der Zentaur. »Es wäre äußerst hilfreich, wenn ich ihm dabei Anweisungen geben könnte, welche Bücher er aussuchen und auf welchen Seiten er nachschlagen soll, weil ich ein begabter Leser mit einem sehr guten Gedächtnis bin. Er braucht das Material überhaupt nicht zu begreifen. Aber wenn ich den Unsichtbarkeitszauber nicht aufheben will, was wirklich nicht ratsam wäre, da ich keine Duplikate besitze…«

»Vielleicht gibt es doch eine Möglichkeit«, meldete sich Grundy wieder zu Wort. »Ich könnte aus dem Unsichtbarkeitsfeld heraustreten. Dann kann er mich sehen und hören, und ich könnte ihm sagen, welche Seite er umblättern sollte oder was auch immer.«

»Ja, und alle Mundanier in der Nähe würden sich die Augen aus dem Kopf stieren, während sie die lebende Puppe angaffen«, sagte Irene. »Wenn dafür irgendwer in Frage kommt, dann ja wohl ich.«

»Damit sie dir unter den Rock gaffen können!« konterte der Golem beleidigt.

»Das wäre wirklich die Lösung«, bemerkte Arnolde.

»He, einen Moment mal!« rief Irene.

»Er meint doch die Botengängerdienste«, beruhigte Dor sie sanft.

»Natürlich«, sagte der Zentaur. »Da wir festgestellt haben, daß der magische Durchgang sehr schmal ist, wäre es durchaus machbar, dicht neben ihm zu stehen, während Dor sich weit vorne hält.«

Dor dachte darüber nach und mußte zugeben, daß dies wohl die beste Methode sein würde. »Also gut, versuchen wir es. Morgen früh.«

Sie legten sich zur Ruhe. Es war ihre zweite Nacht in Mundania. Krach und Grundy schliefen sofort ein. Dor und Irene hatten Schwierigkeiten mit dem Einschlafen, und Arnolde wirkte ungemütlich wach. »Wir stehen kurz vor einem direkten Konakt mit der mundanischen Zivilisation«, sagte der Zentaur. »In gewissem Sinne ist dies die Erfüllung eines unerfüllbaren Traumes für mich, die beinahe die persönliche Verdammnis wiedergutmacht, die mein magisches Talent repräsentiert. Und doch bin ich voll der verwirrendsten Überlegung und Befürchtungen. Ich weiß kaum, was ich erwarten soll. Diese Stadt könnte viel zu primitiv sein, um eine ordentliche Bibliothek zu besitzen. Ihre Einwohner – was wissen wir schon über sie? – könnten durchaus auch Kannibalen sein. Es gibt so viele Imponderabilien dabei.«

»Ist mir egal, was sie treiben«, meinte Irene. »Solange ich meinen Vater wiederfinde.«

»Vielleicht sollten wir am Morgen die Umgebung befragen«, fuhr Arnolde nachdenklich fort. »Um festzustellen, was es hier für Einrichtungen gibt, bevor wir uns weiterwagen. Auf jeden Fall sollten wir es nicht ohne guten Grund riskieren, von den Mundaniern entdeckt zu werden.«

»Und wir sollten auch fragen, wo es den besten mundanischen Archivar gibt«, stimmte Irene ihm zu.

Dor schrieb mit dem Zeigefinger ein Wort ins Erdreich: ÄHRLIGKAIT. Düster blickte er es an.

»Ist das wichtig?« fragte der Zentaur und musterte das Geschriebene.

»Das hat König Trent zu mir gesagt«, erklärte Dor. »Wenn ich in Schwierigkeiten wäre, sollte ich es mit Ehrlichkeit versuchen.«

»Ehrlichkeit?« fragte Arnolde stirnrunzelnd.

»Ich denke oft darüber nach, wenn ich mir nicht sicher bin«, erwiderte Dor. »Ich mag es nicht, Leute zu täuschen, nicht einmal Mundanier.«

Irene lächelte müde. »Arnolde, so schreibt nur Dor das Wort. Er ist Weltmeister in Schlechtschreibung. Ä H R L I G K A I T: Ehrlichkeit.«

»ÄHRLIGKEIT«, wiederholte der Zentaur und nahm die Brille ab, um sich die Augen zu reiben. »Ich glaube, ich verstehe es jetzt. Ein Wort, das eines Königs würdig ist.«

»König Trent ist ein großer König«, pflichtete Dor ihm bei. »Ich weiß, daß sein Rat uns irgendwie über die Runden helfen wird.«

Arnolde schien beinahe zu lächeln, als empfände er Dors Einstellung als merkwürdig. »Darüber will ich mal schlafen«, sagte der Zentaur. Und das tat er auch, indem er sich auf das in den Boden gekratzte Wort legte.

 

Nachdem sie am nächsten Morgen ihre Schwierigkeiten mit der Nahrungsaufnahme und ihren natürlichen Körperfunktionen an diesem beinahe öffentlichen Platz gemeistert hatten, machten sie sich ans Werk. Der Zentaur holte seine Zaubersammlung hervor, und Dor trat aus dem magischen Feld, während die Zauber aktiviert wurden. Zuerst wurde die Gruppe unhörbar, danach auch noch unsichtbar. Dor ließ ihnen Zeit, den Unfühlbarkeitszauber zu aktivieren, dann schritt er wieder auf sie zu. Er konnte nichts hören, sehen und fühlen.

»Aber riechen kann ich euch«, bemerkte er. »Arnolde hat einen leicht pferdischen Geruch, Krach riecht wie ein Ungeheuer, und Irene trägt Parfüm. Ihr solltet euch besser saubermachen, bevor wir ein Gebäude betreten.«

Kurz darauf ließen auch die Gerüche nach, und Irene erschien in geringer Entfernung vor ihm. »Kannst du mich jetzt sehen?«

»Sehen und hören.«

»Gut. Ich wußte nicht genau, wie weit die Magie reicht. Ich selbst merke nämlich nichts davon.« Sie machte einen Schritt auf ihn zu und verschwand.

»Jetzt bist du wieder weg«, sagte Dor und eilte an die Stelle, wo er sie zuletzt gesehen hatte. »Kannst du mich sehen?«

»He, du überlappst mich ja!« protestierte sie und erschien direkt vor ihm, so daß er beinahe gestolpert wäre.

»Hm, ich kann dich nicht sehen«, sagte er. »Ich meine, jetzt sehe ich dich natürlich, aber gerade eben ging es nicht. Kannst du die anderen sehen, wenn du außerhalb des Durchgangs bist?«

Sie blickte hin. »Sie sind weg! Dich können wir die ganze Zeit sehen und hören, aber jetzt…«

»Also kannst du merken, daß ich dich sehen kann, sobald du die anderen nicht mehr sehen kannst.«

Sie beugte sich vor, und ihr Gesicht verschwand, was ihn an die Gorgone erinnerte. Dann zog sie wieder den Kopf zurück. »Gerade konnte ich sie sehen. Dann bin ich wirklich im Wirkungsbereich des Zaubers, nicht wahr?«

»Du bist bezaubernd«, stimmte er ihr zu.

Sie lächelte und beugte sich vor, um ihm einen Kuß zu geben – doch da verschwand ihr Gesicht wieder, und er spürte nichts mehr.

»So, jetzt muß ich wohl eine Bibliothek und einen guten Archivar ausfindig machen«, sagte er etwas beleidigt, als sie wieder auftauchte. »Wenn du schon bei mir bist, dann bleib mir wenigstens vom Leib.«

Sie lachte. »Ich bin bei dir. Du darfst bloß nicht versuchen, mich außerhalb des Feldes festzuhalten.« Ja, und eben das hätte er natürlich tun müssen, wenn er sie wirklich hätte küssen wollen. Und das wollte er auch – er wollte es nur nicht zugeben.

Sie schritt ein gutes Stück entfernt an seiner Seite, außerhalb des Zaubers. »Hat schließlich keinen Sinn, wenn du dich auch noch verirrst.«

So schritten sie in die Stadt. Auf den Straßen gab es viele Wagen, die alle auf die Kreuzungen zujagten, um dort kreischend anzuhalten, mit zornigem Fauchen und ständigem Rauchspeien aus ihren Hinterteilen eine Minute zu warten, um dann im Pulk auf die nächste Kreuzung zuzusausen. Sie schienen nur zwei Geschwindigkeiten zu kennen: Sausen und Anhalten. In den Wagen befanden sich Leute, genau wie Grundy es von den Dämonen erzählt hatte, aber sie stiegen nie aus. Es war beinahe, als wären die Leute mit Haut und Haaren verschlungen worden und als stünden sie gerade im Begriff, verdaut zu werden.

Weil die Wagen so groß waren wie Zentauren und ständig im Galopp herumjagten, wenn sie nicht gerade anhielten, war Dor vorsichtig und versuchte, sie zu meiden. Doch das erwies sich als unmöglich, da er irgendwann einmal die Straße überqueren mußte. Er erinnerte sich daran, wie der schreckliche Spaltendrache von Xanth Leuten auflauerte, die töricht genug waren, den Boden der Spalte überqueren zu wollen. Diese Wagen glichen ihm aufs Haar. Vielleicht waren ja einige darunter, die noch keine Leute verspeist hatten und hungrig umherrasten und auf jemanden wie Dor warteten. Er erblickte einen Wagen, der mit weit geöffnetem Maul wie ein Drache am Rand der Straße stand und schlug nervös einen Bogen darum. Das Merkwürdigste daran war, daß das Wesen seine Eingeweide alle in seinem riesigen Maul zu tragen schien – dampfende Röhren und eine tellerförmige Zunge. Noch seltsamer war freilich, daß es keine Zähne besaß. Vielleicht brauchten die Dinger deshalb so lange, um Leute zu verdauen.

Er gelangte an eine Ecke. »Wie komme ich auf die andere Seite?« fragte er.

»Du mußt warten, bis eine Ampel den Verkehr aufhält«, belehrte ihn die Straße in einem abfälligen Tonfall, der von Staub und Wagendämpfen geschwängert zu sein schien. »Dann läufst du auf die andere Seite, aber bloß nicht langsam gehen! Und wenn du Glück hast, erwischen sie dich nicht. Wo hast du bloß gelebt?«

»In einer anderen Welt«, erwiderte Dor. Er erblickte eine der Ampeln, die die Straße beschrieben hatte. Sie hing über einer Kreuzung und trug mehrere kleine Visiere, die in alle Richtungen zeigten und bösartige Farben abstrahlten. Dor verstand nicht, wie dies die Wagen dazu brachte, stehenzubleiben. Vielleicht besaßen die Lichter eine Art Betäubungszauber, oder wie immer man das hier nennen mochte. Er wollte sichergehen und bat die Ampel, ihm Bescheid zu geben, wenn es an der Zeit war, die Straße zu überqueren.

»Jetzt«, sagte die Ampel und blitzte auf einem Gesicht grün, auf dem andern rot.

Dor machte sich daran, die Straße zu überqueren. Einer der Wagen hupte wie ein Seeungeheuer und quiekte wie das Opfer eines solchen Seeungeheuers, wobei er beinahe über Dors ausgesteckten Fuß rollte. »Nicht in die Richtung, Idiot!« bellte die Ampel und blitzte in wütendem Rot. »Die andere Richtung! Bei Grün, nicht bei Rot. Hast du noch nie eine Straße überquert?«

»Nie«, gestand Dor. Irene war verschwunden; sie mußte wieder in das Zauberfeld eingetreten sein, um sich mit den anderen zu beraten. Vielleicht erschien ihr die Zauberzone auch sicherer; anscheinend waren die Wagen unfähig, sie darin zu bedrohen.

»Warte, bis ich’s dir sage, und dann geh auch in die Richtung, die ich dir sage«, sagte die Ampel heftig blinkend. »Ich will kein Blutvergießen auf meiner Kreuzung!«

Dor wartete bescheiden. »Jetzt«, sagte die Ampel schließlich. »Geh geradeaus, in gleichmäßigem Tempo. Und zwar schnell. Du hast nicht den ganzen Tag dafür zur Verfügung, sondern lediglich fünfzehn Sekunden.«

»Aber da kommt ein Wagen auf mich zugeschossen!« protestierte Dor.

»Der wird anhalten«, versicherte ihm die Ampel. »Ich werde im letztmöglichen Augenblick auf Rot umschalten und ihn dazu zwingen, sein Gummi beim Bremsen anzusengen. So was beschert mir eine tiefe Befriedigung.«

Nervös trat Dor wieder auf die Straße. Der Wagen schoß entsetzlich nahe heran, dann hielt er quietschend an, um in einer Handbreit Entfernung vor Dors bebendem Körper zum Stehen zu kommen. »Diesmal hab’ ich dir aber einen echten Schrecken verpaßt, du verdammter Fußgänger«, sagte der Wagen hämisch durch eine Wolke verbrannten Gummis. »Wenn diese blöde Ampel nicht gewesen wäre, hätte ich dich erwischt. Waldheinis wie dich sollte man erst gar nicht frei auf der Straße herumlaufen lassen.«

»Aber wie kann ich denn die Straße überqueren, wenn ich nicht auf die Straße darf?« fragte Dor.

»Das ist dein Problem«, höhnte der Wagen.

»Siehst du, ich habe sie perfekt im Griff«, sagte die Ampel zufrieden. »Ich erwische Hunderte, jeden Tag. Keiner kommt über meine Kreuzung, ohne seinen Zoll in Benzin und Gummi zu entrichten.«

»Ach, schieb dir doch deine Birnen wohin!« fauchte der Wagen die Ampel an.

»Laß dir doch deine Hupe vernickeln!« blitzte die Ampel zurück.

»Eines Tages werden wir Wagen einen Aufstand machen und eine neue Achse bilden«, sagte der Wagen finster. »Dann werden wir euch dirigistische Ampeln ummähen und haben endlich den freien Wettbewerb auf den Straßen.«

»Du ödest mich wirklich an«, sagte die Ampel verächtlich. »Ohne mich hättet ihr doch nicht das kleinste bißchen Disziplin.«

Dor schritt weiter. Ein weiterer Wagen kam auf ihn zugeschossen, und Dor sprang nervös beiseite. »Verpaßt!« murrte der Wagen. »Jetzt habe ich schon eine ganze Wochen keinen mehr erwischt!«

»Verschwinde von meiner Kreuzung!« kreischte die Ampel. »Du hast keinen Augenblick angehalten! Du hast kein bißchen Gummi versengt! Du sollst erst Benzin beim Warten verschwenden, bevor du weiterfährst! Wie soll ich denn hier ein ordentliches Ausmaß an Verschmutzung aufrechterhalten, wenn du dabei nicht mitmachst?«

»Ach, hau dir doch die Sicherungen durch!« grölte der Wagen und fuhr weiter.

»Polizei! Polizei!« blitzte die Ampel. »Dieser kriminelle Wagen hat gerade die Ampel mißachtet! Verbrecherwagen! Verbrecherwagen!«

Doch als die anderen Wagen sahen, daß ihr Kollege mit seiner offenen Revolte ungestraft davonkam, beeilten sie sich, dasselbe zu versuchen. Im Nu füllte sich die Kreuzung mit schnaubenden Gefährten, die fröhlich zusammenstießen. Dor bemerkte das Knistern eines frisch entzündeten Feuers.

Da bewegte sich das magische Feld aus der Reichweite der Ampel heraus, und Dor war erleichtert, denn er wollte jedes Aufsehen vermeiden.

Irene erschien wieder. »Diesmal hast du’s fast geschafft, Dor! Warum hörst du nicht auf, mit Ampeln herumzualbern, und suchst endlich eine Bibliothek?«

»Versuche ich ja die ganze Zeit!« bellte Dor sie an. »Wo gibt’s hier eine Bibliothek?« befragte er den Gehsteig.

»Du brauchst keine Bibliothek, du brauchst einen Leibwächter, du ungeschickter Tölpel«, erwiderte der Gehsteig.

»Du sollst nur meine Frage beantworten!« Die Perversität der unbelebten Gegenstände schien in Mundania noch schlimmer zu sein als in Xanth. Vielleicht lag es daran, daß die Gegenstände hier nie durch Magie gezähmt worden waren.

»Drei Blocks süd, zwei ost«, gab der Gehsteig widerstrebend zur Antwort.

»Was ist das, ein Block?«

»Gibt es diesen Kretin wirklich«, fragte der Gehsteig rhetorisch.

»Antworte!« fauchte Dor. Und nach und nach erhielt er die geforderte Information. Ein Block war eines der großen Quadrate, die von den sich kreuzende Straßen gebildet wurden. »Gibt es dort einen Archivar?«

»Einen was?«

»Einen Forscher, jemanden, der sehr viel weiß?«

»Ach so, na klar. Den besten im ganzen Staat. Der latscht die ganze Zeit hier herum. Merkwürdiger alter Kauz.«

»Dieser Gehsteig versteht dich aber wirklich«, bemerkte Irene hämisch.

Dor schwieg. Irene war vor Bemerkungen des Gehsteigs über ihre Beine geschützt, weil sie sich außerhalb des magischen Feldes befand. Dor wußte, daß Arnolde hinter ihm war, weil seine Magie funktionierte. Wenn Irene in die magische Zone eintreten sollte, würde sie verschwinden.

Deshalb hatte sie den Vorteil, jederzeit ungestraft fliehen zu können wie jetzt auch.

Eine kleine Gruppe Mundanier kam auf sie zu, drei Männer und zwei Frauen. Sie trugen seltsame Kleidung. Den Männern hing eine Art Knoten um den Hals, der sie fast erstickte, und ihre Schuhe glänzten wie Spiegel. Die Frauen schienen auf Stelzen zu gehen. Irene ging an ihnen vorbei, als sei nichts geschehen. Dor hielt sich etwas hinter ihr, da er neugierig war, wie die Mundanier auf Einwohner von Xanth reagieren würden.

Die beiden Frauen schienen sie nicht zu beachten, doch die drei Männer blieben stehen, um Irene nachzublicken. »Schau sich mal einer dieses Wesen an!« murmelte einer von ihnen. »Aus welcher Welt stammt die denn?«

»Egal, auf jeden Fall würde ich gerne hin!« erwiderte einer der beiden anderen. »Muß eine ausländische Studentin sein. Seit drei Jahren habe ich nicht mehr solche Beine gesehen.«

»Ihre Klamotten sind schon drei Jahrhunderte aus der Mode. Sofern sie überhaupt jemals in Mode waren«, bemerkte eine der Frauen mit emporgereckter Nase. Offensichtlich hatte sie Irene also doch beachtet. Es war verblüffend, wie gut Frauen beobachten konnten, ohne daß man es ihnen anmerkte. Ihre eigenen Beine waren nicht weiter bemerkenswert, obwohl es Dor so schien, als hätten die Stelzenschuhe sie vielleicht verformt.

»Männer haben eben keinen Geschmack«, sagte die andere Frau. »Sie ziehen Haremsdamen vor.«

»Hm, ja…«, sagte der dritte Mann mit langsamen Lächeln. »Ich hätte gerne ihre Nummer.«

»Nur über meine Leiche!« erwiderte die zweite Frau.

Die Mundanier gingen weiter, bis Dor ihr Gespräch nicht mehr verfolgen konnte, dann setzte auch er sich wieder in Bewegung. Er war nachdenklich geworden. Wenn Irene sich so sehr von Mundaniern unterschied, was war denn mit ihm? Niemand hatte auf ihn reagiert, obwohl sich seine Kleidung von der der Mundanier genauso unterschied wie Irenes. Vielleicht waren sie ja auch derart von Irenes Beinen abgelenkt worden, daß sie Dor einfach übersehen hatten. Das wäre immerhin verständlich.

Die Bibliothek stellte sich als palastartiges Gebäude heraus, mit einem äußerst seltsamen Eingang: Die Tür drehte sich ständig um ihre eigene Achse, ohne jemals richtig aufzugehen.

Dor blieb stehen, unentschlossen, was er jetzt unternehmen sollte. Mundanier schritten an ihm vorüber, ohne ihn trotz seiner offensichtlichen Andersartigkeit zu beachten. Plötzlich begriff er, daß dies an der Magie lag. Endlich war ihm ein Teil des mundanischen Geheimnisses klargeworden. Er erweckte den Eindruck, als gehöre er zu ihrer Kultur. Sobald er jedoch aus dem magischen Durchgang heraustreten sollte, würde man in ihm einen Ausländer sehen, genau wie bei Irene. Zum Glück war sie ein hübsches Mädchen und konnte damit durchkommen; diesen Vorteil hatte er nicht.

Irene war nicht zu sehen. Vielleicht hatte sie die Reaktion der Mundanier doch wahrgenommen und wollte Wiederholungen vermeiden. Doch als die Mundanier weitergegangen waren, erschien sie wieder. »Arnolde glaubt, daß das eine Drehtür ist«, berichtete sie. »In manchen Texten über Mundania gibt es obskure Andeutungen über solche Dinger. Wahrscheinlich braucht man nur…« Da erblickte sie einen näher kommenden Mundanier und trat hastig in die Unsichtbarkeit zurück.

Der Mundanier schritt zur Tür, streckte eine Hand aus und drückte auf einen Teil der Tür. Eine Kammer schwang einwärts, und der Mann folgte der Kabine ins Gebäude. Wirklich äußerst einfach, wenn man es erst einmal vorgeführt bekam.

Dor trat mutig auf die Tür zu und drückte. Es funktionierte wie ein Zauber – fast wie ein natürliches Phänomen Xanths also – und beförderte ihn ins Gebäude. Nun stand er in einer großen Halle mit zahlreichen Sesseln und Tischen, deren Wände mit Büchern bedeckt waren. Das war also wirklich eine Bibliothek. Jetzt mußte er nur noch den ausgezeichneten Forscher und Gelehrten ausfindig machen, der sich angeblich hier aufhielt. Vielleicht war er ja in der Geschichtsabteilung.

Dor schritt durch den Saal, auf eine der Bücherwände zu. Er wollte sich die Bücher einmal anschauen, um zu sehen, ob sie für seine Zwecke dienlich waren. Es dürfte ja eigentlich nicht allzu schwierig sein.

Er blieb abrupt stehen, als er merkte, daß die Leute ihn anstarrten. Was war den los?

Eine ältere Frau trat auf ihn zu, die Stirn zu strengen Falten gerunzelt. »Xfs ibw bhjk önstdxcifk cvhjmllptwq«, sagte sie streng und musterte ihn mißbilligend von seinen ungekämmten Haaren bis hinab zu seinen staubigen, mit Sandalen bewehrten Füßen. Offenbar hatte sie etwas gegen seine Kleidung.

Nach einem Augenblick der Verwirrung begriff Dor, daß er die magische Zone verlassen hatte und nun ohne schützende Verzauberung wahrgenommen wurde. Arnolde hatte recht gehabt: Allein konnte Dor überhaupt nichts erreichen.

Was war nur mit dem Zentaur passiert? Dor blickte zurück zur Tür – und sah Irene, die ihm lebhaft zuwinkte. Er eilte zu ihr zurück, und die mundanische Frau folgte ihm. »Xfs ibw bjh anständige Bibliothek«, sagte sie gerade. »Wir erwarten, daß die Benutzer anständig gekleidet…«

Dor drehte sich zu ihr um. »Ja, bitte?«

Verblüfft blieb die Frau stehen. »Oh… Sie sind ja anständig angezogen. Ich muß Sie wohl verwechselt haben.«

Verlegen zog sie sich zurück.

Dors Kleidung hatte sich nicht verändert, dafür aber die Wahrnehmung der Frau, dank der Magie.

»Arnolde paßt nicht durch die Drehtür«, sagte Irene.

Deshalb hatte Dor also das magische Feld verlassen, ohne es zu wollen! Er war einfach durch die Tür geschritten. Natürlich konnten diese kleinen Kammern nicht den massigen Zentaur aufnehmen.

»Vielleicht gibt es ja noch eine andere Tür«, meinte Dor. »Wir könnten ja mal ums Gebäude gehen…«

Irene verschwand und erschien kurz darauf aufs neue.

»Ja, Arnolde meint, daß der Zauber die Grenzen der Dinge ein wenig verschwommen macht, deshalb kann er mit der Hand zwar durch mundanische Gegenstände hindurchgreifen, aber seinen ganzen Körper bekommt er doch nicht durch eine mundanische Mauer. Vielleicht schafft er es aber durch ein Fenster.«

Dor trat wieder durch die Drehtür und ging um das Gebäude herum. An der Rückseite befand sich eine Doppeltür, die groß genug war, um einen ganzen Wagen einzulassen. Dor schritt hindurch, an ein paar Männern vorbei, die damit beschäftigt waren, Bücherkisten aufeinanderzustapeln.

»He, Junge, hast du dich verlaufen?« rief einer der Männer.

Er hatte ja nicht sonderlich lange gebraucht, um vom »König« zum »Jungen« zu werden! »Ich suche die Archive«, sagte Dor nervös.

»Ach so. Die Silos. Ja, die dritte Tür links.«

»Danke.« Dor schritt zu der Tür und öffnete sie weit, wobei er sich Zeit ließ, um die anderen auch durchzulassen. Er konnte den Zentaur und den Oger schwach riechen, daher wußte er, daß sie bei ihm waren.

Jetzt befanden sie sich in einem großen Raum voller Gänge, die zwischen mit Büchern beladenen Regalen hindurchführten. Dor wußte nicht, welchen Weg er einschlagen sollten, und er war sich auch nicht sicher, daß der Zentaur durch die schmalen Gänge passen würde, doch da erschien Irene wieder und meldete, daß Arnolde sich hier wie zu Hause fühlte. »Aber er meint, daß es besser wäre, einen kompetenten Archivar zu befragen.«

»Es gibt hier einen, danach habe ich schon gefragt.« Da kam ihm ein anderer Gedanke. »Aber was, wenn er die mundanischen Behörden auf uns aufmerksam macht? Vielleicht hat er kein Verständnis für unser Problem.«

»Arnolde meint, daß Akademiker nicht so sind. Wenn es hier einen wirklich guten gibt, dann wird seine wissenschaftliche Neugier – so nennt man hier wohl die Magie – geweckt werden, und er wird sich sehr für uns interessieren. Versuch’s mal in dem kleinen Büro dort. Das sieht aus wie eine Archivar-Kammer.«

Zögernd blickte Dor hinein. Er hatte Glück, auch wenn er sich nicht sicher war, welcher Art es sein mochte. Drinnen saß ein bebrillter Mann mittleren Alters über einem Papierstapel gebeugt. »Entschuldigen Sie, mein Herr – würden Sie gerne ein paar Nachforschungen anstellen?« frage Dor.

Der Mann hob den Kopf und kniff die Augen zusammen. »Welcher Art?«

»Äh, das ist eine lange Geschichte. Ich versuche, einen König zu finden, und ich weiß weder wann noch wo er ist.«

Der Mann nahm die Brille ab und rieb sich die müden Augen. »Das wäre schon eine Art Herausforderung. Wie lautet denn der Name des Königs und seines Reichs?«

»König Trent von Xanth.«

Der Mann erhob sich und quetschte sich aus seiner Kammer. Er war ziemlich klein, gebeugt, mit schütterem Haar und bewegte sich recht langsam. In gewisser Weise erinnerte er Dor an Arnolde. Er holte ein großes altes Buch hervor und blätterte in den brüchigen Seiten. »Unter dieser Bezeichnung scheint er nicht aufgeführt zu sein.«

Irene erschien. »In Mundania ist er auch nicht König.«

Der Gelehrte blickte sie mit zusammengekniffenen Augen milde verwundert an. »Meine Liebe, ich verstehe kein Wort von dem, was Sie sagen.«

»Äh, sie ist Ausländerin«, sagte Dor hastig. Da Irene außerhalb des magischen Feldes stehen mußte, um gesehen und gehört zu werden, funktionierte das magische Dolmetschen nicht bei ihr. Dor, der in derselben Kultur aufgewachsen war wie sie, hatte natürlich keine Schwierigkeiten, sie zu verstehen. Es war ein interessanter Unterschied: Er, Dor, konnte die beiden anderen verstehen, und es schien, als würden sie dieselbe Sprache sprechen, während die beiden sich untereinander nicht verstehen konnten. Die Magie wartete doch ständig mit neuen Tricks auf, die ihn verwunderten.

Der Gelehrte dachte nach. »Ach so – hat sie vielleicht mit einer Filmgesellschaft zu tun? Handelt es sich um Nachforschungen für eine historische Rekonstruktion?«

»Nicht ganz«, meinte Dor. »Sie ist König Trents Tochter.«

»Aha, dann handelt es sich also um ein zeitgenössisches Königreich! Dann muß ich in einem jüngeren Text nachschlagen.«

»Nein, es ist ein mittelalterliches«, berichtigte ihn Dor. »Äh, das heißt… na ja, wir glauben, daß König Trent sich in einer anderen Zeit aufhält.«

Nachdenklich schwieg der Gelehrte eine Weile. »Das Königreich, das Sie natürlich rekonstruieren wollen, versteht sich. Ich glaube, ich weiß jetzt, was Sie meinen.« Er blickte Irene wieder an. »In diesem Reich haben die Damen aber wirklich ausgezeichnete Extremitäten.«

»Was sagt er?« wollte Irene wissen.

»Daß du hübsche Beine hast«, antwortete Dor mit milder Schadenfreude.

Sie ignorierte die Bemerkung. »Was ist mit meinem Vater?«

»Der steht nicht in diesem Buch. Ich schätze, wir müssen es mit einem anderen Regal versuchen.«

Der Gelehrte ließ seinen Blick von Irenes Beinen auf Dors Gesicht schweifen. »Das ist aber merkwürdig. Sie sprechen Englisch mit ihr, und sie kann Sie auch verstehen, aber sie antwortet mit einer fremden Zunge.«

»Es ist ziemlich kompliziert, das zu erklären«, erwiderte Dor.

»Ich glaube, ich frage Arnolde mal«, sagte Irene und verschwand.

Der mundanische Gelehrte nahm die Brille ab und putzte die Gläser mit einem Stück Zellstoffpapier. Er setzte sie gerade noch rechtzeitig auf, um Irene wieder erscheinen zu sehen. »Ja, schon wesentlich besser«, murmelte er.

»Arnolde sagt, wir sollten meinen Vater oder meine Mutter mit relevanten Charakteristika aufzuspüren versuchen«, sagte Irene. »Es könnte nämlich vielleicht historische Hinweise geben.«

»Was ist denn das genau für eine Sprache?« wollte der Gelehrte wissen und heftete seinen Blick wieder auf Irenes Beine. Er mochte zwar alt und akademisch sein, doch er hatte offensichtlich noch nicht vergessen, worauf es bei der weiblichen Anatomie ankam.

»Xanthisch, würde ich sagen«, antwortete Dor. »Sie meint, wir sollten nach historischen Hinweisen auf ihre Eltern suchen, wegen ihrer besonderen Charakteristika.«

»Und um welche Charakteristika handelt es sich dabei?«

»Nun, König Trent verwandelt Leute, und Königin Iris ist eine Meisterin der Illusion.«

»Idiot!« bellte Irene. »Sag ihm nichts über die Magie!«

»Ich verstehe nicht ganz«, erwiderte der Gelehrte. »Was für Verwandlungen und was für eine Art von Illusion?«

»Na ja, in Mundania funktioniert das nicht«, meinte Dor lahm.

»Es ist Ihnen doch wohl geläufig, daß die Gesetze der Physik auf der ganzen Welt dieselben sind«, entgegnete der Gelehrte. »Alles, was in dem Heimatland der jungen Dame funktioniert, funktioniert auch woanders.«

»Magie nicht«, wandte Dor ein und merkte, daß er alles nur noch komplizierter machte.

»Wie blöd willst du dich denn noch benehmen?« wollte Irene wissen. »Ich frage Arnolde.« Wieder verschwand sie.

Diesmal blinzelte der Gelehrte noch heftiger. »Seltsames Mädchen!«

»Ja, sie hat so ihre Eigenarten«, stimmte Dor ihm matt zu.

Der Gelehrte schritt auf die Stelle zu, an der Irene gerade noch gestanden hatte. »Tubhf jmmvtjpo?« fragte er.

O weh! Jetzt befand er sich außerhalb der magischen Zone, so daß sich ihre Sprachen nicht mehr aneinander anglichen. Dor selbst konnte nichts dagegen unternehmen; der Zentaur war es, der sich umstellen mußte.

Irene erschien dicht neben dem Gelehrten. Offensichtlich hatte sie nicht aufgepaßt, denn innerhalb der magischen Zone hätte sie ihn eigentlich sehen müssen. »Oh – hier sind Sie!« rief sie.

»Bnbajoh!« sagte der Gelehrte. »Jkf nvtu jorvsf…«

Dann veränderte der Zentaur seine Stellung. Irene verschwand, und Dor konnte den Gelehrten wieder verstehen. »… wie Sie diesen Trick genau durchführen…« Er hielt inne. »Huch, jetzt sind Sie ja schon wieder verschwunden!«

Irene erschien etwas abseits in der Halle. »Arnolde sagte, daß wir ihm alles sagen müssen«, meldete sie. »Über die Magie und alles. Dank deiner Trotteligkeit.«

»Das ist ja wirklich erstaunlich!« sagte der Gelehrte.

»Na ja, ich muß Ihnen wohl etwas sagen, das Sie kaum glauben dürften«, sagte Dor.

»Im Augenblick würde ich selbst an Magie glauben!«

»Ja. Xanth ist ein magisches Land.«

»In dem die Leute einfach so erscheinen und wieder verschwinden können? Ehe ich das glaube, würde ich wohl eher dazu neigen anzunehmen, daß meine Sehfähigkeit gestört ist.«

»Na ja, manche verschwinden eben. Aber das ist nicht Irenes Talent.«

»Das ist nicht die Fähigkeit der jungen Dame? Warum tut sie es denn?«

»Tatsächlich tritt sie in ein magisches Feld und kommt wieder heraus.«

»In ein magisches Feld?«

»Das von einem Zentauren erzeugt wird.«

Der Gelehrte lächelte matt. »Ich fürchte, Sie sind mir überlegen. Sie können sich wesentlich schneller Unsinn ausdenken, als ich ihn aufnehmen kann.«

Dor merkte, daß der Mann ihm nicht glaubte. »Ich zeige Ihnen mal meine Magie, wenn Sie wollen«, sagte er. Er zeigte auf das geöffnete Buch auf dem Tisch. »Buch, sprich mit dem Mann.«

»Warum sollte ich?« fragte das Buch.

»Bauchrednerei!« rief der Gelehrte. »Ich muß zugeben, daß sie exzellent sind!«

»Wie hast du mich genannt?« wollte das Buch wissen.

»Würden Sie das vielleicht noch einmal machen – mit geschlossenem Mund?« bat der Archivar.

Dor schloß den Mund. Das Buch schwieg. »Das habe ich mir doch gedacht«, murmelte der Gelehrte.

»Was hast du dir gedacht, Brillenschlange?« fragte das Buch.

Erschreckt musterte der Gelehrte das Buch und blickte schließlich wieder Dor an. »Aber Sie hatten den Mund fest geschlossen, da bin ich mir ganz sicher.«

»Das ist Magie«, erwiderte Dor. »Ich kann Gegenstände zum Sprechen bringen.«

»Tun wir einen Augenblick lang mal so, als wäre dem tatsächlich so. Sie wollen mir also sagen, daß dieser König, den Sie suchen, auch Magie betreiben kann?«

»Richtig, nur nicht in Mundania, sofern zählt es wohl nicht.«

»Weil er keinen magischen Zentauren dabei hat?«

»Ja.«

»Ich würde diesen Zentaur gerne einmal sehen.«

»Er wird durch einen Unsichtbarkeitszauber geschützt. Damit die Mundanier uns nicht belästigen.«

»Ist dieser Zentaur ein Gelehrter?«

»Ja, ein Archivar wie Sie.«

»Dann sollte ich wohl besser mit ihm sprechen.«

»Aber der Zauber…«

»Dann lösen Sie den Zauber eben auf! Holen Sie Ihren Zentaurengelehrten hervor. Sonst kann ich Ihnen nicht helfen.«

»Ich glaube kaum, daß er das möchte. Es wäre sehr schwierig, ohne diesen Zauber von hier wieder wegzukommen, und wir haben nur ein Exemplar des Unsichtbarkeitszaubers dabei.«

Der Gelehrte kehrte in seine Kammer zurück. »Nun, ich glaube ebensowenig an Magie wie an die Offenbarungen einer Halluzination, aber ich bin bereit, Ihnen zu helfen, sofern Sie mir auf halbem Weg entgegenkommen. Hören Sie mit Ihren Gaukeleien auf, zeigen Sie mir Ihren Gelehrten, dann werde ich meinerseits mit ihm zusammenarbeiten, um Ihnen die Information zu beschaffen, die Sie wünschen. Es ist mir egal, wie seltsam er äußerlich aussehen mag, solange er wirklich Verstand hat. Die Tatsache, daß Sie es für nötig befinden, mich mit Bauchrednerei zu verwirren, mit einem hübsch kostümierten Mädchen, das ständig verschwindet und mit einer Mythengeschichte, weist darauf hin, daß Ihre Behauptungen nur wenig Substanz haben. In diesem Fall verschwenden Sie nur meine Zeit. Ich fordere Sie also auf, Ihren Gelehrten hervorzuholen oder mich zu verlassen.«

»Äh, Arnolde«, sagte Dor. »Ich weiß ja, daß es fürchterlich schwierig werden dürfte, hier ohne die Zauber wieder wegzukommen, aber vielleicht können wir ja bis Nachtanbruch damit warten. Wir brauchen schließlich die Information, und…«

Plötzlich erschien der Zentaur, hinter ihm der Oger und der Golem. »Der Meinung bin ich auch«, sagte Arnolde.

Der Gelehrte drehte sich um. Er blinzelte. »Das sind wirklich seltene Kostüme, das muß ich zugeben.«

Arnolde trat vor, wobei er mit seinem Rumpf beinahe die Regale streifte. Er streckte die Hand aus. »Ich kann es Ihnen wirklich nicht verübeln, daß Sie den Laien gegenüber eine gewisse Ungeduld zeigen«, sagte er. »Sie haben hier ausgezeichnete Bestände, und ich weiß, daß Ihre Zeit kostbar ist.«

Der Gelehrte schüttelte die dargebotene Hand und schien von Arnoldes Brille und Auftreten beruhigter zu sein, als daß ihn seine Gestalt verwirrte.

»Worauf haben Sie sich spezialisiert?«

»Auf ausländische Archäologie – aber natürlich gibt es manche Überschneidungen und jede Menge Routinearbeit, die zu bewältigen ist.«

»In der Tat! Wenn ich an den ganzen lästigen Kleinkram denke, mit dem ich mich hier abgeben muß…«

Die beiden begannen zu fachsimpeln, und schon bald hatte Dor den Anschluß verloren. Sie wurden immer aufgeregter, während sie einander abschätzten und Informationen austauschten. Es gab keinen Zweifel – es waren ähnliche Typen.

Irene ließ gelangweilt eine Kakaopflanze im Archivsaal wachsen und teilte die Becher mit der dampfenden Flüssigkeit mit Dor, Krach und Grundy. Sie wußten, daß es von größter Wichtigkeit war, daß Arnolde ein gutes Verhältnis zu dem mundanischen Gelehrten herstellte, damit sie weiterkommen konnten.

So verging die Zeit. Die beiden Gelehrten blätterten in alten Folianten, diskutierten über winzige Feinheiten, befragten Dor eindringlich über die Hinweise, die König Trent ihm sowohl in seiner physischen Gestalt als auch in der Vision gegeben hatte, und kamen schließlich wortreich zu einer Entscheidung. Endlich nahm der mundanische Gelehrte einen Becher Kakao entgegen und entspannte sich etwas. »Ich glaube, wir haben es«, sagte er. »Werde ich Sie wiedersehen, Zentaur?«

»Aber ganz gewiß, mein Herr! Ich bin dazu in der Lage, nach Mundania zu reisen, Ihre Geschichte reizt mich sehr, und im Augenblick sitze ich ohnehin sozusagen zwischen den Stühlen.«

»Ihre Landsleute empfanden die Magie bei Ihnen als ebenso unerträglich wie meine das bei mir empfinden würden! Ich kann niemanden von dem erzählen, was ich heute in Erfahrung bringen konnte, sonst verliere auch ich meine Stellung und werde womöglich in eine Anstalt eingewiesen. Man stelle sich das einmal vor – sich mit einem Zentaur, einem Oger und einem winzigen Golem zu unterhalten! Wie gerne würde ich eine Studie über Ihr phantastisches Land Xanth schreiben, aber die würde wohl kaum einer glaubwürdig finden.«

»Sie könnten doch ein Buch schreiben und es als Erzählung verkleiden«, schlug Grundy vor. »Und Arnolde könnte eins über Mundania schreiben.«

Die beiden Gelehrten wirkten plötzlich sehr befriedigt. Auf eine derart schlichte Lösung wäre keiner von ihnen gekommen. »Aber wissen wir denn jetzt, wo mein Vater ist?« fragte Irene.

»Ja, ich glaube schon«, erwiderte Arnolde. »König Trent hat uns, so vermuten wir, eine Nachricht hinterlassen.«

»Wie das?«

»Er hat sie Dor gegeben. Und außerdem haben wir noch verschiedene andere Hinweise, etwa den, daß er in ein mittelalterliches Gebiet reisen wollte, in den Bergen, nahe an einem schwarzen Gewässer. Mein Freund teilt mir mit, daß es in Mundania mehrere Orte gibt, auf die diese Beschreibung zutreffen könnte. Deshalb glauben wir, daß es wörtlich gemeint war; entweder ist das Wasser selbst schwarz, oder es wird schwarz genannt. Nun gibt es in Mundania ein großes Gewässer, das man das Schwarze Meer nennt. Viele große Flüsse münden dort, und es ist von großen Bergketten umgeben. Doch das genügt noch nicht, um es als das Gebiet auszumachen, das wir suchen. Es ist lediglich eine Möglichkeit von vielen.« Arnolde lächelte. »Wir haben uns recht lange mit Geographie befaßt. Nun gab es in mittelalterlicher Zeit in dieser Gegend eine Konfluenz von A-, B- und K-Menschen, jedenfalls wenn man die Übertragung dieser Völkernamen in den xanthischen Dialekt berücksichtige: die Avaren, die Bulgaren und die Khazaren. Es paßt also alles zusammen. Alles, was Ihr uns gesagt habt, scheint zusammenzupassen.«

»Aber das genügt doch noch nicht!« rief Dor. »Woher seid Ihr Euch so sicher, daß Ihr die richtige Zeit und das richtige Gebiet ausgemacht habt?«

»Ehrlichkeit«, sagte Arnolde. »ONESTI, wie Dor es in unserem Dialekt schreiben würde – was König Trent nur zu gut wußte. Man muß nur darauf kommen.« Er zeigte auf eine Stelle in dem aufgeschlagenen Buch. »Da ist, glauben wir, der einzigartige, ganz besondere Hinweis, den König Trent Euch gegeben hat, damit Ihr, und zwar Ihr allein, ihn im Notfall ausfindig machen könnt.«

Dor blickte auf die angezeigte Stelle. Es war ein Atlas, der ein fremdes, mundanisches Land zeigte. Auf der Karte war ein Ort zu sehen, der den Namen Onesti trug.

»Auf der ganzen Welt gibt es nur einen solchen Ort«, fuhr Arnolde fort. »Das muß König Trents Botschaft an Euch gewesen sein. Niemand sonst wäre auf die Bedeutung dieser einzigartigen Bezeichnung gekommen.«

»Aber wenn das schon so lange… der Name auf dieser Karte und so… ich meine, jahrhundertelang… das heißt dann doch, daß König Trent niemals zurückgekommen ist! Wir können ihn gar nicht retten, weil sonst der Name verschwindet.«

»Nicht unbedingt. Der Ortsname hängt nicht von seiner Anwesenheit ab. Wir müßten ihn retten können, ohne ihn zu beeinträchtigen. Der Paradoxien der Zeit können wir uns ohnehin niemals sicher sein. Wir müssen einfach diesen Ort und jene Zeit aufsuchen, etwa 650 AD, und versuchen, ihn zu finden.«

»Aber wenn das nun nicht stimmt?« warf Irene ein. »Was, wenn er gar nicht dort ist?«

»Dann kehren wir hierher zurück und führen weitere Nachforschungen durch«, erwiderte Arnolde. »Ich will diesen Ort sowieso wieder aufsuchen, und mein Freund Ichabod würde gerne einmal Xanth besuchen. Da wird es keine Schwierigkeiten geben, ganz sicher nicht.«

»Ja, Sie werden hier willkommen sein«, pflichtete ihm der mundanische Gelehrte bei. »Sie haben einen feinen, scharfsinnigen Verstand.«

»Zum ersten Mal«, fuhr Arnolde fort, »betrachte ich meine Verbannung von der Zentaureninsel und mein obszönes Talent mit einer gewissen Gelassenheit. Ich bin, so scheint es, doch nicht aus meiner Berufung herausgerissen worden, im Gegenteil: Mein Horizont hat eine erhebliche Erweiterung erfahren.«

»Meiner ebenfalls«, meinte Ichabod. »Ich muß gestehen, daß mir meine gegenwärtige Existenz als recht ermüdend erschien, obwohl ich das erst heute erkannt habe.« Jetzt klang der Gelehrte genau wie Arnolde. Vielleicht hatte irgendeine obskure Fügung des Schicksals die beiden zusammengeführt. Funktionierten Glück oder Schicksal eigentlich wirklich in Mundania? Vielleicht taten sie das ja nur, wenn der magische Durchgang da war. »Die Aussicht, ein völlig neues und geheimnisvolles Gebiet erforschen zu dürfen, ist äußerst beglückend und verschafft mir eine neue Perspektive.« Er hielt inne. »Ach, ob es dort wohl auch Wesen weiblichen Geschlechts gibt, die eine entfernte Ähnlichkeit…?« Schuldbewußt ließ er seinen Blick erneut auf Irenes Beine schweifen.

»Nymphen die Menge«, sagte Grundy. »Im Dutzend billiger. Die haben zwar nicht viel im Kopf, aber jede Menge in den Beinen.« Er machte einen Satz zur Seite, denn Irene machte Anstalten, nach ihm zu treten.

»Oh, ich kann es kaum erwarten, mit meinen Forschungen in Xanth zu beginnen!« rief der Gelehrte.

Irene furchte die Stirn. »Manchmal frage ich mich, wie sehr ich meine Eltern eigentlich wirklich retten möchte. Ich kann von Glück sagen, wenn meine Beine nicht vor lauter Aufmerksamkeit Blasen bekommen.« Doch wie stets wirkte sie keineswegs ausschließlich unangenehm berührt. »Machen wir uns jetzt auf den Weg. Es ist mir egal, was ihr tut, sobald mein Vater wieder in Xanth ist.«

Arnolde und Ichabod gaben sich zum Abschied die Hand. Es waren wirklich zwei verwandte Geister. Einem plötzlichen Impuls folgend, holte Dor eine der Goldmünzen hervor, die er so sorgfältig aufgehoben hatte. »Mein Herr, bitte nehmt dies als Anerkennung Eurer Hilfe an.« Er drückte sie dem Gelehrten in die Hand.

Der Mann musterte die Münze. »Aber das ist ja reines Gold!« rief er. »Ich glaube, es handelt sich um eine spanische Doublone! Die kann ich unmöglich annehmen.«

Der Zentaur versuchte zu vermitteln. »Bitte nehmen Sie sie an, Ichabod. Dor ist vorübergehend König von Xanth. Das Geschenk abzulehnen käme einer Beleidigung der Krone gleich.«

»Aber ihr Wert…«

»Dann tauschen wir doch einfach Münzen«, schlug Dor vor. »Sie geben mir eine von ihren, dann sind wir quitt.«

»Ich habe aber nur einen Zehner! Das kann man dann doch nicht quitt nennen!« wandte der Gelehrte ein.

»Zehner sind sehr wertvoll in Xanth«, sagte Arnolde. »Gold dagegen hat kaum einen Wert. Bitte nehmen Sie das Angebot an.«

»Bitte!« warf Irene ein und lächelte betörend. Dor wußte, daß sie nur eins wollte, daß sie sich nämlich wieder auf den Weg machten, um ihren Vater zu suchen, aber ihr Einwurf verfehlte seinen Zweck nicht.

»In diesem Fall werde ich mit Freuden tauschen, König Dor«, willigte der Gelehrte ein und reichte Dor seinen Zehner. »Ich wollte ja auch nur einwenden, daß Eure Münze viel zu wertvoll ist, um damit meine Dienste zu bezahlen, die mir doch ohnehin das allergrößte Vergnügen bereitet haben.«

»Nichts ist zu wertvoll, was meinen Vater retten könnte«, sagte Irene. Sie beugte sich vor und gab Ichabod einen Kuß auf die Wange. Der Mann erstarrte, als habe er der Gorgone ins Antlitz geblickt. Es war offensichtlich, daß er in seiner Zurückgezogenheit noch nicht oft von hübschen Mädchen geküßt worden war.

Inzwischen war der Abend angebrochen. Ichabod lief in mehrere Kammern und holte Tücher hervor, mit denen sie den Zentaur und den Oger verhüllten. Dann schritten Arnolde und Krach hintereinander aus der Bibliothek. Sie sahen aus wie zwei große Arbeiter in Mänteln, die eine verhüllte Kiste trugen. Die Verkleidung stellte sich als fast so effektiv heraus wie der Unsichtbarkeitszauber; niemand beachtete sie. Sie waren auf dem Heimweg nach Xanth.